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[Das Internet der Konzerne (Notizen)... ]

Started by Textaris(txt*bot), November 24, 2016, 04:16:20 PM

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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Die Konzerne sind so reich geworden, dass sie eigene Netzinfrastrukturen bauen. In ärmeren Ländern wie Indien halten viele Menschen Facebook längst für "das Internet", es ist dort die Schleuse zu allen Informationen - also das, was Google gerne wäre. Mit dieser Stellung geht enorme Kontrollmacht der Unternehmen einher ... Die ganze Welt "offen und vernetzt" zu machen, dieser Gedanke existiert nur noch als Mantra von Mark Zuckerberg und Facebook, wo er doch eigentlich bedeutet: geschlossene Gesellschaft, unter unserer Kontrolle. Und jetzt dein ganzes Leben in Daten, bitte. ... Die Krise des offenen Netzes zwischen Kommerz und Staatskontrolle ist so tiefgreifend, dass der Erfinder des Web verzweifelt. ...


Aus: "Wie Konzerne und Staaten das Netz zerschlagen" Eine Analyse von Jannis Brühl (31. Oktober 2018)
Quelle: https://www.golem.de/news/internet-wie-konzerne-und-staaten-das-netz-zerschlagen-1810-137428.html

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Quote[...] Es war einmal im Jahr 1969, als Computer an vier Universitäten in den USA ein paar einfache Textnachrichten austauschten – und so das Internet entstanden ist. Ein dezentrales und gleichrangiges Netzwerk aus allen angeschlossenen Computern, das offen und frei sein sollte. Denn die Idee war, dass alle Nutzer das Internet mitgestalten können – anfangs unter der Voraussetzung, dass man über kostenintensive Technik und gute Programmierkenntnisse verfügte, um am neuen Medium teilhaben zu können.

Für die breite Bevölkerung wurde das Internet in den 1990er Jahren verfügbar, denn private Provider versorgten immer mehr Haushalte mit Internetanschlüssen. Damals begann die kommerzielle Phase des Internet, weil dessen wirtschaftliche Bedeutung zunahm: Unternehmen aus der Offline-Welt verkauften ihre Produkte und Dienstleistungen auch im Netz.
Schließlich entstanden reine Online-Firmen, die digitale Güter und Dienste anboten, ohne genügend Gewinn zu machen – eine Entwicklung, die an der Börse zum Platzen der sogenannten Dotcom-Blase führte. Das war im Jahr 2000. Danach konnte das digitale Zeitalter anbrechen, das allgemein dadurch definiert ist, dass weltweit mehr Informationen digital als analog gespeichert sind. Und im neuen Jahrhundert schien das Internet auf eine alte Idee zurückzugreifen: Im Web 2.0 können alle mitmachen – dank günstiger Endgeräte und ohne Programmierkenntnisse zu haben. Die Nutzer konnten so zugleich Konsument und Produzent mit einem eigenen Publikum werden. Mittlerweile werden für dieses Konsumieren und Produzieren im Internet nur einige wenige Angebote genutzt – aus verschiedenen Gründen. So beherrschen zunehmend Digitalkonzerne das Internet, ... [Google], auch das soziale Netzwerk Facebook und der Onlinehändler Amazon gehören zu den Digitalkonzernen, die das Internet dominieren. Zusammen sind diese vier so viel wert wie alle 30 Unternehmen im Deutschen Aktien Index (DAX).

Apple, Amazon, Google und Facebook sind privatwirtschaftliche Unternehmen mit dem Ziel, einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen. Das ist eventuell nicht jedem Internetnutzer bewusst, denn besonders Google und Facebook sind für private User schon immer kostenlos gewesen und werden deshalb nicht immer mit einem gewinnorientierten Unternehmen assoziiert. Prinzipiell besetzen die genannten Digitalkonzerne verschiedene Segmente im Internet, aber beschränkten sich Nutzer auf die Angebote von Apple, Amazon, Google und Facebook, würde ihnen online vermutlich nicht viel fehlen. Ohnehin sind die Marktanteile und Nutzungszeiten für die einzelnen Digitalkonzerne sehr hoch. Aus diesem Grund haben die Unternehmen nicht nur eine wirtschaftliche Macht, sondern auch gesellschaftlichen Einfluss, weil sie im Internet auch eine Gatekeeper Funktion besetzen und somit beeinflussen, welche Inhalte bei den Nutzern auf den Bildschirmen angezeigt werden. Bisher hatten vor allem Medienmacher wie Journalisten diese Funktion inne, indem sie nach journalistischen und ethischen Kriterien entschieden, welche Nachrichten in die Medien und somit zum Konsumenten gelangen. Heute sind es geheime Algorithmen, die diese Entscheidungen treffen – vermutlich nicht immer nach dem Grundsatz, allgemein und ausgewogen zu informieren. Markus Beckedahl, der Initiator von netzpolitik.org, spricht von privatisierten Öffentlichkeiten, weil Kommunikation und Konsum im Internet mittels einiger weniger Digitalkonzerne stattfinden, ,,wo nicht unbedingt die Grundrechte gelten, sondern die allgemeinen Geschäftsbedingungen", so Beckedahl beim Social Community Day im Oktober 2014. Die einzelnen Digitalkonzerne sind moderne Oligarchen im Internet – aus mehreren Gründen: Die Produkte und Dienstleistungen sind bei den Nutzern beliebt und komfortabel handzuhaben, zugleich bieten aber geschlossene Geschäftsmodelle und beseitigte Konkurrenz kaum noch Alternativen. Die Konkurrenz kaufen Ständig verändert sich das Internet und auch die Marktmacht der Digitalkonzerne ist nicht dauerhaft garantiert. Denn es entstehen immer wieder innovative Online-Dienste, welche den etablierten Unternehmen langfristig die Marktherrschaft streitig machen könnten. Aber diese aktuell dominierenden Digitalkonzerne verfügen über die nötigen finanziellen Mittel, um sich der Konkurrenz zu entledigen. Das kann durch zwei Methoden geschehen: Entweder werden potenzielle Mitbewerber für viel Geld gekauft und ins eigene Portfolio der Digitalkonzerne übernommen oder durch sehr günstige Preise der eigenen Produkte und Dienste aus dem Markt gedrängt. Den bisher teuersten Kauf hat Facebook getätigt, das im Februar 2014 rund 19 Milliarden Dollar für die beliebte und vielgenutzte Messenger-App WhatsApp bezahlte. Zuvor ist schon die mobile Foto-App Instagram für nur eine Milliarde Dollar im Einkaufswagen von Facebook gelandet. Somit hat das Unternehmen innerhalb von zwei Jahren die sozialen Netzwerke übernommen, zu denen die Nutzer am häufigsten gewechselt sind. Obwohl Google als Suchmaschine nahezu konkurrenzlos ist, fällt auch dieser Digitalkonzern durch viele Einkäufe auf, einerseits von Internetfirmen und andererseits von Technologiefirmen, die zu künstlicher Intelligenz, Robotik und Automatisierung arbeiten. Diese Akquisitionen weisen in die Zukunft von Google, ein Digitalkonzern, der auch das Internet der Dinge dominieren und umfangreiche Daten der Nutzer sammeln möchte. In einem Online-Artikel für ,,businessinsider" schreibt Dave Smith, dass Google seit 2001 insgesamt 163 Firmen gekauft hat (Stand: August 2014). Denn schon lange ist das Unternehmen mehr als eine Suchmaschine und vereint derzeit 40 verschiedene Dienste für Privatnutzer – darunter auch das soziale Netzwerk Google+ und die Videoplattform Youtube. Dass zunehmend die Konkurrenz für die etablierten
Digitalkonzerne fehlt, zeigen Daten, die von Wikipedia ermittelt wurden: Seit 2011 hat pro Jahr nur eine neue Suchmaschine den Internet-Markt betreten. Seit der Google-Gründung im Jahr 1998 bis einschließlich 2010 sind es im Durchschnitt noch vier neue Suchmaschinen pro Jahr gewesen. ... Die fehlende Konkurrenz festigt die Position der Digitalkonzerne als moderne Oligarchen im Internet – mit der bestehenden Gefahr, in Zukunft zu Monopolisten zu werden. Wenn Internetnutzer nur die Wahl zwischen den Angeboten einiger weniger Digitalkonzerne haben, dann wird die Vielfalt zunehmend eingeschränkt. Unter diesen Umständen ist das Internet nicht mehr frei und offen, sondern wird von den privatwirtschaftlichen Zielen der Digitalkonzerne beeinflusst oder sogar bestimmt.  ...

In der Filterblase - Die dominierende Position von Google und Facebook im Internet ist für die freie Meinungsbildung und Meinungsäußerung kritisch, weil beide Digitalkonzerne auch zu den wichtigen Quellen für Informationen, Meinungen und aktuelle Nachrichten gehören, die Suchergebnisse und Statusmeldungen aber gefiltert werden. Basierend auf den gesammelten Daten der einzelnen Nutzer und deren Online-Verhalten entscheiden Algorithmen, welche Treffer bei Google und welche Statusmeldungen bei Facebook bedeutsam genug sind, um angezeigt zu werden.
Einerseits geraten die Nutzer in eine Filterblase, in welcher nur noch Informationen und Meinungen sichtbar werden, die zum eigenen Online-Verhalten passen. Andererseits stellt sich die Frage, ob die Algorithmen so funktionieren, dass die besten Ergebnisse für die Nutzer angezeigt werden oder dass der zugehörige Digitalkonzern optimale wirtschaftliche Ergebnisse erzielt. Denn Google und Facebook finanzieren sich vorwiegend über zugeschnittene Werbeanzeigen. Wenn Digitalkonzerne als Quellen fungieren, im Zweifel aber für den eigenen wirtschaftlichen Erfolg arbeiten, kann es zu einer Art von Zensur kommen. Denn die Kriterien, nach denen Google und Facebook entscheiden, sind nicht öffentlich bekannt. Somit besteht grundsätzlich die Möglichkeit, die Algorithmen zu manipulieren. Beispiele sind die Ice Bucket Challenge und Proteste in der US-Stadt Ferguson, die im Sommer 2014 fast gleichzeitig stattgefunden haben. Bei der Ice Bucket Challenge handelte es sich um eine Aktion, bei der Menschen entweder für die Erforschung einer Nervenkrankheit spenden oder sich einen Eimer mit eiskaltem Wasser über den Kopf schütten und das Video in sozialen Netzwerken veröffentlichen sollten. In Ferguson in den USA ist es zu teilweise gewaltsamen Protesten gegen Rassismus gekommen, nachdem ein Polizist ohne Not einen afroamerikanischen Jugendlichen erschossen hatte. Ein Vergleich zwischen Facebook und Twitter hat gezeigt, dass diese Themen bei Facebook mehr oder weniger sichtbar waren, weil die Algorithmen nicht ausreichend auf aktuelle Ereignisse reagieren. So sind die unterhaltsamen Videos der Ice Bucket Challenge mehr im Fokus des Neuigkeiten-Stroms bei Facebook gewesen als Nachrichten aus Ferguson. Ein umgekehrter Eindruck hat sich bei Twitter ergeben, ein soziales Netzwerk, das neue Meldungen ungefiltert und in chronologischer Reihenfolge anzeigt. Somit wurden dort die Ferguson-Proteste stärker wahrgenommen als die Ice Bucket Challenge. Dass Facebook auch Stimmung und Verhalten manipulieren kann, haben in der Vergangenheit verschiedene Experimente gezeigt, bei denen die Nutzer des sozialen Netzwerks nicht wussten, dass sie als Testpersonen beteiligt sind. Ein Experiment in den USA hat ergeben, dass über das soziale Netzwerk die Wahrscheinlichkeit erhöht werden kann, wählen zu gehen. Die Testpersonen konnten am Tag der Präsidenten-Wahl einen ,,Ich habe gewählt"-Button anklicken. Haben Facebook-Nutzer diese Aussage gemeinsam mit Profil-Fotos der Freunde erhalten, ist die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass auch diese Menschen tatsächlich ihre Stimme abgeben.

Im Sommer 2014 wurde bekannt, dass Facebook bei etwa 310.000 Nutzern vor allem positive oder negative Statusmeldungen im Neuigkeiten-Strom angezeigt hat und sich diese Auswahl tatsächlich auf die Stimmung der Testpersonen ausgewirkt hat. ...


Aus: "IM BLICKPUNKT: Das Internet der Konzerne" Christina Quast (November 2014)
Quelle: http://imblickpunkt.grimme-institut.de/wp/wp-content/uploads/2016/03/IB-Internet-der-Konzerne.pdf

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Dadurch, dass die Internetkonzerne infrastrukturelle Grundlagen des Netzes entwickeln und anbieten sowie als Gatekeeper fungieren, die die wesentlichen Zugänge zum Web zur Verfügung stellen, werden sie zu Akteuren, die das Onlineerlebnis individueller Nutzer und Kollektive strukturieren, Rahmenbedingungen für ihre Bewegung vorgeben und dadurch auch das auf ihren Angeboten basierende Verhalten und Handeln mitprägen. Als auch gesellschaftspolitisch ausgesprochen sendungsbewusste Unternehmen strukturieren und prägen sie weite Teile des privaten und öffentlichen Lebens im Web.

Mit all dem reicht die Macht der Netzkonzerne mittlerweile deutlich über marktbeherrschende Positionen im kommerziellen Internet hinaus und weit in die Gesellschaft hinein – und ist gleichwohl nicht grenzenlos oder absolut. In derart turbulenten Umgebungen, wie sie für das (kommerzielle) Web typisch sind, können die Internetkonzerne nicht einfach ihre vorhandene Macht ausspielen, sondern müssen deren Grundlagen ständig neu justieren und an sich schnell verändernde Bedingungen anpassen. Sind sie dann, wenn es darauf ankommt, nicht adaptionsfähig, kann ihre Macht ebenso schnell erodieren wie wenn sie über Ressourcen verfügen, die keinen mehr interessieren.


Aus: "Die Macht im Netz" Ulrich Dolata (Ausgabe vom 24.11.2016, Seite 12)
Quelle: https://www.jungewelt.de/2016/11-24/053.php

Textaris(txt*bot)

Lovink studierte zunächst Politikwissenschaft an der Universität von Amsterdam, bevor er an der Universität Melbourne mit einer Arbeit über die ,,Dynamik der kritischen Internet-Kultur" (Dynamics of critical internet culture) promoviert wurde. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Geert_Lovink

Quote[...] In den sozialen Medien manifestiert sich eine Verschiebung von den HTML-basierten Verlinkungspraktiken des offenen Webs zum Liken und Empfehlen innerhalb der geschlossenen Systeme. Die indirekte und oberflächliche ,Like Economy' verhindert, dass ihre Nutzer verstehen, worum es im offenen Web eigentlich geht. Mit Info-Handlungen wie Befreunden, Liken, Empfehlen und Updaten führen die sozialen Medien neue Schichten unsichtbaren Codes zwischen einem selbst und den anderen ein. Das Ergebnis ist die programmierte Reduktion komplexer sozialer Beziehungen und eine Verflachung sozialer Welten (hier sehr gut von Zadie Smith beschrieben: http://www.nybooks.com/articles/2010/11/25/generation-why/), in der es nur noch ,Freunde' gibt.

Google+ wurde als Antwort auf die Möglichkeiten dieser New-Age-Weltsicht ins Leben gerufen, für ein Programmieren ohne Antagonismen. Das ist der Widerspruch des demokratisierten Internets: während viele von der vereinfachten Technologie profitieren, leiden wir alle unter den Kosten genau dieser Einfachheit. Facebook ist gerade wegen seiner technischen und sozialen Einschränkungen beliebt.

... Während wir weiterhin offene Daten fordern, Open Source Browser nutzen und über Netzneutralität und Copyright streiten, sperren Walled Gardens wie Facebook die Welt der technologischen Entwicklung aus und entwickeln eine ,Personalisierung', bei der Nachrichten außerhalb des eigenen Horizonts gar nicht mehr in die eigene Informationsökologie eindringen können. Ein anderer wichtiger Wendepunkt, der uns vom Web 2.0 zu den sozialen Medien brachte, war die Ankunft der Smartphones und Apps. Das Web 2.0 basierte immer noch ganz auf PCs. Die Rhetorik der sozialen Medien betont dagegen Mobilität: die Lieblings-Social-Media-Apps sind auf dem Handy installiert und werden immer mitgeführt, egal wo man gerade ist. Das Ergebnis ist Informationsüberflutung, Abhängigkeit und eine weitere Schließung des Internets, das nur mobile Echtzeit-Applikationen begünstigt und uns zunehmend in beschleunigte historische Energiefelder hineinzieht, wie die Finanzkrise, den arabischen Frühling und die Occupy-Bewegung.

Im Juli 2011 ging das auf die Alternativen zu den sozialen Medien ausgerichtete Forschungsnetzwerk Unlike Us an den Start, gegründet vom Institute of Network Cultures in Zusammenarbeit mit Korinna Patelis (damals Cyprus University of Technology, Limassol). Die Einführungsveranstaltung fand am 28. November 2011 auf Zypern statt. Es folgten eine zweieinhalbtägige Konferenz mit Workshops vom 2. bis 11. März 2012 in Amsterdam und eine weitere, noch ein Jahr später und ebenfalls in Amsterdam. 9 Im Februar 2013 kam der Unlike Us Reader raus, bald gefolgt von einer Sonderausgabe des Online-Journals First Monday. Die klassische Kampagne der Unlike-Us-Ära ist Europa vs. Facebook und wurde initiiert vom damaligen Wiener Jurastudenten Max Schrems.

Die Snowden-Enthüllungen im Juni 2013 hatten zu dieser Zeit einen starken Einfluss auf die Bemühungen, Alternativen zu den sozialen Medien zu fördern. Die Agenda der Geeks und Aktivisten erweiterte sich währenddessen drastisch, von individuellen Apps und Software-Initiativen bis zur Zukunft des Internets insgesamt. Dabei mussten die Alternativen nicht nur dezentralisiert und nicht-kommerziell, sondern von nun an auch mit kryptographischem Datenschutz auf allen Ebenen ausgestattet sein. Auf praktischer Ebene war das eigentlich mehr, als ein verstreuter Haufen von Hacktivisten, der von einem europäischen Zentrum für angewandte Forschung zusammengebracht wurde, bewältigen konnte. So traf sich die Unlike-Us-Gemeinde nach einiger Zeit nur noch in sporadischen, wenn auch interessanten Debatten auf der Mailingliste – ein deutliches Zeichen dafür, dass wir nie auch nur im Ansatz der Aussicht auf ein Verschwinden der sozialen Medien nahegekommen sind.

... Die Anziehungskraft kommerzieller Projekte wie Instagram (heute ein Tochterunternehmen von Facebook) und Snapchat hat die allgemeine Stellung der großen Player nicht geschwächt. Die meisten amerikanischen Social Media Start-ups hatten nichts gegen Risikokapital und ließen sich leicht in das altbekannte Geschäftsmodell von schnellem Wachstum, Überwachung und Auswertung ihrer Nutzerdaten zwingen. Dies war auch der Fall bei Ello, das mit seinem Anti-Werbungsprinzip einen vorübergehenden Hype als potentielle Facebook-Alternative auslöste: ,,Wir glauben, ein soziales Netzwerk kann ein Werkzeug der Ermächtigung sein. Kein Werkzeug zum Täuschen, Nötigen und Manipulieren, sondern ein Ort, um sich zu verbinden, etwas zu kreieren und das Leben zu feiern. Du bist kein Produkt." Immerhin hatte es ein gekonntes Design, ein Aspekt, dem die meisten Alternativen kaum Beachtung schenkten.

... Wir müssen uns durch das Digitale hindurcharbeiten; es gibt in diesem Fall nicht die sichere Position des Außenstehenden. Aber dies kann nur getan werden, wenn wir unsere Arbeit als politisches Projekt sehen und im Dialog mit der Politik. Oder wie Carlo es auf der Unlike Us-Liste formulierte: ,,Wir warten nicht mehr darauf, dass irgendwas von den Technikern kommt, denn das wäre wie Warten auf Godot."

Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch Im Bann der Plattformen. Das Buch wird am 5. Juli 2017 um 19 Uhr in Zusammenarbeit mit der Berliner Gazette vorgestellt.

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Aus: "Eine Welt jenseits von Facebook: Auf der Suche nach Alternativen zum digitalen Kapitalismus" Geert Lovink (03.07.2017)
Quelle: http://berlinergazette.de/welt-jenseits-von-facebook/

Textaris(txt*bot)

#3
Quote[...] STANDARD: Sie wähnen uns alle "auf dem Weg in die digitale Hölle". Warum das denn?

Türcke: Die große Internet-Utopie besagt ja: Es wird wunderbar sein, wenn wir endlich alle ständig miteinander verbunden sind. Die anderen sind dann immer da, man schaltet sie gewissermaßen ein, indem man sie direkt anspricht. So entsteht natürlich nicht globale Mitmenschlichkeit, sondern eine Art globales Callcenter, 24 Stunden am Tag – und das ist eine digitale Hölle.

STANDARD: Die Grundthese Ihres Buchs ist, dass die Digitalisierung eine neue Form der Vergesellschaftung bringt – eine neue Stammesgesellschaft. Wie sieht die aus?

Türcke: Der Begriff geht auf den Medientheoretiker Marshall McLuhan zurück. Er glaubte, dass nach der langen Epoche der Schrift, die die Menschheit wie ein Spaltpilz befallen und die Individuen vereinzelt habe, die ganze Welt durch elektronische Medien wieder verbunden und zu einer neuen Nähe direkten Sprechens und Hörens zusammenrücken würde, wie einst in der archaischen Stammeswelt. In dieser Vision sind auch immer alle da und zusammen. Die Menschheit wird zu einem globalen digitalen Stamm. Ja, sage ich, ein solcher Stamm ist im Entstehen. Nur bringt er nicht allgemeine zwischenmenschliche Nähe, sondern setzt unter den Druck ständiger Empfangs- und Sendebereitschaft. Wer da nicht mitmachen will, ist ausgeschlossen. Deswegen reden alle von Inklusion. Aus Angst vor dem Ausschluss beginnen sie das Eingeschlossensein für den erstrebenswertesten Zustand zu halten. Sie preisen es als Menschenrecht. Dahinter steht die Digitallogik. Außerhalb der Digitalität gibt es kaum mehr menschliche Lebensmöglichkeiten. Die gibt es nur noch in den Clans des digitalen Stamms.

STANDARD: Der Facebook-Clan, der Instagram- oder Twitter-Clan?

Türcke: Ganz genau – oder der Google-Clan. Diese Clans funktionieren wie archaische Schwärme oder Horden. Es gibt einen Schwarmsog. Wo die anderen hinschwärmen oder hingetrieben werden, da muss ich auch hin, sonst bin ich draußen.

STANDARD: Google und Facebook würden die Nutzerinnen und Nutzer nicht "knechten", schreiben Sie: "Sie saugen sie an. Doch damit machen sie sie abhängiger als jede politisch-militärische Gewalt." Wie überformen deren Funktionslogiken das Bewusstsein ihrer Stammesmitglieder alias Follower?

