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[Gegenwartsdankbarkeit ... ]

Started by Textaris(txt*bot), March 10, 2019, 12:49:44 PM

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Textaris(txt*bot)

Michel Serres (* 1. September 1930 in Agen) ist ein französischer Philosoph.
https://de.wikipedia.org/wiki/Michel_Serres

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The Great Regression hat retweetet @HansHuett
9:25 vorm. · 10. März 2019 · Twitter
Michel Serres hat einen optimistischen Wutanfall.
https://twitter.com/HansHuett/status/1104659579328229378

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Quote[...] Zu Michel Serres: Was genau war früher besser? Ein optimistischer Wutanfall. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. edition suhrkamp, 80 S.

Er kann es nicht mehr hören, das Gerede der Meckergreise, wie er sie nennt. Früher sei alles besser gewesen, das Zusammenleben, das Essen, die Sitten, die Nation. Alles totaler Scheiß, sagt er, allerdings in feineren Worten, er hält nichts vom Cholerischsein. In den Zeiten, die ihr verklärt, ,,wurden wir von Mussolini und Franco regiert, von Hitler, Lenin und Stalin, Mao, Pol Pot, Ceausescu ... alles gute Leute, ausgewiesene Spezialisten für Vernichtungslager und Folter, Massenhinrichtungen, Kriege und Säuberungen".

Das 20. Jahrhundert sei das erste gewesen, ,,in dem das Grauen der Schlachtfelder mehr Tote gefordert hat als die Arglist der Mikroben". Was die guten Manieren betrifft: ,,Früher durften wir unbehelligt in frei verkäuflichen antisemitischen Blättern Juden karikieren und massiv beleidigen; durften Afrikanern, Aborigines und Schwarzen im Allgemeinen mit pseudowissenschaftlichen Argumenten nachweisen, sie seien unkultiviert, stünden den Primaten nahe und kämen geradewegs aus der Steinzeit, und das, obwohl sie doch unsere Zeitgenossen sind; durften straflos behaupten, die Katholiken, diese Betbrüder, seien eine Bande von Ignoranten und Rückwärtsgewandten, die Deutschen bloß blutrünstige Bestien und wie Sozialisten und Kommunisten stets mit dem Messer zwischen den Zähnen unterwegs – alle waren sie, wie man sich denken kann, höllisch gefährliche Leute, und es gab gar keine soziale Gruppe, die kein Komplott gegen uns schmiedete."

Die Wahrheit lautet, sagt er, es war grauenhaft. Wir waren bettelarm, wir hatten nicht einmal Schuhe, die uns nicht drückten. Frauen waren so etwas wie Sklaven. Vom Sex hatten die meisten Menschen keine Ahnung. In den Städten, in denen man kaum Luft bekam, hätte man sich die Ökodiktatur herbeigesehnt. Und es mag ja sein, dass es lästig ist, keine Witze mehr auf Kosten von Minderheiten zu machen, aber war es denn toll, wenn man sich an der Sorbonne, also unter Geistesriesen, über den Quebecer Tonfall eines Gelehrten mokierte, ,,der ganz nebenbei der weltweit führende Experte auf seinem Gebiet war".

Ach, und die Verweichlichung der jungen Leute, die ihr beklagt – ihr werdet sie noch lieben lernen, sobald es bei euch ans Sterben geht, und ein Palliativmediziner euch eine Spritze gibt, die euch erspart, beweisen zu müssen, wie gut ihr Schmerz ertragt.

Wer sagt das alles? Der französische Philosoph Michel Serres, einer der allerältesten denkenden Greise. Er ist 88 jetzt, und hundertmal gegenwartsdankbarer als Jahrzehnte Jüngere, die davon leben, ihrem Publikum den Niedergang unserer Welt auszumalen. Nicht sein Ding. Er weiß, dass in der Gegenwart zu leben mindestens bedeutet, der Vergangenheit davongekommen zu sein, und hat sich den Spaß gemacht, das einmal aufzuschreiben, in einem Essay.

