Erst mittags – in einem Raum mit verwirrend vielen Waschbecken, wird mir vor einem der Spiegel bewusst, dass ich das T-Shirt verkehrt herum trage (die Nähte sind nach außen gekehrt).
Faszinierend, wie ich die Handgriffe unter der Dusche und im Badezimmer durch ständige Wiederholung in der Zeit immer weiter automatisiert habe. Ich bin zwar gar nicht wach, aber der Ablauf geht wie von allein – so ist das vielleicht mit dem T-Shirt zu erklären. Der Moment war womöglich wie ein Automobil (selbst beweglich). Die Bewegungen der Automobile sind besetzt mit seltsamen Fahrergesichtern, die an mir vorbei schwirren.
Aufgewacht bin ich dann morgens am Ostring. Ich warte auf grünes Licht an einem Knotenpunkt – an einer der Hauptschlagadern der Stadt. Nachts kann man die weißen und roten Blutkörperchen (Autos von vorn – weißes Licht; Autos von hinten – rotes Licht) sehen.
Jetzt ist der Himmel über mir blau. Fast überall. Der Kieler Funkturm aus Beton steht kerzengerade in mitten einer kleinen grauen Wolke. Die Wolke sieht nicht echt aus. Sie bewegt sich nicht. Die Wolke sieht aus, als wäre sie eine Airbrush Auftragskunst.
Ich muss husten (ich hatte keine Wahl). Die Erkältung ist hartnäckig. Da hilft es, einen erhitzten Fliederbeersaft plus Honig mit J. zu trinken – wir teilen uns morgens den Kaffee und momentan zusätzlich einen grippalen Infekt.
Was für ein glänzend gelbliches Herbstlicht. Am Anfang nervten mich die zarten Blütenbeschreibungen in dem Tagebuch von Hans Carossa (Tagebücher 1910-1918). Der Autor hält auch im gesteigerten Kriegswahn an seinen Wetter – und Pflanzenbeschreibungen fest, sie erscheinen mir zunehmend in einem ganz anderen Licht (wenn er als Frontarzt angesichts der wahllos hin gemordeten Massen an Mitmenschen weiterhin an seinen Wetter – und Pflanzenbeschreibungen festhält).
Bei André Gide (Aus den Tagebüchern 1889-1939) stoße ich auf Selbstdisziplinierungsversuche (z.B. Schweigen zu können) – und auf das Motiv andere willentlich zu verwirren. Besonders verwirrend finde ich sein Konzept das vorher geplante „Verwirrung stiften“ bei einer Person als einen geplanten Akt der Selbstdisziplin zu sehen – oder habe ich das alles nur falsch zusammengereimt (mir sind beim lesen öfter die Augen zugefallen)?
Und Elternabende sind kein Aphrodisiakum. So anstrengender, beharrlicher, verkrampfter die Eltern in den Gesprächsrunde sind, um so leichter fällt es mir die guillotinesken Gedanken der Lehrkräfte zu erahnen.
Aber ich bin am Ostring. Am Ostring starre ich für einen unkontrollierten Bruchteil einer Sekunde auf die straff mit dunkelbraunen groben Baumwollsocken umhüllten Fußballgestärkten und von Kraft wie Ausdauer strotzenden Waden einer Fußballspielerin. Sie sitzt vor mir an der Ampel auf dem Rad. Die Fußgängerampel am Ostring lässt uns lange nebeneinander warten. Die Automobile werden bevorzugt behandelt. Schnell erteile ich der „Ich-möchte-wie-ein-leerer-Karton-von-ihren-Schnenkeln-zerquetscht-werden“ Phantasie eine Absage. Aber ich erinnerte mich nebenbei, wie viel Spaß wir im Vorschulalter daran hatten „Sklave“ zu spielen – natürlich nur, wenn die um ein paar Jahre ältere Nachbarin (hieß sie Stefanie?) dabei war. Mit jemand anderen wäre unsere Spielidee nie aufgekommen. Wir fragten uns hin und wieder meist etwas verschämt den Kopf zur Seite wippend: „Wollen wir Sklave spielen?“ – Wir liefen zur Wiese mit der Au. Dann riss sie einen besonders jungen und biegsamen Zweig von einem Strauch, schlug mich zärtlich und redete gedämpft-lautstark auf mich ein, welche Fehler ich bei meiner Sklavenarbeit gemacht hätte. Jetzt müsse sie mich strafen. Ich musste dann „Aaaar-ohhh!“ stöhnen.
Die Glühlampe im Badezimmer ist durchgebrannt. Das bedeutet Zähne putzen im Schummerlicht.
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