Türcke: Das Wort ansaugen sagt es schon: Es werden Suchtverhältnisse hergestellt. Stellen wir uns vor, Google oder Facebook sperrten einmal für 24 Stunden den Zugang. Was wäre die Folge? Angst, Panikattacken und Desorientierung größten Ausmaßes. Es haben sich suchtbasierte Gefolgschaften um diese Plattformen gebildet. Kritiker sagen, wir müssen die absolutistische Herrschaft von Google bekämpfen. Da fühlt sich Google nicht angesprochen. Die locken ihre Klientel ja mit universaler kostenloser Dienstbarkeit. Leute abhängig machen mit einem kostenlosen Dienst und dabei Milliarden verdienen: So ein geniales Geschäftsmodell hat es in der Geschichte noch nicht gegeben. Da wird durch Dienstbarkeit geherrscht. Hegels Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft ist auf neue Weise wieder aktuell. Die Herrschaft durch Dienstbarkeit, die eine suchtbasierte Abhängigkeit herstellt, ist gar nicht zu übertreffen. Da hat man die Leute innerlich am Gängelband, nicht durch äußere Unterdrückung.

STANDARD: Sie beschreiben die Suchmaschine Google ja in politischen Kategorien: "Praktiziert wird unablässige Basisdemokratie ohne res publica (öffentliche gemeinsame Angelegenheit) – ein Dauerplebiszit." Mit welchen Folgen für die reale Politik, die echte Demokratie?

Türcke: Es greift eine enorme Depolitisierung um sich. Die Politikverdrossenheit steigt extrem in einer Zeit, in der Politiker ständig mit einer enormen Staatsverschuldung konfrontiert sind. Ihr Gestaltungsraum schrumpft. Und dann kommen große Plattformen mit einem ungeheuren finanziellen Rückhalt und einer riesigen Attraktivität für ihre Nutzer und bieten den Staaten an: Wir übernehmen für euch ganze Ressorts, zum Beispiel die Bildungs- und Verkehrslogistik. Und wir machen das viel billiger als ihr. Das ist noch in den Anfängen, bahnt sich aber so drastisch an, dass man kein Prophet sein muss, um zu sehen, dass das die nähere Zukunft ist. In Deutschland wird gerade die Schulcloud eingerichtet. Die soll sämtliche Bildungsangebote enthalten, alle Auswertungsmechanismen, Feedbacks in Echtzeit, die die Schüler sofort überprüfen und ihnen gleich individuell zugeschnittene neue Aufgaben übermitteln. Die Schüler hängen als Reiz-Reaktions-Bündel am Tropf einer feinjustierten Bildungsmaschine. Das Lehrpersonal wird zum marginalen Begleiter. Eine private Firma übernimmt das Bildungsmanagement und nutzt alle dabei anfallenden Schüler- und Lehrerdaten. Grauenerregend und, wenn einmal etabliert, kaum mehr rückgängig zu machen.

STANDARD: Sie schreiben über die "Auflösung der Öffentlichkeit" durch die Durchdigitalisierung aller Lebensbereiche. Welche Auswirkungen hat das?

Türcke: Öffentlichkeit ist etwas Paradoxes: eine besondere Sphäre zur Artikulation von Allgemeinem. Sie artikuliert das, was alle angeht. Das kann sie gar nicht anders tun als repräsentativ. Öffentlichkeit hat stets etwas mit Fürsprache für andere zu tun, die sich nicht jederzeit artikulieren können. Fürsprecher und Repräsentanten, die für andere sprechen und sie repräsentieren sollen, sind tendenziell freilich immer auch Vormünder, die andere nicht zu Wort kommen lassen. In der Frühzeit des Internets glaubte man, das Vormundsproblem mit einem Schlag loswerden zu können. Jeder geht unmittelbar ins Netz. Da brauchen wir den ganzen Mist der Repräsentation nicht mehr.

STANDARD: Dieser "Mist" scheint aber doch nicht ganz verzichtbar.

Türcke: Ja, denn jener Cyberspace, jener nicht regierbare Raum, in dem sich jeder ohne jeden Repräsentanten vollkommen frei bewegen können soll, war nicht das Reich der Freiheit, wie die Internetpioniere in den 90er-Jahren glaubten, sondern ein neuer hochtechnologischer Dschungel. Schon nach kürzester Zeit musste man irgendeine Struktur in diesen Dschungel bringen. Die Suchmaschine Google und die Likemaschine Facebook haben das getan und dabei nichts Geringeres geschaffen als eine neue Weltordnung. In deren Koordinaten verläuft die globale Kommunikation. Nach deren Pfeife tanzt die Vergesellschaftung: die Bildung unterkomplexer, clanartiger Horden und Schwärme im Kraftfeld von Plattformen. Google und Facebook sind gewaltige neue Vormünder – ungleich beherrschender als die alten der repräsentativen demokratischen Öffentlichkeit. Und plötzlich stellt sich nicht mehr die Frage, wie stellen wir durch das Internet endlich Demokratie her, sondern wie schützen wir die Demokratie vor dem Internet?

STANDARD: Wie schützen wir die Demokratie denn vor dem Internet?

Türcke: Genauso wie man kleine Kinder vor alledem schützt: durch geringstmöglichen und wohldosierten Gebrauch. Man sollte die zahllosen Dinge, für die man keinen Computer braucht, auch weiterhin ohne diese Geräte machen. Es muss nicht gleich jedes Arbeitsblatt für die Schule digitalisiert werden.

STANDARD: In Summe ist Ihre Analyse schon etwas sehr kulturpessimistisch. Wo sehen Sie denn auch Positives an den Möglichkeiten der Digitalisierung?

Türcke: Ich habe diverse Lichtblicke aufgezählt: Wikipedia etwa oder all die Menschenrechtsaktivisten in diktatorischen Ländern, die mit ihren Blogs im Internetdschungel eine Nische finden, an die autoritäre Staaten schlecht rankommen. Die sind zwar unbedingt zu unterstützen, aber es sind lediglich Lichtblicke im Dschungel. Diese Verhältnismäßigkeit ist nicht zu vergessen. Leider können wir uns nicht einfach entscheiden, ob wir ein kommerzielles und brutales Internet wollen oder ein Internet der Vernunft, Transparenz und Demokratie. Wir haben keine Wahl zwischen zwei Internets. Der Dschungel bleibt.

STANDARD: Immerhin, Ihr Ausblick ist nachgerade revolutionär.

Türcke: Tatsächlich sehe ich im 3D-Druck ein Potenzial zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise. Was passiert, wenn diese Technik sich so entwickelt, dass alle neben einem PC auch einen PP (Personal Producer) hätten und sich die entscheidenden Gebrauchsgüter selbst herstellen könnten? Dann verfügten alle über Privateigentum an Produktionsmitteln. Die Produktionsmittel wären vergesellschaftet – nicht durch die Enteignung von Kapitalisten, sondern durch Zueignung an alle. Die Enteignung privater Firmen hat immer bloß zur Verstaatlichung geführt. Weiter ist der Sozialismus nie gekommen. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel würde hingegen den Weg zu einer neuen hochtechnologischen Selbstversorgungswirtschaft beschreiten. Die brächte zwar nicht sogleich das gute Leben, stünde aber nicht mehr unter kapitalistischem Expansionszwang. Und das wäre schon enorm viel. Ob es dazu kommt, wissen wir nicht. Aber die Perspektive ist da.

Christoph Türcke, geb. 1948, studierte Evangelische Theologie und wurde 1972 in Zürich zum Pfarrer ordiniert, danach Studium der Philosophie an der Universität Frankfurt, 1977 Promotion, von 1995 bis 2014 war er Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. -




Aus: ""Google und Facebook sind gewaltige Vormünder"" Lisa Nimmervoll (4.3.2019)
Quelle: https://derstandard.at/2000098892112/Philosoph-Christoph-Tuercke-Google-und-Facebook-sind-gewaltige-Vormuender

Quote
Wienamasta

Autsch das tut weh.

Erinnert mich irgendwie an den Ausspruch einer alten chinesischen Adeligen in einem der Büchervon Pearl S. Buck: "Wozu brauchen wir einen Apparat, der die Worte unter dem Meer reisen lässt. (Telefon). Was hätten wir den Barbaren in jenen fernen Ländern zu sagen?!"


Quote
Cisleithaner

Da steckt doch der Pfarrer im Philosophen! Böse Technik = Hölle. Erlöse uns der Herr aus den Fängen des satanischen Internets und denen des teuflischen Kapitalismus auch. O sancta simplicitas!


Quote
angelo6

Da redet ein Blinder von der Farbe
Jede neue Technologie bietet neue Chancen und bringt neue Risken. Da muss man ansetzen und nicht an unrealistischen Vorstellungen von 3-D-Druckern !


Quote
hukunamatata

es ist schon traurig das Wissen der Welt liegt in unseren Händen und doch verblödet die Gesellschaft zusehens.
Als User sollte man nie vergessen das Google, Facebook und Co Unternehmen sind die Profit machen wollen und deshalb versuchen sie alles um den User so lange wie möglich auf ihren Seiten zu halten.
Sieht so aus als bräuchte das Internet eine neue Aufklärung, Kant 2.0 sozusagen.
,Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!'


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Textaris(txt*bot)

#4
Quote[...]  Der Text wurde dem neuesten Heft der Fabrikzeitung über "Die neue Öffentlichkeit" entnommen. Die Fabrikzeitung ist ein Magazin für kulturelle, gesellschaftliche und politische Themen; sie wird durch das Kulturzentrum Rote Fabrik herausgegeben und erscheint seit 1984 zehn Mal jährlich. Autorinnen und Autoren aus dem In- und Ausland berichten über die Hintergründe, die Nebenschauplätze, die Zusammenhänge des Zeitgeschehens und schaffen damit einen Raum für kritischen Diskurs. https://www.fabrikzeitung.ch/category/neue-oeffentlichkeit/#/
... Adrian Lobe hat in Tübingen, Paris und Heidelberg Politik- und Rechtswissenschaften studiert und arbeitet als freier Journalist. 2016 wurde er für seine Artikel über Datenschutz und Überwachung mit dem Preis des Forschungsnetzwerks Surveillance Studies ausgezeichnet. Für seinen Artikel "Wir haben sehr wohl etwas zu verbergen!" erhielt er 2017 den ersten Journalistenpreis der Stiftung Datenschutz. ...


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In der Mitte der 1990er Jahren war im Grundrauschen der Modems, die in Wohnzimmern und Büroräumen installiert waren, ein Revolutionsknistern zu vernehmen. Der Siegeszug des World Wide Web würde die Demokratisierung beschleunigen, er würde autoritäre Herrscher hinwegfegen, tradierte Institutionen überflüssig machen, Machenschaften ans grelle Licht der Öffentlichkeit zerren, die Welt zu einer "Placeless Society" (William Knoke) machen, für die Orte keine Rolle spielen. Futuristen und Akzelerationisten berauschten sich an der Geschwindigkeit der Bytes und Bits ebenso wie Kapitalisten. Die gegenkulturellen Netzaktivisten erträumten eine Cyberagora, einen elektronischen Marktplatz von Ideen, wo alle gleichberechtigt am Diskurs partizipieren können.

Der Internetpionier John Perry Barlow postulierte in seiner "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" im Jahr 1996: "Wir erschaffen eine Welt, in der jeder Einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie auch sind, ohne Angst davor, im Schweigen der Konformität aufgehen zu müssen."

Dass diese Utopie herrschaftsfreien Diskurses im Netz eine Utopie bleiben würde, war selbst dem größten Optimisten klar. Auch der gerne idealisierte Speakers Corner, wo seit 140 Jahren die freie Rede kultiviert wird, war immer bloß ein Corner, eine Ecke der Debattierfreude, ein Schaukasten für besonders bunte Ideen, wo sich die demokratische Gesellschaft ihrer Werte vergewisserte, wohl wissend, dass die freie Rede in elitären Kreisen wie Eton oder Oxford auch von informellen und formellen Sprachregelungen eingeschränkt wird. Die brachiale Art und Weise, mit der diese Utopie einer elektronischen Agora (vorläufig) gescheitert ist, hat dann aber doch überrascht. Fake-News fluten das Netz, Hasskommentare verrohen den Diskurs, Trollfabriken manipulieren Wahlkämpfe, Hacker greifen Daten ab, Meinungsroboter torpedieren den politischen Diskurs, autoritäre Regime zensieren das Netz.

Es ist noch gar nicht so lange her, da wurden die grüne Revolution im Iran (2009) sowie der Arabische Frühling (2011) als "Twitter-Revolution" bezeichnet. Die euphorischen Berichte von Journalisten, die in dem privaten Kurznachrichtendienst den Katalysator eines Demokratisierungsprozesses sehen wollten, wirken heute seltsam antiquiert. Die autoritären Herrscher fürchten das Internet schon lange nicht mehr, im Gegenteil, sie nutzen es als Instrument zur Überwachung und Unterdrückung. Der britische Physiker Tim Berners-Lee, der 1989 am CERN das World Wide Web erfand, stellte konsterniert fest, dass seine Schöpfung "kaputt" sei. Er will das Internet mit einem Open-Source-Projekt reparieren.

Die Diagnose, dass das Internet kaputt sei, greift etwas zu kurz, weil es "das" Internet nicht gibt und der ramponierte Zustand des World Wide Web im Zusammenhang mit den defekten Teilöffentlichkeiten steht: In den USA hat seit einigen Jahren, nicht zuletzt durch die Entwicklung des Internets, ein massives Zeitungssterben eingesetzt. Laut einer Studie der University of North Carolina mussten in den USA seit 2004 1800 Lokalzeitungen schließen. Wo Öffentlichkeit verschwindet, verschwinden auch der öffentliche Raum und seine Regeln.

Auf der anderen Seite gibt es im Netz weiterhin intakte Formate wie Blogs oder Foren, die auch ohne Algorithmentechnik funktionieren. Die Wikipedia hat sich, trotz manch erbitterter Scharmützel seiner Editoren ("Edit Wars"), als erstaunlich robust gegen Fake-News und politische Manipulationsversuche erwiesen. Die Enzyklopädisten Diderot und d'Alembert hätten über das stiftungsfinanzierte Online-Lexikon und dessen kollaborativem Geist sicherlich gestaunt.

Nachdem die Blogosphäre einen leisen Tod starb, ist Wikipedia das letzte Relikt des Web 2.0 inmitten eines kommerzialisierten und durch Überwachungsstrukturen durchsetzten Internets, wo Tech-Konzerne wie Google oder Facebook durch die Ausforschung der Privatsphäre und personalisierte Werbung Milliarden verdienen. Doch auch dieses letzte genossenschaftlich bewirtschaftete Reservat droht in die korporativen Strukturen überführt zu werden. Tech-Konzerne wie Google, Facebook und Amazon nutzen Wikipedia-Beiträge zur Optimierung ihrer KI - und spenden dafür ein paar kümmerliche Millionen.

Die Google-Schwester Jigsaw etwa hat auf Grundlage von 115.000 Beiträgen auf Wikipedia-Diskussionsseiten ein Moderationstool (Perspective) entwickelt, das mithilfe maschinellen Lernens Hass-Postings und Trollereien erkennen soll. Der Algorithmus bewertet auf einer Skala von 0 bis 100 die Toxizität eines Beitrags. Die Frage ist nicht nur, ob Toxizität vielmehr eine Diskurskategorie aus autoritären Regimen ist, sondern auch, ob das Konzept der Commons nicht überstrapaziert wird, wenn sich profitorientierte Konzerne wie an einem Steinbruch an dem Wissensschatz bedienen. Was ist der Wert geistiger Arbeit, wenn Texte zu Trainingsdaten für geistlose künstliche Intelligenzen verkommen? Endgültig konterkariert, ja pervertiert würde der Commons-Gedanke, wenn mithilfe von Wikipedia-Diskussionen andernorts Diskussionsbeiträge gelöscht würden, die Editoren damit zu Handlangern der Zensur würden. Die großen Plattformen haben das partizipative Web gekapert. Es ist also genau das eingetreten, was die Vordenker des World Wide Web immer verhindern wollten: eine Zentralisierung, Monopolisierung und Vermachtung der Kommunikationsströme.

Die Netzöffentlichkeit wird heute von privaten Konzernen und ihren Algorithmen gelenkt. Egal, welchen Link man aufruft - man gelangt fast immer über Google, Facebook oder Twitter auf die Seite. Damit wächst den Konzernen eine beispiellose Gatekeeperfunktion zu. Als Google 2013 für ein paar Minuten offline war, brach der globale Internet-Traffic um 40 Prozent ein. Das zeigt, wie abhängig das Netz von zentralen Knotenpunkten ist. Wann immer die Konzerne an ihren Algorithmen drehen, hat dies Auswirkungen, nicht nur auf die Statik der Internet-Architektur, sondern auch auf politische Systeme. Der in der Provinz verankerte Protest der Gelbwestenbewegung in Frankreich ist mutmaßlich auf die Modifikation von Facebooks Newsfeed-Algorithmus im Januar 2018 zurückzuführen, der lokale Posts priorisiert. Dass in amerikanischen Rechenzentren die politische Agenda in Europa mitgesteuert wird, ist eine Entwicklung, die in der Diskussion über die politische Einflussnahme durch russische Trollfabriken gerne übersehen wird, jedoch die zunehmend schwächer werdende Selbstregulierungskapazität bürgerlicher Öffentlichkeiten indiziert.

Mit der Erosion der Schleusenwärterfunktion durch Algorithmen quillt immer mehr Müll an die Benutzerfläche. Plattformbetreiber wie Facebook oder YouTube beschäftigten auf den Philippinen einen digitalen Putztrupp, sogenannte Content-Moderatoren, die für ein paar Dollar am Tag den Unrat aus dem Netz beseitigen müssen: Sodomie, Kinderpornographie, Enthauptungsvideos und andere Grausamkeiten. Weil die "Cleaner" häufig traumatisiert sind, wollen Tech-Konzerne - gewissermaßen aus einem Gehlenschen Entlastungsgedanken heraus - Maschinen die Drecksarbeit übernehmen lassen. Schon heute prüfen automatisierte Systeme hochgeladene Videos. Doch der Mensch ist noch immer die billigere Sortiermaschine.

In den Richtlinien von YouTube heißt es: "Es dürfen keine gewalttätigen oder blutrünstigen Inhalte hochgeladen bzw. veröffentlicht werden, die vorrangig in schockierender oder effekthascherischer Art und Weise gestaltet sind bzw. grundlose Gewalt darstellen." Was jedoch den Tatbestand der "grundlosen Gewalt" erfüllt (auch Actionfilme?), ist nicht Auslegungssache, also Gegenstand einer diskursiven Praxis, sondern das Resultat mathematischer Rechenoperationen. Wenn der Objekterkennungsalgorithmus in einer Videosequenz drei Waffen identifiziert, könnte das System die Inhalte als nichtzeigenswürdig melden. Außerhalb der Determinismen gibt es gar keine Wahrheit mehr. Die algorithmischen Wertungen ("Dieses Video wurde entfernt") kommen mit einem Absolutheitsanspruch daher, als bedürfte es gar keiner Diskussion mehr, als wäre der Sachverhalt von höchstrichterlicher Instanz entschieden. Die Maschine hat gesprochen, Ende der Debatte.

Wie stupide diese Filtertechniken operieren, demonstrierte der australische Musik-Dozent Sebastian Tomaczak: Er lud auf YouTube ein Video hoch, das zehn Stunden lang nichts anderes als ein monotones Rauschen und ein graues Muster wie beim Sendeschluss zeigte. Man kann dies als performativen Kunstakt interpretieren, der die Monotonie der Plattform auf eine Metaebene hebt. YouTubes automatisiertes Content-ID-System identifizierte in dem Material jedoch fünf Urheberrechtsverstöße. Dass in diesen kybernetischen Kontrollschleifen auch Satire hängenbleibt und aussortiert wird und darin eine kulturelle Verachtung zum Ausdruck kommt, ist evident. Doch angesichts der 400 Stunden Videomaterial, die pro Minute (!) auf YouTube hochgeladen werden, bleibt der Plattform gar nichts anderes übrig, als den großen Kehricht zu schwingen und seine Kriterien restriktiv auszulegen.

Die Entfesselung der Informationen, die die von den fortschrittsoptimistischen Netzaktivisten immer herbeigesehnt wurde, führt paradoxerweise zu einer neuen Formen- und Sittenstrenge, einer Restauration von Autoritäten, die mit opaken, von der allgemeinen Öffentlichkeit nicht überprüfbaren Formeln die Meinungsströme lenken und mit der algorithmischen Zertifizierung die Grenzen des Sagbaren festzurren. Dieser technische Rigorismus paart sich dabei mit einer Sozialmoral, die erst auf den zweiten Blick deutlich wird: Facebook, das wiederholt Darstellungen von Nacktheit - etwa das "Napalm-Mädchen" oder die Neptun-Statue - aus Rücksicht auf religiöse Minderheiten gelöscht hat, weist in seinen "Gemeinschaftsstandards" explizit darauf hin, dass anstößige und taktlose Inhalte unerwünscht seien. Die Privatisierung und Technisierung meinungsbildender Prozesse und die damit einhergehende Delegation von Wertentscheidungen an Programmierer und Algorithmen führt letztlich zu einer Entmündigung bzw. Bevormundung liberaler Gesellschaften.

Der ehemalige Google-Chef und aktuelle CEO der Mutterholding Alphabet, Eric Schmidt, sagte einmal: "Wir sind sehr gut darin zu erkennen, was am meisten und wenigsten relevant ist. Es sollte für Computer möglich sein, bösartige, irreführende und inkorrekte Informationen zu detektieren und sie nicht sehen lassen. Wir reden hier nicht einer Zensur das Wort, wir argumentieren, es von der Seite herunterzunehmen, es woanders hinzutun und schwerer auffindbar zu machen." Die Gefahr ist, dass über die Installation von Filtertechniken eine klinisch reine Diskursarena erzeugt wird, wo das wie auch immer definierte Böse, Irreführende und Verstörende schon gar nicht mehr auftaucht, sondern nur noch Gefälliges.

Forderungen nach mehr Transparenz tritt Google mit der Schutzbehauptung entgegen, dass die Offenlegung seines Suchalgorithmus eine Einladung an Spammer wäre und in einem informationellen Kollaps resultieren würde. Suchmaschinenoptimierer könnten Werbung an erster Stelle platzieren, Krypto-Anarchisten Google-Dummys kreieren. Der Nutzer würde nichts mehr finden. Die digitale Gesellschaft hat also mit dem verstörenden Umstand zu leben, dass die Ordnung von Informationen nur durch ihren eigenen Black-Box-Charakter aufrechterhalten werden kann. Anders gewendet: Die Informierung der Öffentlichkeit funktioniert nur dann, wenn das Sicherheitsdispositiv im Verborgenen bleibt. Man könnte dies dialektisch als antiaufklärerische Aufklärung begreifen, als eine Art "embedded public", das nur noch durch die Sehschlitze automatisierter Systeme blickt.

Wie die Entwicklung weitergehen wird, ob sich abseits der Plattformen kritische Gegenöffentlichkeiten konstituieren, auf denen sich subversiver Protest organisieren lässt, wird abzuwarten sein. Mit Blick auf China ist jedoch anzunehmen, dass sich das zunehmend autoritär regulierte Web immer mehr von den anfänglichen Netzutopien entfernt.