Es gibt mittlerweile einige Bücher, die uns davon überzeugen wollen, dass die Gegenwart sehr viel besser ist, als wir ihr nachsagen, verglichen mit der Vergangenheit, die wir verklären, am bekanntesten ist vermutlich Hans Roslings ,,Factfulness". Doch diese Bücher argumentieren mit Daten, Zahlen, Fakten. Serres macht etwas anderes. Er erzählt immer wieder aus dem eigenen Leben, das eines sehr alten Mannes, der sich aus armseligen Verhältnissen befreien musste.

Ehe er Philosoph und zu einem der ,,Unsterblichen" der Academie française wurde, war Serres nämlich bettelarm, Binnenschiffer, Marinesoldat, im Sinai-Krieg, Bauarbeiter. So einer kann sich eben noch daran erinnern, wie das Früher für die meisten Menschen war – es gab eiskaltes Wasser zum Waschen, stinkende Schlafsäle im Internat, harte Knochenarbeit mit untauglichem Werkzeug.

Bei der Lektüre bleibt es nicht aus, dass einem immer wieder die Herrschaften einfallen, die durch die Talkshows rauschen, um ihre Nachgeborenenverachtung loszuwerden – hängen dauernd am Handy, haben keine Disziplin mehr, man kennt die Litanei. Was bezwecken sie damit – außer ihre Bücher an andere Meckergreise zu verkaufen? Glauben sie, dass sie eine Umkehr bewirken, und falls ja, wohin? Denken sie, dass ihr Apokalypsengerede die Welt besser macht?

Serres dagegen schafft es, einen darüber zu beschämen, dass man der Welt und ihren Fähigkeiten, sich zu verbessern, immer wieder zu wenig zutraut. ...


Aus: "Alter, weißer Mann fragt: Was genau war früher besser?" Peter Praschl  (10.03.2019)
Quelle: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article190036315/Michel-Serres-Alter-weisser-Mann-fragt-Was-genau-war-frueher-besser.html

QuotePerry

Merci M. Serres!

Genau das ist es! Ich in zwar nicht 88 aber 72 und das kann ich 100 % bestätigen. Das Deutschland der 60er begann langsam aus seiner Spiessigkeit aufzuwachen. Wir als Schüler in Baden waren froh, wenn wir damals nach Frankreich fahren konnten. Und wir fanden die Menschen viel freier als bei uns. ...


QuoteBernward H.

Er hat vollkommen Recht, das wird wohl niemand ernsthaft bestreiten. Es gehört zur heutigen Zeit dass die Gesellschaft im Zustand von stetiger Erregung und Empörung über Nichtigkeiten lebt.


QuoteMartin E. D.

Früher war alles besser, ist der nicht ganz ernst gemeinte Spruch des Menschen, der im Jetzt nicht mehr so gut zu Recht kommt.
Der Rest ist Geschichte. ...


QuoteJens C.

Alle Menschen über 40 dürfen/sollten sich über ein Phänomen des Gehirns und der Erinnerung Gedanken machen! JEDER kann es beobachten: Die schlechten Erinnerungen verblassen oft (bis zur Unkenntlichkeit) mit den Jahren und Jahrzehnten und die guten Erinnerungen bleiben.
Warum dies so ist, mag ich nicht beantworten - aber das es so ist, darf sich  ein jeder, der ein paar Jahre auf dem Buckel hat, selbst beantworten.

Wir müssen gar nicht bis Hitler und Mussolini zurückblicken, auch die 1980er reichen schon:
"Früher" gab es auch schon Fake-News, bloß anders genannt: Bild-Zeitung. Warum gab es wohl den Skandal zu Springer und Wallraff und dem Buch "Der Aufmacher"?
In den 1980ern standen sich Ost- & Westdeutschland militärisch gegenüber.
Tschernobyl. Wettrüsten. Familien- und Eherechte ("nicht existente" Vergewaltigung in der Ehe, etc.). Wo soll ich aufhören?


