Kategorie: Wortbrocken.Cafe

[Sentimental am Gustav-Peters Platz… ]

1# Sentimentalität ist eine Form der emotionalen Selbststimulation ohne Handlungsantrieb.

2# Gegenwärtig trifft der Herbstanfang häufig auf den 22. oder 23. September.

Nein, auch wenn heute erst der 1 September ist. Für mich ist heute Herbstanfang. Ich kenne das schon, aber es steigert sich mit den Jahren – es ist die Sentimentalität ausgelöst durch einen spätsommerlichen Temperaturabfall. Ich fühle es im Bauch, im Margen, im Kopf, ein Anflug zart-schwerer Süße. Melancholie tanzt jetzt langsam im Sonnenlicht auf dem Balkon. Sie sieht in meine Augen und beginnt ganz leicht zweideutig zu lächeln. Schon schweife ich ab – sie lockt mich barfuß mit verspieltem Hüftschwung, mit leichten kreisenden, rückwärts gehenden Schritten. Mein Blick, ich ahne es, kann bereits nur noch ungenügend vorgeben, dass dieses zart-spöttische Entreißen aus der Gegenwart gegen meinen Willen wäre. Die Lust auf sentimentale Gedankensprünge und Rückbesinnung legt sich nun neben mir auf die unordentliche Matratze.

Wir liegen eine Zeitlang ganz still wie Geschwister zusammen. Wir horchen in uns hinein. Mit halb offenen Augen sehe ich, dass Melancholie versonnen und beiläufig die Weltkugel, die an einem Faden von der Zimmerdecke hängt, zur Seite schubst. Dann küsst sie mir die Stirn – wie eine Mutter ihren Sohn. Die Weltkugel zieht langsam elliptische Bahnen über uns. Wir lassen uns auf der Matratze treiben. Sie nimmt meinen Hand wie eine Frau, drückt fest zu und fragt: woran denkst du?

Wir schließen wieder die Augen. Ich erinnere mich zuerst nur an einen Geruch. Es ist der Geruch in einem alten Haus in Ratzeburg. Das Haus meiner Urgroßmutter. Es war eigentümlich – wir befinden uns irgendwo in der Mitte der siebziger Jahre. Das ganze Haus roch dezent vermodert. War es die Hausverkleidung, die mit Schimmelpilzen durchsetzt war? – Feuchtes grün lackiertes Holz, das wer weiß wie oft durch der Sonne Licht getrocknet – und immer wieder von neuem nass geregnet worden war? – Eine Holzverkleidung von der unten zum Boden hin der Lack abgeplatzt war?
Oder war es der Holzrahmen vom Komposthaufen im Garten wo die – waren es drei? – großen Kirschbäume standen. Dort wo die Stare hoch oben in den Zweigen krächzten? – Vielleicht verwechsle ich alles.

Im Keller vermischte sich der Geruch von altem grau schwarzem Mörtel mit dem dicken aromatischen Duft von gelagerten gelb-roten Äpfeln aus dem letzten Sommer (auf Zeitungspapier in Holzkisten eingelagert). Weiter hinten an der Wand: die Einweckgläser mit den eingekochten Mirabellen und Kirschen auf rustikalen Bretter-Regalen. Ich weiß nicht mal mehr ob die Erinnerungen echte Erinnerungen sind – oder ob ich sie mir nur (ohne es zu wissen) ausgedacht habe. Aber an den Geruch kann ich mich deutlich erinnern.

Im Schlafzimmer roch es besonders alt. Es waren die schweren Vorhänge, die früher als mein Urgroßvater noch gelebt haben mag, im Zigarrenrauch unmerklich langsam hin und her geschwungen haben mögen – auch war es wohl der Schweiß von alten Körpern.

Ich war hin und wieder zu Besuch bei Omi (meiner Urgroßmutter) – aber sie war irgendwie immer so weit weg. Es war eine unsichtbare Glaswand zwischen uns. Wenn sie mit mir redete war es mir, als könnte ich nie ganz präzise verstehen, was sie mir sagen wollte, obwohl ich die Worte hörte, die sie an mich richtete, konnte ich sie nicht recht verstehen.
Die einzige Sache, den ich sinngemäß noch rekonstruieren kann ist, dass ich dies faszinierende große Modellschiff, welches oben auf dem Holzschrank mit der Glastür stand, nicht zum spielen benutzen durfte.

Im Schlafzimmer war der hoch gewölbte bronzefarbene Bettbezug mit echten Daunenfedern gefüllt. Der dunkle Raum mit Bett und Vorhänge wog schwer für eine kleine Kindernase.

Die tickende Wanduhr mit ihren Eisenkettchen und goldenen länglichen Metallgewichten, die dunklen Teppiche an der Wand. Es war so still und leise am Gustav-Peters Platz zur Nacht – ich lag auf dem ausgeklappten Sofa mit einer Decke.

Draußen im Garten bei Kirschbäumen und Buchsbaumhecken lag immer schon die kopfgroße weiße Muschel (wer hatte sie nur aus dem Meer geholt?). Sie war zu einem drittel mit grünem Moos überwachsen. Ich dachte als Kind, diese Muschel würde bestimmt schon ewig da gelegen haben und würde auch immer da liegen bleiben.

Ich fuhr erst vor ein paar Jahren tatsächlich nach Ratzeburg. Ich wollte noch mal die überwachsene Muschel sehen. Aber schon das Haus war nicht mehr wiederzuerkennen. Immerhin stand es noch da. Natürlich machte nicht ‚Omi‘ die Tür auf, sie war vor bereits vielen Jahren in den Armen meiner Großmutter gestorben. Aber das Haus – ich bekomme die Bilder nicht mehr übereinandergelegt. Der Garten ist völlig verändert. Ich erkenne nichts wieder. Da hilft auch kein Tretbootfahren auf dem Ratzeburger See.

