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[Gemäßigte Entrissenheit… ]

Started by Textaris(txt*bot), August 19, 2015, 04:43:00 PM

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Textaris(txt*bot)

QuoteStadterkundung. Schlendern zur Raumwahrnehmung. Zufälliges Umherirren ohne vordefiniertes Ziel. Automatisch einen Weg einschlagen. Welches Haus, welches Fenster, welche Unterführung, welche Mauer will sich nackt dem Träumer zeigen. Es gibt eine Plötzlichkeit mit der die Neugier zuschlagen kann – ein Hindrängen für einen einzuschlagenden Weg. Blitzschnell fällt die Entscheidung für genau diesen oder jenen Hinterhof. Schon wartet der rostige Gullideckel in der Nebenstrasse. Urinierte Hauswände, Bauzäune, Grenzen, Staub und Dreck zwischen den Adern der Zivilisation. Abwasserkanäle, Zollbehörden, Satellitenschüsseln, Menschen, Gummireifen, Wurstbuden, Fernsehzeitschriften, Waschmaschienen, Kaugummiautomaten und der abblätternde Lack von Fensterrahmen – Objekte für die halluzinierte Selbstentrissenheit.

"Raumwahrnehmung Automatique" (2008)
Lemonhorse



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Gemäßigte Entrissenheit...

Quotelemonhorse / 19 August 2015 / Gedanken.Memo, Wortbrocken.Cafe
Affektillusion, Betrachtende Ziellosigkeit, Gemäßigte Entrissenheit, Grundformen von Affekten (Erregungen, Gemütsbewegung)

// https://de.wikipedia.org/wiki/Affektenlehre

" ... René Descartes (1596–1650) beschreibt in seinem Werk Traité des passions de l'âme (Paris 1649) sechs Grundformen von Affekten, die zu zahlreichen Zwischenformen miteinander kombiniert werden können: Freude (joie), Hass (haine), Liebe (amour), Trauer (tristesse), Verlangen (désir), Bewunderung (admiration) ..."
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Es kommt mir der Gedanke (oder ist es ein Verdacht?), dass es weitere "Grundformen von Affekten" geben könnte. Wie wäre es zum Beispiel mit "gemäßigter Entrissenheit". Eine Art Denken, welches Gefühlsanteile in sich trägt - und sich einstellen kann, wenn Gedanken sich (fast erstaunt) bei ihrer eigenen halbwegs automatischen Entstehung selbst zuschauen (nachdenken über die im Selbst entstehenden Gedanken).

Dabei geht es zeitlich mit dem Rad den Kantstein hinunter. Es ist ein altes Rad auf dem ich sitze. Das Hinterrad hat bereits angerostete Speichen - und wieder zu viel Spiel in der Hinterachse. Dabei war die alte Sachs-Dreigangnarbe erst vor ein paar Monaten neu eingestellt worden. Sie hat sich wohl selbst beim Fahren wieder losgeruckelt.

Vorbei driften mir zur Linken die Häuser in denen die Käuflichkeit Freudenfeste feiert. Ein Fenster ist geöffnet. Zwei junge Frauen sitzen im vierten Stockwerk auf dem Fensterbrett, rauchen und lachen etwas überschwänglich, leicht nervös aber auch durchaus selbstbewusst. Alle anderen roten Fenster sind verschlossen. Vielleicht machen sie sich über die Seinsweise und die tatsächlichen Gegebenheit der Klienten Lustig. Warum sollten sie da auch nicht lachen - mitten in dem verworrenen Verhältnis von Geld, Akt und Wahrheit. 

Das Gleiten über die Straßen ist angenehm bei lauem Wind. Plötzlich beginnt die Affektillusion - Menschen auf Parkplätzen und Gehwegen werden zu gemäldehaft strukturierten Nebensachen, die Stadt verwandelte sich in ein Museum von Bauwerken mit Anhäufungen von seltsamen Objekten, Hauskanten, aufgeplatzten Teerdecken, Säulen aus Gussbeton, überwucherten Gehwegplatten, verrosteten Brückengeländer und moosüberzogene Mülleimer.

Die betrachtende Ziellosigkeit frönt als ein Rausch in mir. Das Wogengeplätscher der Kieler Förde und die Werftgeräusche, Dieselmotoren, Ampeln und Verkehrsschilder fliegen rein unter der Maßgabe der Ästhetik vorüber.

