Tag: 6. Oktober 2014

[Subjektivität & Selbstverständnis #2… ]

Yoav Sapir (5. Oktober 2014): “ … [Zum] Aspekt der Echtheit. … Warum ist das für einen Historiker überhaupt wichtig? Hierfür möchte ich ein mehr oder weniger bekanntes Beispiel geben, nämlich die zurückblickende Einschätzung (etwa durch heutige Historiker) der Gefahr, die in der 1920er Jahre von der sozialistischen Revolution für die mitteleuropäischen Demokratien ausging. … Der eine – nennen wir ihn den „Faschismusversteher“ – würde sagen: In meiner Einschätzung bzw. Interpretation gab es damals eine echte Gefährdung der demokratischen Ordnung durch die revolutionären Kräfte; diese echte Gefahr wurde zu Recht als solche erkannt und wahrgenommen, also war eine entsprechende Reaktion in Gestalt des Faschismus, später auch des Nationalsozialismus zu erwarten.
Der andere Historiker – nennen wir ihn den „Sozialismusversteher“ – würde hingegen behaupten: In meiner Interpretation gab es damals keine echte Gefahr (etwa weil die revolutionären Kräfte nicht dazu in der Lage waren, die UdSSR viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, etc.). Die damalige Wahrnehmung einer solchen Gefahr ist auf antikommunistische Hetze zurückzuführen – es war eine rein imaginäre Gefahr, die den faschistischen Kräften zum Durchbruch half.
Unsere beiden „prototypischen“ Historiker könnten sich über bestimmte Rahmenbedingungen – nennen wir sie „Tatsachen“ – einig sein, etwa die Existenz von Arbeitslagern in der Sowjetunion oder die Elend der Arbeiter in Mitteleuropa. Allerdings würden sie diese „Tatsachen“ jeweils anders gewichten, anders interpretieren – mit dem Resultat, dass sie jeweils unterschiedlich „echt“ erscheinen.
Soweit mein Beispiel für die Relevanz der Echtheit für historische Debatten – ziemlich oft münden diese in einem Streit über die „richtige“ Einschätzung damaliger Informationen, wobei jede Einschätzung natürlich sehr stark vom einschätzenden Subjekt abhängt. … Damit will ich nur veranschaulichen, wie subjektiv so etwas wie „Echtheit“ sein kann (bzw. sein muss). Auch unter Menschen, die zur selben Zeit in derselben Gesellschaft am selben Ort leben (etwa 2014 in Berlin), kann und muss es große Unterschiede in der Wahrnehmung von Echtheit geben sowie in der Einschätzung dessen, was „echt“ ist. Geschweige denn, wenn es darum geht, sich als Historiker eine mentale und emotionale „Zeitreise“ in eine vergangene Zeit zu verschaffen – also in eine vergangene Wirklichkeit, eine vergangene Echtheit, die ja auch schon damals, in Echtzeit, höchst subjektiv war. …“ | Aus: „Geschichte: Über Echtheit“ von Yoav Sapir (5. Oktober 2014) >> http://www.scilogs.de/un-zugehoerig/ueber-echtheit/