Auf dem Rückweg lief ich noch mal zum Auto – ich dachte: die Reise war umsonst, es ist nichts mehr da. Doch dann sehe ich aus den Augenwinkeln eine betagte Frau, die ‚am Gutav‘ – nicht nur aus einem Fenster gegenüber – sonder auch wie aus einem anderen Jahrhundert herausschaute. Nachdem ich ihr in groben Zügen von meinen Erinnerungen erzählt hatte, holte sie ein Photoalbum aus ihrem Haus und reichte es mir durch das Fenster. Die Bilder zeigten mir bräunlich-weiße (nicht schwarz-weiße) Bilder, auf denen meine Großmutter als Kind zu sehen war, auch Pferdegespann, und das Sonntagskleid einer vielleicht 5 Jährigen. Sie sagte: „Natürlich ja, an die ‚Stasi Drude‘ erinnere ich mich noch gut!…“. Aus dem Photoalbum sahen mich die Augen eines kleinen, etwas schüchternen Mädchens an. Mir wurden für kurz die Augen feucht, ich fragte mich, ob meine mir so herznahe 1998 an Alzheimer verstorbene Großmutter wohl jemals selbst diese etwas vergilbten braun-weißen Fotos gesehen hatte.

[Gemäßigte Entrissenheit… ]

// https://de.wikipedia.org/wiki/Affektenlehre

“ … René Descartes (1596-1650) beschreibt in seinem Werk Traité des passions de l’âme (Paris 1649) sechs Grundformen von Affekten, die zu zahlreichen Zwischenformen miteinander kombiniert werden können: Freude (joie), Hass (haine), Liebe (amour), Trauer (tristesse), Verlangen (désir), Bewunderung (admiration) …“

Es kommt mir der Gedanke (oder ist es ein Verdacht?), dass es verschiedenste „Grundformen von Affekten“ geben könnte. Wie wäre es zum Beispiel mit „gemäßigter Entrissenheit„. Eine Art Denken, welches Gefühlsanteile in sich trägt – und sich einstellen kann, wenn Gedanken sich (fast erstaunt) bei ihrer eigenen halbwegs automatischen Entstehung selbst zuschauen (nachdenken über die im Selbst entstehenden Gedanken).

Dabei geht es zeitlich mit dem Rad den Kantstein hinunter. Es ist ein altes Rad auf dem ich sitze. Das Hinterrad hat bereits angerostete Speichen – und wieder zu viel Spiel in der Hinterachse. Dabei war die alte Sachs-Dreigangnarbe erst vor ein paar Monaten neu eingestellt worden. Sie hat sich wohl selbst beim Fahren wieder losgeruckelt.

Vorbei driften mir zur Linken die Häuser in denen die Käuflichkeit Freudenfeste feiert. Ein Fenster ist geöffnet. Zwei junge Frauen sitzen im vierten Stockwerk auf dem Fensterbrett, rauchen und lachen etwas überschwänglich, leicht nervös aber auch durchaus selbstbewusst. Alle anderen roten Fenster sind verschlossen. Vielleicht machen sie sich über die Seinsweise und die tatsächlichen Gegebenheit der Klienten Lustig. Warum sollten sie da auch nicht lachen – mitten in dem verworrenen Verhältnis von Geld, Akt und Wahrheit.

Das Gleiten über die Straßen ist angenehm bei lauem Wind. Plötzlich beginnt die Affektillusion – Menschen auf Parkplätzen und Gehwegen werden zu gemäldehaft strukturierten Nebensachen, die Stadt verwandelte sich in ein Museum von Bauwerken mit Anhäufungen von seltsamen Objekten, Hauskanten, aufgeplatzten Teerdecken, Säulen aus Gussbeton, überwucherten Gehwegplatten, verrosteten Brückengeländer und moosüberzogene Mülleimer.

Die betrachtende Ziellosigkeit frönt als ein Rausch in mir. Das Wogengeplätscher der Kieler Förde und die Werftgeräusche, Dieselmotoren, Ampeln und Verkehrsschilder fliegen rein unter der Maßgabe der Ästhetik vorüber.

Ist das temporäre Entgleiten von konkreten präzisen Zielvorstellungen an meinem Zustand schuld? Ist es ein inneres Loslassen von Folgerichtigkeit für wenige Momente? – Ist es das zufällige Fehlen von ein paar Peitschenhieben auf meinem üblicherweise halb betäubten seelischen Apparat? – Und müssten wir nicht einem Schüttelfrost der Überforderung anheim fallen, wenn wir wirklich klar sehen würden, was jeden Moment in uns – und um uns herum passiert? Bräuchte nicht jeder von uns die Kraft von vielleicht so etwa 800 Gehirnen, um auch nur oberflächlich geistig wohl sortiert zu sein?

Meist zwingt uns eine Konsequenz von Dingen und Vorgängen in ein Korsett. Die Konsequenz bemächtigt sich meines Gehirns fast unbemerkt. Das führt im schlimmsten Fall zu einer Art Verhetzheit. Es geht beispielsweise einfach nur darum die Miete zu zahlen, essen zu müssen, verlässlich zu sein, mit den anderen mitzudenken, zu einem bestimmten Zeitpunkt irgendwo da zu sein, offensichtlich mitzufühlen, die Verantwortung für irgendetwas zu tragen, für das eine oder andere Problem Aufmerksamkeit zu haben, zu bemerken was hier und dort gespielt wird (und so weiter).

Und weil ich wegen der beschriebenen Dinge alles andere als diesen zwingenden Momenten enthoben sein kann, weil ich sonst auf lange Sicht gegen ein stehendes Auto oder eine Strassenlaterne knallen würde, weil ich mir sonst aus Selbstvergessenheit in die Hose pissen urinieren würde, weil ich sonst mit mir selbst in heftigste Konflikte käme, werde ich wohl meistens vernünftig sein und den vorgesehenen Strukturen gehorchen, also parieren.

So bleibe ich ein zersplitterter, zerbrochener und teilerblindeter Spiegel. Die meisten Dinge bleiben undeutlich. Manchmal blitzt ein klar umrissenes Bild auf, in dem bisschen Leben was uns je bleibt.

Also tun wir nicht so, als wären wir unseres Glückes Schmied. Wir sind nur ein kleiner Schweißtropfen unter der Achselhöhle von diesem. Und unseres Glückes Schmied lebt vielleicht genauso geistig prekär wie wir, er würde vielleicht lieber ein verworrener Fahrradfahrer an der Kieler Förde geworden sein – und flucht hin und wieder, so er denn mit voller Wucht auf seinen schweren alten Amboss schlägt.