Ist das temporäre Entgleiten von konkreten präzisen Zielvorstellungen an meinem Zustand schuld? Ist es ein inneres Loslassen von Folgerichtigkeit für wenige Momente? - Ist es das zufällige Fehlen von ein paar Peitschenhieben auf meinem üblicherweise halb betäubten seelischen Apparat? - Und müssten wir nicht einem Schüttelfrost der Überforderung anheim fallen, wenn wir wirklich klar sehen würden, was jeden Moment in uns - und um uns herum passiert? Bräuchte nicht jeder von uns die Kraft von vielleicht so etwa 800 Gehirnen, um auch nur oberflächlich geistig wohl sortiert zu sein?

Meist zwingt uns eine Konsequenz von Dingen und Vorgängen in ein Korsett. Die Konsequenz bemächtigt sich meines Gehirns fast unbemerkt. Das führt im schlimmsten Fall zu einer Art Verhetzheit. Es geht beispielsweise einfach nur darum die Miete zu zahlen, essen zu müssen, verlässlich zu sein, mit den anderen mitzudenken, zu einem bestimmten Zeitpunkt irgendwo da zu sein, offensichtlich mitzufühlen, die Verantwortung für irgendetwas zu tragen, für das eine oder andere Problem Aufmerksamkeit zu haben, zu bemerken was hier und dort gespielt wird (und so weiter).

Und weil ich wegen der beschriebenen Dinge alles andere als diesen zwingenden Momenten enthoben sein kann, weil ich sonst auf lange Sicht gegen ein stehendes Auto oder eine Strassenlaterne knallen würde, weil ich mir sonst aus Selbstvergessenheit in die Hose pissen urinieren würde, weil ich sonst mit mir selbst in heftigste Konflikte käme, werde ich wohl meistens vernünftig sein und den vorgesehenen Strukturen gehorchen, also parieren.

So bleibe ich ein zersplitterter, zerbrochener und teilerblindeter Spiegel. Die meisten Dinge bleiben undeutlich. Manchmal blitzt ein klar umrissenes Bild auf, in dem bisschen Leben was uns je bleibt.

Also tun wir nicht so, als wären wir unseres Glückes Schmied. Wir sind nur ein kleiner Schweißtropfen unter der Achselhöhle von diesem. Und unseres Glückes Schmied lebt vielleicht genauso geistig prekär wie wir, er würde vielleicht lieber ein verworrener Fahrradfahrer an der Kieler Förde geworden sein - und flucht hin und wieder, so er denn mit voller Wucht auf seinen schweren alten Amboss schlägt.


Textaris(txt*bot)

#1
QuoteEingespülte Sandkörner

Während ich in der Nacht über den Boden gleite sehe ich die meterlangen Mondschatten auf der Straße, oder sind es riesige Fledermäuse mit mächtigen Flügeln, oder sind es die schaukelnden Äste unter den Straßenlaternen? Dann kommen plötzlich Regengüsse, die Hose nass, die Haut wird kühl, das Fahrrad tropft, die Kugellager der Fußpedale knirschen durch eingespülte Sandkörner. Die Nacht ist kurz, die Musik zusammen mit dem schummrigen Rotlicht der Garage verflogen. Im Kopf hallt der Klang nach. Die Augen halb auf im Dunkel, denke zurück. Schreibe mit einem Füller und schwarzer Tinte in Gedanken einen Brief an Dich in die Vergangenheit. Möchte mich tief vor Dir verbeugen. Möchte echte Demut vor Dir bekennen. Möchte in deinem Gesicht nach einem flüchtigem Lächeln suchen. Geläutert wäre ich dann wohl ein bisschen – sollst Du denken. Sag mir, waren wir alle liebeskriminell? Wie konnte ich das vergessen. Weit weg von jener bedeutsamen Moral der in Würde gealterten Gedanken. Führe mich in die Zeit, genau dort an Ort und Stelle, wo ich in der Fahrt die Gedanken fabuliere. Schäme mich dafür. Für jedes Wort. Will es Dir dennoch alles schreiben. Jetzt durch das Treppenhaus, die Socken regentriefend. Und ein Teil vom eigenen Kopf versinkt in einem alten Kissen, das Fenster steht auf kipp. Für ein paar Stunden sinkt alles dahin, der Schlaf breitet seine Schwingen aus. Er kommt und geht wie der eigene Atem. Der Kaffee im Bett, schnell noch werden zwischen Tür und Angel zwei Küsse hingegeben. Jetzt ist wieder Tag. Rollend auf dem alten Eisenesel, die Kette surrt, kühler Wind, aber keine Stille auf dem Waldweg, blätter rauschen mächtig durch den Raum. Wieder auf der Straße, Wolkenschatten mit Lichtflecken gleiten in Windeseile über den verblichenen Teer. Im Industriegebiet ein Wohlgeruch von gerade erst geschnittenem Gras, daneben lärmen zwei Rasenmähermotoren. Hier steht ein Briefkasten am Weg, in den man Briefe einwerfen kann, die in der Vergangenheit landen. Ich werfe da nichts rein – wie heißt es so schön im Englischen: act your age.