QuoteAha

Ja in der aktuellen Diskussion ist wirklich das Vertrauen in eine positive Entwicklung der Menschheit, die sich immer wieder verbessert hat und sich aus meiner Sicht auch weiter verbessern wird, verloren gegangen. Keiner von uns möchte wirklich in der Zeit zurück, aber wir schüren Angst vor der Zukunft ohne Unterlass, statt Vertrauen in Bildung und Entwicklung zu fördern. Sicher wird es Rückschläge geben, aber auch viele Lösungen. Verbote, Gängeleien, Angst sind die wahre Gefahr. Wissen und Aufklärung bringen Menschlichkeit und Technologie und sind damit die einzige Chance mit 8 oder mehr Milliarden Menschen auf einem beschränkten Planeten klar zu kommen.


QuoteMr. T.

Ach, Michel. wir wissen doch alle: Früher war einfach mehr Lametta.



Textaris(txt*bot)

Quote[...] ZEIT ONLINE: Frau Fischer, ich bin 44 Jahre später auf die Welt gekommen als Sie. Habe ich es deshalb als Frau leichter?

Erica Fischer: Heute wachsen Frauen mit der Selbstverständlichkeit auf, dass sie mehr sein können als Ehefrau und Mutter. Sie verfügen über mehr eigenes Geld, gehen alleine aus und reisen. In dem Café, wo wir gerade sitzen, sind mindestens die Hälfte der Gäste weiblich. In den Sechzigern wurde eine Frau, die ohne Begleitung essen ging, oft an den "Katzentisch" gesetzt, an einen Tisch in der Nähe der Toilette oder der Küche. Oder schauen Sie mal unsere Kleidung an.

ZEIT ONLINE: Wir tragen beide schwarze Jeans und schwere Boots.

Fischer: Zu meiner Zeit wäre es unvorstellbar gewesen, dass zwei Frauen mit unserem Altersunterschied sich ähnlich anziehen. Frauen können heute tragen, was sie wollen. Dass sie einen Beruf ergreifen, ist eine Selbstverständlichkeit. Sie dürfen lieben, wen sie wollen, einen Mann, eine Frau, egal. Sie haben einfachen Zugang zu Verhütung und zu einem gewissen Grad auch zum Schwangerschaftsabbruch.

ZEIT ONLINE: Als Sie 1961 in Wien eine Schwangerschaft abgebrochen haben, hat ein Arzt Sie heimlich im Wohnzimmer operiert. "Im Nebenzimmer lief der Fernseher, für den Fall, dass ich schreien würde", schreiben Sie.

Fischer: Das ist in Österreich und Deutschland inzwischen zum Glück unvorstellbar – aber keineswegs überall ... 50 Jahre sind im Vergleich zur Menschheitsgeschichte eine sehr kurze Zeitspanne. Es ist wichtig, nicht in einen übertriebenen Optimismus zu verfallen, aber insgesamt sehe ich die Entwicklungen positiv. Viele Fragen, für die wir damals gekämpft haben, stehen inzwischen nicht mehr zur Debatte. Zum Beispiel, dass Frauen auch in der Ehe nicht zu Sex gezwungen werden dürfen oder dass sie für die gleiche Arbeit dasselbe verdienen sollen wie Männer. ... Das Schmerzliche an der heutigen Zeit ist: Wir wissen besser, wie eine gerechte Welt aussehen sollte, aber die Missstände sind immer noch da. Junge Frauen lernen: Du kannst alles werden, was du willst. Und sie sind an Universitäten in der Überzahl. Aber wenn sie anfangen, zu arbeiten, kommt der große Bruch. Sexistische Sprüche und Diskriminierung am Arbeitsplatz sind für viele Frauen immer noch Thema. Und diejenigen, die nach oben wollen, merken, dass sie die Spielregeln der Männer einhalten müssen, die immer noch die meisten Chefposten besetzen. Frauen, die Karriere machen wollen, haben oft die doppelte Arbeit: Einerseits müssen sie sich an die männliche Kultur anpassen, andererseits ihre Weiblichkeit zur Schau stellen. Angela Merkel wird für ihren praktischen Haarschnitt und die Hosenanzüge belächelt. Bei Macron interessiert sich keiner, wie er sich anzieht.

...