[Bericht aus dem Hinterhof (06.06.2015)… ]

Kiel. Im Niemannsweg rauschen die Bäume ehrwürdig ruhig im Wind, die Borderline-Patienten sind ja auf offener Straße nicht zu sehen. Jeder Stadtteil hat seine Selbstverständlichkeit. Düsternbrook hält sich daran. Das Fahrrad klappert. Die abschüssige Kurve noch, dann zieht es mich wieder auf das Ostufer.
Auch auf dieser Seite der Kieler Förde ergeht man sich im Erfüllen von vorhersehbarem: von der Eckkneipe gegenüber brüllt ein Mann (wie alt mag er sein?) um die fünfzig mit versoffenem Ton einer Frau hinterher. Er bewirft alsdann die Dame mit einer vollen Flasche Bier, die Dame (schlau genug) ist aber schon um die Häuserecke verschwunden und entwichen. Der Flaschenwurf war um zwei Sekunden alkoholverzögert und auch nich zielgenau. Die noch mit dem silbernen Kronkorken verzierte braune Flasche prallt in leicht gebogener Bahn auf die Kühlerhaube von einen VW-Polo. Akustisch ein kurzes Znack-(Pause)-Zrotz-Klock-Klock-Geräusch. Eine kleine Delle im Lack. Eigentlich ist gar nichts passiert. Schon ist wieder Ruhe in der Medusastraße.
Das alte Rad klappert nun gesteigert beim überfahren des Kantsteins – und trägt mich weiter zu einer kleinen Pizzeria. Runter vom Rad. Bin in der Gutenbergstraße – gar nicht weit weg vom Schrevenpark.
Direkt neben mir geht ein hölzernes Garagentor auf. Ich sitze bereits auf einem Gartenstuhl in einem Hinterhof. Vom Holz und der Machart her betrachtet, könnte das knarrende Tor vielleicht in den 30iger Jahren zusammengebaut worden sein. Ein kleiner aber beleibter Bestattungsunternehmer mit stark augenvergrößernder Brille und schwarzer Anzugshose betritt das hinterhöfische Als-ob-Theater. Ein paar tapsige Schritte von kleinen breiten Füßen. Der Gang hat etwas marionettenhaftes. Doch die Füße, in Kunstleder und Gummisohle gebettet, haben keine Fäden und Ösen. Mit einer etwas zu engen und zugeknöpften Weste schiebt der Herr Bestatter den schwarz-rot-gold verzierten Kaffeebecher vor sich langsam über die mit etwas Unkraut umzingelten Kopfsteinpflaster. Er nimmt einen kleinen Schluck aus seinem nur noch mäßig dampfenden Deutschland-Becher. Der Herr in Schwarz sagt recht laut „ja, ja, ja…“. Ich frage mich dabei, ob er seine Worte an sich selbst, an niemanden, oder an mich adressiert hat. Möglicherweise weiß er es selber nicht genau. Wir sehen uns an. Er wagt sich noch zwei weitere Schritte zum Als-ob-Bühnenzentrum vor. Hinter ihm das geöffnete Garagentor. Dahinter nur noch dunkler Schatten. Noch ein mal entkommt seinem Mund ein „Ja, ja, ja.“
Die Sonne brennt auf den weißen Campingtisch. Ich fühle die Hitze auf dem Gesicht. Der Sommer 2015 hat begonnen. Es ist so hell, dass ich die Augen ein wenig zukneifen muss. Selbstvergessen und etwas verlegen nicke ich dem Mann samt seinem patriotischen Becher zu, schweige und esse das nächste Stück Pizza mit der Hand. Ich schließe die Augen ganz. Noch vor ein paar Minuten fuhr ich an einem Kiosk vorbei. Ein in der Sonne glänzender BMW liegt auf der linken Seitentür vor einem Zebrastreifen. Ein Polizist spricht in sein Funkgerät: „…ja zwei junge Männer, sie sind weggelaufen, ich brauche noch einen Wagen hier…“ – das Blaulicht des Notarztwagens geht fast unter, denn der Himmel ist ja schon so voller Blaulicht.
Schon will mir jemand freundlich auf dem Gehweg eine alte Kleinbildkamera verkaufen, die aussieht als wäre sie samt Schutzhülle und Bedienungsanleitung aus dem Nord-Ostseekanal gefischt worden. Die Kamera sieht mich halb erblindet an und ich höre das kurze Stöhnen einer verlotterten Weltseele.

[Es ist immer 17:09…]