Aus: "Die Plattformen haben das partizipative Web gekapert" Adrian Lobe (08. April 2019)
Quelle: https://www.heise.de/tp/features/Die-Plattformen-haben-das-partizipative-Web-gekapert-4365432.html


QuoteSteinmerkel, 08.04.2019 16:49

Guter Witz

" Die Wikipedia hat sich, trotz manch erbitterter Scharmützel seiner Editoren ("Edit Wars"), als erstaunlich robust gegen Fake-News und politische Manipulationsversuche erwiesen. "

Lächerlich. Unterirdisch. Uninformiert. Verblendet.


QuoteDasWoelfchen, 08.04.2019 21:54

Lediglich die Verschiebung der Deutungshoheit

Früher waren die Journalisten die Torwächter - was nicht bei "heute", "Tagesschau", "FAZ" oder "Bild" sichtbar war, existierte einfach nicht.

Hier wurde gefiltert und redigiert was das Zeug hielt und später - nach Einzug des Privatfernsehens - auch durch geschickte Auswahl der Teilnehmer in Talkshows das politische Terrain geebnet, um dem Publikum "alternativlose Wahrheiten" verkaufen zu können. ... Heute entscheiden Konzernstrategen und maschinelle Filter bei den großen Internetfirmen, was die Nutzer von den tatsächlich generierten Inhalten auch wirklich zu sehen bekommen. Nicht umsonst klagen die großen Verlagshäuser und Fernsehanstalten über den eklatanten Verlust ihrer Meinungsführerschaft und setzen Himmel und Hölle in Bewegung, diese "gute alte Zeit" wiederauferstehen zu lassen.

... Die Methoden und Verfahren - ja sogar die zugrunde liegende Agenden - mögen sich ändern, aber gefiltert, gesteuert und aussortiert wird heute genauso wie vor 40 Jahren. Das einzige was sich geändert haben mag ist die Tatsache, dass sich eine immer größer werdende Anzahl von Menschen dieser Manipulation bewusst wird.


...

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Quote[...] Anfang Juni 2018 gab Microsoft den Ankauf der Code-Plattform GitHub bekannt. Anders ausgedrückt: Das größte Code-Repository der Welt, eine Art Basislager für alle diejenigen, die mit Software etwas anderes vorhaben als schlicht Profit machen, wird ausgerechnet von dem Konzern übernommen, der wie kein anderer für das Milliardengeschäft mit proprietären Software-Lizenzen steht.

Immer wieder kommt es vor, dass neue Techniken, Erfindungen oder Konzepte Hoffnungen wecken, sie würden wahlweise die Macht von großen Konzernen einschränken, zu mehr Demokratie und Gerechtigkeit führen, kurz: aus der Welt einen besseren Ort machen. Zur Jahrtausendwende bekundete der damalige US-Präsident Bill Clinton solcherart technologische Zuversicht: "Im neuen Jahrhundert wird sich die Freiheit durch Mobiltelefon und Kabelmodem verbreiten." Das Internet, Open-Source-Software, Peer-to-Peer-Anwendungen – Die Liste an technologischen Hoffnungsträgern, von denen ihre Zeitgenossen wundersame Wirkungen erwarteten, ist lang.

Gerne wird auf das Motiv des Ausschlusses von Vermittlern zurückgegriffen, deren Beseitigung wundersame Wirkungen zugeschrieben wird. So behauptete etwa der kanadische Management-Guru Son Tapscott 1996: "Die Mittlerfunktionen zwischen Produzenten und Konsumenten werden durch digitale Netzwerke ausgeschaltet." Tatsächlich haben wie seitdem eher das Gegenteil erlebt: Auf den netzneutralen Protokollen des Internets aufbauend sind neue Gatekeeper entstanden, die mächtigen und zu Monopolen gewordenen Plattformen der Digitalkonzerne.

Tapscott zeigt sich von solchen Entwicklungen gänzlich unbeeindruckt und hat schon die nächste Technologie ausgemacht, mit der es diesmal klappen soll mit der Weltverbesserung: "Die Blockchain Revolution. Wie die Technologie hinter Bitcoin nicht nur das Finanzsystem, sondern die ganze Welt verändert", heißt sein neues Buch. Meiner Skepsis, ob es mit dieser Technologie klappen wird, habe ich bereits in einem "Missing Link" Ausdruck gegeben.

Eins wird jedenfalls deutlich: Der Kapitalismus hat es noch jedes Mal geschafft, neue Technologien mitsamt ihrer Potenziale und Dynamiken zu integrieren. Ein besonders schönes Beispiel für eine beeindruckende feindliche Übernahme einer revolutionären, widerständigen Technologie durch einen kapitalistischen Player jährt sich derzeit zum ersten Mal und ist deshalb wert, einmal aus dieser Perspektive gewürdigt zu werden.

Der Software-Riese aus Redmond galt lange Zeit als das Hassobjekt Nummer eins der Software-Szene. Hatte doch Bill Gates als Fünfundzwanzigjähriger IBM mit einem Software-Deal über den Tisch gezogen und damit nicht nur das Software-Imperium Microsoft begründet, sondern auch die Ära lizenzierter Software eingeläutet. Beim berühmten IBM-Deal im Jahr 1980 gelingt dem jungen Bill Gates ein kluger Schachzug, der sich als größte und gewinnbringendste Geschäftsidee der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erweisen sollte. Er kaufte das Betriebssystem QDOS vom Programmierer Tim Paterson für 50.000 Dollar, inklusive Quellcode und sämtlicher Nutzungsrechte. Ein guter Geschäftsmann oder eine gute Geschäftsfrau hätte daraufhin wahrscheinlich versucht, das leicht veränderte Programm für einen deutlich höheren Preis an IBM weiterzuverkaufen.

Nicht jedoch Bill Gates. Er war im Gegensatz zum IBM-Management davon überzeugt, dem PC stünde eine goldene Zukunft und der Durchbruch im Massenmarkt für die gerade entstehenden Personal Computer bevor. Er bot ihnen ein Lizenzmodell an: Microsoft erteilte IBM einfache Nutzungsrechte und erhielt pro verkauftem IBM-PC eine Lizenzgebühr – und obendrein kostenlose Werbung, war doch der mit dem Microsoft-Logo versehene Bootscreen ab sofort und jeden Tag aufs Neue das erste, was PC-Benutzer zu sehen bekamen. Zusätzlich konnte Gates allen anderen PC-Herstellern, also IBMs Konkurrenten, den gleichen Deal anbieten, dem diese ebenso bereitwillig zustimmten.

Der Rest ist Geschichte: Die PC-Revolution brach aus, IBM verkaufte Millionen der neuen Geräte und die Konkurrenz ebenso. Sie lieferten sich dabei einen Preiskrieg der als clone war in die Geschichte eingegangen ist, einzig Microsoft profitierte von den Erfolgen beider Seiten. Microsoft erlangte eine Monopolstellung im Bereich PC-Betriebssysteme und Büroanwendungssoftware, die bis heute anhält, und Bill Gates wurde zum reichsten Mann der Welt. Die Firma ist wegen dieser Rolle als Erfinder und maximaler Profiteur von Software-Lizenzierung seitdem beliebtestes Hassobjekt der Gegenbewegung.

Die kollektive Entwicklung von Software, deren Quellcode offen für alle zugänglich ist, die lizenzfrei vertrieben, verändert und zweckentfremdet werden kann, ist das Credo der Gegenseite. Der Linux-Begründer Linus Torvalds initiierte im Jahr 2005 ein Projekt, dessen Ziel ein frei verfügbares Tool für Software-Entwicklung war, das Versionierung ermöglichte, also die Möglichkeit, Entwicklungsstufen zu dokumentieren. Das Projekt bekam den Namen Git und sollte die Verwaltung von Code-Versionen erleichtern und die Koordinierung und Synchronisierung vieler parallel am gleichen Quellcode Arbeitenden ermöglichen.

Vorläufer gab es schon lange, bereits 1972 wurde SCCS erfunden, das erstmals die Möglichkeit bot, ein automatisches Protokoll des Entwicklungsprozesses zu erzeugen. Mit SCCS konnten auch bereits mehrere Personen am gleichen Code arbeiten, wenn auch nicht simultan. Parallele Veränderungen ("branches") waren mögliche, deren Zusammenführung ("merge") und das nachfolgende Einspeisen bzw. Konsolidieren ("commit") musste allerdings immer noch einzeln und von Hand geschehen.

Neu bei Git ist zudem die Dezentralität, es ist als distribuierter Service konzipiert, und erinnert darin etwa an das Design der Blockchain. Es gibt also keinen zentralen Server, alle Beteiligten haben lokal die komplette Version eines Projekts zur Verfügung.

Git stellt sicherlich eine der wichtigsten Innovationen im Bereich Software-Entwicklung dar, seit Margaret Hamilton aus dem Programmieren eine Ingenieurswissenschaft machte. Torvalds Projekt setzte sich – wie so oft bei konkurrierenden Technologien, nicht unbedingt nur auf Grund von sachlichen Kriterien, weltweit gegen die Konkurrenz (etwa von SVN) durch. Gutes Marketing und ein berühmter Name trugen wohl ihren Teil zum bei.

Doch das Versionsverwaltungssystem muss irgendwo "laufen", die Daten irgendwo gehostet werden. Die "Lagerhallen" für Git-Code stellte ab 2008 das kleine Startup GitHub zur Verfügung, die das Hosting der Git-Repositorien anbot, ohne Werbung und gegen geringe Gebühren. Es wurde durch immer neue Funktionen sowie kostenloses Hosting von öffentlichen Projekten schnell zum Anbieter der Wahl für die Entwicklerszene und, wie c't-Redakteur Jan Mahn betont, zu einem "sozialen Netzwerk für Entwickler".

Chinesische Aktivisten haben kürzlich unter dem Namen 996.ICU ein Repository auf GitHub eingerichtet, das sich zu einem der erfolgreichsten aller Zeiten entwickelt hat. Die Aktion ist Teil der wachsenden Anti-996-Bewegung in China, die sich auf einen in der dortigen Tech-Industrie verbreitetes Arbeitspensum bezieht – von neun bis neun, sechs Tage die Woche (996) – mit programmiertem Ende auf der Intensivstation (Intensive Care Unit).

In wenigen Monaten hat das Projekt mehr Sterne, die wie Facebook-Likes auf der Plattform funktionieren, als das Open-Source-Framework für künstliche Intelligenz von Google TensorFlow. Im April dann veröffentlichten Katt Gu und Suji Yan die "Anti-996-Lizenz", um die Arbeitsbedingungen für Programmierer zu verbessern. Die Lizenz schreibt Unternehmen vor, die Software des Projekts zu verwenden, um die lokalen Arbeitsgesetze sowie die Standards der Internationalen Arbeitsorganisation zu erfüllen. GitHub ist gut gewählt, fällt es doch chinesischen Zensurbehörden schwer, den für die chinesische IT wichtige Plattform einfach abzuschalten.

In der Schatzkammer der Entwickler-Community befinden sich derzeit 57 Millionen Programmcode-Repositorien, davon sind über die Hälfte öffentlich zugänglich. Über 28 Millionen Benutzer "sprechen" 337 verschiedene Programmiersprachen, "fork it on GitHub" (etwa: mach eine Verzweigung auf GitHub!) ist zum geflügelten Wort für Code-Entwicklung geworden. Allein 2,3 Millionen davon sind JavaScript-Projekte, der häufigsten Sprache auf der Plattform.

Am 4. Juni 2018 verkündete Microsoft die Übernahme von GitHub. Die Branche war fassungslos, konnten doch die beiden Beteiligten scheinbar gegensätzlicher nicht sein: Als würde sich Volkswagen die Deutsche Umwelthilfe oder RWE das Hambi-Camp 2.0 einverleiben! Boykottaufrufe ließen denn auch nicht lange auf sich warten.

Doch was steckte dahinter? CEO Satya Nadella sagte, dieser Deal würde "das Engagement von [Microsoft] für Entwicklerfreiheit, Offenheit und Innovation stärken". Im Januar 2019 senkte Microsoft sogar die Preise, auch private, d.h. nicht öffentlich einsehbare Repositorien, die vorher 7 US-Dollar pro Monat gekostet haben, wurden kostenlos. Es gibt nach wie vor Bezahlmodelle für Firmen, Teams etc. Trotzdem ein deutlicher Schritt, das Microsoft mit GitHub nicht fürs Hosting Geld verdienen will.

Microsoft will näher an die Millionen Coder, der Aspekt als soziales Medium einer erlesenen Gemeinschaft ist entscheidend, neben Image-Effekten, die man als "open-source-Washing" bezeichnen könnte. Experten zufolge ist Microsoft bestrebt, sich gegen Google und Apple zu behaupten, die mit dem App Store und dem Play Store hauptsächlich auf Mobilgeräten Armeen von Drittentwicklern angeheuert haben. Microsoft konzentriert sich auf die Erhöhung der Cloud-Präsenz und hat festgestellt, dass dies am besten durch Entwickler erreicht werden kann. Es ist eher ein Schritt für Microsoft, weg vom klassischen Software-Geschäft und hin zur Plattform-Ökonomie.

Und wie sieht das Geschäftsmodell aus? Auf der Heise-Bühne der Cebit 2018 boten GitHub-Manager Einblick: Die Millionen Coder und ihre Repositorien sind eine unerschöpfliche Quelle für Metadaten. Wer arbeitet mit welchen Tools an welchen Projekten in welchen Branchen? Solche und ähnliche Fragen kann GitHub mit einer weltweit konkurrenzlosen Datenbasis beantworten. Informationen, die aus diesen Daten extrahiert werden können, werden wohl künftig für GitHub essenziell: Plattformkapitalistische Daten-Monetarisierung in Reinkultur! Und im Ergebnis ist ein Lieblingsprojekt partizipatorischer Code-Entwicklung zu einem Big-Data-Pool eines Digitalkonzerns geworden.

Immer wieder werden Dezentralität, Verschlüsselung, Anonymität, Privacy, Transparenz, Offenheit ins Feld geführt; für utopische, die technische Seite transzendierende Eigenschaften, Effekte und Potenziale werden angedichtet, dazu demokratisierende, anti-kapitalistische etc. Dem steht die Fähigkeit des Kapitalismus gegenüber, revolutionäre, ja einmal für unversöhnlich antagonistisch eingeschätzte Technik, Bewegungen, Gedanken nicht nur zu parieren, sondern diese sich einzuverleiben. Und sich dadurch zu verändern, zu mutieren, so dass das Gift nicht nur nicht vergiftet, sondern nach einer Weile zum Nahrungsmittel wird.

Auf die radikale Künstlergruppe der Situationisten, die unter anderem die Hackerbewegung beeinflussten, geht der Begriff Rekuperation zurück. Sie beschrieben bereits in den 1960er Jahren, wie widerständige Kunst vom Kapitalismus einverleibt und neutralisiert wird. Gleichzeitig verändert sich dieser in dem Prozess der "Wiedereinverleibung" und geht gestärkt aus der Krise hervor, die die Intervention zunächst provoziert hat. Das Prinzip der "Wiedereinverleibung" wird seither auch in anderen Bereichen verwendet, nämlich immer dann, wenn zunächst widerständige und oppositionelles Verhalten, Ansichten oder auch Techniken sukzessive einverleibt, verdaut und neutralisiert werden.

Die Liste der diesbezüglichen Enttäuschungen ist ebenso lang. Um den 3D-Druck ist es in letzter Zeit schon stiller geworden, dem noch vor ein paar Jahren das Potenzial zugetraut wurde, die Hegemonie der Industrie zu brechen. Auch die Strahlkraft von Blockchain und Kryptowährungen hat erheblich nachgelassen, derzeit im Hype-Cycle noch eher oben: Künstliche Intelligenz.

Dabei können wir vom Cyber-Theoretiker Stafford Bear eins lernen: "Der Zweck eines Systems ist, was es tut." Egal, was für Potenziale und Fähigkeiten dystopischer oder utopischer Art von ihren Schöpfern oder Anwendern vermutet, welche Hoffnungen oder Befürchtungen in sie gelegt werden – geschenkt! Entscheidend ist, was hinten raus kommt (Helmut Kohl). Gesellschaftliche Veränderungen können nun einmal nicht außerhalb des Gesellschaftlichen erzielt werden; der Kapitalismus hat sich bisher immer als flexibel genug erwiesen, um mit jeder dieser Technologien nicht nur gut leben zu können, sondern auch eine Menge Geld damit zu verdienen.


Literatur

    Tapscott, Die digitale Revolution. Verheißungen einer vernetzten Welt - die Folgen für Wirtschaft, Management und Gesellschaft, Original: The Digital Economy McGraw, HIll N.Y. 1996
    Stafford Beer, What is Cybernetics?, Kybernetes, Volume 31, Issue 2, 2002, S. 209-219.
    Greenfield, Adam. Radical technologies: the design of everyday life, London New York: Verso, 2018.
    Jan Mahn, Microsoft kauft GitHub. Der Windows-Hersteller erwirbt mehr als eine Code-Plattform, c't 14/2018, S. 40
    Varun Kumar, 20 Interesting Facts and Statistics About GitHub, RankRed, 14.8.2018,
    Roberto Ohrt (Hrsg.): Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Edition Nautilus, Hamburg 1995, ISBN 3-89401-243-9.
    Hackernoon, How Git Changed The History of Software Version Control, Hackernoon, 15.7.2018




Aus: "Missing Link: Technologie-Rekuperation, oder: Wie subversive Technologien absorbiert werden" Timo Daum (16.06.2019)
Quelle: https://www.heise.de/newsticker/meldung/Missing-Link-Technologie-Rekuperation-oder-Wie-subversive-Technologien-absorbiert-werden-4446943.html?seite=all


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#6
Quote[...] STANDARD: Was macht etwa Facebook und Google zu – ich zitiere – "Katastrophen" für die Menschheit?

McNamee: Die USA haben ein völlig deregulierte Sicht auf die Wirtschaft. Kluge Menschen können in dieser Wirtschaft im Grunde Geschäfte machen, wie immer sie wollen. Facebook, Google und immer mehr auch Microsoft und Amazon betreiben Überwachungskapitalismus, so nennt das Harvard-Professorin Shoshana Zuboff.

STANDARD: Der, jedenfalls für einige Tech-Riesen, gläserne Mensch.

McNamee: Mehr als das. Google hat damit begonnen: Menschliche Erfahrung wird in Daten umgewandelt. Man sammelt alle verfügbaren Daten über jeden einzelnen Menschen. Und aus diesen Daten formt man quasi Daten-Voodoo-Puppen – zusammengesetzt aus unserem gesamten digitalen Leben. Von Bank- und Finanzdaten über Ihre Gesundheit und Ihren Standort bis hin zu allem, was Sie im Internet tun, was Sie in Mails oder Messengerdiensten schreiben, was Produktivitäts-Apps über Sie sammeln, und allem, was Amazon Alexa und Google System von Ihnen daheim erlauschen.

STANDARD: Und was kann man mit dieser Voodoo-Puppe anstellen?

McNamee: Sie verwenden diese Puppe, um Verhalten vorherzusagen. Das ist ein fundamentaler Umbruch im Marketing: Bisher suchte das Marketing nach demografischen Merkmalen seine Zielgruppe. Aber nun kommt dazu der Faktor Voraussage: Es geht darum, die Menschen in ihrer aktuellen Lebenswelt, ihrem Lebensgefühl zu erreichen. Google hat größere Ereignisse im Leben seiner User dokumentiert – Hochzeit, Kinder, Wohnungskauf, Autokauf – und die Muster analysiert. Mit diesen Mustern errechnen sie nun die Wahrscheinlichkeit für solche Entwicklungen in Ihrem Leben – mit einer Sicherheit, die es noch nie zuvor gab. Google kann mit 90-prozentiger Sicherheit vor der Frau selbst sagen, ob sie schwanger ist.

STANDARD: Perfekt für Anbieter von Schwangerschaftsmode bis Windeln.

McNamee: Man darf nicht vergessen: Dieses Geschäftsmodell ist die Basis von Unternehmen, deren Produkte unsere wichtigste Informationsquelle sind. Wir vertrauen Google, wir vertrauen Facebook, wir vertrauen Amazon und Microsoft, dass sie uns ehrliche Antworten auf unsere Sucheingaben liefern. Sie aber verwenden dieselbe Daten-Voodoo-Puppe auch dafür – und schränken damit unsere Auswahl ein auf jene Ergebnisse, die ihrem wirtschaftlichen Interesse am besten entsprechen. Sie liefern der Werbewirtschaft perfekte Informationen und kontrollieren gleichzeitig die Informationen, die wir bekommen.

STANDARD: Windelhersteller können sich vorfreuen – aber muss das schon eine Gefahr bedeuten?

McNamee: Der Umstand an sich ist gruselig, aber noch nicht gefährlich. Aber diese Information über die Schwangerschaft und den Zugang zur jeweiligen Person kann sich auch ein Verschwörungstheoretiker kaufen, der zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus behauptet. Diese Art von Targeting liefert dem Verschwörungstheoretiker ein womöglich gerade besonders empfängliches Publikum.

STANDARD: Die Tech-Konzerne liefern diese Daten nicht alleine der Werbewirtschaft und Verschwörungstheoretikern, sondern auch politischen Parteien und, sagen wir es möglichst breit, Interessengruppen.

McNamee: Jeder kann sich Zugang zu diesen perfekten Informationen kaufen. Das ist das Problem. Die großen Plattformkonzerne schädigen die Gesellschaft auf vier Arten: Sie schaden der öffentlichen Gesundheit, der Demokratie, der Privatsphäre sowie Wettbewerb und Innovation. Die ersten drei sind eine unmittelbare Folge des Überwachungskapitalismus. Und die größten Herausforderungen der Menschheit hängen damit zusammen: Klimawandel, der Aufstieg von Extremismus, weiße Überlegenheitsideologien, Zuwanderungsgegner, Impfgegner. Die Macht der Onlineplattformen verhindert die politische Lösung all dieser Herausforderungen – und die Macht, die Onlineplattformen den Playern hinter diesen Themen verleihen. Facebook, Google und Co geben den wütendsten, den sozial am wenigsten konstruktiven Positionen die lauteste Stimme. ... Facebook, Google und immer mehr Instagram sind besonders gefährlich. Sie sind exakt dafür designt, Menschen möglichst intensiv zu beschäftigen. Also liefern sie Ihnen jene Inhalte, mit denen Sie sich möglichst lange beschäftigen. Und für zwei Drittel ihres Publikums funktionieren jene Inhalte am besten, die an den alten Teil unseres Hirn appellieren, der uns mit Eidechsen verbindet: Reflexe von Flucht oder Kampf, ausgelöst von Angst oder Wut. Das sind die effektivsten Inhalte, um Sie zu fesseln: Hassbotschaften, Verschwörungstheorien und Desinformation. Die Algorithmen promoten, was uns erregt und beschäftigt. Also zählen diese Inhalte zu den wichtigsten Treibern des Geschäfts von Youtube und Facebook. Das sind keine zufälligen Kollateralschäden. Das ist das Kerngeschäft dieser Plattformen.