(06.07.2016, Lemonhorse)

Textaris(txt*bot)

#2
Quote

Ein neuer Tag. 6 Uhr. Langsam zu sich kommen. Der zweite Becher Kaffee war ohne Milch. Rasur, Socken, Schuhe, alte Jacke.

Auf dem Klapperrad sitzend, landen ein paar kühle Regentropfen im Gesicht. Morgendämmerung an der Kieler Förde. Lastenkräne mit orangenen Signallampen über der matschigen Baustelle. Hier wird gebaut. Hier stehen zugleich die Zelte des Circus Royal, wo es kurz nach Pferdeäpfeln von Circuspferden duftet und das Rad über die provisorische Stromleitung holpernd übersetzt. Das Vorderrad erreicht die Klappbrücke. Der Uhrenwürfel an der Kaistrasse zeigt Punkt 8 Uhr.

Im Sophienhof sitzt wieder Chruschtschow. Sein Gesichtsausdruck, seine behäbige zugleich kraftvolle Körpersprache, lässt meine Gehirn, still und ohne Beteiligung von bewußtem Willen, seinen Namen ausspucken. Gehe ich an ihm vorbei, denke ich an die Archivaufnahmen von 1960 in denen Nikita Chruschtschow mit einem Schuh auf einen Konferenztisch hämmerte. Mit einem großen Hörgerät sitzt er im Mittelgang. Mal ist er ganz allein, mal sitzt er mit befreundeten oder unbekannten Delegierten der UNO auf der roten Sitzgelegenheit und beobachtet Szenerie. Chruschtschow schaut ruhig in das Gemenge. Die Sitzgelegenheit ist wie eine Insel im Gewusel, die allen Menschen gut tut, die was mit den Knien haben und mal eine Pause brauchen.
Vorfreude mischt sich mit leiser hysterischer Angst. Die Übung heißt freundlich, aber nicht zu vulgär zu werden. Hingegeben zu sein, aber zugleich auch aus Tackt ein Stückweit unbeteiligt zu bleiben. Zwischen Alltagslärm und Kapitalismus, kommt es in der Eingangshalle an der Supermarktkasse zu einem temperierten Sirenengesang (Nymphenblick) der süchtig macht.
Der Bon, nein Danke, den brauch' ich nicht. Das Studentenfutter und eine Gemüsesaftflasche landen in der zerlebten Ledertasche, die an der Schulter durch den Lederriemen zerrt.
Im Kieler Hauptbahnhof steht schon der dauerredende Holländer am Bahnsteig. Einer aus der Menge, schlank gewachsen, immer sprechend, einem inneren Zwang nach in ständigem Wortschwall gefangen. Ob ihm jemand zuhört ist Schnuppe. Was mag es für eine Sprache sein, woher kommen die kräftigen Gesten, der Blick ins Ungefähre, die Lautäußerungen, die ihm unwillkührlich aus dem Munde fahren - ist es Niederländisch (ich weiß es nicht)?

Die Tür schließt sich mit Regionalbahn-typischer Warntonfolge. Auf den Schienen geht es über die Autobahnbrücke an der silbernen Müllverbrennungsanlage vorbei. 

Aus: "[Unmaßgebliche Augenblicke #1 ... ]"
lemon / 20 Februar 2020 / Fraktal.Text, Gedanken.Memo, Kiel.Gaarden, Kiel.Refugium, Wortbrocken.Cafe
https://www.subf.net/fraktallog/?p=17384


Textaris(txt*bot)

#3
QuoteBeim Aufgießen des Kaffees in der schummrigen Küche, freue ich mich über das Beschlagen des Schutzglases der gelben Küchenuhr.

https://www.subf.net/fraktallog/?p=19546 (28 August 2021)

Textaris(txt*bot)

#4
QuoteEs geht über die kleine Brücke auf den Drammenweg. Ich bin in Kiel Mettenhof. Verwaschen weiße Hochhäuser an der Seite.