Der orange-rote Klappziffernwecker steht seit Monaten auf 17:09 – ich sehe mir die Ziffern immer wieder wie zufällig an. Ich brauchte die Steckdose des Klappziffernweckers für den Drucker, der jetzt auf dem Holzstuhl steh. Dadurch habe ich eine symbolische Zeitstillstandszone in dem Zimmer hergestellt. Es ist immer 17:09. Es klappert nachts nicht mehr. Der Drucker ist für die Flugtickets in das Zimmer eingedrungen. Diese kleine schwarze Maschine druckt etwas aus und andere Maschinen lesen mit einem Piepp-geräusch am Flugplatz, was der kleine schwarze Drucker geschrieben hat. Ich als Mensch war nur der Übermittler auf 2 Beinen, der benötigt wurde, damit die zwei Maschinen miteinander reden können. Sie haben sich über das Stück Papier verabredet, dass eine Flugmaschine mich mitnehmen soll – bis in die Höhe von 11km. Immerhin sitze ich am Fenster. Nachts sehen die Großstädte von hier oben aus wie glühende Lava.
Lieber würde ich jetzt mit G. eine Zigarette rauchen in seiner kleinen Kellerküche. Wir könnten über Elektronenröhren reden. Zum Beispiel über die EL156. Seinen alten zerfledderten Arbeitssessel hat G. kürzlich aus der Kellerwohnung verbannt – der stand dort über Jahrzehnte. Wir haben so manche Nacht auf ihm gesessen und G. hat dann gekonnt den Lötkolben geschwungen. Er wollte schon seit Jahren mal alles umbauen und wieder Platz schaffen. Jetzt hat er mit dem Sessel augenscheinlich begonnen den Gedanken in die Tat umzusetzen.
Oder ich könnte bei S. einen Becher Kaffee trinken in der Wik. Dort wo die alten Klinikgebäude im Anscharpark zerfallen. S. sagt, sie könne nichts für Später zurücklegen, obwohl sie die ganze Zeit wie wild arbeitet. Manchen Gästen würde sie gern andere Preise für das Essen abverlangen. Höhere Preise für die Kieler-Nachrichten-Leser, gleichbleibende Preise für die Leute, die sie immer schon unterstützt hätten.
Oder ich würde mit V. über Musikequipment reden. Vielleicht würden wir dann etwas später loslegen, V. würde in die Tasten hauen – und ich die Gitarrenseiten hin und her schwingen lassen. Aber V. arbeitet jetzt in Hamburg, kommt darum seit den letzten Wochen etwas später zur Probe.
Oder ich begegne T. im Treppenhaus. Wie das wohl wird. Gerade wurden „wir“ verkauft. Das alte Haus aus der Jahrhundertwende hat die Kontonummern und den Besitzer gewechselt. Unten aus dem Keller kommt etwas vermoderte Luft, diese reicht aber nur bis in den ersten Stock. Wir lächeln uns kurz an – und fragen einander wie es uns denn so geht – und ich würde T. vielleicht fragen, ob die Stadtwerke den Strom in seiner Wohnung wieder eingeschaltet hätten.
Es ist 17:09. Ich liege im Bett, habe die Augen zu. Ich schlafe. Ich träume. Es ist nicht leicht Dich (meine erste große Liebe) so zu sehen. Warum liegst du im Bett? Warum hat du dich die letzten 25 Jahre nicht verändert? – Warum sagst du denn nichts? – Ach, es war nur ein Traum. Es ist wieder morgens. Es ist 17:09. Ich trinke einen Becher Kaffee mit J. – ein Blick in die Augen, ein schneller Kuss, schon halb im Flur. Mal schnell quer über die Straße. Ein Stück weiter überblickt der Funkturm die Stadt. Als würde er uns alle ungerührt beobachten, wie ein alter bentongrauer ungelenker Mann auf einem Bein, der seit Jahren inne hält. Die Linie 41 war gerade noch zu bekommen, denn das Rasieren hat zu lange gedauert. Die zwei Halogenlampenreihen an der Linienbusdecke fluchten als Parallelen über unseren Köpfen. Diese seltsame Mischung von Anonymität und Privatheit ist ein ungeheure Quelle für den Psychogeographen. Hier tritt alles zu Tage, die eher leeren Blicke der Müdigkeit, oder wer mit wem den Augenkontakt wagt, wer sich mit Kopfhörer und Touchscreen in die cybernetische Welt der Taschentelefone zurückzieht. Wer traurig ist, wer noch fast wie betäubt sich fühlt, wer in der morgendlichen Ich-Verdünntheit mit wackeligen Gedanken auf die Reise gegangen ist.

[Die kaum beleuchteten Objekte… ]

Wenn das Wasser in die Schuhe läuft. Wenn die rostigen Spritzwassertropfen das Fahrradkettenfett umspielen. Die Wolken über mir im Dunkeln brechen. Wenn ich hungrig an Julias Pflaumenkuchen denke, so erscheint mir der allein gelassene Fahrradweg – und die kaum beleuchteten Objekte – wie ein Museum für unbeobachtete Situationen.
An der Gitarre bin ich am Ende fast im stehen eingeschlafen, die Handgelenke und Finger wurden lahm. Doch ich war froh und enthoben von den Klängen, die wir erschufen – und so rauchten wir zuletzt dann eine Zigarette noch.

[Morgens am Ostring (Blütenbeschreibungen)… ]

Erst mittags – in einem Raum mit verwirrend vielen Waschbecken, wird mir vor einem der Spiegel bewusst, dass ich das T-Shirt verkehrt herum trage (die Nähte sind nach außen gekehrt).
Faszinierend, wie ich die Handgriffe unter der Dusche und im Badezimmer durch ständige Wiederholung in der Zeit immer weiter automatisiert habe. Ich bin zwar gar nicht wach, aber der Ablauf geht wie von allein – so ist das vielleicht mit dem T-Shirt zu erklären. Der Moment war womöglich wie ein Automobil (selbst beweglich). Die Bewegungen der Automobile sind besetzt mit seltsamen Fahrergesichtern, die an mir vorbei schwirren.
Aufgewacht bin ich dann morgens am Ostring. Ich warte auf grünes Licht an einem Knotenpunkt – an einer der Hauptschlagadern der Stadt. Nachts kann man die weißen und roten Blutkörperchen (Autos von vorn – weißes Licht; Autos von hinten – rotes Licht) sehen.
Jetzt ist der Himmel über mir blau. Fast überall. Der Kieler Funkturm aus Beton steht kerzengerade in mitten einer kleinen grauen Wolke. Die Wolke sieht nicht echt aus. Sie bewegt sich nicht. Die Wolke sieht aus, als wäre sie eine Airbrush Auftragskunst.
Ich muss husten (ich hatte keine Wahl). Die Erkältung ist hartnäckig. Da hilft es, einen erhitzten Fliederbeersaft plus Honig mit J. zu trinken – wir teilen uns morgens den Kaffee und momentan zusätzlich einen grippalen Infekt.
Was für ein glänzend gelbliches Herbstlicht. Am Anfang nervten mich die zarten Blütenbeschreibungen in dem Tagebuch von Hans Carossa (Tagebücher 1910-1918). Der Autor hält auch im gesteigerten Kriegswahn an seinen Wetter – und Pflanzenbeschreibungen fest, sie erscheinen mir zunehmend in einem ganz anderen Licht (wenn er als Frontarzt angesichts der wahllos hin gemordeten Massen an Mitmenschen weiterhin an seinen Wetter – und Pflanzenbeschreibungen festhält).
Bei André Gide (Aus den Tagebüchern 1889-1939) stoße ich auf Selbstdisziplinierungsversuche (z.B. Schweigen zu können) – und auf das Motiv andere willentlich zu verwirren. Besonders verwirrend finde ich sein Konzept das vorher geplante „Verwirrung stiften“ bei einer Person als einen geplanten Akt der Selbstdisziplin zu sehen – oder habe ich das alles nur falsch zusammengereimt (mir sind beim lesen öfter die Augen zugefallen)?
Und Elternabende sind kein Aphrodisiakum. So anstrengender, beharrlicher, verkrampfter die Eltern in den Gesprächsrunde sind, um so leichter fällt es mir die guillotinesken Gedanken der Lehrkräfte zu erahnen.
Aber ich bin am Ostring. Am Ostring starre ich für einen unkontrollierten Bruchteil einer Sekunde auf die straff mit dunkelbraunen groben Baumwollsocken umhüllten Fußballgestärkten und von Kraft wie Ausdauer strotzenden Waden einer Fußballspielerin. Sie sitzt vor mir an der Ampel auf dem Rad. Die Fußgängerampel am Ostring lässt uns lange nebeneinander warten. Die Automobile werden bevorzugt behandelt. Schnell erteile ich der „Ich-möchte-wie-ein-leerer-Karton-von-ihren-Schnenkeln-zerquetscht-werden“ Phantasie eine Absage. Aber ich erinnerte mich nebenbei, wie viel Spaß wir im Vorschulalter daran hatten „Sklave“ zu spielen – natürlich nur, wenn die um ein paar Jahre ältere Nachbarin (hieß sie Stefanie?) dabei war. Mit jemand anderen wäre unsere Spielidee nie aufgekommen. Wir fragten uns hin und wieder meist etwas verschämt den Kopf zur Seite wippend: „Wollen wir Sklave spielen?“ – Wir liefen zur Wiese mit der Au. Dann riss sie einen besonders jungen und biegsamen Zweig von einem Strauch, schlug mich zärtlich und redete gedämpft-lautstark auf mich ein, welche Fehler ich bei meiner Sklavenarbeit gemacht hätte. Jetzt müsse sie mich strafen. Ich musste dann „Aaaar-ohhh!“ stöhnen.
Die Glühlampe im Badezimmer ist durchgebrannt. Das bedeutet Zähne putzen im Schummerlicht.