STANDARD: Was halten Sie von Mark Zuckerbergs Reaktionen auf Enthüllungen und Kritik? In den vergangenen Monaten hat er angekündigt, vielfach mehr Moderatoren zu beschäftigen, einen eigenen News-Kanal. Facebook kooperiert mit Faktencheck-Organisationen, es veröffentlicht die Werbebudgets politischer Gruppierungen, gerade wurden einige 10.000 Apps gesperrt, die auf Daten zugriffen, ein neuer Kontrollbeirat für Fragen freier Meinungsäußerung und Moderation soll eingerichtet werden. Macht das Facebook weniger katastrophal?

McNamee: Praktisch alles davon können wir unter Public Relations ablegen. Mit einer Ausnahme: Die Sperre von zehntausenden Apps war ein wesentlicher Schritt – der einzig wesentliche unter den Maßnahmen von Facebook. Aber er kommt zumindest fünf Jahre zu spät. Zunächst hat Facebook versucht, uns weiszumachen, dass Cambridge Analytica ein Ausnahmefall gewesen sei. Tatsächlich gab es zwischen 2010 und 2014 zehntausende Apps, die Zugang zu solchen Daten hatten. Laut Associated Press haben zwei Millionen Apps Daten abgesaugt. Zehntausende haben das systematisch getan. Damals gab es neun Millionen Apps auf der Facebook-Plattform. Ich schätze, dass zwischen 10.000 und 90.000 Apps das getan haben, was Cambridge Analytica getan hat. Und darunter waren etwa Spieleplattformen mit hunderten Millionen Usern. Wir können davon ausgehen, dass jeder Mensch in der entwickelten Welt mehr als einmal davon betroffen war. Die Story über Cambridge Analytica wurde vor eineinhalb Jahren von einer Journalistin des "Observer" enthüllt, und es passierte vor fünf Jahren.

STANDARD: Was halten Sie von diesem angekündigten Kontrollbeirat?

McNamee: Der Beirat wird dem Muster praktisch aller Maßnahmen von Facebook folgen – und dem User, der Userin überhaupt nicht helfen. Selbst wenn sie ihr Regelwerk ändern und sie nach der Veröffentlichung von Postings aktiv werden, kann das in den globalen Größenordnungen von Facebook nicht wirksam sein. Da ist einfach zu viel Müll. Das Grundproblem ist das Geschäftsmodell von Facebook selbst: Die Algorithmen fördern Inhalte, die Emotionen hervorrufen. Und Hass, Verschwörungstheorie, gezielte Desinformation erfüllen diese Anforderungen am allerbesten. Und Mark Zuckerbergs Manifest, die Zukunft liege in persönlicher, verschlüsselter Kommunikation, weist ja nur die Verantwortung für Hassbotschaften, Verschwörungstheorien und Desinformation von sich. In einem verschlüsselten System sind sie von außen nicht mehr erkennbar.

STANDARD: Wie würde ein sozial verantwortungsvolles Facebook aussehen?

McNamee: Wenn man Facebook sozial verantwortungsvoll machen will, dann muss man das Geschäftsmodell ändern. Ob Facebook es ernst meint oder nur Public Relations betreibt, lässt sich ganz einfach an seinen Produkten überprüfen. Sie haben gerade eine neue Version von Portal vorgestellt – ein Videokonferenz-Tool, das unglaublich in die Privatsphäre eindringt. Und sie haben Libra, eine Kryptowährung, angekündigt, die den Euro, das Pfund, den Dollar untergraben wird. Sie scheinen davon auszugehen, dass sie ohnehin immer schneller sind als Regierungen mit regulatorischen Maßnahmen.

STANDARD: Können Sie sich ein Facebook vorstellen, das keine Katastrophe ist – und wie würde dieses Facebook aussehen?

McNamee: Die Vorstellung ist ganz einfach. Facebook war einmal ungefährlich – wenn man vom schon viel früher furchtbaren Umgang mit Privatsphäre absieht. 2013 hat die Plattform mit dem Überwachungskapitalismus begonnen. Facebook wäre weit weniger profitabel ohne diesen Überwachungskapitalismus.

STANDARD: Social Media können also auch harmlos sein?

McNamee: Die Technologie von Social Media ist nicht das Problem. Es ist ein Geschäftsmodell, das auf der Verletzung von Menschenrechten basiert, und darin, Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Verhalten zu manipulieren.

STANDARD: Wie würde also ein Facebook aussehen, das all das nicht tut und womöglich der Gesellschaft dient?

McNamee: Es würde keine Daten-Vodoo-Puppen verwenden. Es würde keine Hassbotschaften, Verschwörungstheorien, Desinformation vervielfachen. Ich bin wirklich nicht für Zensur. Ich will nur dieses Vervielfachen von Hass, Desinformation, Verschwörungstheorien beenden, jegliches Vervielfachen. Ich will zum ursprünglichen Facebook zurück: Ich poste etwas, und meine Freunde sehen es. Das wäre ein viel weniger profitables Business – aber die Gesellschaft würde davon profitieren.

STANDARD: Wären Social Media womöglich kein Geschäft mehr, wenn sie weit weniger profitabel sind?

McNamee: Social Media sind inzwischen eine Art Grundversorgung. Die Regierung sollte sich damit anfreunden, diese Services zu subventionieren – um sicherzustellen, dass diese Plattformen die Gesellschaft oder die Userinnen und User nicht schädigen. In den USA subventionieren wir Erdölförderung – die das Klima schädigt. Wir subventionieren die Zuckergewinnung – die die Menschen schädigt. Für mich ist das recht offensichtlich: Wir sollten weder Öl noch Zucker fördern, aber Social Media.

STANDARD: Sie vergleichen die Plattformkonzerne gern mit der chemischen Industrie vor einem breiteren Umweltbewusstsein.

McNamee: Facebook, Google und mehr und mehr auch Microsoft und Amazon sind wie die chemische Industrie vor 1980. Die haben ihre Abfälle einfach ohne Rücksicht auf Umwelt und Gesundheit dort deponiert, wo es am praktischsten für sie war – Quecksilber ins Trinkwasser zum Beispiel. Und niemand hat sie für die Folgen und ihre Kosten verantwortlich gemacht. Das Ergebnis: massive Umweltverschmutzung und Auswirkungen auf die Gesundheit. Und schließlich mussten sie doch für die von ihnen verursachten Schäden zahlen. Aus meiner Sicht verursachen die Plattformen eine digitale Ölpest. Und die Gesellschaft muss sie dafür zur Verantwortung ziehen – und ihnen die Folgekosten in Rechnung stellen. Wenn die Strafe dafür hoch genug ist, werden sie es sich gut überlegen, die Welt weiterhin digital zu verpesten.

STANDARD: Die jüngsten fünf Milliarden an Strafe für Verletzung der Privatsphäre und Datenmissbrauch der US-Wettbewerbsbehörde FTC haben Facebook offenbar nicht wirklich getroffen.

McNamee: Der Aktienkurs ging nach diesem Kompromiss sogar hinauf. Und der Aktienkurs von Google war auch ziemlich unbeeindruckt von der Milliardenstrafe der EU-Wettbewerbsbehörden. Sogar wenn Regierungen und Behörden Strafen in bisher nicht da gewesener Höhe aussprechen, sind diese Strafen nicht hoch genug, um diese Konzerne von ihrem Kurs abzubringen.

... STANDARD: Sie schlagen in Ihrem Buch als äußerste Maßnahme gegen Facebook und Google vor, die Konzerne zu zerschlagen. Jedenfalls sollte etwa Facebook gezwungen werden Instagram und Whatsapp wieder zu verkaufen.

McNamee: Zerschlagung ist die letzte Maßnahme von Wettbewerbspolitik – nicht die erste. Ein Anti-Trust-Prinzip ist: Wenn ein Unternehmen einen Markt, einen Vertriebsweg beherrscht, dann darf er dort seine eigenen Produkte nicht gegenüber anderen bevorzugen. Aber alle tun das – Amazon, Google, Facebook, Microsoft. Dagegen sollte man vorgehen. Und es gibt noch ein paar passende Anti-Trust-Maßnahmen aus der US-Geschichte. Etwa Marktbeherrschern Expansionsmöglichkeiten in neue Märkte zu untersagen. Das würde bedeuten, dass Google vielleicht doch keine selbstfahrenden Autos oder Smart Cities oder Services mit künstlicher Intelligenz entwickeln und vermarkten kann. Facebook könnte keine eigene Kryptowährung einführen. Man könnte die Konzerne zwingen, ihre Patente und anderes geistiges Eigentum kostenlos mit Start-ups zu teilen, womöglich auch einen Teil ihrer Infrastruktur für Firmen am Start zu teilen. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Start-up, das mit einem guten Geschäftsmodell Facebook herausfordert, mit Facebooks Werbemöglichkeiten an seine ersten 100.000 Kunden kommen kann – kostenlos. Mit solchen Auflagen könnte man Wettbewerb bekommen. Heute ist das unmöglich für Start-ups. Das alles ergibt aber nur Sinn, wenn man zugleich die Kontrolle über die eigenen Daten zu einem Menschenrecht macht. Sonst hilft selbst Zerschlagung wenig. Wenn man vier Überwachungskapitalisten in je zehn Einheiten zerschlägt, hat man sonst 40 Überwachungskapitalisten – womöglich schlimmer als heute.

... STANDARD: Man wird Behörden und Politiker mit ein bisschen Mut brauchen, um gegen Facebook, Google und Co mit tiefergehenden Anti-Trust-Maßnahmen vorzugehen...

McNamee: Anti-Trust-Maßnahmen brauchen keinen Mut. Aber es braucht Mut, Überwachungskapitalisten anzugreifen. Die Werbewirtschaft und ihre Kunden sind süchtig nach perfekter Information. Die Ironie ist: Die Überwachungskapitalisten machen letztlich der Werbebranche und den Werbekunden selbst Konkurrenz. Werfen Sie einen Blick auf die Suchergebnisse bei Amazon. Wenn es ein entsprechendes Produkt von Amazon Basic gibt, werden Sie es ganz oben finden. Und dann auch noch gefälschte, billige Markenware. Ich versuche das der Marketingbranche klarzumachen. In fünf Jahren übernimmt die meisten ihrer Jobs ein Server bei Amazon. Dasselbe gilt für die Finanz- und die Automobilbranche. Sämtliche deutsche Autohersteller sind in Kontakt mit Google, ob sie deren Apps in ihre Autos integrieren. Das ist Selbstmord.

STANDARD: Selbstfahrende Autos liefern Kundschaft für Marketing und Entertainment im Auto, wenn die Menschen bis zum Erreichen des Ziels wenig zu tun haben.

McNamee: Die Menschen brauchen Zufluchtsorte. Das Auto ist einer der letzten davon – wenn in der Wohnung, im Schlafzimmer ein Smart-TV oder Alexa oder ein anderer Lautsprecher lauscht.

...

STANDARD: Wenn Sie 2019 in ein Social-Media-Start-up investieren wollten, wie würde es aussehen?

McNamee: Ich bin kein Investor mehr. Ich bin heute ein Vollzeitaktivist.

STANDARD: Dann raten Sie anderen Investoren, worauf sie achten sollten.

McNamee: Apple baut ein Geschäftsmodell rund um das Grundrecht auf Privatsphäre und persönliche Sicherheit. Sie greifen die Überwachungskapitalisten mit ihren Produkten an, und sie haben dafür auch die nötige Größe. Das zeigt, was man tun sollte. Man sollte den Menschen Rückzug und Privatheit ermöglichen. In der französischen Start-up-Community entwickelt sich ein "Slow Internet", das Privatheit und ihre Interessen wahrt, ohne Manipulation und ohne Hirn-Hacking. Diese Entwicklungen besinnen sich auf die ursprünglichen Werte des Silicon Valley, den Usern mehr Macht zu geben, und weg von den Visionen von Google und Facebook, die User nur als Treibstoff für Überwachungskapitalismus sehen. Es gibt Millionen von positiven Anwendungsmöglichkeiten künstlicher Intelligenz. Aber heute wird nur geforscht, wie sich Verhalten manipulieren lässt. Das verletzt jedes Grundprinzip westlicher Demokratien. Und das tun Facebook, Google, Amazon und Microsoft tagtäglich. Das ist ihr Geschäftsmodell. Und sie argumentieren: Ihr könnt uns doch nicht regulieren – wir stehen im Wettbewerb mit China! Ich frage mich: Warum sollen wir in der Manipulation von Verhalten mit China konkurrieren?


Aus: "Tech-Konzern-Kritiker: McNamee kann sich "nichts Besseres vorstellen als Ende von Youtube"" Harald Fidler (25.9.2019)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000109046229/mcnamee-kann-sich-nichts-besseres-vorstellen-als-ende-von-youtube

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EpsilonUmgebung

Das dieser naiven Vorstellung vom "Hass im Netz" immer noch Leute nachheulen. Die (meisten) Menschen waren schon immer so drauf, außerhalb der eigenen Gruppe hat das halt niemand mitbekommen, jetzt erfahrts die ganze Welt.


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And now... this:

"McNamee kann sich "nichts Besseres vorstellen als Ende von Youtube""
Diese Selbstinszenierer, die zuerst vollgas mitmachen, diese Dinge mit aufbauen und damit stinkend reich werden, nur um danach noch Bücher darüber zu schreiben wie doof das alles ist gehen mir gehörig auf die Nerven.

Und was muss man bitte für ein verwöhnter, reicher, arroganter Sack sein, wenn man denkt das Ende von Youtube sei das Beste was der Menschheit passieren könnte?
Ausgerechnet Youtube, eine geniale Plattform mit der man so viel anfangen kann, wenn man sie nicht auf irgendwelche Verschwörerkanäle reduziert?

Dass die Leute in Social Media versinken ist nicht Ursache, es ist Symptom für die Probleme unserer Zeit. ...


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Marfisch

Ich finde Youtube genial, wenn es darum geht, etwas zu lernen oder sich neue Ideen für viele Bereiche des Lebens zu holen. Dafür, dass viele einfach blöd sind und nur unsinnige Inhalte konsumieren, kann Youtube nun wirklich nichts.

Es ist wie beim Fernsehen, es macht dumme Menschen dümmer und kluge Menschen klüger.


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peace & love

ein verschwoerungstheoretiker belehrt uns über verschwoerungstheorien.
und hält facebook-aktien. skurrile erscheinung...


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gadaladalälle

Viel schlimmer als Youtube und Facebook ist mittlerweile dieser Instagram-Wahn. Eine ganze heranwachsende Generation lässt sich vom Insta-Diktat streamlinen. Mir grausts!


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Heribert F.

Sollen sie doch Youtube und Facebook und Co. zusperren.
Aber Achtung: bei Pornhub hoert der Spass auf!


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Im großen Saal der Berliner Urania betritt Prof. Shoshana Zuboff vor mehr als 800 ZuhörerInnen die Bühne wie ein ewig attraktiv gebliebener Pop- oder Filmstar bei der Berlinale – mit überwältigender Löwenmähne, geblendet vom Scheinwerferlicht. Sie nimmt das Publikum mit Charme für sich ein, lobt Berlin für den Fall der Mauer in hohen Tönen. Am Ende hat sie mit einer in sich schlüssigen Gesamterzählung brilliert – allein durch die Kraft ihrer Worte, ohne Präsentationsunterstützung. Die Simultanübersetzung mit Kopfhörerset ist perfekt organisiert.

Es sind die vielen kleinen Geschichten, die Detailkenntnis, die unzähligen Quellen und das fundierte theoretische Wissen, die ihren Auftritt und das ihm zugrundeliegende jüngste Buch von ihr, "Zeitalter des Überwachungskapitalismus", so überzeugend machen. Die Autorin spricht langsam und ruhig mit didaktisch-dialektischer Formulierkunst: Um 2001 herum herrschte noch erstes begeistertes Staunen: Damals suchten und fanden wir Google – heute sucht und findet Google uns. Dann verwendet sie die "damals so – heute so"-Verkehrungen der Nomina einprägsam eine Zeitlang weiter. Waren fast alle NutzerInnen bis vor einigen Jahren noch völlig fasziniert von den technologischen Möglichkeiten und dem Komfort, den der "Zauber" in unser tägliches Leben und Kommunizieren gebracht hatte, so wendete sich vor kurzem das Blatt. Die Erkenntnis dämmerte zunächst und leuchtet heute immer mehr Menschen ein, dass wir für die bereitwillige Überlassung unserer Daten einen viel höheren Preis als jemals gedacht zu zahlen haben: Nämlich den unserer Demokratie und Freiheit. Es kam die Entwicklung der Fake News, (für die Betroffenen unmerklich) der gesteuerte Hass, die manipulierte Angst und systematische Verdummung, der Aufstieg des Populismus in Amerika und europäischen Ländern, die Aufdeckung von Cambridge Analytica als kommerzielle Steuerungsmaschinerie bei politischen Wahlen.

Wie uns smarte Animationen zur Vereinfachung, Verbesserung und Erleichterung hinter unserem Rücken fest im Griff haben, zeigt ein Beispiel: Ein Studienfreund von Ihnen ist Vater geworden und postet ein Selfie von sich und dem Baby. Das kleine Töchterchen sieht so niedlich aus, dass Sie das Foto liken. Schon bald wird Ihnen Aktionswerbung für einen Schnuller angezeigt – der das Logo Ihrer ehemaligen gemeinsamen Uni trägt – wer könnte bei diesem idealen Glückwunschgeschenk aus dem Uni-Shop widerstehen? Ein soziales Netzwerk hat dank maschinellen Lernens aus persönlichen Daten und Ihrem voraussehbaren Weiterklick-Verhaltens eine Provision erwirtschaftet.

Shushanna Zuboff beschreibt in der Berliner Veranstaltung die Anfänge der Digitalisierung als eine gefühlte Zeit wie "Alice im Wunderland". Doch die tiefgehende Analyse der Betriebsökonomin und Soziologin lässt – durchaus auf Marx'schen Spuren – nicht auf sich warten, wenn sie aufzeigt: Was einerseits etwas vollkommen Neues ist, folgt andererseits der klassischen Wachstumsdynamik des Kapitalismus. Dieser muss bekanntlich auf immer größerer Stufenleiter und globalerer Ausbreitung wachsen (oder braucht halt kriegerische Zerstörung für wieder neue Ausgangsbedingungen).

Das ihm innewohnende Profitstreben versucht den damit unweigerlich einhergehenden Existenzkrisen zu entkommen, indem Anspruch auf immer mehr Dinge erhoben wird, welche bisher außerhalb des Marktes existiert haben. Diese werden dann als zu kaufende und zu verkaufende "Waren" innovativ bestimmt, was mit zunehmender Abstraktion von ihrem Gebrauchswert einhergeht.

Mit den Algorithmen der sozialen Netzwerke wird eine neue Form des Kapitalismus befeuert, der unsere Welt immer stärker beherrscht und kontrolliert. Der gesellschaftliche Wohlstand wird dadurch konzentriert auf wenige Profiteure und dabei auch unsere früher immerhin noch bestehende (Kauf-)Kraft als Konsumenten unmerklich geschmälert. Das heißt, nicht nur die Unfreiheit, sondern auch die Ungleichheit und "Klassenspaltung" in der Gesellschaft wächst rapide.

Shoshana Zuboff ist keine Marxistin, aber sie analysiert marxistisch: Zu Beginn des Kapitalismus traf es massenhaft die Menschen selbst, die sich in Form ihrer "Arbeitskraft" als Handelsgüter auf dem Markt zu verkaufen hatten. Mit der Entwicklung des Finanz- bis hin zum "Casino"-Kapitalismus waren es die reinen Optionen auf spekulative Gewinn- und Verlusterwartungen. Im Überwachungskapitalismus wird wiederum etwas Neues zum Handelsgut erklärt: Er definiert nunmehr persönliche menschliche Erlebnisse und Verhaltensweisen, die bisher in der Privatsphäre vor Marktmechanismen geschützt waren, zum "freien Rohmaterial" von Daten. Diese werden in Produkte umgewandelt werden, die auf neuen Märkten gehandelt werden können.

Dem Gefühl, dass irgendwas falsch läuft mit der Art, wie die Digital-Giganten mit uns umgehen, hat Zuboff mit dem Titel ihres Buches von über 700 Seiten einen Namen gegeben: "Surveillance Capitalism – Überwachungskapitalismus" – mit seinen tiefgreifenden Veränderungen im Sozialen, Politischen, Privaten, Psychischen. Doch, so zeigt sich Zuboff zuversichtlich, unsere Hoffnung, die digitale Zukunft human gestalten zu können, sei noch nicht aufzugeben.


Aus: "Prof. Shoshana Zuboff: Wie Technologie-Giganten die Demokratie bedrohen (Teil 1): Was ist Überwachungskapitalismus?" Gita Neumann (03.12.2019)
Quelle: https://hpd.de/artikel/ueberwachungskapitalismus-teil-1-17479


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Am 14. Dezember löscht Yahoo alle Inhalte auf der Yahoo-Groups-Seite. Das Internet Archiv wollte die über 20 Jahre zusammengetragenen Daten archivieren und fand für diese Arbeit über hundert Freiwillige. Sie bereiteten in den letzten Wochen den Download der Daten jener Foren vor, deren Administratoren eine öffentliche Archivierung wünschten. Doch nun hat Yahoo-Eigentümer Verizon den Freiwilligen den Zugriff gesperrt, wegen "Verletzung der Nutzungsbedingungen".

Das berichtet eine Gruppe, über die sich freiwillige Helfer der Yahoo-Groups-Archivierung vernetzen. Die Sperre betrifft demnach mindestens 128 Konten. Gleichzeitig soll Yahoo den Groups-Dienst so modifiziert haben, dass ein von den Archivaren genutztes halbautomatisches Script zum Beitritt zu den einzelnen Yahoo-Groups-Foren nicht mehr funktioniert. Damit müssten die Archivare von vorne anfangen und jedem zur Archivierung angemeldeten Forum manuell beitreten. Das geht sich in den wenigen verblieben Tagen nicht aus.

Laut der Freiwilligengruppe, die sich über Verizons Sabotage gehörig ärgert, droht nun der Verlust von 80 Prozent der Yahoo-Groups-Daten. Yahoo selbst hat seinen Nutzern zwar ein Download-Werkzeug zur Verfügung gestellt. Es erlaubt jedoch nur den Download der eigenen Nachrichten, nicht aber der Antworten anderer User, womit sich kein sinnvolles Archiv bilden lässt. Fotos, auch selbst hochgeladene, ignoriert Yahoos Werkzeug grundsätzlich.

Hinzu kommt, dass Yahoos Dienst nicht ausgereift ist. Nutzer berichten von kaputten oder inkompletten Downloads, die bisweilen Viren enthalten. In manchen Fällen liefere Yahoo sogar die Daten anderer Nutzer. Verizons Motiv für die Archiv-Blockade ist unklar. Heise online hat den Konzern um Stellungnahme gebeten.