ZEIT ONLINE: Sie schreiben in Ihrem Buch: "Ein zentraler Antrieb für meinen Aktivismus war die Liebe. Ich wollte die Kluft zwischen Männern und Frauen überwinden, die für so viel emotionales Elend sorgte." Begegnen sich die Geschlechter inzwischen eher auf Augenhöhe?

Fischer: Ich glaube bis heute, dass Liebe zwischen Menschen, die nicht gleichwertig sind, unmöglich ist. Und die meisten Männer haben inzwischen erkannt: Mit Abhängigen zu leben, macht keinen Spaß. ... Mit der Zeit werden die Männer merken, dass ihnen die Veränderungen zugutekommen. Sie wurden ja auch jahrhundertelang dazu gedrängt, stark und hart sein zu müssen. Das ist anstrengend und macht unglücklich. Es ist trotzdem keine Lösung, einfach die Rollen zu tauschen oder das Leiden 50/50 aufzuteilen. Wir müssen die Arbeitswelt für alle humaner gestalten. ... In der heutigen Zeit, in der man den Klimawandel und Rechtsnationalismus spürt, geht es nicht mehr nur um die Gleichheit zwischen Frau und Mann. Es geht auch um Umweltthemen, Rassismus, Homo- und Transfeindlichkeit und soziale Gerechtigkeit.

...

Erica Fischer: Feminismus Revisited. Berlin Verlag, 320 Seiten



Aus: "Erica Fischer: "Die meisten Männer wollen nicht mehr mit Püppchen zusammen sein"" Interview: Wlada Kolosowa (8. März 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/arbeit/2019-03/erica-fischer-schriftstellerin-feminismus-weltfrauentag-frauenrechte/komplettansicht

QuoteReflexbann #8

"Bei Macron interessiert sich keiner, wie er sich anzieht."

Mal wieder so eine absolute Unwahrheit. Nicht, dass es sinnvoll ist, darüber zu diskutieren, aber ich stell mir Macron vor, wie er beim nächsten Auftritt mit zu großem (Jogging-)Anzug vor die Presse geht oder sowas ähnliches.

Und ich würde sehr viel darauf verwetten, dass in jedem Bericht, über das, was er dann sagt, dieses Outfit erwähnen würde. ...


Quotedth #8.1

Sicher ist es nicht egal, wie er gekleidet ist. Aber wenn es dem üblichen Standard genügt (ordentlicher Anzug), dann redet keiner mehr darüber. Bei Damen gibt es häufiger Artikel über deren Kleidung und es wird Bedeutung hineininterpretiert. Über Merkels verschiedene Blazer wurde ja auch immer wieder berichtet, über Macrons Krawattenfarben diskutiert keiner. Allerdings scheint mir das Interesse an solchen Berichten auch vor Allem von Frauen auszugehen.


QuoteWolf9 #8.3

Sagen wir mal 90% aller Modeschöpfungen drehen sich um Damenmode. Bei Männer passiert nicht viel, außer irgendwelche Extremkreationen die kein Mann außerhalb des Laufsteges anzieht. Frau definieren sich 100 mal mehr über Kleidung wie Männer, deswegen wird darüber dann bei prominenten Frauen auch philosophiert.


Quote
Benutzer_1 #8.4

https://www.brigitte.de/aktuell/buzz/augenweide--justin-trudeau-zeigt-seinen-hintern--10904022.html

https://www.20min.ch/ausland/news/story/Dieser-Po-gehoert-tatsaechlich-einem-Politiker-21593874?httpredirect


QuoteThoDanII #8.5

... Männer definieren sich anders über Kleidung, Jack Wolfskin sieht man eher in der Wildnis der Stadt als im Wald.


QuoteGinger_Collins #8.7

Die gepflegte Erscheinung eines Herrn Maas ist bei mir immer Thema.


QuoteNick Kopernikus #8.12

Alle Artikel geschrieben von Frauen. Mehr braucht man dazu glaube ich gar nicht zu sagen.


QuoteReflexbann #8.13

Sexismus pur ... man stelle sich vor, so würde über Merkel geschrieben werden...