[Festgeschraubte Sekunden… ]

Du öffnest mir mit künstlichen Vampirzähnen die Hinterhoftür.
Es riecht nach vertrocknetem Kaffee.
In dieser Nacht sind alle anderen Häuser der Stadt unbewohnt.
Bücher springen auf, die Dichter steigen aus ihren Gräbern.

-.-

Worte halten den Atem an und starren auf das Bild an der Wand.
Worte bleiben stehen und wollen sich nicht in das Gedankenfluss-Wasser fallen lassen.
Wie du die steinerne Treppe hoch steigst.
Eine festgeschraubte Sekunde aus deinem Leben.
Als Dia auf die Wand geworfen.
Alles hat sich jetzt ausgetauscht und abgenutzt.
Dein weites Hemd.
Die Jeans.
Die Lederschuhe.
Unsere Zellen.
Ich komme nicht mehr heimlich in der Nacht.
Du schreibst keine Briefe mehr.

-.-

Wie du die Augenbrauen im Zigarettenrauch hochgezogen hast morgens um 3:45 – und gelacht hast bei:
(Nick Cave, Into my arms ): „… I don’t believe in an interventionist God
But I know, darling, that you do…

Ich weiß nicht, war es Romantische Ironie ** – um derentwillen wir lächelten und frohlockten?

… Romantische Ironie meint nicht einfach die ironische Brechung von romantischen Ästhetik-Elementen, vielmehr zählt sie sich selbst zu diesen Elementen romantischer Ästhetik. Romantische Ironie ist weder gänzlich zu trennen von Verfahren der ästhetischen Illusionsbrechung, noch mit solchen einfach gleichzusetzen – die nachträgliche Störung von zunächst aufgebauter ästhetischer Illusion gehört unter anderem zu ihrem Repertoire, aber auch das nachträgliche Unterlaufen von zuvor aufgestellten inhaltlichen Positionen. …

-.-

Und Jahre später, als ich an der Briefklappe gerüttelt hatte, ging es dir nicht gut und du sagtest: „Ich komme die Treppe nicht runter – ich melde mich, wenn es mir wieder besser geht.“ – Jahre sind vergangen. Ich fahre immer mal wieder verstohlen an der Mietwohnung vorbei – und sehe nach, ob dein Name noch auf dem Klingelschild steht.

[Halböffentlichkeit… ]

Haben Sie schon mal im Dunkeln geküsst, ja? (Evelyn Künneke)

-.-

:: Irgendwann muss sich jeder abarbeiten an den Vorstellungen, die erst in der Erinnerung wahr werden. Unter der Bettdecke sagst du: „Wir sind Träumer“ – aber was bedeutet dies in einer unüberschaubaren Situation? – Langsam rieselt der Kaffee auf den Boden des Bechers. Rodeo-Kaffee. Wie hoffnungsvoll ein Schluchzen sein kann. Ich denke an die Schneekönigin: nur das Kay Gerda ist – und Gerda Kay. Also wird Gerda und nicht Kay von Splittern des Zauberspiegels getroffen. Ich glaube der Splitter hat dein Herz nur ein wenig angeritzt. Schlimm genug. Aber der Splitter ist nicht so mächtig, als das er dein Herz in einen Eisklumpen verwandeln könnte. Darum muss Gerda jetzt schluchzen und es fehlt noch etwas Milch in deinem heißen Rodeo-Kaffee. Und wenn wir auch schluchzen, sind wir wehrhafte Träumer.

-.-

:: Wenn du da so liegst – direkt nach der Arbeit. Die Sachen liegen wild umher. Du bist frisch verliebt. Warum wirkt das nur so weltversöhnlich?

-.-

:: Langsam schlängelt sich ein aparter Duft in die Nase. Ich sehe nach draußen oder leite den Blick über auf die Spiegelbilder in den Fensterscheiben. „Nein, ich weiß nicht wo ich bin, ich glaube ich habe mich verfahren, … ja ich sitze im falschen Bus. …“ Erst vermute ich einen Akzent heraus zu hören. Doch so mehr sie apart in das Telefon spricht, so mehr Worte sie von sich gibt, um so mehr gebe ich jegliche Vermutung auf. Ich erahne nicht im Geringsten woher sie kommen könnte. Sie weiß nicht wo sie ist. Meistens sind Telefonate im Linienbus abgrundtief blöd. Halbe Wahrheiten in der Halböffentlichkeit. Nicht so offensiv wie das Telefonieren vor einer Eistruhe im Supermarkt („Welche Pizza soll ich denn nun nehemn?!… Nee, komm sag schon!…“), aber oft noch deplatzierter. Das Telefon wird zu einer ausgestellten Nabelschnur. Das Gespräch ist zu ende. Rote Locken fallen ihr in das Gesicht. Die Tür öffnet sich. Der Gesichtsausdruck ist etwas vorfreudig und leicht verwirrt.