Bei Yahoo Groups geht es um Milliarden von Beiträgen, die bald unwiderbringlich verloren gehen sollen. Stand Mitte Oktober gab es mehr als 5,6 Millionen Foren auf Yahoo Groups. Davon konnten die Archive rund 2,8 Millionen finden, wovon knapp 1,5 Millionen ein öffentliches Nachrichtenarchiv mit geschätzt insgesamt 2,1 Milliarden Postings hatten. 2017 hat Verizon Yahoo sowie AOL übernommen, musste seither allerdings den Großteil des Kaufpreises abschreiben. (ds)


Aus: "Verizon verhindert Archivierung der Yahoo Groups" Daniel AJ Sokolov (10.12.2019)
Quelle: https://www.heise.de/newsticker/meldung/Verizon-verhindert-in-letzter-Minute-Archivierung-der-Yahoo-Groups-4609371.html

QuoteFranticallyFanatic, 10.12.2019 08:38

Warum macht Verizon das?

Ich bin da immer naiv und denke: "Warum etwas schützen, was eh öffentlich einsehbarer Content ist und eh gelöscht werden soll?"
Warum hat Verizon kein Interesse daran, dass die Yahoo-Groups - Sinn hin oder her - der Nachwelt erhalten bleiben?


...

Textaris(txt*bot)

#9
Quote[...] Was der Algorithmus mit deiner bedauernswerten Persönlichkeit so alles anstellen kann. Ein Psychogramm aus den eigenen Innereien.

Einer der unangenehmen Nebeneffekte unseres digitalen Zeitalters ist es, dass durch omnipräsente Algorithmen ständig lästige Fremdeinschätzungen drohen. Als Person, die Angst vor dem eigenen Inneren und seinen abartigen Motiven hat, wird man dauernd von digitalen Psychoanalytikern belauert.

Das führt zu Druck. Die bestimmt nett gemeinten Hilfestellungen von Google haben die Angewohnheit, plötzlich in Selbsterkenntnis zu kippen. Da scrollt man sich gerade noch gut gelaunt durch die harmlose YouTube-Mischung aus DAZN-Zusammenfassungen, alten Talking-Heads-Videos und Arte-Dokus – bricht dann aber verdutzt ab oder zusammen angesichts eines Livestreams mit sich zerfleischenden Wildtieren oder romantisch verträumten IS-Kämpfern. Wie kommt das da hin? Warum wird einem ausgerechnet dieser Clip angezeigt? Ergibt sich das tatsächlich aus dem persönlichen Suchraster? Bin ich wirklich der Widerling, für den mich das Internet hält?

Es ist ein bisschen so, als wenn die Königin aus ,,Schneewittchen" ihr Spieglein fragt: ,,Wer ist die Schönste im ganzen Land?", und daraufhin die Antwort bekommt: ,,Weiß ich nicht, aber auf keinen Fall du! Dich sehe ich eher als einen durch soziale Isolation radikalisierten Menschenhasser, der nur noch bei Gewalt Freude empfinden kann. Aber wo wir schon mal dabei sind: Bock, die YouTube-Kids-App zu testen?"

Sofort stellen sich existenziell-unangenehme Fragen: Google ich wie ein Perverser? Bin ich am Ende zu recht beunruhigt? Anstatt sich die Zeit mit Videos zu vertreiben und dabei glückselig auf der schönen Welle der Selbstvergessenheit zu surfen, gleicht man panisch jede von Google nahegelegte Vorliebe mit seinen bisherigen ab.

Natürlich gäbe es die Möglichkeit, statt autoaggressivem Selbstzweifel anheim zu fallen, sein Bild von ISIS-Kämpfern oder passionierten Tierquälern zu überprüfen. Wieso sollten sich Glaubenskrieger nicht auch für Art-Pop aus den achtziger Jahren und Dokumentationen über traditionelles französisches Käserei-Handwerk interessieren? Oder liegt der Grund für die Einschätzung des Algorithmus tatsächlich darin, dass all der gespeicherte Ekel die Tiefen des eigenen Ichs, mithin dem wahren Selbst entspricht?

Zwar gab es auch schon vor dem digitalen Zeitalter Persönlichkeitsanalysen – durchgeführt von Nachbarn, die erst in deinem Hausmüll herumwühlten, um dann in der Gegend zu verbreiten, was für ein Schmutzfink du doch eigentlich bist. Oder wenn Freunde einen auf die Verfehlungen der letzten Nacht ansprachen. Alles unangenehme Momente. Aber das Analoge hatte Vorteile: Es hatte nie diesen Umfang. Andererseits hat Google den Vorteil, einem keine verachtenden Blicke zuzuwerfen – egal, wie oft du dir hintereinander den Götze-WM-Siegtreffer anguckst.

Was das betrifft, ist so ein Algorithmus beinahe etwas überengagiert. Du hast dir in einem schwachen Moment ein Video von ,,Verstehen Sie Spaß?" angeguckt? Sofort bietet er dir ein Katzenvideo mit Guido Cantz oder irgendetwas mit Oliver Pocher an. Der Algorithmus ist wie die CDU-Wähler-Vorstellung von Drogendealern: Du hast dir Gras angesehen, also möchtest du bestimmt auch Heroin, scharfe Messer und Schusswaffen angucken!

Ansonsten überwiegen die Nachteile. Die Einschätzungen des Algorithmus lassen sich zum Beispiel nicht einfach zurückweisen. Freunde darf man als selbstgefällige Dummköpfe beschimpfen, beim Internet ist das schon schwieriger. Google zu widersprechen, ist so, als wenn man mit Fahrkartenkontrolleuren zu diskutieren anfängt. Alles perlt am Gegenüber ab, während man sich nur immer weiter erniedrigt, ohne damit etwas am Ergebnis zu ändern. Und für wen hält man sich eigentlich, dass man glaubt, irgendetwas besser zu wissen als die allwissende Suchmaschine höchstselbst?

So bleibt einem letztlich nichts anderes übrig, als das Bild, das Google von einem hat, anzunehmen. Zwar ist es etwas unangenehm, wenn ausgerechnet Google über den Schlüssel zu deinem Wesen verfügt. Aber zumindest ist Google höflich genug, dir nicht direkt damit auf die Nerven zu gehen. Es versucht am Ende doch nur, bessere Werbung für dich zu schalten.


Aus: "Die Wahrheit: Google dein perverses Selbst" Konstantin Hitscher (11. 12. 2019)
Quelle: https://taz.de/Die-Wahrheit/!5645215/

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Am Ende war es wie ein Dominoeffekt. Twitter. Facebook. YouTube. TikTok, Reddit, Pinterest. Nach dem Angriff von Donald Trumps Anhängerinnen und Anhängern auf das Kapitol entschied eine Social-Media-Plattform nach der anderen, Konten des noch amtierenden US-Präsidenten zu sperren.

Seitdem ist eine Debatte darüber entbrannt, ob eine private Firma das eigentlich darf beziehungsweise dürfen sollte: das Konto eines gewählten Staatsoberhauptes sperren. Während die einen diesen Schritt als "überfällig" bezeichnen oder als digitalen "Sumpf", der endlich trockengelegt werde, warnen andere, dass Social-Media-Plattformen in das Grundrecht auf Meinungsfreiheit eingreifen – oder dass es beunruhigend sei, wenn Privatunternehmen "de facto darüber entscheiden, was wir sehen dürfen".

Üben die Unternehmen nur ihr Hausrecht aus, so wie ein Wirt eben auch einen rüpeligen Gast rauswerfen darf? Greifen sie in die Meinungsfreiheit ein? Oder gar in die Demokratie, weil sie einem Staatsoberhaupt ein wichtiges Sprachrohr nehmen? Oder sehen wir einfach derzeit den Moment, in dem die Plattformen nicht länger so tun können, als stünden sie als unbeteiligte Beobachter am Spielfeldrand? Viele Fragen, die noch mehr Fragen aufwerfen, auf die es leider kaum einfache Antworten gibt.

Die Debatte darüber ist derzeit hitzig, dabei wird sie eigentlich schon seit vielen Jahren geführt. Spätestens seit dem US-Wahlkampf 2016, bei dem versucht wurde, bestimmte Wählergruppen mit manipulativen Tricks und Einmischungen von den Wahlurnen fernzuhalten, ist auch der breiten Masse bewusst geworden, dass digitale Angriffe auch große Auswirkungen auf unsere analoge Welt haben. Doch auch vier Jahre nach diesem Ereignis macht die Diskussion, wie soziale Netzwerke auf all das reagieren sollen, immer noch einen in weiten Teilen ratlosen Eindruck.

Denn sie weist weit über die wütenden Caps-Lock-Posts des Noch-Präsidenten der USA hinaus. Es geht um die Frage, welche Rolle soziale Medien in unseren Gesellschaften einnehmen. Wie viel Verantwortung sie dafür übernehmen müssen oder dürfen, was für Inhalte über sie transportiert werden, wie sie sie verstärken oder begrenzen. Es geht darum, wie Gesellschaften damit umgehen, dass Hass und Hetze im Netz andere Dynamiken entwickeln, als dies im Analogen der Fall ist. Es geht um das Problem, dass soziale Netzwerke, wenig überraschend, eben nicht nur dazu genutzt werden, Menschen zu vernetzen, sondern auch dazu, Gesellschaften zu spalten, Minderheiten einzuschüchtern, Menschen zu radikalisieren – und dass diese Radikalisierung dann auch in die Offlinewelt zurückschwappen kann.

Viele Lösungsversuche zielen auf die großen Techunternehmen ab. Verständlich, schließlich sind es ihre Portale, auf denen sich unter anderem Hetze, Lügen und gezielte Desinformation verbreiten – warum sollten sich Facebook, Twitter oder YouTube dann nicht auch um eine Lösung für sie bemühen müssen? Strittig ist dann aber schnell, wie genau diese Lösungen konkret aussehen können.

Schon lange pflegen die Plattformen eigene Richtlinien, die Nutzerinnen und Nutzer befolgen müssen: Auf Facebook sollten sie unter anderem nicht zu viel nackte Haut posten, auf YouTube kein Cybermobbing betreiben und auf Twitter andere Menschen nicht belästigen. Sonst droht ihnen das Gleiche wie Trump: Sie könnten ihren Account verlieren. Außerdem gelten natürlich überall auf der Welt Gesetze: Was Gerichte verbieten, müssen die Plattformen von den Seiten nehmen – nur ist dieser Weg in der Regel so langwierig, sind die zuständigen Behörden so unterbesetzt, dass Entscheidungen viel zu spät fallen, um Betroffene zu schützen.

Trotzdem haben sich die Unternehmen lange auf die Position zurückgezogen, dass sie nur eine Plattform bieten, inhaltlich aber nicht verantwortlich für das sind, was dort gepostet wird. Mark Zuckerberg sagte noch 2018 während einer Senatsanhörung, dass es nicht Facebooks Ziel sei, in politische Aussagen einzugreifen. Immer wieder spielte er sich als Hüter der Meinungsfreiheit auf. Twitter-Chef Jack Dorsey argumentierte damals noch ähnlich und sagte, man könne doch nicht ständig die Regularien wegen einiger Einzelfälle anpassen. Und auch YouTube-Chefin Susan Wojcicki sagte noch im vergangenen Jahr, die Plattformen seien neutral und fair.

In den USA, wo viele der Plattformen ansässig sind, gibt Section 230 des Communications Decency Acts von 1996 ihnen darin recht: Danach können Plattformen nicht haftbar für das gemacht werden, was Dritte dort äußern, sie dürfen allerdings moderierend eingreifen. Während einige Forscher wie die Netzbürgerrechtsspezialistin Danielle Citron dies kritisieren, weil Plattformen so von jeglicher Verantwortung für Inhalte befreit würden, verteidigt die Digitalbürgerrechts-NGO Electronic Frontier Foundation den Paragrafen als "das wichtigste Gesetz zum Schutz freier Meinungsäußerung im Netz". Derzeit wird in den USA heftig über Änderungen hierzu diskutiert: Donald Trump und die Republikaner sehen in den Moderationsbefugnissen der Plattformen Zensur, während Joe Biden und den Demokraten das Gesetz nicht weit genug geht. Biden äußerte kürzlich in einem Interview mit der New York Times die Idee, Section 230 aufzuheben. 

Dabei gingen die Richtlinien der Plattformen schon in der Vergangenheit nicht immer damit einher, was man gesellschaftlich akzeptabel findet und was nicht. So findet Facebook schon einen entblößten Nippel auf einem Bild oft sperrwürdig, was in den USA vielleicht auf Zustimmung stößt, in Deutschland aber gewöhnlich kein Grund zum Löschen wäre. Hass hingegen bleibt dagegen teilweise stehen, auch wenn er gemeldet wird. Doch es ist sicherlich auch einfacher, nackte Haut automatisiert zu erkennen als einen beleidigenden Textbeitrag, der auch einfach Satire sein könnte.

Ein Problem ist auch: Was Plattformen wegmoderieren und nach welchen Regeln, ist häufig eine Blackbox: Facebook, Twitter, aber auch neuere Anbieter wie TikTok statten ihre Moderationsteams zwar mit langen Regelwerken aus, was akzeptable Inhalte sind und was nicht, diese Dokumente sind aber in der Regel nicht öffentlich und verändern sich ständig. Und vor allem: Was darin steht, entscheiden die Plattformen eigenständig. Kritik gibt es auch immer wieder an den Arbeitsbedingungen für diejenigen, die eben jene Regelwerke dann anwenden müssen: Content-Moderatorinnen und -Moderatoren arbeiten häufig vom anderen Ende der Welt aus, müssen viele Entscheidungen binnen Sekunden treffen – und einige von ihnen sind von der Arbeit schwer traumatisiert.

In Bewegung geriet die Haltung der Techkonzerne erst nach der US-Wahl 2016 – zumindest ein wenig: Es zeigten sich Ansätze, zu überdenken, ob man eben nicht nur eine neutrale Plattform ist, sondern doch auch verantwortlich für die Inhalte. Nachdem etliche Berichte enthüllten, wie einfach sich Falschnachrichten im Vorfeld über die sozialen Netzwerke verbreitet hatten (auch wenn ihr tatsächlicher Effekt auf die Wahl mindestens strittig ist); wie offenbar versucht wurde, gezielt schwarze Menschen von der Wahl abzuhalten, konnten sich die Plattformen nicht mehr auf ihre neutrale Haltung zurückziehen, laut der sie doch nur der Überbringer der Meinung anderer waren. Das geschah auch, weil hier im großen Maßstab, nicht nur in Millionen Einzelfällen, offenkundig wurde: Wer Inhalte mithilfe von Algorithmen gewichtet, der kann sich nicht mehr als neutral bezeichnen, der entscheidet mit, was Menschen angezeigt wird und was nicht.

Es begann eine Trial-and-Error-Phase: Die Plattformen probierten so einiges, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Facebook bastelte an seinem Algorithmus, der Clickbait und somit auch Fake News, die nur aus Geschäftssinn erstellt worden waren, zurückdrängen sollte; es begann eine Zusammenarbeit mit Faktencheckern, die Inhalte auf ihre Richtigkeit prüfen sollen; es baute zuletzt sogar ein Oversight Board auf, ein unabhängiges Gremium, das über besonders strittige Inhalte entscheiden soll. Twitter überlegte sich Regeln, die speziell für Staatsoberhäupter gelten, verbannte politische Werbung und begann, klar widerlegbare Beiträge als solche zu kennzeichnen und auf seriöse Quellen zu verweisen. Auch YouTube führte verstärkt Faktenchecks ein.

In der Vergangenheit wurden immer wieder ausländische Fake-Accounts aus den Netzwerken entfernt, politische Werbung unterbunden, zweifelhafte Informationen mit Labels gekennzeichnet oder Möglichkeiten zur Verbreitung der Inhalte unterbunden.   

Allerdings zeigte sich schnell, dass diese Kontrolle auch mal nach hinten losgehen kann: Vor der Europawahl sperrte Twitter den Autor Tom Hillenbrand wegen satirischer Tweets. YouTubes automatisierte Informationstafeln dagegen konnten zwischen dem brennenden Notre-Dame 2019 und Bildern vom 11. September 2001 nicht unterscheiden. Und Facebook löschte einmal das ikonische Bild eines Mädchens, das vor einem Napalm-Anschlag im Vietnamkrieg flüchtet, weil es auf dem Foto nackt abgebildet ist.

Die Beispiele verdeutlichen: So sehr die Plattformen versuchen, dem Problem Herr zu werden – es geht bei Millionen Beiträgen nicht ohne Fehler. In einigen dieser Beispiele, aber auch in vielen anderen Fällen zeigt sich, dass es für betroffene Nutzerinnen und Nutzer äußerst kompliziert ist, schnell und wirksam Widerspruch gegen solche Entscheidungen zu ergreifen. Hinzu kommt: Auch wenn viele problematische Beiträge vielleicht herausgefischt werden, so werden es dennoch nie alle sein. Denn oft genug verlassen sich die Plattformen darauf, dass Menschen problematische Beiträge schon melden. Wenn dem aber nicht so ist, bleiben sie in vielen Fällen einfach stehen. Auch wenn sie gegen die Richtlinien der Plattformen verstoßen. 

Manche Experten kritisieren, dass sich Plattformen mit alldem nur schrittchenweise bewegen. Immer gerade so viel wie unbedingt nötig. Statt das Problem an der Wurzel zu packen. Aber was die Wurzel denn ist, ist ebenfalls umstritten: Manche verstehen darunter, bei politischen Inhalten ganz auf eine Sortierung durch den Algorithmus zu verzichten. Andere verstehen darunter das härtere Durchgreifen gegen aufwieglerische Accounts, sei es Trump, seien es die Zehntausenden QAnon-Accounts, die Twitter nun ebenfalls gesperrt hat. Was lange nicht möglich schien, plötzlich geht es.

Natürlich griffen die Plattformen in besonders prominenten Fällen auch schon früher hart durch. So entzogen sie dem früheren konservativen Medienstar Milo Yiannopoulos und dem Rechtsextremen Alex Jones ihre Konten. Auch Politiker müssen damit rechnen, dass Beiträge gelöscht werden. So entfernte Twitter etwa zwei Tweets des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, als er 2020 Falschinformationen zum Coronavirus tweetete. Doch an den amtierenden US-Präsidenten wagte man sich lange nicht heran, zumindest als noch nicht absehbar war, dass er sein Amt verlieren würde – obwohl er klar Hetze, Hass und Falschinformationen verbreitete. Erst im Kontext der vergangenen Wahl begannen Facebook und Twitter, Posts des Präsidenten mit Warnhinweisen zu garnieren. Es musste erst etwas passieren, damit sich massiv etwas veränderte. Nicht wenige finden: viel zu spät, wie nicht zuletzt der Angriff aufs Kapitol Anfang Januar zeigte.

Dennoch bleibt bei vielen Beobachterinnen und Beobachtern ein mulmiges Gefühl dabei, dass nun Plattformen einen US-amerikanischen Präsidenten einfach rauswerfen können. Ja, man kann argumentieren, es handle sich um einen Einzelfall, ja, man kann argumentieren, die Plattformen übten nur ihr Hausrecht aus, ja, man kann argumentieren, er sei mehrfach verwarnt worden und seine zwei letzten Tweets hätten eben nun das Fass zum Überlaufen gebracht. Alles richtig.

Gleichzeitig verharmlost man gerade mit dem Hausrecht-Argument die Macht, die Plattformen wie Facebook, Twitter oder YouTube heute haben. Milliarden Menschen nutzen die Plattformen monatlich. Bei Twitter sind es zwar nur ein paar Hundert Millionen, doch die Plattform ist ein beliebtes Sprachrohr für Politiker, Journalisten und Meinungsmacherinnen, was hier geäußert ist, wird schnell weiterverbreitet.

Die sozialen Medien haben, gemeinsam mit wenigen anderen, längst ein kommunikatives Oligopol gebildet – und dies verleiht ihnen die Macht, die ihre Entscheidungen so fundamental macht. Wenn es viele große Plattformen gäbe, so wie es viele große Zeitungen, Radiosender und Onlinenewsseiten weltweit gibt, dann wäre schon viel weniger problematisch, was eine davon entscheidet. Klar, man kann immer auf eine andere Plattform wechseln, doch dorthin folgen oft nur die wirklich treuen Followerinnen und Follower. Wenn man ein Millionenpublikum erreichen will oder einfach dort sein will, wo die eigenen Freunde sind, kommt man um eines der großen Silicon-Valley-Unternehmen meist nicht herum.

Selbstverständlich hat niemand, auch kein US-Präsident, ein Recht auf solch ein Konto. Aber sind es wirklich die Plattformen, die darüber entscheiden sollten, ob er es behalten darf oder verliert? Denn die Plattformen sind längst mehr als ein Freizeitspaß. Der öffentliche und demokratische Diskurs findet inzwischen zu einem großen Teil in den sozialen Medien statt. Gibt man ein paar Techmilliardären nicht damit letztlich Diskurshoheit – oder gar die Macht über unsere Demokratie? Was ist denn, wenn die Unternehmen abweichende Meinungen nicht mehr haben wollen und vielleicht eine Person herauswerfen, deren Verortung weniger einfach ist als die des irrlichternden abgewählten US-Präsidenten? In der Vergangenheit hat Facebook journalistische Kritik an der eigenen Plattform bereits einfach weniger angezeigt.

Wenn man den Plattformen trotzdem ihr Hausrecht zugestehen will, so sollte man sich doch fragen, inwiefern das eigentlich mit unseren gesellschaftlichen Werten übereinstimmt. Sind die Richtlinien einer privatwirtschaftlichen Plattform diejenigen, denen wir als Gesellschaft uneingeschränkt folgen wollen? Das von Facebook gelöschte Bild aus dem Vietnamkrieg macht das deutlich: Von den Richtlinien des sozialen Netzwerks ist die Entscheidung gedeckt, die sehen in Nacktheit nun mal ein Problem. Das Foto ist aber von historischem Wert, es drückt die Gräuel des Vietnamkrieges aus wie kaum ein anderes Bild. Es mag das Recht der Plattformen sein, Accounts zu gewähren oder eben nicht, Beiträge zu löschen oder nicht. Nur spiegelt das im Zweifelsfall nicht wider, was für eine Debattenkultur, für eine Gesellschaft, eine Demokratie gut ist.

Gut, dann muss es doch einfach die Politik richten: Regulieren, und zwar bitte schnell! Diese Forderung ist ein verständlicher Reflex, schließlich regeln Politikerinnen und Politiker durch Gesetze alle möglichen Bereiche des öffentlichen Lebens. Bisher deutet sich jedoch an: Von selbst wird sich nichts ändern – oder zumindest nicht genug. Unternehmen bewegen sich nur dann, wenn sie müssen. Die Plattformen werden immer so lange wie möglich dagegenhalten. Beispiele wie die europäische Datenschutz-Grundverordnung zeigen, dass die Politik durchaus in der Lage sein kann, sinnvolle Gesetze für das Netz zu entwickeln, auch gegen Lobby-Interessen.

