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[Ambivalenz (Notizen) ... ]

Started by Textaris(txt*bot), December 13, 2021, 01:51:28 PM

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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Ambivalenz (lateinisch ambo ,,beide" und valere ,,gelten") bezeichnet ein Erleben, das wesentlich geprägt ist von einem inneren Konflikt. Dabei bestehen in einer Person sich widersprechende Wünsche, Gefühle und Gedanken gleichzeitig nebeneinander und führen zu inneren Spannungen. ...

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Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Ambivalenz

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Quote[...] Fanatismus entsteht, wenn unsere Selbstwertregulation es nicht zulässt, Ambivalenzen zu tolerieren, sondern auf Spaltungen angewiesen ist. Das geschieht zurzeit massenhaft. Sogar alte Freundschaften gehen darüber in die Brüche. Jeder Mensch besteht aus einer mehr oder minder großen Anzahl von Teil-Personen, die unser Ich mühsam zusammenzuhalten und auszubalancieren versucht. Es existiert in uns ein Parlament der inneren Stimmen, die miteinander ringen und manchmal streiten.

Paul Auster hat das so beschrieben: "Jeder Mensch ist ein Spektrum. Den größten Teil unseres Lebens verbringen wir in der Mitte, aber es gibt Augenblicke, in denen wir zu den Rändern abdriften, und je nach Situation, abhängig von Stimmung, Alter und äußeren Umständen, wechseln wir auf dieser Skala die Farbe." ...

... Nebenbei bemerkt: Was gegen Fanatismus hilft, ist Humor. Amos Oz sagte in einer Vorlesung: "Ein Sinn für Humor ist ein starkes Heilmittel. Ich habe niemals im Leben einen Fanatiker mit Sinn für Humor gesehen, noch habe ich jemals gesehen, dass ein humorvoller Mensch zum Fanatiker geworden wäre, außer, der- oder diejenige hätte seinen Sinn für Humor verloren.

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Aus: "Von Ambivalenz, Zweifel und Fanatismus" Götz Eisenberg (14. November 2021)
Quelle: https://www.heise.de/tp/features/Von-Ambivalenz-Zweifel-und-Fanatismus-6266220.html?seite=all

Textaris(txt*bot)

QuoteDiesen Text hat die Schriftstellerin Nora Bossong auf der Veranstaltung von Europe Talks 2021 vorgelesen. Nora Bossong studierte Literatur am Leipziger Literaturinstitut und debütierte im Jahr 2006 mit dem Roman "Gegend". Bossong war Poetikdozentin in Wiesbaden und erhielt im vergangenen Jahr den Thomas-Mann-Preis. In "Auch morgen. Politische Texte" beschreibt sie, warum es zu kurz greift, Menschen in Gut und Böse einzuteilen.

Ein Freund von mir, Liebhaber bibliophiler Raritäten, stieß in einem Antiquariat auf die Erstausgabe von Nabokovs Lolita. Zwei Bände. Paris, The Olympia Press 1955, ornamentierte Originalkartonage. Schätzpreis 2.200 Euro. Die fiktive Geschichte des mittelalten Humbert Humbert, der sich ein vorpubertäres Mädchen zur Liebhaberin macht, wurde zum literarischen Skandal der Fünfzigerjahre. Auch heute verstößt die Geschichte gegen alles, was dem empfindsamen Menschen als richtig und gut erscheint, ja überhaupt nur als tolerabel, und bräuchte vermutlich einen Katalog an Triggerwarnungen.

Die Bekenntnisse eines Witwers weißer Rasse [https://de.wikipedia.org/wiki/Lolita_(Roman)] setzen den white old man verachtenswert in Szene. Der Roman ist zwar vor allem ein Werk stilistischer Brillanz, ein Requiem auf die Vergänglichkeit, ein moralisches Vabanquespiel. Moralische Eindeutigkeit wird aber heute von einigen wieder ersehnt wie eine Boje, die im stürmischen Meer mutmaßlich Halt und Orientierung gibt, und so wird künstlerische Fiktion zu Ratgeberliteratur umgedeutet und allein schon die Darstellung von Anstößigem verurteilt. Zum Nachteil nicht nur der literarischen Fiktion, sondern auch unseres gelebten Alltags – denn beide haben mehr miteinander zu tun, als wir auf den ersten Blick glauben mögen.

"Nuance and ambiguity are essential to good fiction", schrieb Anne Applebaum kürzlich in einem Essay. "They are also essential to the rule of law: We have courts, juries, judges, and witnesses precisely so that the state can learn whether a crime has been committed before it administers punishment." Und was für den Gerichtsprozess gilt, lässt sich auch grundsätzlich über unsere Urteilsfindung sagen.