QuoteUlrike Metz #20

"Mir und den Feministinnen, mit denen ich gesprochen habe, geht es darum, zusammen mit Männern, die dazu bereit sind, eine gerechtere und lebenswertere Welt zu schaffen."

Musste ja mal gesagt werden. Feministinnen sind mitnichten die männerhassenden Monster, als die sie in Kommentaren häufig dargestellt werden.


Quotegwrere #37

Zunächst müsste einmal mit der Täuschung aufgehört werden, beim Feminismus der heutigen Zeit in Deutschland ginge es hauptsächlich um "Gleichberechtigung" oder "Frauenrechte". Das ist schlichtweg falsch. Es geht in erster Linie um politische Macht und Veränderung (also letztendlich immer auch um die grundsätzliche "Systemfrage", Sozialismus/Kommunismus vs. Kapitalismus/Demokratie inklusive aller möglichen Abstufungen). Es ist ja kein Zufall, dass die "Frauenbewegung" und der "Feminismus" sich im wesentlichen aus dem links-liberalen politischen Spektrum heraus entwickelt haben. Interessanter Weise sind es aber in den totalitären kommunistischen und sozialistischen Diktaturen immer Männer(-Cliquen), die die Menschen unterdrücken (siehe Kuba, Venezuela, Russland, China, Nordkorea, DDR etc.). Das heißt doch im Umkehrschluss, wenn die Damen ihren Beitrag zur "Revolution" geleistet haben, sollen sie gefälligst wieder ins zweite Glied treten. Es hat auch noch keiner das Problem gelöst, wie denn in einer Welt, in der Frauen und Männer beide "gleichberechtigt Karriere machen" mental gesunde Familien und Kinder gewährleistet werden. Soweit ich das ersehen kann, entstanden immer dann Probleme, wenn Kinder zu wenig Liebe bekommen (vgl. totalitäre Staaten oder z.B. Internats-Kinder wie Donald Trump). Wir müssten einmal darüber diskutieren, wie eine "gute" Kindheit/Erziehung gewährleistet wird und gleichzeitig die Frauen sich beruflich entwickeln können.


QuoteHerr Jemand #42

Das Wichtigste in allen Beziehungen ist, dass man sich wechselseitig respektvoll, gleichberechtigt und gleichwertig also würdig behandelt.

Dass dies für viele Menschen ein Problem darstellt, sieht man am Umgang im öffentlichen Raum, an den Scheidungsraten, an der groben Sprache, am Benehmen etc. Auch in den Medien, den Rollenvorbildern. Traurig.

Ich finde es geht vorwärts und rückwärts in allen Bereichen.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Sandro Zanetti lehrt Allge­meine und Ver­gleichende Literatur­wissen­schaft an der Univer­sität Zürich. Er ist Mitglied des Zentrums Geschichte des Wissens (ZGW) und des Zentrums Künste und Kultur­theorie (ZKK) sowie Heraus­geber von Geschichte der Gegenwart.

Zu den vulgärsten Polit­pa­rolen der jüngsten Vergan­gen­heit gehört der von Donald Trump herum­po­saunte (und vorab schon von Ronald Reagan geprägte) Slogan Make America Great Again. Verrä­te­risch ist das letzte Wort: Again. Es sugge­riert erstens, dass es früher eine Größe Amerikas gab (gemeint sind aber nur die USA), zwei­tens, dass es zu einem Verlust dieser Größe kam, und drit­tens, dass man nur einiges wieder rück­gängig machen muss, um zu diesem früheren, angeb­lich besseren Zustand zurück­zu­kehren.

Dieses Frühere ist aller­dings nichts anderes als eine Projek­tion: noch nicht einmal restau­rativ, sondern eine hohle Unter­stel­lung einer zugleich rück­sichts­losen und wehlei­digen Gegen­wart, eine diffuse Sehn­sucht nach einer besseren Welt, die man aus der Vergan­gen­heit hervor­holen zu können glaubt. Dabei wird mit einer großen und zugleich unauf­ge­klärten Geste eines schein­baren Bescheid­wis­sens alles ausge­blendet, was früher viel­leicht nicht so gut war: Skla­verei, Ausbeu­tung, unheil­bare Krank­heiten, Kriege hier und dort, Benach­tei­li­gungen von Menschen aller Art.