Nun gibt es ja durchaus schon Regeln für Äußerungen in sozialen Netzwerken. Im Analogen wie im Digitalen gibt es Beleidigungen, die als solche strafbar sind. Und doch zeigt sich in der Praxis, dass juristisches Vorgehen gegen digitales Beschimpfen, Hetzen und Aufwiegeln nicht einfach ist: Selbst bei eindeutigen Straftatbeständen kommt die juristische Reaktion oft mit einer solchen Verzögerung, dass Betroffenen ein Urteil wenig mehr als späte Genugtuung bringt – die Schmähung an hat sich dann längst schon verbreitet. Noch schwieriger ist es in Fällen, die vielleicht nicht justiziabel sind und in denen man trefflich darüber streiten kann, ob eine Äußerung noch als Meinungsbeitrag zählt oder einen zu sperrenden Inhalt darstellt.

Das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz etwa sollte Hass und Hetze schneller aus dem Netz befördern. Doch das ist gar nicht so einfach – weil Beiträge von den Urhebern gelöscht werden können, Nutzerinnen nicht unbedingt unter Klarnamen posten oder ihre IP-Adresse per VPN verschleiern. Und im Falle des NetzDG überträgt man die Verantwortung doch wieder hauptsächlich auf die Plattformen. Und die löschen vor allem nach eigenem Gusto, wie netzpolitik.org 2018 feststellte.

Braucht es also einfach eine andere Umsetzung dieses Rechts? Sollte man Gerichte beispielsweise besser ausstatten, gar einen Teil der Richterinnen und Richter nur dafür abstellen, über gemeldete Beiträge aus dem Netz zu entscheiden? Und zwar binnen 30 Minuten? Erstens würde das wahrscheinlich allein an der personellen Ausstattung scheitern. Zweitens ist ein Zeitraum, auch ein kurzer, im Kontext sozialer Medien oft schon zu lang: Was Prominente wie Trump twittern, verbreitet sich auch in 30 Minuten rasant – und so uneinholbar, dass auch eine Sperre höchstens noch symbolischen Wert hätte. Selbst wenn es schneller ginge: Wie sollen alle Beweise und Aussagen ernsthaft geprüft werden, wenn das unter Zeitdruck geschieht? Drittens würde dann möglicherweise auch dort eine einzelne Person entscheiden, was noch sagbar ist und was nicht. Und viertens wäre da die Frage, wie eine solche Regelung eigentlich überhaupt greifen soll – denn Gesetze werden zumeist national gemacht, sind für einen supranationalen Verbreitungsweg wie das Internet also de facto untauglich.

Hinzu kommt das Problem, dass die Idee einer Regulierung der Plattformen von staatlicher Seite immer von einer funktionierenden Gerichtsbarkeit ausgeht. Was aber, wenn die Frage, welche Inhalte auf einer Plattform stehen bleiben dürfen und welche nicht, von Gerichten getroffen werden, bei denen man von einer Orientierung an demokratischen Diskursen und Meinungsfreiheit nicht mehr ausgehen kann? Auch hier zeigt sich erneut: Einfach zu lösen ist das Problem nicht.

Was bleibt dann noch? Natürlich kursieren längst Ideen, die großen Techunternehmen zu zerschlagen – was ihre Macht vielleicht einschränken, ihre inhaltlichen Probleme jedoch nicht lösen dürfte. Um Letzterem beizukommen, gibt es Ideen, die stärker aus der Gesellschaft heraus regulieren würden. Man könnte sich eine Art Rundfunkrat für Plattformen vorstellen, der aus verschiedenen Interessenvertretern zusammengesetzt ist: Politik, Wirtschaft, NGOs, im besten Fall sogar einzelne Bürgerinnen und Bürger. Auch der könnte wahrscheinlich nicht innerhalb von Minuten über problematische Inhalte urteilen, könnte aber vielleicht für Grundsatzentscheidungen durchaus sinnvoll sein. Im Prinzip würde es also ähnlich funktionieren wie Facebooks Oversight Board, nur eben nicht von Facebook kontrolliert, könnte also möglicherweise eher als unabhängige Stelle anerkannt werden. Dann bliebe aber offen, was für Fälle er behandeln würde. Und ob allein die Zusammensetzung eines solchen Gremiums nicht schon bei manchen Menschen für eine Ablehnung eben jenes sorgen würde – etwa weil man es für nicht ausgewogen hält.

Auch Twitter-Chef Jack Dorsey äußerte 2019 eine Idee, die eher aus gesellschaftlicher Perspektive gedacht ist: Er kündigte an, eine Initiative namens Blue Sky zu fördern, in der Menschen zusammengeworfen werden, um einen dezentralen Standard für soziale Medien zu entwickeln. Er hätte den Vorteil, dass nicht eine einzelne Person über die Zukunft sozialer Medien entscheidet, sondern viele zusammen. Doch auch dieser Vorschlag wirkt einmal mehr wie eine Mindesthürde, über die die Plattformen gerade so zu springen bereit wären. Wenn überhaupt, schließlich müssten diese Regeln auch irgendwie verpflichtend sein.

Vielleicht müssen wir also einfach erkennen: Wer schnelle Lösungen fordert, negiert die Komplexität des Problems. Es ist bedenkenswert und brandgefährlich, soziale Netzwerke zu Richtern darüber zu machen, was sagbar ist und wer sprechen darf. Schwierig ist es auch, ihnen Intransparenz bei der Entscheidungsfindung und ihren Moderationsregeln durchgehen zu lassen.

Was sich festhalten lässt: Es ist nicht so, dass es an Vorschlägen mangelt, die sozialen Netzwerke zu regulieren, im Gegenteil, es gibt einen Haufen Ideen. Nur leider werfen diese, genau wie dieser Text, oft mehr Fragen auf, als dass man sie wirklich uneingeschränkt als Lösung empfehlen kann. Bei manchen Fragen der Meinungsfreiheit mag es helfen, sich einfach auf Regeln zu berufen, die es heute schon in der Offlinewelt gibt. In anderen Fragen ist das schwieriger. Auch, weil noch immer unbeantwortet ist, als was wir diese Plattformen sehen, welche Aufgaben wir ihnen eigentlich übertragen wollen. Begreifen wir sie künftig stärker als etwas, das sehr, sehr reichweitenstarken Massenmedien ähnelt, ergeben sich daraus anderen Konsequenzen, als wenn man sie einfach weiterhin vornehmlich als Marktplatz für die Haltungen, Meinungen, aber auch Lügen und Shanty-Clips anderer betrachtet – für deren Inhalte man nur dann geradestehen muss, wenn es strafrechtlich relevant ist. Auch wenn noch vieles unklar bleibt: Letztlich ist das aber eine Frage, die wir als Gesellschaft gemeinsam beantworten müssen und die wir nicht den Plattformen überlassen sollten.


Aus: "Social Media: Löschstatus – es ist kompliziert" Eine Analyse von Lisa Hegemann, Meike Laaff und Jakob von Lindern (20. Januar 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/digital/internet/2021-01/social-media-donald-trump-hass-regulation/komplettansicht

QuoteZwischenmensch #9

Sehr gute Zusammenfassung der komplexen Problematiken...!

"Die Geister, die ich rief..."!


Quotesecret77 #17

Für mich ist die Frage nicht, ob eine Firma das darf oder nicht, sondern es muss gelten: wer falsche Sachverhalte wiederholt als FAKTEN präsentiert und diese deshalb auch nicht belegen kann, die/der gehört eigentlich gesperrt, egal ob es nun Trump oder FOX News oder sonst wer ist. Die Frage ist nur: Wer hätte Trump sperren sollen, als er noch "mächtig" war? In Zeiten von schnell verbreiteten Lügen, deep fakes, etc brauchen wir andere Verfassungen, die Fakten und Wahrheiten besser schützen.


QuoteJaistdochwahr #17.1

Moment. Sie wollen also eine Verfassung, die es verbietet zu lügen?
Dass Trump einfach stumpf lügt ist ja nunmal nicht von der Hand zu weisen aber die Hälfte seiner im Lügencounter geführten 187324823748237493 Lügen sind politische Einschätzungen die dann einfach irgendein Faktencheck als Lüge bezeichnet, weil die Autoren die Fakten anders beurteilen und einschätzen.

Wenn Trump schreibt, dass durch den Bau der Mauer die Kriminalität sinkt, kann man das als Lüge kennzeichnen oder eben nicht. Da es eine Einschätzung ist und kein felsenfester Fakt.

Ähnlich könnte man Clinton mit einem Fakenewshinweis versehen, wenn sie schreibt Trump sei verrückt. Wenn die Autoren des Faktchecks eine andere politische Einstellung haben könnten sie schreiben, dass das kein Arzt offiziell Bescheinigt hat und blablub..

Lüge und Wahrheit sind abgesehen von naturwissenschaftlichen Fakten wie 2+2 meistens Einschätzungen die je nach Standpunkt anders aussehen.


Quotesecret77 #17.2

"Moment. Sie wollen also eine Verfassung, die es verbietet zu lügen?"

Nein, ich will eine Verfassung, die es in wichtigen öffentlichen Bereichen ermöglicht, Lügnern das Sprachrohr abzudrehen.


"Wenn Trump schreibt, dass durch den Bau der Mauer die Kriminalität sinkt, kann man das als Lüge kennzeichnen oder eben nicht. "

Das ist dann eine Prognose von Trump. Und Sie selbst haben ja seinen "Lügencounter" angeführt. Es ist also offensichtlich möglich, öffentlich Fakten von Lügen zu unterscheiden.



Quotetartan #19

Bei dem guten Artikel fehlt ein Hinweis auf die Verschiedenheit des internationalen Rechts: Nicht nur die Traditionen sind in D anders als in den USA, so dass hier wie dort Gewalt bzw. Nippel moralisch anders gewertet werden, auch juristisch gibt es hier Besonderheiten (NS-Symbole) die es in den USA nicht gibt, aber auch umgekehrt. Und nochmal anders in F, oder anderen Ländern.


QuoteSchlophia #24

Hier wird man schon manchmal wegen einer CSU-Kritik gesperrt, das ist eben das Privileg des Herausgebers.


QuoteWilliam S. Christ #27

Aus meiner Perspektive ist das ganz einfach.

Es gibt kein Recht auf Accounts bei FB, Twitter, Instagram, Youtube und anderen Social Media-Plattformen.
Oder kann mir jemand das ,,Grundrecht auf Twitter" zeigen?

Wenn jetzt jemand kommt und von Recht auf freie Meinungsäußerung redet: ja, das gibt es. Es beinhaltet aber nicht, dass ein privates Unternehmen sich zur Verbreitung dieser Meinungsäußerung zur Verfügung stellen muss.

Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung bezieht sich auf das Verhältnis von Staat und Bürger - der __Staat__ darf nicht einfach ohne sehr guten Grund und Gesetz die freie Meinungsäußerung einschränken!
Das private Unternehmen aber stellt Nutzungsbedingungen auf, deren Bruch zum Ausschluss führen kann.

Die Nutzungsbedingungen dürfen selbst die Vorschrift enthalten, dass jeder Post mit ,,Käsekuchen" als letztem Wort enden muss, sonst Ausschluss.
Völlig legal. Es gibt kein Recht auf Account bei ihnen.

Wenn ich ein Geschäft habe und grundsätzlich erstmal jeder Interessent eintreten darf, eine Person aber ständig besoffen rumpöbelt und andere Kunden beschimpft, dann darf ich diese Person auch vor die Tür setzen und ihr Hausverbot erteilen.
Und sie kann sich NICHT darauf berufen, dass dies ihr ,,Grundrecht auf freie Meinungsäußerung verletze".
Und sie angeblich das Recht habe, bei mir Stress zu machen. Ich muss keine Bühne zur Verfügung stellen.

Die Plattformen müssen keine Hetzer und Verrückten dulden.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Philip N. Howard, 1970 im kanadischen Montreal geboren, ist Professor für Internetstudien an der Universität Oxford in Großbritannien. Der Soziologe ist mehrfach ausgezeichneter Autor zum Thema Informationstechnologien und Politik. In deutscher Sprache erschien 2016 das Buch "Finale Vernetzung: Wie das Internet der Dinge unser Leben verändern wird".

Nicht einmal auf Tinder ist man vor Wahlkampfwerbung sicher, wie unter anderem die ÖH-Wahlen hierzulande zeigen. Auch für britische Politkampagnen wurden eigens Bots programmiert, um auf der Datingplattform sowohl für Labour- als auch für konservative Kandidaten zu werben. Algorithmen und Bots in den sozialen Medien beeinflussen ganz allgemein die öffentliche Meinung. Bringt das Demokratien in Gefahr?

Ja, so lautet zumindest die Antwort des Politikwissenschafters Philip N. Howard vom Internetinstitut der Universität Oxford. In seinem 2020 erschienenen Buch "Lie Machines: How to Save Democracy from Troll Armies, Deceitful Robots, Junk News Operations, and Political Operatives" schreibt er, dass sich moderne Politik ohne derartige digitale Kampagnen nicht mehr denken lässt. Unmengen an persönlichen Daten werden gesammelt, um einzelne Gruppen zielgerichtet manipulieren zu können. In vielen Fällen geschieht dies gar über die Verbreitung von Falschinformationen, eine Taktik, die auch Gruppierungen wie Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker verwenden.

Mit "Lügenmaschinen" bezeichnet der Forscher soziale und technische Mechanismen, die angewandt werden, um eine falsche Information zu produzieren, über soziale Medien zu verbreiten und zu vermarkten. Hier sind mehrere Akteure involviert: Personen aus der Politik, denen das Ganze nutzen soll; Plattformen wie Facebook und Instagram, über die Falschinformationen zahlreiche Menschen erreichen; außerdem die Vermarktung, etwa durch eine Politikberatungsagentur.

Über den Einfluss der digitalen Desinformationsmaschinerie auf politische Systeme referierte Howard am 10. Mai: Er eröffnete die dreitägige Online-Konferenz "Digital, direkt, demokratisch? Technikfolgenabschätzung und die Zukunft der Demokratie", die vom Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften organisiert wurde.

STANDARD: Im Titel Ihres aktuellen Buchs geht es um Armeen, Agenten und Operationen. Sind wir schon im Krieg der Desinformation?

Howard: Ich denke, dass es sich tatsächlich um eine Schlacht handelt, für die Demokratien eine Verteidigungsstrategie brauchen. In den letzten Jahren haben sich die Quellen dieser Kampagnen verschoben: Früher waren es meist fremde autoritäre Regime, die Desinformationsstrategien in ihrem eigenen Land benutzten. Dann beeinflussten sie Wählerinnen und Wähler in Demokratien, wie bei US-Wahlen und dem Brexit-Votum durch russische Interventionen. Jetzt sind es aber auch Politikerinnen und Politiker in unseren eigenen Ländern, wie Trump und andere US-Politiker, die große Mengen an Fehlinformationen generieren. Der Einsatz von Lügenmaschinen ist im Rahmen moderner Kommunikationsstrategien normal geworden. Social-Media-Firmen profitieren davon, indem sie sensationelle Inhalte verbreiten. Das große Geld fließt bei den US-Präsidentschaftswahlen, um neue Techniken zu entwickeln.

STANDARD: Dabei spielt auch der Ankauf von persönlichen Daten eine Rolle. Wie sieht das Ganze in Europa aus?

Howard: In Europa haben wir in dieser Hinsicht Glück. Auch als Kanadier in Großbritannien bin ich in wichtigen Punkten noch immer durch die Datenschutz-Grundverordnung geschützt. Viele der Dinge, die Data-Mining-Firmen im Kontext der USA tun, sind in der EU illegal und würden (bei einer Anklage, Anm.) zu Geld- und Haftstrafen führen. Aber: Es gibt immer noch riesige Mengen an Daten über uns, mit denen gehandelt wird und die etwa für Geheimdienstanalysen zur Verfügung stehen. Und es wird immer ein politisches Interesse geben, Informationen im Dienste der Macht zu nutzen.

STANDARD: Sie sagen, dass vor allem auch Rechtsextreme und Ultrakonservative Lügenmaschinen nutzen und Falschinformationen verbreiten. Das zeigt sich auch angesichts von Protesten gegen Covid-Maßnahmen. Was ist deren Ziel beim Versuch, Menschen etwa vom Tragen der Schutzmasken abzubringen?

Howard: Diese extremistischen Organisationen versuchen im Allgemeinen, uns dazu zu bringen, etablierten Institutionen zu misstrauen. Da geht es um die Regierung, aber auch um Bildungseinrichtungen, Ärztinnen und Ärzte. Natürlich ist auch das Misstrauen gegenüber professionellen Journalistinnen und Journalisten ein beständiges Thema rechtsextremer Bewegungen.

STANDARD: Zu Desinformation in der Corona-Krise fällt derzeit der russische Impfstoff Sputnik V auf. Auf dessen designiertem Twitter-Account wird versucht, mit manipulativen Statistiken zu vermitteln, dass dies der beste Impfstoff sei. In welchem Kontext steht ein solches Vorgehen?

Howard: Forschungsarbeiten zeigen, dass die staatlich unterstützten Auslandsnachrichtendienste aus Russland und China aktuell enorm viel Zeit darauf verwenden, die Impfstoffe Sputnik V und jenen von Sinovac zu promoten – im Gegensatz zu denen von Pfizer, Astra Zeneca und jetzt Johnson & Johnson. Interessant ist, dass diese Agenturen – Russia Today (RT), Sputnik sowie der chinesische TV-Sender CGTN – nach unseren Messungen an einem guten Tag fast eine Milliarde Social-Media-Profile erreichen können. Und das in englischer, spanischer und deutscher Sprache. Auch wenn viele dieser Profile Fake-Accounts sind, ist das mehr als bei den größten Nachrichtenagenturen der Welt.

STANDARD: Welche Regulierungen schlagen Sie in Sachen Datennutzung vor?

Howard: Jedes digitale Gerät, das wir nutzen, sollten wir fragen können: Wer profitiert von den Daten, die es sammelt? In einem zweiten Schritt sollte es möglich sein, die Liste dieser Firmen zu ergänzen. Denn eine echte Bedrohung für die Demokratie ist, dass die besten Daten, die bei der Lösung öffentlicher Probleme helfen würden, der Öffentlichkeit gar nicht zur Verfügung stehen. Sie liegen nicht in den Nationalbibliotheken oder bei Forschenden, sondern bei privaten Firmen.

STANDARD: Private Daten für weitere Organisationen freizugeben klingt nach einer kontroversen Idee, auch wenn dadurch die Vormacht von Google, Facebook und Co angeknackst wird und deren Daten weniger wertvoll werden könnten.

Howard: Wir haben vielleicht den Krieg um die Privatsphäre im bisherigen Rahmen verloren. Ich sehe keine Möglichkeit, wie wir unsere bis jetzt verlorene Privatsphäre vollständig zurückgewinnen können. Am besten können wir das jetzt so beeinflussen, dass wir einen Teil der Daten in Projekte lenken, die der Zivilgesellschaft nutzen. So könnten die Daten wenigstens für die Gestaltung der Zukunft eine Rolle spielen. (Julia Sica, 12.5.2021)


Aus: "Oxford-Soziologe: "Lügenmaschinen sind normal geworden"" Interview Julia Sica (12. Mai 2021)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000126568898/oxford-soziologe-luegenmaschinen-sind-normal-geworden

Quote
Persona=Lichtkörper

Also gibt es eigentlich nur noch Verschwörungstheorien, jene, die von der Politik ins Volk gestreut werden
und jene, die eben sogenannte Verschwörungstheorien in die Welt setzen. Bei Letzteren hat sich allerdings die Verschwörungstheorie manchmal auch schon als wahr herausgestellt.

Als Bürger kann man sich dagegen nur wehren, indem man sich möglichst breit und von vielen verschiedenen Seiten informiert, die reine Information herausfiltert, und die jeweils unterschiedlich weggelassenen Infos zusammenfügt um ein halbwegs plausibles Bild zu bekommen.

Fakt ist aber, vertrauen kann man in der heutigen Welt ungeschaut jedenfalls kaum einer Info. Überall stecken Interessen und oft auch Industrien dahinter. Dessen sollte man sich eben bewusst sein.

Medienkompetenz und politische Bildung gehört in den Schulunterricht.


Quote
Flor de Copan

Im Artikel wird suggeriert, daß das Problem nur social media betrifft. In Wahrheit ist die "Lügenmaschine" natürlich genauso der ganz "normale" Journalismus. Die Beeinflussung der Meinung erfolg hier u.a. durch Weglassen des Unerwünschten (dem gewünschten Narrativ widersprechenden), ständiger Wiederholung des Erwünschten, Verdrehung von Fakten, Appell an Emotionen (Angst), Diffamierung von Vertretern von Gegenmeinungen (als Rechte, Verschörer, Querdenker, Antisemiten etc...) und natürlich knallharter Zensur. Das Ganze funktioniert quasi von selbst ohne Steuerung. Nachzulesen bei Noam Chomsky in "Manufacturing Consent" aus den 80ern. Der obige Artikel belegt die Manipulation sehr schön (das beginnt schon bei den Fragen und bei der Wahl des Interviewten).


Quote
Pumuckl.reloaded

Manipulative Informationen gibt es wohl überall. Auch etablierte Medien haben auch ihre Linie und bringen Informationen entsprechend dieser Linie aufgearbeitet. Auch sie sind nicht immer frei und unbeeinflusst von Organisationen oder staatlichen Stellen. Auch die Presseförderung könnte ausgelegt werden, als Einflussnahme auf Meinungsbildner.
Wer nun gut und böse liegt wohl im Auge des Betrachters. Wichtig für den Medienkonsumenten ist immer das kritische Hinterfragen. Egal von welcher Seite die Informationen kommen.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Technik müsse den Menschen dienen und dürfe nicht gesellschaftlichen Zusammenhalt und Demokratie gefährden – das fordern 35 Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen in einer gemeinsamen Erklärung an das EU-Parlament. Sie fordern wirksame Maßnahmen gegen die Verbreitung von Hass und Desinformation im Netz, gegen missbräuchliche Werbepraktiken und für den Schutz der Meinungs- und Informationsfreiheit im aktuell verhandelten Digital Services Act (DSA).

Die Unterzeichner der "People's Declaration" https://www.peoplesdeclaration.net/, zu denen unter anderen Amnesty International, Avaaz, Hate Aid, LobbyControl und Reporter ohne Grenzen gehören, fordern "ein besseres Internet, in dem Bürger Zugang zu grundlegender Infrastruktur und Informationen erhalten". Bürger sollen "Partizipation und Konnektivität als Bereicherung erleben", "anstatt das Produkt einer heimtückischen digitalen Überwachungswirtschaft zu sein".

Das Bündnis mahnt die Abgeordneten, die "Manipulationsmaschine" im Netz abzustellen. Internetriesen wie Amazon, Facebook, Google, Twitter & Co. hätten ein "toxisches System aus Empfehlungen und Algorithmen" aufgebaut [https://www.heise.de/news/Shoshana-Zuboff-Undemokratischer-Coup-von-Google-Facebook-Co-muss-enden-6121920.html]. Information werde so zu einer Waffe eines "skrupellosen und unethischen Geschäftsmodells". Es gelte, die Missbrauchsmacht der Datenkonzerne einzudämmen und die Grundrechte inklusive der Meinungsfreiheit zu verteidigen.

