1# Sentimentalität ist eine Form der emotionalen Selbststimulation ohne Handlungsantrieb.
2# Gegenwärtig trifft der Herbstanfang häufig auf den 22. oder 23. September.
Nein, auch wenn heute erst der 1 September ist. Für mich ist heute Herbstanfang. Ich kenne das schon, aber es steigert sich mit den Jahren – es ist die Sentimentalität ausgelöst durch einen spätsommerlichen Temperaturabfall. Ich fühle es im Bauch, im Margen, im Kopf, ein Anflug zart-schwerer Süße. Melancholie tanzt jetzt langsam im Sonnenlicht auf dem Balkon. Sie sieht in meine Augen und beginnt ganz leicht zweideutig zu lächeln. Schon schweife ich ab – sie lockt mich barfuß mit verspieltem Hüftschwung, mit leichten kreisenden, rückwärts gehenden Schritten. Mein Blick, ich ahne es, kann bereits nur noch ungenügend vorgeben, dass dieses zart-spöttische Entreißen aus der Gegenwart gegen meinen Willen wäre. Die Lust auf sentimentale Gedankensprünge und Rückbesinnung legt sich nun neben mir auf die unordentliche Matratze.
Wir liegen eine Zeitlang ganz still wie Geschwister zusammen. Wir horchen in uns hinein. Mit halb offenen Augen sehe ich, dass Melancholie versonnen und beiläufig die Weltkugel, die an einem Faden von der Zimmerdecke hängt, zur Seite schubst. Dann küsst sie mir die Stirn – wie eine Mutter ihren Sohn. Die Weltkugel zieht langsam elliptische Bahnen über uns. Wir lassen uns auf der Matratze treiben. Sie nimmt meinen Hand wie eine Frau, drückt fest zu und fragt: woran denkst du?
Wir schließen wieder die Augen. Ich erinnere mich zuerst nur an einen Geruch. Es ist der Geruch in einem alten Haus in Ratzeburg. Das Haus meiner Urgroßmutter. Es war eigentümlich – wir befinden uns irgendwo in der Mitte der siebziger Jahre. Das ganze Haus roch dezent vermodert. War es die Hausverkleidung, die mit Schimmelpilzen durchsetzt war? – Feuchtes grün lackiertes Holz, das wer weiß wie oft durch der Sonne Licht getrocknet – und immer wieder von neuem nass geregnet worden war? – Eine Holzverkleidung von der unten zum Boden hin der Lack abgeplatzt war?
Oder war es der Holzrahmen vom Komposthaufen im Garten wo die – waren es drei? – großen Kirschbäume standen. Dort wo die Stare hoch oben in den Zweigen krächzten? – Vielleicht verwechsle ich alles.
Im Keller vermischte sich der Geruch von altem grau schwarzem Mörtel mit dem dicken aromatischen Duft von gelagerten gelb-roten Äpfeln aus dem letzten Sommer (auf Zeitungspapier in Holzkisten eingelagert). Weiter hinten an der Wand: die Einweckgläser mit den eingekochten Mirabellen und Kirschen auf rustikalen Bretter-Regalen. Ich weiß nicht mal mehr ob die Erinnerungen echte Erinnerungen sind – oder ob ich sie mir nur (ohne es zu wissen) ausgedacht habe. Aber an den Geruch kann ich mich deutlich erinnern.
Im Schlafzimmer roch es besonders alt. Es waren die schweren Vorhänge, die früher als mein Urgroßvater noch gelebt haben mag, im Zigarrenrauch unmerklich langsam hin und her geschwungen haben mögen – auch war es wohl der Schweiß von alten Körpern.
Ich war hin und wieder zu Besuch bei Omi (meiner Urgroßmutter) – aber sie war irgendwie immer so weit weg. Es war eine unsichtbare Glaswand zwischen uns. Wenn sie mit mir redete war es mir, als könnte ich nie ganz präzise verstehen, was sie mir sagen wollte, obwohl ich die Worte hörte, die sie an mich richtete, konnte ich sie nicht recht verstehen.
Die einzige Sache, den ich sinngemäß noch rekonstruieren kann ist, dass ich dies faszinierende große Modellschiff, welches oben auf dem Holzschrank mit der Glastür stand, nicht zum spielen benutzen durfte.
Im Schlafzimmer war der hoch gewölbte bronzefarbene Bettbezug mit echten Daunenfedern gefüllt. Der dunkle Raum mit Bett und Vorhänge wog schwer für eine kleine Kindernase.
Die tickende Wanduhr mit ihren Eisenkettchen und goldenen länglichen Metallgewichten, die dunklen Teppiche an der Wand. Es war so still und leise am Gustav-Peters Platz zur Nacht – ich lag auf dem ausgeklappten Sofa mit einer Decke.
Draußen im Garten bei Kirschbäumen und Buchsbaumhecken lag immer schon die kopfgroße weiße Muschel (wer hatte sie nur aus dem Meer geholt?). Sie war zu einem drittel mit grünem Moos überwachsen. Ich dachte als Kind, diese Muschel würde bestimmt schon ewig da gelegen haben und würde auch immer da liegen bleiben.
Ich fuhr erst vor ein paar Jahren tatsächlich nach Ratzeburg. Ich wollte noch mal die überwachsene Muschel sehen. Aber schon das Haus war nicht mehr wiederzuerkennen. Immerhin stand es noch da. Natürlich machte nicht ‚Omi‘ die Tür auf, sie war vor bereits vielen Jahren in den Armen meiner Großmutter gestorben. Aber das Haus – ich bekomme die Bilder nicht mehr übereinandergelegt. Der Garten ist völlig verändert. Ich erkenne nichts wieder. Da hilft auch kein Tretbootfahren auf dem Ratzeburger See.
Auf dem Rückweg lief ich noch mal zum Auto – ich dachte: die Reise war umsonst, es ist nichts mehr da. Doch dann sehe ich aus den Augenwinkeln eine betagte Frau, die ‚am Gutav‘ – nicht nur aus einem Fenster gegenüber – sonder auch wie aus einem anderen Jahrhundert herausschaute. Nachdem ich ihr in groben Zügen von meinen Erinnerungen erzählt hatte, holte sie ein Photoalbum aus ihrem Haus und reichte es mir durch das Fenster. Die Bilder zeigten mir bräunlich-weiße (nicht schwarz-weiße) Bilder, auf denen meine Großmutter als Kind zu sehen war, auch Pferdegespann, und das Sonntagskleid einer vielleicht 5 Jährigen. Sie sagte: „Natürlich ja, an die ‚Stasi Drude‘ erinnere ich mich noch gut!…“. Aus dem Photoalbum sahen mich die Augen eines kleinen, etwas schüchternen Mädchens an. Mir wurden für kurz die Augen feucht, ich fragte mich, ob meine mir so herznahe 1998 an Alzheimer verstorbene Großmutter wohl jemals selbst diese etwas vergilbten braun-weißen Fotos gesehen hatte.
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