Das Fahrrad gleitet leise klappernd über den sich ruhig biegenden roten Klinkerstein. Der Himmel grau. Der Wind kalt. Der alte Mann mit einem kleinen Hund tritt höflich zur Seite. Ein flüchtiges ,Danke', ein kurzes Lächeln blitzt zurück. Der Boden ist feucht und die Büsche sind kahl. Der Junge auf dem Roller schaut nicht auf. Er singt eine halb verschluckte Melodie für sich selbst. Fast hätte ich links auf den Rasen fahren müssen. Zuletzt schaut er doch noch auf. Ich sacke in mich hinein. Ich erinnere mich, wie es war, wie verträumt verloren die Welt sein kann, wenn man 12 ist. Der Blick ins Irgendwo. Geborgene Verlassenheit. Die Momente fliegen dahin, ohne dass einem die Verletzlichkeit der Zeit zu Bewusstsein kommt. Die Verletzlichkeit die am meisten darin liegt, dort nie wieder hin zu können. Als ginge man in Gedanken durch die Wohnung der längst verstorbenen Großmutter. Das Haus ist verkauft, aber alle Gegenstände, die Wanduhr, der runde Esstisch, die Treppe in den Keller, der hölzerne Getränkewagen, alles ist noch da. Für ein oder zwei Sekunden.

Eine Viertelstunde später geht es in die Herzog-Friedrich-Straße. Da fragt jemand nach Geld. Er habe kein Zuhause. Unsere Augen treffen sich und wir müssen ein bisschen lachen, wie absurd das alles ist. Mir fällt der Motorradfahrer an der Raststädte ein, der kurz eine kleine Tasse Kaffee trinkt und mit einem 50 Euroschein bezahlt und sagt ,,stimmt so". Die Bedienung lächelt und zieht die Augenbrauen nach oben. Dieser Motorradfahrer gehört für mich zusammengeklebt mit der etwas verrückten Alten. Er ist ihre Rückseite. Sie steht im düsteren ,,SKY" Supermarkt am Alfons-Jonas Platz. Hinten beim surrenden Kühlregal auf den Fliesen. Draußen ist es schon dunkel. Das lange graue Haar fällt ihr seitlich ins Gesicht und sie zählt durch ihre Brillengläser die 10 Cent Stücke in der Hand, um zu prüfen, ob der Joghurt noch drin ist.

Und in den letzten Jahren sind die Kopfsteinpflasterstraßen in Kiel Gaarden zu eng geworden, um die immer breiter werden Autos in beide Richtungen durchzulassen. Lichthupend geben sich die kleinen Menschen in ihren großen Autos Zeichen, während ein paar nassgeregnete Zeitungsseiten vom "Kieler Express" in der Medusastrasse auf dem Bürgersteig kleben.


https://www.subf.net/fraktallog/?p=19928 (08.02.2022)

Textaris(txt*bot)

QuoteAm Morgen 8:10 am Busbahnhof steht ein Punk mit einer Flasche Bier in der Hand und hört seine Punkmusik über Bluetooth Lautsprecher. Er wippzt ein wenig mit seinen Beinen zur Musik. Sein Outfit ist so absolut auf den Punkt, dass ich es nicht der Realität zuschlagen kann. In meiner inneren Verarbeitung dreht sich alles um. Ich sehe einen Werbeclip in der Realität. Ich sehe eine zu perfekte Gestaltung, als dass es echt sein könnte. Das das übertriebene Klischee wirkt unecht, selbst wenn es tatsächlich realisiert ist.

Textaris(txt*bot)

QuoteEnde November 2023. Der Blick auf den Boden gerichtet. Der Schnee und das Eis reiben sich in der Vorderradgabel. Die Rotze gefriert auf dem Handschuh.

Textaris(txt*bot)

QuoteAn Haltestellen stehen. Der Ort, wo plötzlich diese extra Zeit zu Fühlen und Denken wie aus dem Nichts auftaucht, wenn der Bus Verspätung hat.