[Unter der Balustrade… ]

Kiel. Kalter Regen und vereinzelt Schnee. Der schmilzt gleich wieder auf dem Gehsteig. Es ist dunkel auf nassen Straßen. Ein neues Jahr hat begonnen. Ich will noch eine Geschichte kopieren. Im Laden ist es warm. Der Laden hat ein paar Neonröhren an der Decke. Ich öffne die Klappe. Die Tür geht auf. Das Kopiergerät verstellt mir den Blick. Langsam versuche ich mich bodennah um 90 Grad zu drehen und zu fokussieren. Noch jemand muss hereingekommen sein. Für den lächelnden Ladeninhaber an der Ladentheke neben der Kasse müssten wir zwei Kunden sichtbar sein. Er kann alles sehen, wie bei einem beleuchteten Aquarium. Ich sehe immer noch nichts. Schriftzeichen von gesprochenen Worten fliegenden auf mich zu, ohne das ich die Ausmündung der Buchstaben zu Gesicht bekomme hätte. Jetzt kann ich einen Mund sehen. Da sind auch noch zwei Augen mit der Frau dazu. Was ist das für ein seltener Blick? Der Blick geleitet das weibliche Wesen als ganzes sanft wie einen Fisch durch das Wasser. Was ich sehe sind zwei wechselhafte und auch unterschiedliche Augen. Das bedeutet: das eine Auge schließt sich stärker und schneller als das andere beim sprechen. „Passiert es dir ganz von allein? – Weißt du etwas von der dynamischen Ausdrucksstärke deiner Augen? – Machst du es mit Berechnung?“ Sie schiebt den nun geschlossen Mund etwas nach rechts und macht eine kurze Pause: „Ja, das ist schon auch meine ungewollte Wirkung – ich habe das meistens beim Sprechen und beim Blinzeln – ich weiß davon, aber nicht immer.“ Und wieder, mitten in der Unterhaltung, sekundenlangsam bewegt sich der Lidschlag bei den Worten unterschiedlich. „Kann man so etwas üben? – Oder ist so etwas angeboren?“ Sie sagt: „Sieh genau hin!“ – Ihr Mund öffnet sich. Es tanzen weitere Sätze. Die Buchstabenkolonnen fluten taumelnd hinaus. Die Worte füllen zwar nur den oberen Rand meiner DIN A4 Seite, aber ich habe ihren Text immerhin abgefangen. Ich zeige ihr das Blatt Papier: „Wie findest du die Schrift?“ Jetzt bekomme ich eine Lächeln geschenkt. Es tropft und ich schäme mich für meine Haare, die wegen des Schneeregenwassers noch etwas triefen. Sie sagt: „Du hast zu sehr auf meinen Mund geachtet. Es geht aber auch um die Augen. Ich mache es noch ein mal, sieh genau hin!“ – Ich sehe jetzt die Letter direkt vor den unterschiedlich schnell herabfahrenden Augenlidern. Wäre ich ein A, ein B, oder ein C – oder ein Wort – ich wäre in Gefahr auseinander zu brechen. „Ich gebe auf. Ich verstehe es nicht. Warum können wir nicht zur Vereinfachung die Sexualität in der Ontologie verschachteln?“. Sie lacht mich mit geschlossenem Mund lautlos aus – und nickt dann langsam. „Du meinst die Dinge gesondert betrachten? – Du meinst das Reale? – Du meinst den unauflösbaren Rest, der in dem Imaginären und des Symbolischen nicht aufgeht? – Zwischen Mensch und Mensch?“ Ich betrachte den Kachelboden: „Zum Beispiel bleibt ein Teil vom realen Glänzen deiner Tränenflüssigkeit am Seienden ganz allgemein haften. Irgendwann werde ich eine Geschichte darüber schreiben, diese Geschichte hier, um mir diesen Glanz wieder aus dem Kopf zu jagen.“ Sie sagt: „Okay, versuchen wir es noch einmal – ich zeige dir meine Augenwelle noch einmal in Zeitlupe.“ Sie legt sich über den Fotokopierer und zeigt mir die unsymmetrische Wellenbewegung. Der Ladenbesitzer macht dabei eine kleine gelbe Dose auf, springt über die Theke, tanzt wie nichts über die Leitz Aktenordner, Radiergummis und Filzbuntstifte landet im Mittelgang und streut uns Fischfutter in die Luft.
Natürlich, das alles glaubt kein Mensch – aber die fliegend lachende Spöttertruppe, die himmelhochjauzende Lachbande mit ihren Instrumenten, die kennt so etwas. Sie flogen wärend der Geschichte gerade über den Vinetaplatz. Sie sahen abwechselnd durch die kleine Fensterluke des Copyshops. Dann suchten sie sich einen Balkon und drängten sich unter die Balustrade. Denn nicht mal die musikalischen Himmelsbanditen mögen den Kiel-Gaardener Schneeregen.

[Jean Nicolas Arthur Rimbaud… ]

via https://secure.flickr.com/photos/cicilie/161206431/

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»Arthur Rimbaud und zwei seiner Zeitgenossen – der zehn Jahre ältere Nietzsche und der anderthalb Jahre jüngere Freud – haben zur Entzauberung des Ichs in besonderer Weise beigetragen, indem sie in seinem Inneren selbst ein Anderes, ein Nicht-Ich kenntlich machten.« (Helmut Dahmer)

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Vortrag von Prof. Dr. Helmut Dahmer (Wien) [https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Dahmer]. Dritter Teil der Reihe KUNST, SPEKTAKEL, REVOLUTION aus Weimar zu Gesellschaftskritik und Ästhetik, live mitgeschnitten am 25. November 2012 im Golem. (58 Min.)

via http://golem.kr/?p=2946

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Arthur Rimbaud (1854-1891)
https://de.wikipedia.org/wiki/Arthur_Rimbaud

[Zum Wahn der Liebe #23… ]

Ein Lachen des Abgrunds, der Macht, der Ironie, des Wahns und der Belustigung. Ich hatte es in der Form noch nie von dir gehört. Eigentlich habe ich es erst Stunden später erinnert. Im Grunde habe ich es erst in der Erinnerung wieder entdeckt. Ich kann es nicht deuten. Die halbe Flasche Rotwein aus Südfrankreich steht auf dem verstimmten Klavier. Es war ein Lachen so wunderbar nebensächlich stark und obskur, es war ja auch nur ein kleiner Augenblick. Wenn ich will, höre ich es noch. Es ist mir nun zu einer mentalen Skulptur im Hinterkopf geworden.