Was genau will man also über­haupt wieder­haben? Das andau­ernde Vergessen viel­leicht, dass den Preis für das eigene Wohl­ergehen womög­lich andere zu bezahlen haben? Was war denn früher wirk­lich besser? Die Frage, so gestellt, ist allge­meiner, und es ist diese Frage, die der vor wenigen Wochen verstor­bene Michel Serres in einem seiner letzten Bücher in gut pole­mi­scher Absicht stellte: Was genau war früher besser? Ein opti­mis­ti­scher Wutan­fall.

Auf Fran­zö­sisch erschien das Buch unter dem Titel C'était mieux avant! schon 2017. Dem voraus ging die kurze Streit­schrift und Liebes­er­klä­rung Petite Poucette von 2012 – auf Deutsch: Erfindet euch neu! Eine Liebes­er­klä­rung an die vernetzte Genera­tion, 2013. Deren Prot­ago­nistin ,,Däume­lin­chen" (Petite Poucette) aus dem Kunst­mär­chen von Hans Chris­tian Andersen kehrt auch in der neuen Publi­ka­tion wieder: Sie vertritt – geschickt mit dem Daumen auf dem Smart­phone unter­wegs – die Enkelinnen- und Enkel­ge­nera­tion, deren Gegen­wart von den miese­pe­trigen Mecker­greisen – den ,,grands-papas ronchons" – kaum noch verstanden wird. Denn diese Mecker­greise sind jene, die in Serres zuweilen gera­dezu grotesken Über­spit­zungen die Vergan­gen­heit partout zum verlo­renen Para­dies verklären wollen.

Gibt es einen Erfah­rungs­schatz, den die Groß­el­tern, heute, ihren Enke­linnen und Enkeln weiter­geben können? Wie hilflos ein solcher ,Schatz' anmuten kann, lässt sich schon – damals im Rück­blick auf die im Ersten Welt­krieg stumm gewor­dene Solda­ten­ge­nera­tion – in Walter Benja­mins Essay ,,Erfah­rung und Armut" von 1933 nach­lesen. Dass man seither aber die Vergan­gen­heit auch noch verklären sollte, das käme, folgt man den Über­le­gungen von Serres, einer intel­lek­tu­ellen Bank­rott­erklä­rung gleich.

Die Verklä­rung der Vergan­gen­heit führt Serres zufolge ebenso wenig weiter wie das Meckern über die Gegen­wart. Das von Stefan Lorenzer hervor­ra­gend über­setzte Buch heißt deshalb aus guten Gründen: ein opti­mis­ti­scher Wutan­fall. Um eine fein­sin­nige philo­so­phi­sche Abhand­lung handelt es sich also nicht. Wir lesen kein um Ausge­wo­gen­heit bedachtes Alters­werk, sondern eine hemds­är­melig formu­lierte Abrech­nung mit einem Klischee – jenem der besseren Vergan­gen­heit eben, das in Serres Augen nichts anderes verdient als eine ebenso heitere wie grobe Zurecht­wei­sung und Verun­glimpfung.

Der bissig-ironische Ton wird gleich auf den ersten Seiten ange­schlagen:

    Früher wurden wir von Musso­lini und Franco regiert, von Hitler, Lenin und Stalin, Mao, Pol Pot, Ceaușescu – alles gute Leute, ausge­wie­sene Spezia­listen für Vernich­tungs­lager und Folter, Massen­hin­rich­tungen, Kriege, Säube­rungen. Vergli­chen mit diesen illus­tren Akteuren wirkt so ein demo­kra­ti­scher Präsi­dent eher blass, es sei denn, er nötigt eine besiegte Nation, den demü­ti­genden Versailler Vertrag zu unter­zeichnen, über­zieht Dresden mit Bomben­tep­pi­chen oder zündet eine Atom­bombe, um die Zivil­be­völ­ke­rung von Hiro­shima und Naga­saki auszu­lö­schen.