Plattformen müssten so umgestaltet werden, dass sie Nutzern mehr Kontrolle über ihre Daten und Einfluss von Algorithmen auf die angezeigten Inhalte geben, heißt es in der "Erklärung des Volkes". Ebenso müssten der DSA und der parallel erörterte Digital Markets Act (DMA) intransparenten und missbräuchlichen Praktiken wie "spionierender Werbung" ein Ende setzen.
[https://www.heise.de/news/Digital-Services-Act-EU-Kommission-will-Ampeln-fuers-Netz-etablieren-4990856.html]
[https://www.heise.de/news/Targeting-EU-Abgeordnete-fordern-Aus-fuer-spionierende-Werbung-5041368.html]

Das aktuelle Modell der dominierenden Plattformen gebe Menschen keine wirksamen Auswahlmöglichkeiten, kritisiert die Allianz, die nach eigenen Angaben über knapp 26 Millionen Mitglieder der angeschlossenen Organisationen in der EU vertritt. Der Gesetzgeber dürfe die Versäumnisse der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO nicht wiederholen. Es müssten Aufsichtsgremien geschaffen werden, die in der Lage sind, die Vorgaben durchzusetzen.

Verschiedene Ausschüsse des EU-Parlaments stecken derzeit ihre Positionen zu den beiden Gesetzentwürfen ab. Es gibt bereits tausende Änderungsanträge allein zum DSA. Eine gemeinsame Linie der Volksvertreter für die weiteren Gespräche mit dem Ministerrat und der Kommission soll im Dezember stehen.

Der gemeinsame Fehler der bisherigen Vorschläge der Ausschüsse liege in der falschen Hoffnung, "dass illegale Online-Inhalte verschwinden oder stark reduziert werden, wenn die Plattformen dafür haften", gibt die Initiative European Digital Rights (EDRi) separat zu bedenken.

Einige Berichterstatter schlagen fixe Löschfristen vor. Der federführende Binnenmarktausschuss stellt in der Regel auf sieben Tage ab. Die Spanne verkürzt sich auf 24 Stunden, wenn der fragliche Inhalt das Potenzial habe, "völlig undefinierte Werte" wie die "öffentliche Ordnung" zu schädigen. Der Rechtsausschuss setze auf nur 30 Minuten bei Live-Streaming. Das eigentliche Problem sei dabei rechtswidrige Äußerungen klar einzugrenzen, ohne die Meinungsfreiheit zu beschneiden.

(ds)


Aus: "People's Declaration: Bündnis fordert Aus für "Manipulationsmaschine" im Netz" Stefan Krempl (15.07.2021)
Quelle: https://www.heise.de/news/People-s-Declaration-Buendnis-fordert-Aus-fuer-Manipulationsmaschine-im-Netz-6139013.html

Quotedaiphead, 15.07.2021 10:59

Wie immer zehn Jahre zu spät

Der Versuch, den letzten Funken Verstand anzuregen, kommt zu spät. Der ist nämlich längst erloschen. Der überwiegende Anteil meiner Mitmenschen ist in erster Linie eine Ansammlung von Facebook-Accounts mit angehängtem biologischen Körper. Die Leute _sind_ Facebook. Wie oft habe ich über die letzten zehn Jahre jetzt schon Flyer gesehen, oder Geschäftsdekorationen, wo das Facebook-Logo das dominierende Element ist? Wo das Facebook-Logo größer ist als das Eigene? Das sagt doch schon alles, oder? Überall verschwinden eigene Webseiten und eigene Email-Adressen; der Anbieter lädt per WhatsApp zum Kundendialog... Ich stand schon vor Eisdielen, die vor dem Geschäft einen Aufsteller hatten, auf denen nichts anderes war als ein riesiges Facebook-Logo und der Accountname. Fernseher und Radio kann man auch nicht mehr anmachen, ohne dass wenige Minuten später wieder irgendwas mit Facebook ist.

Die Forderungen sind nicht verkehrt. Aber sie kommen ja zu spät... Jetzt, wo der ganze Planet Zuckerberg gehört, braucht auch keiner mehr anzufangen, zu diskutieren. Wo denn überhaupt? Auf Facebook?! Wahrscheinlich... Wo denn sonst? Woanders würde euch ja auch niemand mehr zuhören... Das ist doch grotesk! Da kannst du genausogut mit den Zombies von Walking Dead länglich diskutieren, ob Zombiesein gut oder schlecht ist. Genauso fruchtbar...

(das gleiche gilt natürlich auch für Instagram und in etwas abgeschwächtem Maße auch für Youtube und Twitter)


QuoteZardoz2, 15.07.2021 08:53

Augenmaß

Bisher habe ich hier vor allem Aufreger-Kommentare gelesen, die ihre Meinungsfreiheit bedroht sehen. Leute, es geht nicht um die freie Meinungsäußerung! Die ist weiterhin ja sogar vom Grundgesetz gedeckt. Wer die Meinung äußern will, dass die Erde eine Scheibe sei oder dass Bill Gates Covid-19 erfunden habe, um uns allen beim Impfen Mikrochips und die Haut zu jagen, der oder die darf das gerne weiterhin tun. Er oder sie macht sich damit bestenfalls selber lächerlich.

Es geht um zwei andere Themen: "spionierende Werbung" (eine saublöde Formulierung) und um die Verbreitung von Fake News.

"Spionierende Werbung" vernebelt die Zusammenhänge. Der Vorgang besteht im ersten Schritt aus Verfolgung der Nutzer:innen (Spionage, Spitzelei) und Anlegen von Dossiers über Jede:n von uns. Im zweiten Schritt bekommen wir dann gezielt Werbung gemäß unseren ermittelten Interessen angezeigt, die uns in der gewünschten Weise manipulieren soll. Ganze Wahlen und Volksentscheide wurden so schon entschieden. Das gefährdet die Demokratie.

Fake News oder gefälschte Meldungen können viele Formen annehmen, von falschen Tatsachenbehauptungen über gefälschte Bilder oder Bildunterschriften bis hin zu Deepfakes. Beispiele dafür gibt es reichlich.

Aus meiner Sammlung hier ein paar Links dazu, unsortiert:

https://www.heise.de/select/ct/2017/16/1501792166630082
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/
https://www.heise.de/newsticker/meldung/Gehackter-Twitter-Account-von-Sony-verbreitet-Britney-Spears-Todesmeldung-3582021.html
https://www.aclu.org/blog/free-speech/internet-speech/fixing-fake-news?redirect=blog/free-future/fixing-fake-news
https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/google-facebook-co-internetsysteme-ohne-aufsicht-kolumne-a-1125127.html
https://www.heise.de/newsticker/meldung/Fake-News-Kuenast-stellt-Strafanzeige-wegen-Falschnachricht-auf-Facebook-3567961.html
https://www.heise.de/newsticker/meldung/Fake-News-auf-Facebook-Falschmeldungen-ueberfluegelten-Nachrichten-3489029.html
https://netzpolitik.org/2021/desinformation-aus-oesterreich-vertrauen-sie-profis-nnc-unser-mitteleuropa/
https://web.br.de/interaktiv/hassmaschine/
https://www.heise.de/news/BR-NDR-WDR-Facebook-versagt-im-Kampf-gegen-rechte-Hetze-4792322.html
https://www.waz.de/politik/soziale-netzwerke-afd-ist-die-aktivste-partei-auf-facebook-id217033613.html
https://www.kom.de/medien/afd-mit-85-aller-parteien-shares-bei-facebook/
https://www.heise.de/newsticker/meldung/Leaks-Rechtsextreme-manipulierten-Online-Debatten-zur-Bundestagswahl-3974798.html
https://www.bbc.com/news/world-53755067
https://www.tagesschau.de/investigativ/report-mainz/corona-kinder-105.html
https://www.sueddeutsche.de/medien/coronavirus-fake-news-whatsapp-1.4858827
https://netzpolitik.org/2020/russische-desinformation-das-netzwerk-gefaelschter-auslandsmedien/
https://secure.avaaz.org/campaign/en/facebook_threat_health/

Und ja, der Kampf gegen den Schund kann eine schwierige Gratwanderung an der Grenze zur Zensur sein. Es gibt keinen Königsweg, jeden Einzelfall zufriedenstellend zu lösen. Weder Automaten noch ein Haufen Menschen können den Kampf gegen Fake News und Hass gewinnen. Die Komplexität der Prozeduren bei Fakebook ist ein geradezu rührend naives Beispiel:
https://1.f.ix.de/imgs/18/1/9/1/0/8/8/6/P1010036-f26a23e27d033b54.jpeg

Das Übel kann man nur an der Wurzel packen, und die liegt im Geschäftsmodell der Aufmerksamkeitsökonomie. Insofern geht der Aufruf in die richtige Richtung: Dieses Geschäftsmodell muss reguliert werden.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Vergangenes Jahr veröffentlichte das Model Nyome Nicholas-Williams eine sinnliche Aufnahme: die Augen geschlossen, der Kopf in den Nacken gelegt, die Arme um die Brust verschlungen. Die UserIn­nen waren begeistert.

Doch Instagram gefiel diese Pose nicht: Das Netzwerk löschte dieses und weitere Fotos und drohte Nicholas-Williams mit der Schließung ihres Accounts. Der Grund: Ein Verstoß gegen die ,,Gemeinschaftsrichtlinien". Darstellungen von Nacktheit sind auf der Fotoplattform nicht erwünscht.

Nicholas-Williams machte das wütend. ,,Jeden Tag findet man auf Instagram Millionen von Bildern sehr nackter, dürrer weißer Frauen. Aber eine dicke schwarze Frau, die ihren Körper feiert, wird verbannt? Es war schockierend für mich", sagte sie. ,,Ich fühle mich, als wäre ich zum Schweigen gebracht worden."

Ein Aufschrei ging durchs Netz. Unter dem Hashtag ,,#IwanttoseeNyome" riefen NutzerInnen Instagram dazu auf, das Foto wieder zu zeigen. Von Zensur und Rassismus war die Rede. Instagram entschuldigte sich für den Vorfall und änderte daraufhin seine Richtlinien.

Bei der Moderation seiner Inhalte setzt Instagram – wie auch der Mutterkonzern Facebook und andere Plattformen – auf eine Mischung aus künstlicher und menschlicher Intelligenz. Zunächst filtern Algorithmen den gröbsten Müll, dann sieben ModeratorInnen den Rest aus.

Zwar hat Facebook-Chef Mark Zuckerberg bei der Anhörung im US-Kongress 2018 vollmundig verkündet, ein KI-System könne problemlos Brustwarzen erkennen. Doch noch immer machen Computer haarsträubende Fehler. So wurden Zwiebeln als anstößig markiert, weil der Algorithmus die in einem Körbchen platzierten Knollen für die Rundungen eines Körperteils hielt.

Nach Angaben der Adult Performers Actors Guild, einer Gewerkschaft, die unter anderen SchauspielerInnen, Webcam-DarstellerInnen und StreamerIn­nen vertritt, meldet der Instagram-Algorithmus Fotos, auf denen über 60 Prozent Haut zu sehen ist – was in der Praxis dicke Menschen diskriminiert. Denn ein dicker Mensch hat eine größere Körperoberfläche als eine dünne Person und zeigt damit – bei gleicher Bekleidung – vergleichsweise mehr Haut. Die KI von Instagram hält das für obszön und schlägt Alarm.

Dass die Plattform Menschen mit anderen Proportionen diskriminiert, zeigt auch das Beispiel Celeste Barber. Die australische Comedian parodiert auf ihrem Instagram-Account regelmäßig die lasziven Posen von Topmodels.

Als Barber das Supermodel Candice Swanepoel imitierte und ihre Brust mit der Hand bedeckte, wurde das Foto mit dem Hinweis zensiert, dass der Post gegen die Richtlinien verstoße. Swane­poels Vorlage wurden von den algorithmischen Sittenwächtern dagegen durchgewinkt – obwohl das südafrikanische Topmodel noch viel spärlicher bekleidet war und nicht mal einen Stringtanga trug.

Misst Instagram hier mit zweierlei Maß? Sind Menschen, die nicht die Körpermaße von dünnen Models haben, nicht präsentabel? Auch hier könnte wieder der erratische Objekterkennungsalgorithmus eine Rolle gespielt haben. Barbers Brüste sind im Vergleich zu Swanepoels deutlich größer, also ,,sieht" der Algorithmus mehr nackte Haut und daher einen möglichen Verstoß.

Doch anders als es uns die Softwareentwickler weismachen wollen, geht es hier nicht um statistische oder technische Details, sondern um die gesellschaftspolitisch relevante Frage, was wir sehen wollen und was nicht.

Zur Nacktheit haben Techkonzerne ein zwiespältiges Verhältnis. Auf der einen Seite wirkt Instagram wie eine Modestrecke, wo sogar Protest zur Pose verkommt. Auf der anderen Seite fühlt man sich zuweilen wie in einem puritanischen Regime, wo ständig die Moralpolizei patrouilliert und Kleidungsvorschriften kontrolliert.

So hat Facebook Fotos von Gustave Courbets berühmtem Gemälde ,,Der Ursprung der Welt" und Abbildungen der ,,Venus von Willendorf" verschämt aus seinen Galerien verbannt. Auch Fotos von nackten, in Ketten gelegten Aborigines wurden von Facebook mit Verweis auf die Nacktheitsgrundsätze gelöscht, was einen bizarren Fall von Cancel Culture markiert: Historische Dokumente der Sklaverei verschwinden kommentarlos von der Bildfläche.

Einmal programmiert, machen Algorithmen Tabula rasa. Das zeigt einmal mehr, dass der Rigorismus, der Algorithmen innewohnt und das binär codierte Weltbild, das keine Graustufen zulässt, mit den Werten einer offenen Gesellschaft nicht vereinbar sind.

Es sind aber nicht nur Maschinen, die unsere Werteordnung attackieren, sondern auch Menschen. So wurden ModeratorInnen der populären App Tiktok angewiesen, Videos von Menschen mit Behinderung zu verbergen. Wie Recherchen von netzpolitik.org zeigen, wurden in den Richtlinien als Beispiele Merkmale wie ,,entstelltes Gesicht", Autismus oder Downsyndrom genannt. Auch queere und dicke Menschen sollten von der Bühne verschwinden. Begründet wurde die Reichweitenbegrenzung mit Mobbingschutz.

Für die Bewertung hatten die ModeratorInnen 15 Sekunden Zeit. Die berechtigte Frage ist natürlich, ob man in einer so kurzen Zeitspanne ferndiagnostisch Autismus erkennen kann. Und ob man Diskriminierung mit Diskriminierung bekämpft. Denn natürlich ist es diskriminierend, wenn Menschen aufgrund ihres Aussehens oder einer Behinderung benachteiligt werden. Sind dicke Menschen oder Menschen mit Behinderung nicht vorzeigbar? Wer definiert, was ,,normal" ist?

Mit den Vorwürfen konfrontiert, räumte das Unternehmen ein, Fehler gemacht zu haben. Auf Anfrage von netzpolitik.org erklärte eine Sprecherin: ,,Dieser Ansatz war nie als langfristige Lösung gedacht und obwohl wir damit eine gute Absicht verfolgt haben, wurde uns klar, dass es sich dabei nicht um den richtigen Ansatz handelt."

Die Regelungen seien inzwischen durch neue, nuancierte Regeln ersetzt worden. Man habe die Technologie zur Identifikation von Mobbing weiterentwickelt und ermutige die Nutzer zum positiven Umgang miteinander. Ein repräsentatives Bild unserer Gesellschaft lässt Tiktok allerdings weiterhin vermissen.

Solche kruden Selektionskriterien wecken böse Erinnerungen. Die paternalistische Annahme, dass man Mobbing im Netz nur verhindern könne, wenn man potenzielle Opfer aus dem Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit und vermeintlich in Schutz nimmt, sagt viel aus über das Selbstverständnis der Plattform – und die Umgangsformen im Netz.

Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl beschreibt in seinem Buch ,,Kapital und Ressentiment", wie die ,,Bewirtschaftung des Sozialen" und ,,ballistische Schnellkommunikation" das Ressentiment in der Gesellschaft befeuern. Es wurzele in einem ,,spezifischen Vergleichs- und Relationszwang, in einem Reflex zu Valorisierung und Bewertung, in einer wuchernden Urteilslust", schreibt Vogl. So befördere die ,,Ökonomie des Ressentiments" das Konkurrenzsystem und umgekehrt.

Auf Plattformen wie Tiktok sind NutzerInnen systemisch gezwungen, ständig Bewertungen abzugeben, sonst sieht man keine neuen Inhalte. Hopp oder topp, Daumen hoch oder runter. Dieser Valorisierungszwang durch algorithmische Selektion erzeugt nach Vogl Konformismen, die wiederum ,,soziale Divergenzmächte" stimulieren.

Im Fall von Instagram wäre dies der Algorithmus, der nach einer bestimmten statistischen Häufigkeitsverteilung (zu viel) Nacktheit bewertet – und aus einer mathematischen eine soziale Norm macht.

Und das wirkt sich über automatisierte Feedbackschleifen auch auf Schönheitsideale aus. Die 17-jährige Schauspielerin Sissy Sheridan twitterte: ,,Ich mochte meinen Körper, bevor ich Tiktok heruntergeladen habe." Studien belegen, dass durch das ­Scrollen durch Instagram-Feeds die Zufriedenheit mit dem eigenen Körper abnimmt.

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Aus: "Maschinelle Sittenwächter" Adrian Lobe (27. 7. 2021)
Quelle: https://taz.de/Algorithmen-und-Diskriminierung/!5785746/


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Keine Frage: Querdenken ist demokratiefeindlich, in Teilen rechtsradikal und antisemitisch, in jedem Fall aber auch ärgerlich, nervtötend und esoterisch-verblendet. Querdenken ist in seiner Gegnerschaft zur Bekämpfung der Pandemie eine Herausforderung für die Beendigung ebendieser und mit seinen Verschwörungserzählungen und der Nähe zum Rechtsextremismus eine Herausforderung für die Demokratie.

Dementsprechend begegnen viele Menschen der Meldung, dass Facebook 150 Kanäle der Querdenken-Bewegung gelöscht hat, mit Schulterzucken, Wohlwollen oder gar Jubel. Doch dieser Jubel ist falsch, vielmehr bleibt bei der Aktion mindestens ein ambivalentes Gefühl.

Was Facebook hier mit der Begründung der ,,koordinierten Schädigung der Gesellschaft" (coordinated social harm) gelöscht hat, mag in Teilen Inhalte wie Aufrufe zu Gewalt oder zu Gesetzesbrüchen enthalten haben, in der Gesamtheit vermutlich eher Verschwörungserzählungen und ähnliches. Man weiß es nicht, weil es keine Transparenz darüber gibt.

Wem die Grund- und Freiheitsrechte wichtig sind, dem stellt es die Nackenhaare auf, wenn ein monopolistisches Unternehmen, das privat mehrere der größten Öffentlichkeiten der Welt kontrolliert, mit Wisch-Waschi-Begründungen aus der Facebook-Blackbox großen Teilen einer politischen Bewegung – so beschissen man diese auch finden mag – den Saft abdreht.

Es hat nichts mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu tun, wenn ein marktdominantes Unternehmen nach seinen Regeln irgendwelchen gesellschaftlichen Gruppen einseitig die Öffentlichkeit entzieht. Hier fehlt die Transparenz. Mit den Querdenkern hat sich Facebook ein Versuchskaninchen ausgesucht, das unbeliebt ist und heute kaum mehr Verteidigung bekommt. Querdenken ist marginalisiert und als Bewegung am Ende. Facebook hat zur Blütezeit der Bewegung von dieser monetär profitiert und sie lange agieren lassen. Jetzt probiert das Unternehmen aus, wie so eine Massenlöschung ankommt – und suggeriert gleichzeitig vor der Bundestagswahl, es würde irgendwie verantwortungsvoll handeln.

Was diejenigen vergessen, die sich über die Löschung von Querdenken gefreut haben: Die nun ausprobierte neue Form der Massenlöschung ist eine Gefahr für soziale Bewegungen. Insbesondere für solche, die auch zivilen Ungehorsam anwenden. Diese demokratisch etablierte Protestform setzt auf Regelverletzungen und angekündigte und begrenzte Gesetzesbrüche. Dazu gehören Blockaden von Werksgeländen, Besetzungen von Wäldern wie im Hambacher Forst oder das unbefugte Betreten von Braunkohle-Tagebauen wie bei den Klimaprotesten von Ende Gelände. Die Regierung in NRW hat nicht erst einmal diese Protestformen in die Nähe von Gewalt und Terrorismus gerückt.

Wir wissen nicht, wie Facebook eine ,,koordinierte Schädigung der Gesellschaft" genau definiert. Wie können wir garantieren, dass Facebook nicht auch politische Gruppen und Bewegungen löscht, die sich in Gegnerschaft zu Facebook selbst befinden? Warum sollten wir diesem Big Player des Überwachungskapitalismus trauen, dass er nicht auch Gruppen, die das Geschäftsmodell von Facebook oder den Kapitalismus kritisieren, als schädigend wahrnimmt?

Wo sind die Grenzen und wer kontrolliert Facebook dabei? Was ein ,,Schaden für die Gesellschaft" ist, ist meistens Ansichtssache. Löscht Facebook in Zukunft die Netzwerke von Nawalny, weil Putin sie für schädlich hält? Oder die Opposition in Ungarn, weil Orban diese als schädlich einstuft? Ist die Schädlichkeit an demokratische Maßstäbe geknüpft oder an das, was der jeweiligen Regierung eines Landes passt?

Wir brauchen klare Regeln für Unternehmen wie Facebook und Möglichkeiten, sich gegen Löschungen zur Wehr zu setzen. Das Digitale-Dienste-Gesetzespaket auf EU-Ebene kann und muss dafür Antworten finden, wie die marktdominanten Plattformen demokratisiert werden und Rechtsstaatlichkeit auch auf ihren privatisierten Öffentlichkeiten gewährleistet werden kann.

Denn die bisherige intransparente Willkür und Wildwest-Mentalität der großen Plattformen sind auf ihre Art auch eine ,,Schädigung der Gesellschaft".


Aus: "Massenlöschungen sind kein Grund zum Jubeln" Markus Reuter (17.09.2021)
Quelle: https://netzpolitik.org/2021/deplatforming-von-querdenken-massenloeschungen-sind-kein-grund-zum-jubeln/

Quote
Werner Niedermeier sagt:   
17. September 2021 um 18:43 Uhr   

Das Thema umfasst zwei Probleme. Zuerst das angesprochene: Solange es einen selbst nicht betrifft, interessiert es die wenigsten. Betrifft es sogar den politischen Gegner, finden viele das sogar gut. Und wenn man dann selbst gelöscht wird, ist es meist zu spät.

Ein zweites Problem ist die Tatsache, dass man Facebook durch seine Daten zwar unterstützt, man selbst aber keinerlei Rechte hat. Gerichtsurteile gibt es zwar, aber die scheinen Facebook nicht zu interessieren. Wenn man die Leute fragt, warum sie trotz dieser völlig willkürlichen Politik bei Facebook bleibt, heißt es fast immer: ,,Nur dort hab ich die Reichweite". Wenn man dann gesperrt wird und die Reichweite ist bei 0, ist das Heulen und Zähneklappern groß. Und n8icht jeder kann sich Spitzenanwälte leisten die 500 Euro oder mehr pro Stunde nehmen.

