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[Der Tod ... ]

Started by Textaris(txt*bot), June 18, 2023, 02:04:22 PM

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Textaris(txt*bot)

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[Ein Vogel auf dem Zweig... ]
Veröffentlicht am 10 Mai 2016 | Von lemonhorse

Ich sehe den alten Mann, der im Pflegezimmer sitzt. Wie er versonnen den Vogel auf dem Zweig durch das Fenster beobachtet – und es scheint so, als sei dieser Vogel nun für ihn die Welt.
Eine Welt, die unscharf zu den größer werdenden Rändern geworden ist. Und am Telefon kommen ihm die Worte völlig falsch vermengt durch den Hörer. So zusammenhanglos wird da plötzlich gesprochen. Da wundert sich der zehnjährige Urenkel mit dem Telefonhörer im Flur. Darum weint des nachts eine Frau unter der Bettdecke, findet sich hingestürzt zu den Empfindungen eines kleinen Mädchens. Es fühlt sich so wehrlos und beschämend an, wenn man nur noch die verblassende Vergangenheit festhalten kann, während die Gegenwart versickert. Vielleicht wäre es ein Anfang unsere generelle Endlichkeit nicht mit tröstenden Beteuerungen zu übermalen. Was hilft die Theorie in den Büchern, die Bilder an den Wänden, die Daten auf den Festplatten, die Bedeutung all der Lebendigen Wesen, wenn das Lebensende plötzlich die Praxis des Seins konkret zerstäubt.
Die anderen haben noch ein paar Atemzüge mehr – aber es fehlt jemand, wenn jemand verschwunden ist. Daran ist nichts zu ändern. Die überlebenden haben die Erinnerung. Wenn Liebe im Spiel ist, so haben wir die Erinnerung und die Trauer. Und Trauer ist nie gleich. Trauer ist diffus, es werden sogar Dinge erhofft, die vorher nicht zur Debatte standen, weil die Trauer dazu verführt. Trauer kann durch so sonderliche Nichtigkeiten auslöst werden. Ein vergessenes paar Schuhe. Ein Schlaflied, was die Mutter dem Sohn vorgesungen hat, als er noch nicht mal mit dem Fahrrad fahren konnte. Trauer als bittersüße Droge von enthobener Benommenheit, ein melancholischer Genuss. Die Trauer ist nicht aufgeklärt, sie ist ungerecht, punktuell und parteiisch. Trauer kann bestens überrumpeln. Trauer bäumt sich unerwartet auf. Trauer vergilbt. Trauer geht auf Zehenspitzen in ein anderes Zimmer. Trauer stampft schnaubend auf wackeligen Beinen. Trauer wankt zur einen Seite der Wahrheit, reißt – wie durchfahren von einem Stromstoß – die Wahrheit vom Sockel. Trauer schreit auf, läuft blindlings gegen die Kulissen der Erinnerung und bringt alles zum beben. Trauer haut mit knöcherner Faust in den großen See der Gefühle, so dass Wasser in die Augen scheißt – und es ist oft vorgekommen, dass die Trauer mir fast immer fernbleibt, wenn viele sie im gut gefüllten Saal erwarten.

Quelle: https://www.subf.net/fraktallog/?p=13245

Textaris(txt*bot)

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Es ist der Blick des anderen.
Der Blick aus den Augen der Liebenden.

Nicht bereit gewesen zu sein für den Abschied.
Sich nicht verabschieden können, weil der Abschied nicht möglich war.

Ein letztes Gespräch erbittend.
Sich noch ein letztes Mal in die Arme schließen - sagen können: Ich habe Dich so lieb.



Tod II, Lemonhorse (28.06.2023)

Textaris(txt*bot)

QuoteAls ich zum ersten mal einen Sarg trug, da hatte ich eine alte Seemannsjacke an. Blau. Das ist lange her. Es knistert leise, wenn das Klapperrad über den Sandweg geschoben wird. Eine Hand am Lenker, in der anderen die schwarze Laterne. Der blaue Seemanspulli am Körper holt mir das durchscheinende Bild vom großen Meer neben die Grabsteine. Den jubilierenden Frühlingsvögeln in den Bäumen ist es gleich, was wir Menschen da unten treiben. Weisgelbes Sonnenlicht auf den Zypressen. Kleiner weißer Sarg in der Grube. Das mit dem Tod versteht kein Mensch.


https://www.subf.net/fraktallog/?p=19092 (25.03.2021)

Textaris(txt*bot)

QuoteSubjektive Kamera. Wir reisen zurück. Wir bewege uns in kreisenden Bewegungen zum Jahr 1978. Wir befinden uns auf dem Dorf (genauer in Revensdorf, Schleswig Holstein). Wir sehen die Erinnerungen eines 5 jährigen. Der noch nicht ausgewachsene ,,Pontus", ein kleiner Bernhardiner, hechelt und liegt dösend an der Haustürschwelle. Es ist Frühling. Das Sonnenlicht tänzelt durch die Blättern einer Linde. Gegenüber wurde eben erst der Holzzaun des Raiffeisengeländes mit dunkelbrauner (giftiger) Xyladecor Holzschutzfarbe gestrichen. Die Mutter hat Kindbettfieber. Der Arzt ist gerade weggefahren. Es ist ganz still im Haus. Der kleine Bruder liegt mit geballten Fäusten schlafend in einem kleinen Bett mit Blümchenmusterbettbezug. Hier vermischen sich die Bilder: Die Nachbarn schlachten im Hinterhof ein panisch schreiendes (fiependes) Schwein. Es bekommt (wie sie sagen) ,,eins auf den Deckel" – vor meinen ungewarnten Augen. Der Dackel der Nachbarn kläfft. Schon werden ihm die Augen hingeworfen, die er augenblicklich kaut und schluckt. Ich laufe um die Ecke. Ich bin hin – und hergerissen. Will ich die Schlachtung weiter beobachten? Jetzt fließt, nach einem Schnitt am Hals, das Blut vom toten Tier, das hier und da noch zuckt, in einem Plastikeimer. Ich möchte lieber Radfahren. Ich habe ein Klapprad. Es passt zusammengeklappt gut in den großen Kofferraum. Man kann einfach die Sitze umklappen. Die Sitze von ,,unserem" weißen Peugeot 504 Familiale. Wenn wir mit dem Fünftürer irgendwo hinfahren, sind wir meisten ,,spät dran". Die längliche Gestalt, die Innenatmosphäre, die Sitze, die Anzeigen, die Armaturen, die Geräumigkeit, das alles fasziniert mich. In der Erinnerung steht er immer in der sandigen Hauseinfahrt – und wartet auf uns. Im Rückblick, wird der Peugeot zu einer Zeitmarke der eigenen Familiengeschichte. Ein Objekt aus der Lebenswelt einer Familie, die es nicht mehr gibt. Der Wagen wurde – trotz meines vehementen (aber eben nur kindlichen) Protestes – bald verkauft. Er würde zu schnell rosten. Die Holme wären bereits betroffen, sagte mein Vater. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir ihn retten müssen. Aber nun ist der Wagen immerhin ein Exponat in meinem Lebensmuseum. Ich stelle mir vor, wir alle könnten jeweils nach unserem Tod, durch ein solche Museum laufen, wo jedes bedeutungsaufgeladene Ding seinen Platz hat.


Aus: "[Mythen meiner Kindheit #26... ]" lemonhorse (23 September 2024)
Quelle: https://www.subf.net/fraktallog/?p=23636