[Die Rotwein Episode in Paris… ]

Ich nenne ihn den Physiker. Bei den ersten gemeinsamen Fahrten ist er mir kaum aufgefallen. Aber seit er mir früh am morgen, vor dem ersten Becher Kaffee, mit leicht krächzender Stimmlage mit einer Theorie über die Krümmung von Raum und Zeit kam, blieb er mir als ein besonderer Fahrgast in Erinnerung. Im Mittelgang, die Augen waren auf die Welt da draußen gerichtet, wurde ich zufällige Mithörer einer kurzen Linienbusunterhaltung. Der Physiker erzählte jemanden seine kleine pariser Rotwein Episode. Es trug sich zu, das er vor Jahren eben in Paris, in einem chinesischen Restaurant frustriert über das Essen war. Nein, es schmeckte ihm wirklich nicht. Aus einem ihm unerklärlichen Affekt heraus trank er deshalb kurzfristig eine Flasche Rotwein. Für einen Augenblick hatte ihn seine sonst so dominant rationaler Charakter im Stich gelassen. Dieser Rotwein war für den Magen des Physikers völlig ungewohnt, denn er merkte noch an, das er in seinem Leben durchaus nur dieses eine mal „besoffen“ gewesen war. Er musste dann ein wenig später schnell aus einem Linienbus springen, um irgendwo in Paris „über seine Stiefel kotzen“ zu können. Aus den Augenwinkeln sehe ich dann den Physiker auf dem Gehsteig stehen, wie er sich unnachahmlich verlangsamt eine Zigarette aus der Schachtel zieht. Ich bewundere ihn – ohne ihn auch nur annähernd zu kennen, oder kennen zu wollen. Die Fahrt geht weiter. Liegt es am November? – Mir kommt es vor, als wären wir besonders im November alle traurige Clowns. Auf der einen Seite hege ich ausufernde Faszination für Mikromomente. Wahllos herausgegriffen sind mir Situationen dann äußerst intensiv – jedoch nur für den Bruchteile einer Sekunde. Dann laufe ich wieder schlingernd der Weltbühne hinterher. Ich fühle dann teilhaftig wie ein Kind, das mit baumelnden Füßen auf dem Rücksitz eines Autos sitzt, das Auto fährt zu schnell durch die Nacht und ich sehe durch die regentropfen-fluchtende Frontscheibe. Die roten Rücklichter der Fahrzeuge wackeln und verschwimmen.

[Morgennebel… ]

Er liegt mit aufgerissenem Augen am Straßenrand. Jetzt bin ich zum zweiten mal an einem toten Kater, vorbei gelaufen. Wäre ich wie gewöhnlich mit der Linie 41 gefahren, hätte wir uns nie getroffen. Tautropfen hat er auf seinem Fell. Über der Straße schwebt noch Morgennebel und schräg über uns knistern leise die Leitungen der Hochspannungsmasten.
Ein paar Schritte weiter kann ich noch nicht ganz Abstand nehmen davon, mich still danach zu fragen, was mit uns beiden los ist. Du Kater bist uns restlichen ein Stück voraus. Trotz oder gerade wegen der 1000 Berichte, Nachrichten und Analysen. Trotz meines überquellenden Fressnapfes von Informationen aus den 1000 Magischen Kanälen. Vielleicht sind wir uns immer fremder geworden. Ich dachte mal es wäre einfach – sich zu treffen. Sich wirklich zu treffen, so ganz nebenbei. Aber fast alles lenkt uns ab. Normalerweise wäre ich nicht mit der Linie 901 gefahren und hätte dich nicht getroffen. Aber die Zeit tritt die Türen ein. Ein flinkes Beil zertrümmert uns beiden die Persönlichkeitskonturen. Das ist die Zeit. Deine Pfoten sehen so aus, als wären sie eben noch flink über die Straße geflogen. Meine Schuhe unternehmen zwar noch Schritte, aber deine Pfoten wirken geschickter. Warum bist du hier herumgeschlichen? Ich muss weiter und fühle, das unten im Keller meiner Sprache die Funken der Affekte zischen. Eigentlich war ich noch gar nicht ganz wach – und es herrscht Wirrwarr in meinem Blick, der auf dich traf. Ich glaube, das wir uns blutige Pfoten und Finger holen würden, sobald wir versuchten unsere in Stücke liegenden Selbstbilder zusammen zu schieben. Jetzt sehe ich dich nicht mehr du alter steif gewordener Kater – und bemerke nur noch die Gewinde um meine Satzbauzündkerze. Nun, ich vermute unser kleines Zusammentreffen war ein kurzes barockes Zucken mitten in den Kulissen des Theatrum mundi. Das Dach dieses Welttheaters hat Risse. Wir haben sie nicht mehr alle. Ruiniert sind unsere kindlichen Prachtbauten und Wunschschlösser. Schimmel ist in der Luft und vermischt sich mit Tabakrauch. Fast unmerklich. Und im Kerzenlicht würden unsere Gesichter zu lustigen Teufelsfratzen – und in den Augen tanzt der Schalk.