Man lese dieses Zitat gerne zweimal durch, hohle tief Luft – und fahre dann fort mit der Lektüre:

    Sieht man von der Bombar­die­rung der Zivil­be­völ­ke­rung in den Städten ab, so ist in den Kriegen, meist von Verant­wort­li­chen reiferen Alters beschlossen und orga­ni­siert, die männ­liche Jugend getötet worden: In den Minis­te­rien, Botschaften und Haupt­quar­tieren saßen Väter aus jener Elite, die sich mit Inbrunst einer im zwei­stel­ligen Millio­nen­be­reich betrie­benen Ermor­dung ihrer Söhne widmeten. Den Töch­tern und Söhnen, die über­lebt hatten und zwei­fellos geblendet waren von der impo­nie­renden Gräber­zahl, wurde wenig später in den Hörsälen eine ganz andere Geschichte nahe­ge­bracht, die vom ,Vater­mord'. – Tote und Lügen­ge­schichten, ja, früher war doch wirk­lich alles besser.


Die Spitze gegen die Psycho­ana­lyse (,,Vater­mord") ist nicht ohne Witz, weil sie den akade­mi­schen Boom der Psycho­ana­lyse selbst als Effekt einer Verdrän­gung zu verstehen gibt: Statt sich um die Frage zu kümmern, was Menschen ihren Kindern und Enkel­kin­dern und also ihrer Zukunft anzutun in der Lage sind, fällt es offenbar leichter, die persön­liche Vergan­gen­heit zum Richtmaß der eigenen Hand­lungen zu erheben.

Dazu hätte man in dem Buch gerne noch mehr gelesen. Was aber klar scheint: Dämo­ni­sie­rung und Verklä­rung des Vergan­genen erweisen sich ganz schnell als zwei Seiten derselben Medaille – ein Gedanke, den Serres nicht explizit formu­liert, aber der erklären hilft, warum die Reka­pi­tu­la­tionen der Vergan­gen­heit, so wie sie im Buch selbst ausfallen, so abge­klärt, mit Blick auf die Gegen­wart aber auch so heiter daher­kommen.

Die ganzen folgenden Seiten verwendet Serres darauf, detail­reich in Erin­ne­rung zu rufen, wie es ,früher' war. Sein ausge­wie­senes wissen­schafts­his­to­ri­sches Inter­esse verbindet sich dabei mit prägnanten biogra­fi­schen Erin­ne­rungen:

Bei diesem Früher, da war ich schließ­lich dabei. Ich kann ein Exper­ten­ur­teil abgeben. Hier ist es.

Serres verfolgt dabei eine Doppel­stra­tegie: Er schil­dert roh die hygie­ni­schen Bedin­gungen seiner eigenen Herkunft, die medi­zi­ni­schen Kata­stro­phen, die Mühen der Land­wirt­schaft, die prak­tisch recht­lose Situa­tion der Frauen, die Schwer­fäl­lig­keit der Kommu­ni­ka­tion, die Folgen des Krieges, der Korrup­tion, der Armut. Zugleich zeigt er auf, was sich in der Folge und bis zum heutigen Tag alles gebes­sert hat. Er zählt die tatsäch­lich revo­lu­tio­nären tech­ni­schen Inno­va­tionen auf, die rasanten medi­zi­ni­schen Fort­schritte, die posi­tiven poli­ti­schen Errun­gen­schaften. Fast hat man Angst, dass der dekla­rierte Opti­mist Serres die mani­festen Kehr­seiten dieser Entwick­lungen völlig über­sieht – wobei der Wie-es-früher-wirklich-war-Experte am Ende doch noch ins Grübeln gerät:

Die Fort­schritte, deren Lob ich singen wollte, haben eine hohe Lebens­er­war­tung gezei­tigt, und diese hat uns wiederum eine große Zahl an Greisen beschert, die im Besitz nicht vererbter Vermögen sind. Viele von ihnen kommen an die Macht, um sie für ihre Fort­schritts­ver­wei­ge­rung zu nutzen. Durch diese zirku­läre Kausa­lität bremst der Fort­schritt sich selbst.

