Der Neue Deutsche Film (auch Junger Deutscher Film, abgekürzt JDF) war ein Filmstil in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre. Prägende Regisseure waren Alexander Kluge, Hansjürgen Pohland, Edgar Reitz, Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Werner Herzog, Hans-Jürgen Syberberg, Peter Fleischmann, Werner Schroeter sowie Rosa von Praunheim und Rainer Werner Fassbinder. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Neuer_Deutscher_Film-
[...] Rainer Werner Fassbinder (1945-1982) war wahrscheinlich die wichtigste Figur des deutschen Nachkriegsfilms. Ganz sicher kam ihm an Produktivität niemand gleich. Seine Filme sind nur noch selten zu sehen. Die frühen, die ihn sehr schnell bei der damals filmisch sehr interessierten politischen und kulturellen Avantgarde berühmt machten, sieht man so gut wie nie. Wer aber "Liebe ist kälter als der Tod", "Katzelmacher" oder "Warum läuft Herr R. Amok?" gesehen hat und mehr über Fassbinder erfahren möchte, der renne in die nächste Buchhandlung und kaufe "Fassbinder über Fassbinder", eine Sammlung von Interviews mit Fassbinder. Sie entstanden zwischen 1969 und 1982.
Er muss anfangen mit dem ersten Interview. Es entstand 1973 und wurde völlig zu Recht dem Band vorangestellt. Corinna Brocher wollte damals einen Film über Fassbinder drehen und unterhielt sich dafür mehrere Tage mit ihm. Diese Gespräche nehmen hier mehr als 150 Seiten ein. Sie sind nicht nur die beste Einführung in Leben und Werk Fassbinders, sie sind einer der besten Texte über 1968. Die Ursprünge und der Verlauf der Revolte werden selten so klar, so erschreckend klar wie hier. Natürlich hat das auch damit zu tun, dass kaum jemand sie so extrem gelebt hat wie Fassbinder. Wer damals gegen den Vietnamkrieg war und nur drei, vier Mal im Jahr gegen ihn demonstrierte, ansonsten aber Schule und Studium brav absolvierte, der war gefeit vor den selbstmörderischen Verrücktheiten, wie sie im Fassbinder-Clan gelebt wurden. Aber man versteht 1968 nicht, wenn man nicht begreift, dass es damals vor allem um diese Verrücktheiten ging. Man nannte das "Bewusstseinserweiterung". Darunter versteht man damals wie heute in erster Linie extensiven Drogenkonsum. Aber 1968 gehörte zur "Bewusstseinserweiterung" auch die Infragestellung aller überkommenen Ansichten. Je selbstverständlicher sie einem erschienen, desto heftiger wurden sie in Frage gestellt. Es war die Zeit, in der das Private öffentlich wurde und die Normalen für verrückt erklärt wurden.
Heute, da in langen Jahren heftigster Auseinandersetzung geklärt wurde, wie weit man mit den Gedanken gehen und wie kurz die Strecke ist, auf der man ihnen mit Taten folgen darf, ist einem das damals fast Selbstverständliche ganz fern gerückt. Die verzweifelten, selbstanalytischen Gespräche, die Hinterfragung einer jeden Handlung, sind wieder in die Intimität der Zweierbeziehung verschwunden. Damals waren sie ein paar Jahre lang wenn nicht öffentlich, so doch in den kleinen Öffentlichkeiten der sich politisch gerierenden Gruppen. Fassbinder erzählt zum Beispiel, wie er seine erste Theatergruppe bekam: Er schlief mit der Frau des Chefs. Der hieß übrigens Horst Söhnlein und war später bei den Kaufhausbrandstiftern in Frankfurt/Main dabei. Er sprang aber noch rechtzeitig ab, bevor die sich zur Roten Armee Fraktion entwickelten. Nicht anders - das wissen wir heute nach den Forschungen von Jane Goodall - geht es bei Schimpansengruppen zu. Vielleicht gibt es auch unter ihnen Männchen, die das mit ähnlich emanzipatorischen Floskeln garnieren, wie Fassbinder das tat. Das Großartige aber ist, dass je länger man das Interview liest, einem immer unklarer wird, ob Fassbinder seine Geschichten zur Verteidigung erzählt und ihm die Wahrheit - oder das, was wir dafür halten - nur so nebenbei entschlüpft, oder ob Fassbinder uns nicht doch die Wahrheit erzählen möchte, weil er besessen ist von ihr. So sehr besessen, dass er an ihr festhält, auch wenn sie gegen ihn spricht.
Er hat sich einfach mehr für die Wahrheit als für die Moral interessiert. Er zeigt sich als das Schwein, das er ist, nicht aus Demut, sondern weil er es interessant findet, dass jemand, der so begabt, so deutlich den anderen überlegen ist, nicht verzichtet auf die niedrigsten, verwerflichsten Mittel, um seine Begabung zu praktizieren und durchzusetzen. Wer heute glaubt, Fassbinder sei nur ein Meister der Darstellung des Psychoterrors gewesen - man denke nur an einen der großartigsten Filme der Filmgeschichte, an "Martha", für den Corinna Brocher übrigens das Script führte -, der wird hier eines Besseren belehrt. Fassbinder war Psychoterrorist. Wenn er filmte, dann filmte ein Täter. Ein Täter freilich, der seine Opfer sehr gut beobachtet hatte. Ein Folterer, der genau Bescheid wusste, wann es wo besonders weh tat. Gerade das macht Fassbinders einzigartige Stellung im Neuen Deutschen Film aus. Er war kein Sozialdemokrat.
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"Fassbinder über Fassbinder". Hrsg. von Robert Fischer. Verlag der Autoren, Frankfurt/Main 2004. 673 Seiten, broschiert, ISBN 3886612686
Rainer Werner Fassbinder: "Im Land des Apfelbaums". Gedichte und Prosa aus den Kölner Jahren 1962/63. Hrsg. von Juliane Lorenz und Daniel Kletke. Schirmer/Graf, München 2005. 187 Seiten, farbige und s/w. Fotos, gebunden, ISBN 3865550193
Aus: "Kein Sozialdemokrat - Vom Nachttisch geräumt: Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann" (06.02.2006)
Quelle:
https://www.perlentaucher.de/vom-nachttisch-geraeumt/fassbinder-war-kein-sozialdemokrat.html