Der Roman und sein bis ins Intime reichender Blick wurden mit der aufgeklärten Neuzeit zur wichtigsten literarischen Gattung. Umgekehrt konnte die Neuzeit sich durch die erweiterte Vorstellungskraft und den Wechsel der Perspektiven, durch Uneindeutigkeit und Pluralität der Wahrheiten, die der Roman aufzeigt, zu dem entwickeln, was sie ist, eine Epoche, in der Wahrheit nicht mehr als Deus ex Machina verhängt wird, sondern verschiedene Deutungen der Wirklichkeit einander ergänzen.

Heute erleben wir aber, dass zunehmend wieder nach eindeutiger Wahrheit verlangt wird, nach Widerspruchsfreiheit und einer klaren Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Zu einem gewissen Grad ist das auch verständlich, wenn Verschwörungstheorien allen Ernstes wissenschaftlichen Studien Konkurrenz machen und wir in einer globalen Notlage, der Corona-Pandemie, auf gesellschaftliche Solidarität setzen müssen, diese aber von falschen Fakten und der Realitätsverweigerung einiger weniger unterwandert wird. Doch wir lassen uns zu sehr auf das Spiel der Verschwörungstheoretiker ein, wenn wir als Reaktion darauf der Realität absprechen, uneindeutig zu sein.

Selbst die Wissenschaft besäße Ambiguität, die unter dem Druck des schnellen Handelns leicht als die eine wissenschaftliche Wahrheit angenommen würde, erklärte Wolfgang Schäuble in seiner letzten Rede als Bundestagspräsident und nicht ohne Grund meinte er, noch darauf hinweisen zu müssen: "Es gibt nicht die eine richtige Entscheidung in der Demokratie." Doch es scheint, dass das eine Richtige immer häufiger erwartet wird, nicht nur in der Demokratie, sondern auch in der Fiktion, und dass das eine richtige Urteil über unser alltägliches Mit- wie Gegeneinander gefällt werden soll. Die neue Angst vor der Mehrdeutigkeit hat sich mit Aggression gewappnet und der Widerspruch wird wie ein Hund vor der Kneipe angeleint. Er mag bellen, drinnen am Stammtisch wird er nicht mehr gehört.

Wenn Ambiguität zunehmend verleugnet wird, wenn Fiktion wie Realität die Dimension des Offenen verlieren, wenn der Roman nicht mehr der Spiegel oder das Vexierbild der Gesellschaft sein soll, sondern sein Ideal, dann verliert Literatur ihre Sprengkraft, die darin besteht, uns eben auch mit dem Gegenteil unserer Überzeugungen zu konfrontieren. Dann wird der Roman zu einem Gegenstand, der allenfalls noch als Anlageobjekt einen Wert hat. Geschätzt 2.200 Euro im Falle von Lolita. Wollen wir gegen diese Verengung aufbegehren, müssten wir ihn eigentlich als eben das, als Anlageobjekt, zerstören – wie der Künstler Banksy sein Girl with a Balloon. Im Anschluss an diesen plakativen, wenig erkenntnisbringenden Skandal, so geht die Volte des postindustriellen Kapitalismus, wird das geschredderte Buch natürlich zum zigfachen Schätzwert weiterverkauft.

Was sich die Empörten von 1955 wie jene von heute durch ihre eindeutige Bezugnahme auf Sitte und Moral bewahren, ist der Wunsch, wenn nicht der Auftrag, über das Verhalten der anderen zu urteilen. So aber gelingt selten ein Gespräch, vielmehr klingen Monologe gegeneinander an, denn wer erkannt zu haben meint, was richtig und was falsch, was gut und was böse ist, braucht andere nicht mehr als Korrektiv. Zwischen Dauererregung und Selbstgenügsamkeit hält man sich dann an einer Moral fest, die den Sprung zur Ethik nicht schafft. Das ist Teil des Problems, denn anders als Moral, die leicht auch zur Abziehfolie werden kann, meint Ethos Haltung und diese können wir erst durch Zweifel und Selbstkritik einnehmen.

Kaum jemand will in einer unmoralischen Welt leben. Ungeprüft aber kann Moral dogmatisch werden, sie braucht Irritation und das Denken ihres Gegenteils, um lebendig zu bleiben. Ästhetische wie intellektuelle Störelemente sind für unser Weltverständnis fundamental; wenn wir sie ausblenden, werden wir nicht progressiver, sondern gleiten in die Regression ab. Wir verlernen, uns selbst in unserem gebrochenen, ambivalenten Sein wahrzunehmen. Es ist die Spannung der Ambivalenzen, das Aushalten von Paradoxien und Zumutungen, was unser Denken stark und beweglich macht. Erstarrt es, schließt sich nicht nur im Roman das Fenster zur Welt. Und was einst der bereichernde Flug ins Offene war, stürzt ab zur schnöden Wertanlage.


Aus: "Das ambivalente Sein" Ein Gastbeitrag von Nora Bossong (13. Dezember 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-12/europe-talks-corona-pandemie-ambiguitaetstoleranz

Nora Bossong (* 9. Januar 1982 in Bremen) ist eine deutsche Schriftstellerin.
https://de.wikipedia.org/wiki/Nora_Bossong