Serres weiß, dass Voltaire seinen Candide – den Opti­misten – als Trottel in die Welt schickte und dass seither der Opti­mismus gerade in der fran­zö­si­schen Denk­tra­di­tion nicht gerade hoch­an­ge­sehen ist. Statt die Skepsis, wie die Mecker­greise, auf die Gegen­wart zu richten und vor lauter selbst­pro­du­zierter Blen­dung vonseiten der Vergan­gen­heit das Bessere der Gegen­wart zu über­sehen, geht es Serres jedoch gerade umge­kehrt darum, die Möglich­keit des Besseren in der Gegen­wart für die Zukunft zu retten und statt­dessen die Skepsis gegen­über der Vergan­gen­heit, ja gegen­über den glori­fi­zierten Schein­ver­gan­gen­heiten wach­zu­halten.

Diese Blick­um­kehr geschieht im Buch brachial, die Sprache ist unzim­per­lich, die Argu­men­ta­tion sprung­haft. Gerade dies macht das Buch aller­dings zum Vergnügen. Ein Nach­mittag genügt, um es zu lesen. Danach begegnet man den Mecker­greisen mit der nötigen Portion Ironie: C'était mieux avant!


Michel Serres, Was genau war früher besser? Ein opti­mis­ti­scher Wutan­fall, aus dem Fran­zö­si­schen von Stefan Lorenzer, Frank­furt am Main: Suhr­kamp 2019.



Aus: "Was genau war früher besser? Eine Nach­mit­tags­lek­tion von Michel Serres" Sandro Zanetti (2019)
Quelle: https://geschichtedergegenwart.ch/was-genau-war-frueher-besser-eine-nachmittagslektion-von-michel-serres/

Textaris(txt*bot)

Montagsfrage: Was bedeutet für Sie, privilegiert zu sein? (26. August 2019)
https://www.derstandard.at/story/2000107712623/montagsfrage-was-bedeutet-fuer-sie-privilegiert-zu-sein

Quote
Tagesfresse

Ich bin privilegiert, in ein Land hineingeboren zu werden, in dem kein Krieg herrscht, in dem es Menschenrechte gibt, in dem es Unterstützung für Mittellose gibt.
Ich bin privilegiert, weil ich mit meinem Einkommen ein Auskommen habe und mir auch einen kleinen Luxus leisten kann.
Ich bin privilegiert, weil ich keine gröberen Gesundsheitsprobleme habe und falls doch, ich sofort Hilfe bekommen kann.
Ich bin als Transgendermensch privilegiert, diesen Weg der Geschlechtsanpassung gehen zu können, bzw. gegangen sein zu können, ganz ohne Androhung der Todesstrafe.


Quote
gelöschter User

Sofern ich den Begriff nicht missverstanden habe fühle ich mich privilegiert weil ich - im Gegensatz zu so vielen anderen - wieder laufen, sehen, sprechen und leben darf und gesund bin. Wenn man all das verloren hat und zu jenen wenigen Glückseligen gehört, die es wieder vollständig zurückerhielten, fühlt sich jeder Schritt und jedes Bild, das einem das Auge malt, so an wie das größte Privileg und Glück auf Erden. ...


Quote
Pythia

Ich war als Kind privilegiert, ohne Auto, ohne TV, ohne Auslandsurlaub, ohne Markenklamotten usw. aber mit einer Mutter zu Hause und einem Familienleben, bei dem es an nichts fehlte.


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Pacco

Täglich mit feinstem Trinkwasser duschen zu können (zu dürfen)....
Täglich frischeste Luft zu atmen ....
6 Wo Urlaub zu haben + Staatsfeiertage
Gesundheitssystem
Bildungssystem
Sozialsystem
(nicht mehr in den USA leben oder arbeiten zu müssen)
(noch) in einer Demokratie zu leben
.... und 100-te mehr...)


Quote
Komplexer Haufen

Ja - Es bedeutet für mich ein Leben ohne Existenzängste. ...


...