[Überlagerungen im Herbst… ]

Wenn die Gedanken zu Menschen hineilen. Oder wenn Gedanken zu den Vorstellungen, welche sich in der Erinnerung festgesetzt haben, hin laufen. Und ich gerade das Hemd ausziehe – denn ich muss noch duschen. Das Zimmer ist zerwühlt. Wir lagen aber in deinem Zimmer und erzählten von den Dingen, die um uns schwirren. Und bei deinem Klavier will eine einzige Taste nicht mehr recht erklingen, sie will nicht mehr funktionieren. Mal geht sie, mal nicht. Den Flur entlang – in dem kleinen provisorische Labor liegen die elektronischen Klangerzeuger und Tastaturen überall verstreut. Der Blick morgens aus dem Erker im 2. Stockwerk. Die Straße mit Kopfsteinpflaster da unten und der Gehweg ist aufgerissenen. Dort liegt meine Hingebung. Schnell noch eine Zigarette denkt sich der Mann mit der Schaufel und den lehmigen Arbeiterstiefeln. Ja ja das Haus (nebenan) wird an die Fernwärme angeschlossen sagt er. Der Boden ist nass und kalt. Die Ziegel des abgetreten restlichen Gehwegs glänzen matt. Ich denke einen anderen Tag: ganz zu recht hast du mich nur zögerlich in den Arm genommen, wir wissen wie verschieden wir ticken. Später im Krankenhaus trommelt wieder die beflügelte Spaßtruppe von außen gegen die Fensterscheibe. Die fliegenden Spaßmusiker, der lachende Engelschor. Sie tragen in der Mitte eine große goldene Uhr. Sie zeigen mit großen Gesten auf das Ziffernblatt um dann flatternd in Gelächter auszubrechen. Jetzt liegt das Buch von Zumbach (über Edgar Allan Poe) auf deinem Krankentischen. Mir macht es nichts aus, das du so verändert aussiehst. Ich habe so viele Bilder von Dir abgespeichert und eingelagert, das sich diese Bilder in abgestuften Schichten über das aktuelle Bild legen.
& Später in der Elisabethstrasse (die wir hier als verbliebene Freunde verliebt-zärtlich die Elli nennen) bekomme ich von Herrn Sternjäger einem Apfel frisch aus seinem Garten geschenkt. Er schmeckt köstlich. Da kann man einen Wurm verstehen. Er hat rote Backen. Es ist Herbst.

[Gedankliche Abstufungen… ]

Man trägt immer diese Reste mit sich herum. Sie vervollständigen lückenhafte Bilder und manchmal sind sie sehr nahrhaft. Manchmal bleiben sie allerdings im Halse stecken, mal im eigenen und ein anderes Mal in dem von einem anderen.

Aus: „Reste“ (muetzenfalterin, März 28, 2012)
https://muetzenfalterin.wordpress.com/2012/03/28/reste/

-.-

Als ich tot war, konnte ich in der Luft tanzen. Oh mein nicht existierender Gott im Himmel – ich denke Burnt Weeny Sandwich wird mit jedem Jahr besser. Die letzten 4 Jahre hatte ich vergessen Burnt Weeny Sandwich zu hören. Es gibt Unkraut auf dem Balkon. Die Blumen auf diesem blauen Planeten sind ein Wunder. Aber ich bin nicht auf dem Balkon. Ich muss ja arbeiten. Ich hatte vergessen, das es Burnt Weeny Sandwich überhaupt gibt. Da hilft kein Schmetterling-Sammeln und aufspießen. Das würde ich nie tun. Jede lebendige gelbe Löwenzahnblume hebt mich aus der Umlaufbahn der Gefühle. Julietta verschlag und rettete mich. Es ist Frühling.
Der Sonderbare Kerl biegt in die Seitenstraße ein. Er murmelt „Ja, ja, die nicht lösbaren Verwirrungen.“ – Er hält einen blauen Wagen an: „Bitte kurbeln Sie mal die Scheibe herunter – keine Angst. Ich werde ihre Probleme nicht lösen.“
Er beugt sich zum Fahrer: „Wenn ein Gedankenmodul ungefragt anspringt und eine Situation, mag sie in der Kindheit liegen, mag sie Teil einer Liebe gewesen sein, oder mag sie ein wie immer gearteter Ausdruck eines Konfliktes gewesen sein – und die Verwirrungen, die Verletzungen, das Verlangen, die Freuden, das Verbotene kennt viele Abstufungen. Schauen Sie mir in die Augen. Nur Mut! Wie sieht er aus? – Ich meine ihr ganz persönlicher seelischer Müllhaufen. Warum fahren sie weg?! – Wenn Sie die Welt zur Seite schieben verbrauchen Sie nur viel zu viel Energie!“
Der Wagen fährt weiter. Die letzten Worte verhallen in der Elisabethstraße. Der Fahrer schüttelt den Kopf und verdreht die Augen. Immer diese armen Irren. Ein anderer sonderbarer Kerl ruft von der anderen Seite des Bürgersteigs: „Aber der Gedankenapparat wird wieder und wieder alles Unverdaute durchspielen, es bekommt dann den Charakter einer automatisierten Gedankenarbeit. Es ist fast wie beim automatischen Schreiben. Dem einen nutzt es, den anderen quält es.“
Der andere sonderbare Kerl hebt seine Arme zum Himmel und ruft: „Wäre die Unlösbarkeit eines Konfliktes die Voraussetzung für die Gedankliche Wiederholung der Erinnerung – so ist jedoch der Charakter unser Erinnerungen durchaus verschieden. Nur unsere Köpfe lassen uns keine Ruhe – sieh dir Trinker an – wenn sie schon ganz betäubt sind – meistens müssen sie immer noch reden – aber die routinemäßigen Aufräumarbeiten des Geistes stoßen durchaus an ihre Grenzen!“
Ein Passant bringt sich in die Unterhaltung ein: „Der blaue Wagen ist weg. Aber ich bin mir manchmal selbst begegnet – als Kind. Ich hatte plötzlich dieses ungeheure Gefühl. Ich wusste intuitiv wie schwer es ist in einem solchen Alter. Ich konnte kaum an mich halten. Als mir die Tränen kamen, war es so ein befreiendes Gefühl.“ – „Warten Sie mal.“ sagte eine Frau mit Einkauftüten. „Meistens überfährt uns das Leben, wir kommen nicht mehr hinter her, die Dinge überholen uns, manchmal denken wir daran, aber es gibt diese Augenblicke, da kann ich ganz losgelöst sein, dann ist es als würde ich in der Luft tanzen. Alle Last fällt von den Schultern. Und wer will schon in einer Familie groß werden? Das muss man allein tun – Familien sind getränkt mit Wahnsinn – und jede große Liebe wird im Himmel beschlossen.“

Es ist Mai. Die Luft ist feucht. Und auf dem gegenüberliegenden Balkon, singt jemand mit einem weißen T-Shirt leise während er sich eine Zigarette dreht (from: „Valarie“; Burnt Weeny Sandwich, 1970):
Although you don’t want me no more
Oh, but it’s alright, alright with me
‚Cause you know, you’re gonna want me some day
Yes, you will want me, and I’ll run away

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