Man darf auch nicht vergessen, dass Facebook deshalb so agiert, weil es das NetzDG gibt.

Man kann jedem nur raten, Backups auf anderen Netzwerken aufzubauen, damit man im Falle eines Falles nicht mit nichts dasteht, wenn man schon weiter Facebook nutzen will.


Quote
Peter Baumann sagt:   
18. September 2021 um 08:37 Uhr   

,,Keine Frage: Querdenken ist demokratiefeindlich, in Teilen rechtsradikal und antisemitisch, in jedem Fall aber auch ärgerlich, nervtötend und esoterisch-verblendet."

Bei Querdenken finden sich Menschen mit demokratiefeindlichen, rechtsradikalen und antisemitischen mehr oder weniger starken Tendenzen in größerer Zahl als bei anderen Gruppierungen.

Was unterscheidet den prototypischen Querdenker vom NPD-Mitglied? Wo ist der Shitstorm und die Massensperrung von NPD-Kanälen durch Facebook, offenbar hat sowohl der Bundes- wie auch jeder Landesverband einen eigenen Kanal? Wieso bekommt ,,die Basis" derart Gegenwind, die NPD aber praktisch keinen?

Darf ich die CDU eine ,,demokratiefeindliche", in Teilen rechtsradikale und antisemitische" Partei nennen, und mich nicht nur an Maaßen orientieren? Ist ,,ärgerlich, nervtötend und esoterisch-verblendet" nun ein Zensurgrund?

Die Gesellschaft lässt sich durch interessierte Kreise auf Diskussionen ein, die in Schlussfolgerungen enden, die den sozialen Zusammenhalt stören und letztlich zerstören.

Wie Herr Niedermeier oben schon richtig sagt – ,,Und wenn man dann selbst gelöscht wird, ist es meist zu spät." Sinngemäß ein bereits alter ,,Spruch" – ,,Als sie den Kommunisten in der Wohnung neben mir abgeholt haben, schwieg ich. Als sie den Sozialdemokraten neben mir abgeholt haben, schwieg ich. Als sie den Anarchisten neben mir abgeholt haben, schwieg ich. Als sie mich abgeholt haben, war keiner mehr da, um mich zu verteidigen."


Quote
ich, wer sonst sagt:   
18. September 2021 um 09:29 Uhr   

Solange wir der Privatisierung des Rechts mit Häme zuschauen, weil es ja ,,Andere" betrifft, solange werden wir mit dem schleichenden Entzug von Grundrechten bestraft.


Quote
Arthur sagt:   
18. September 2021 um 15:25 Uhr   

Fakebook ist in privater Hand und kein öffentlich-rechtliches Unternehmen. Insofern muss man diesem asozialen Hetzwerk auch zugestehen, sein Hausrecht wahrzunehmen. Wenn man als Kneiper feststellt, dass man sich die falschen Gäste eingeladen hat, dann darf man die Leute auch wieder nach Hause schicken. Unsere Gesellschaft hat ja niemand in diese kommunikative Abhängigkeit gezwungen.


Quote
Markus Reuter sagt:   
20. September 2021 um 11:21 Uhr   

Das mit ,,in Teilen rechtsextrem oder antisemitisch" ist natürlich richtig. Es sind oftmals antisemitische Verschwörungserzählungen verbreitet worden und gleichzeitig tauchten immer wieder den Holocaust verharmlosende Vergleiche (Armbinden mit ,,Ungeimpft" usw.) auf. Dazu kommt, dass die Querdenker-Bewegung kein Problem hatte, mit Nazis zusammen zu marschieren und sich nie davon effektiv distanziert hat. Da gibt es genügend Belege und das hat auch nichts mit Beifall von der falschen Seite zu tun, es gab hier ideologische und personelle Überschneidungen in dieser Bewegung und auf ihren Protesten. Ich kann Leute nicht ernst nehmen, die das politisch nicht sehen (wollen), dass es diese Nähe gab und gibt.

Ganz unabhängig davon, wie ich die Facebook-Löschaktion bewerte.


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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Als Kevin Systrom und Mike Krieger, zwei IT-Tüftler aus Kalifornien, vor gut zehn Jahren an den Start gingen, hatten sie eigentlich etwas Exklusives im Sinn. Systrom wusste noch, wie man hochwertige analoge Fotos im Chemiebad entwickelte. Dagegen hatten iPhone-Schnappschüsse seinerzeit noch eine bescheidene Qualität. Auf ihrem kostenlosen Onlinedienst sollten Nutzer daher die Möglichkeit erhalten, hochgeladene Bilder nachträglich aufzuhübschen. So, dass sie wie ,,echte" Fotos aussahen.

Die mit wenigen Klicks mögliche Nachbearbeitung wurde zum Markenzeichen der neuen Plattform. Ausgefuchste digitale Filter ließen die geteilten Bilder nicht nur cool aussehen. Sie verliehen den Fotos zugleich einen unverwechselbaren Look und ließen sie alle irgendwie gleich aussehen. An den Start ging damit ein schillerndes neues Tool, das die Spielregeln digitaler Kommunikation rasant aufmischen sollte. (,,Instagram – Das toxische Netzwerk", Arte, [Verfügbar: Vom 23/08/2022 bis 28/10/2022, https://www.arte.tv/de/videos/095729-000-A/instagram-das-toxische-netzwerk/])

In seiner Dokumentation auf Arte verdeutlicht der französische Filmemacher Olivier Lemaire, wie diese neue App die Ära des mobilen Internets prägte. Facebook dagegen war mit seiner Textlastigkeit und seiner komplexen Benutzeroberfläche noch ein Tool aus dem Zeitalter von Desktop-Computern.

Mit der Fixierung auf das Bild ist Instagram eines der erstes Netzwerke, die aus der Verwertungslogik des Smartphones mit integrierter Kamera hervorging. Bereits drei Monate nach dem Start zählte man über eine Million Nutzer. Die Hipster-App, auf der kunstvolle Street-Art gepostet wurde, erweckte rasch das Interesse von Prominenten. Das erste Selfie von Justin Bieber kam so gut an, dass die Anzahl der Aufrufe die Server lahmlegte.

Die Kardashian-Schwestern erahnten das Potenzial an Selbstinszenierung und wurden die ersten Ikonen des neuen Netzwerks. Schon im ersten Jahr zählte Instagram über zehn Millionen Nutzer. Die neue Fotosharing-App würde bald alle anderen sozialen Netzwerke überholen. Also unterbreitete Mark Zuckerberg 2012 den Konkurrenten ein Angebot, das diese nicht ablehnen konnten.

Die Kaufsumme von einer Milliarde Dollar – wohlgemerkt, für eine App, die bis dahin keinen Cent Profit erwirtschaftet hatte – sorgte für ungläubiges Staunen. Doch Zuckerbergs Konzept ging voll auf. Im Zuge der Kommerzialisierung veränderte Instagram Mode, Marketing und Werbung radikal – und wurde zur Gelddruckmaschine.

Ob internationaler Markenartikler oder Handwerker um die Ecke, ob pubertierender Teenager oder Fußballstar: An zahlreichen Beispielen verdeutlicht der Film, wie jeder Schnappschuss, jeder Blick auf den Alltag sich mehr und mehr auf die Frage einengt: Ist das auch Instagram-tauglich?

Kurios ist die ,,Instagramisierung" des Tourismus. Reisende jetten an exotische Orte. Nicht weil es dort schön ist. Sondern um ein Foto nachzustellen, das ein Influencer zuvor von dort aus gepostet hat. Diese Gleichschaltung hat auch den kulinarischen Bereich ergriffen: Appetitlich ist das, was einen Instagram-Look hat. Food-Porn nennt sich die obszön anmutende Aufbereitung veganer Burger für den Fast-Food-Blick auf den Smartphone-Bildschirm.

Den Fokus richtet die Dokumentation vor allem auf eine problematische Form von Selbstinszenierung. Sie zielt mehr und mehr auch auf Uniformisierung der äußeren Erscheinung ab. Laut dem Schönheitschirurgen Michael Salzhauer, genannt ,,Dr. Miami", lassen Frauen immer häufiger ihren Körper einem Instagram-Foto angleichen. Diese Optimierung des Aussehens folgt einem Trend zu einer zunehmend vulgäreren, softpornoartigen Selbstdarstellung.

Wer ist schuld an diesem Sexismus? Sind es junge, weiße Männer, die Algorithmen so programmieren, dass nur sexualisierte Bilder gelikt werden? So ganz überzeugt diese These nicht. Sehenswert ist der Film, weil er eines zeigt: Die lange Zeit belächelte These von Horkheimer und Adorno, gemäß der Kulturindustrie ,,alles mit Ähnlichkeit schlägt", wurde durch Instagram auf gespenstische Weise bestätigt.


Aus: "Arte-Doku über Instagram Instagram macht alles gleich" Manfred Riepe (29.08.2022)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/arte-doku-ueber-instagram-instagram-macht-alles-gleich/28636716.html

QuoteLeserling 29.08.2022, 17:58 Uhr

    Wer ist schuld an diesem Sexismus? Sind es junge, weiße Männer, die Algorithmen so programmieren, dass nur sexualisierte Bilder gelikt werden? So ganz überzeugt diese These nicht.

Ich würde sagen, bevor man die Schuld wie so oft woanders sucht: Schuld sind in erster Linie Menschen, die mit vollem Wissen solche chirugischen Überarbeitungen deswegen an sich vor nehmen lassen - selber.


QuotePat7 29.08.2022, 18:28 Uhr
Antwort auf den Beitrag von Leserling 29.08.2022, 17:58 Uhr

Der Gruppendruck ist schon sehr groß.

Auch vor Insta hungerten sich Jugendliche regelrecht zu Tode um einem kranken Ideal zu entsprechen.
Und gerade Kinder und Jugendliche im Wachstum sind extrem manipulierbar.
Etwas dass sich diese Art Plattformen zu Nutze machen.


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Textaris(txt*bot)

Quote[...] ,,Jeder Mensch hat das Recht (...) Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten." So steht es im Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Doch weltweit ist dieses Recht für die meisten Menschen pure Theorie.

Zu diesem Schluss kommt der jährliche ,,Freedom on the Net"-Report der US-amerikanischen NGO Freedom House, der die Freiheit des Internets weltweit analysiert. Untersucht wurden dieses Jahr 70 Länder und damit 89 Prozent der Internetnutzer*innen.

Die Au­to­r*in­nen der Untersuchung haben eine Skala entwickelt, auf der ein Land mit absolut freiem Internet 100 Punkte erhalten würde. Abzug gibt es für drei Arten von Freiheitsverletzungen: Zugangshürden, Beschränkung der Inhalte und die Verletzung von Nutzerrechten.

Und global geht es abwärts. Das ist bedenklich, wenn auch nicht überraschend: Seit zwölf Jahren gibt es die Erhebung, bisher wurde jedes Jahr eine Verschlechterung der Situation festgestellt. Nur knapp ein Fünftel der Weltbevölkerung lebt laut dem Bericht in einem Land mit freiem Internet, darunter sind etwa die USA, Argentinien und die meisten europäischen Länder. Angeführt wird die Rangliste von Island, das 95 Punkte erreicht.

Ein Drittel der Nut­ze­r*in­nen weltweit haben Zugang zu einem nur teilweise freien Internet, in Europa etwa Menschen in Ungarn und der Ukraine, aber auch Mexiko oder Singapur. 37 Prozent der Länder verfügen über kein freies Internet. Das Schlusslicht ist seit acht Jahren in Folge China mit 10 von 100 Punkten. Der stärkste Rückgang der Internetfreiheit wurde in Russland festgestellt, das gerade noch 23 Punkte erreicht – sieben weniger als vergangenes Jahr. Deutschland erreicht 77 Punkte und belegt damit den achten Platz. Abzug gab es für blockierte Websites sowie neue Zensur- und Überwachungsgesetze.

Einen Schwerpunkt legt der Bericht auf die zunehmende Fragmentierung des Internets. Die Au­to­r*in­nen schreiben von einer Entwicklung weg von einem globalen Internet hin zu kontrollierbaren Onlineräumen. In mehr als zwei Dritteln der untersuchten Länder hätten die Behörden ihre juristische und gesetzgeberische Macht genutzt, um den Zugang zu ausländischen Informationsquellen zu beschränken.

Bekannte Beispiele sind die große Firewall von China, oder Russland, das nach dem Überfall auf die Ukraine etwa Facebook und Twitter gesperrt hat. Es gibt unzählige weitere. So sind in Indien über einhundert chinesische Plattformen gesperrt.

Doch diese Fragmentierung auf nationaler Ebene ist nur ein Teil eines globalen Kampfes um die Kontrolle des Internets. Angeführt von Moskau und Peking, hätten Diplomaten autoritärer Länder ihr Modell von Cybersouveränität bei multilateralen Institutionen vorangetrieben. Sie fordern das Recht der Länder, ihr ,,nationales Segment des Internets" zu kon­trollieren.

Noch stoßen sie damit bei den Mitgliedern der Internationalen Fernmeldeunion auf Widerstand, doch sie intensivieren ihre Bemühungen. Deshalb sei eine verstärkte Koordination der Demokratien essenziell für die Verteidigung eines freien und offenen Internets. Entsprechend positiv bewerten die Autorinnen des Berichts Initiativen wie den ,,Copenhagen Pledge on Tech and Democracy", die Regierungen, internationale Regulierungsbehörden, die Zivilgesellschaft und die Privaten zusammen bringen, um Menschenrechte im digitalen Zeitalter zu verteidigen.

Auch der Digital Service Act (DSA), ein umfassendes Gesetzesvorhaben der EU, sei eine vielversprechende Alternative zu Regulierungen, die auf Zensur basieren.

Jedoch beinhalte der DSA auch problematische ,,notice and action"-Maßnahmen, um Unternehmen dazu zu zwingen, Meinungsäußerungen, die in der EU oder den Mitgliedstaaten illegal sind, zu entfernen. Diese Instrumente könnten politisch missbraucht werden.

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Aus: " ,,Freedom on the Net"-Report: Das Internet wird immer unfreier" Clara Vuillemin (18. 10. 2022)
Quelle: https://taz.de/Freedom-on-the-Net-Report/!5885807/

Quoteuvw 19.10.2022, 00:42

"Einen Schwerpunkt legt der Bericht auf die zunehmende Fragmentierung des Internets. Die Au­to­r*in­nen schreiben von einer Entwicklung weg von einem globalen Internet hin zu kontrollierbaren Onlineräumen."

Sie meinen sicher sowas wie Facebook, Google, Apple, Amazon ... und alles, was jeweils dazugehört? Haben Sie schon mal versucht, ein Posting bei Facebook, Instagram o.ä. mit der Suchmaschine ihrer Wahl zu finden? Andersherum: Wieviel Aufwand betreiben Sie, um ihre Inhalte für den Meta-Konzern optimal bereitzustellen?

Das Internet ist zu großen Teilen mittlerweile unter staatlicher und privatwirtschaftlicher Kontrolle ("Plattformen"). In den autoritären Staaten unter staatlicher und in den weniger autoritären marktkonformen Staaten beides. ...


QuoteIngo Bernable, 10:11

@uvw Man sollte aber schon auch berücksichtigen, dass die Dominanz der Konzerne vor Allem einer fatalen Kombination von Bequemlichkeit und Netzwerkeffekten entspringt, während alle Standards auf denen das Netz aufbaut offen sind, so dass es durchaus möglich ist, sowohl bei der Entwicklung als auch bei der Anwendung, einen großen Bogen um die Big Five zu machen.


QuoteBolzkopf, 22:47

Das Internet wird nicht nur unfreier sondern auch immer kaputter.
Suchen sie mal nach Fantasiebegriffen und wundern sie sich was es da (angeblich) alles gibt ...
Klicken sie sich mal erfolgreich durch alle Cookiebanner ...
Versuchen sie mal nachzuvollziehen welche Webseiten sie mit dem letzten Klick wirklich besucht haben ...
Wundern sie sich über diese treffenden Suchwortergänzungen - und seien sie sich bewusst das jeder Mausschubs und jeder Tastendruck irgendwo registriert wird.
Und glauben sie nicht dass mit diesen Daten eh niemand was anfangen kann. Denn dann würde man ja nicht Abermilliarden für die Datensammelei investieren.
Es mag ja Tools geben, die einen beim Selbstschutz unterstützen, aber wissen sie was diese Tools noch zusätzlich so alles speichern und rumposaunen ?


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Textaris(txt*bot)

#17
Quote[...] Twitter verfügt offenbar über verschiedene Instrumente, um die Reichweite von einzelnen Tweets oder Accounts zu begrenzen. Das zeigen neue Enthüllungen aus den "Twitter Files", die die US-Journalistin Bari Weiss veröffentlicht hat. Die Informationen erhärten den von Nutzerinnen und Nutzern langgehegten Verdacht, dass Twitter bestimmte Inhalte mit sogenanntem "Shadow Banning" unterdrückt.

Weiss hat auf Twitter unter anderem einige Fotografien veröffentlicht, die offenbar eine interne Ansicht von Twitter-Accounts zeigen. Darauf ist zu sehen, wie Nutzerkonten unterschiedlich markiert sind. Neben Kategorien wie "verifiziert" oder "aktiv" gibt es auch Kennzeichen, die in einem offenbar moderativen Kontext stehen: "Recent Abuse Strike" (kürzlich wegen Verstoß gemaßregelt), "Trends Blacklist" (nicht in die Trends aufnehmen), "Do Not Amplify" (nicht verstärken), "Notifications Spike" (vermehrte Benachrichtigungen).

Das lässt den Schluss zu, dass dem Moderationsteam von Twitter Werkzeuge zur Verfügung stehen, die Reichweite von einzelnen Tweets oder ganzen Accounts zu beschränken und sie auf schwarze Listen zu setzen. Intern werde das als "Visibility Filtering" oder "VF" bezeichnet, berichtet Weiss [https://twitter.com/bariweiss/status/1601007575633305600].

Visibility Filtering sei eingesetzt worden, um die Suchergebnisse einzelner Nutzer zu manipulieren, heißt es weiter. Auch habe Twitter die Auffindbarkeit von Tweets oder deren Verbindung zu Hashtags beschränkt und verhindert, dass die Tweets bestimmter Nutzer in den Trends auftauchen. Ein Mitarbeiter habe Visibility Filtering als "machtvolles Werkzeug" bezeichnet, um die Sichtbarkeit auf mehreren Ebenen zu unterdrücken, twitterte Weiss.

Bei besonders prominenten Accounts mit hoher Reichweite werde die Moderation zur Chefsache: Eine Gruppe namens "Site Integrity Policy, Policy Escalation Support", zu der unter anderem die Chef-Justiziarin und der CEO gehörten, musste einbezogen werden.

Twitter hatte den von Nutzerinnen und Nutzern wiederholt geäußerten Verdacht, ihre Sichtbarkeit für andere sei künstlich unterdrückt worden, stets zurückgewiesen. "Machen wir nicht", heißt es in einem Blogposting der damaligen Chefin der Rechtsabteilung, Vijay Gadde, und des Produktchefs Kayvon Beykpour.

Vor allem wies das Twitter-Management dabei den Vorwurf zurück, politische Meinungsäußerungen einseitig zu moderieren. Auch Gründer und CEO Jack Dorsey, den das Twitter-Management zuletzt bei einigen Entscheidungen nicht mehr eingebunden haben soll, hatte die politische Neutralität betont. Die wenigen bisher aus den Twitter-Files bekannten Einzelheiten lassen daran zumindest berechtigte Zweifel.

Der von US-Journalist Matt Taibbi am Wochenende veröffentlichte erste Teil der "Twitter-Files" lässt den Schluss zu, dass beide großen politischen Parteien in den USA auf mehreren Ebenen direkten Einfluss auf Moderationsentscheidungen genommen haben. Taibbi spricht von einem deutlichen Übergewicht der moderativen Entscheidungen im Sinne der US-Demokraten. So sollen Vertreter des Democratic National Committees (DNC) unter anderem Tweets des konservativen Schauspielers James Woods gemeldet haben, woraufhin die Twitter-Moderation eingeschritten ist.

Nach einer Intervention hochrangiger Demokraten hatte Twitter kurz vor der US-Präsidentschaftswahl 2020 einen Artikel der Tageszeitung New York Post über eine mögliche Rolle des damaligen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden bei Geschäften seines Sohnes Hunter unterdrückt und den Account der Zeitung gesperrt. Begründet wurde die Sperre mit einem Verbot der Veröffentlichung von Daten, die aus Hacks stammen. Die Informationen der New York Post stammten nicht aus einem Hack, sondern von einem Laptop des Biden-Sohns, den ein Informant der Zeitung zugespielt hatte. Dorsey hatte die Maßnahmen später als Fehler bezeichnet.

Der neue Besitzer und CEO Elon Musk hat versprochen, mehr Transparenz herzustellen. Bisher erlauben die Twitter-Files aber nur einen kleinen Einblick: Taibbi und Weiss haben erst wenige Daten sichten und verifizieren können. Sie haben zugesagt, ihr Erkenntnisse zuerst auf Twitter zu veröffentlichen, sagt Weiss. Tiefere Einblicke sind für kommende Artikel angekündigt. Musk macht es schon mal spannend: Auf die Frage, ob auch Kandidaten für politische Ämter während eines laufenden Wahlkampfs von Twitter "visibilitätsgefiltert" worden seien, antwortet der neue Twitter-Chef: "Ja."

(vbr)


Aus: "Visibility Filtering: Twitter soll Inhalte und Nutzer gezielt unterdrückt haben" Volker Briegleb (09.12.2022)
Quelle: https://www.heise.de/news/Visibility-Filtering-Twitter-soll-Inhalte-und-Nutzer-gezielt-unterdrueckt-haben-7372555.html

https://www.heise.de/news/Musk-bewirbt-Veroeffentlichung-interner-Twitter-Dokumente-7365802.html

"Twitter: Rechtsextreme sehen in Musk Verbündeten, Antifaschisten werden gesperrt" Martin Holland (30.11.2022)
Während sich Elon Musk so äußert, dass Rechtsextreme sich darin wiedererkennen, fliegen Antifaschisten von Twitter. Die Nutzerschaft ändert sich wohl sichtlich. ... Wie Vice zusammenfasst, hat Elon Musk seit der Twitter-Übernahme ein Bild eines Rassisten verbreitet, der sich dafür ausgesprochen habe, dass Ex-Präsident Donald Trump mehr wie Adolf Hitler sein sollte, Videos des rassistischen Anschlags im neuseeländischen Christchurch zu spät gelöscht, ein antisemitisches Wortbild verwendet, ein beliebtes Meme der Rechtsextremen verbreitet und eine Phrase verwendet, die von Rechtsextremen als Lob für Adolf Hitler verstanden wurde. Hate Speech auf der Plattform werde allein wegen der zusammen gestutzten Moderationsteams weiter zunehmen und Rechtsextreme in den USA würden sich darüber freuen, dass sie ihre Botschaften auf einer Plattform mit deutlich größerer Reichweite verbreiten können, als das bislang der Fall war. ...
https://www.heise.de/news/Twitter-Rechtsextreme-sehen-in-Musk-Verbuendeten-Antifaschisten-werden-gesperrt-7361116.html

https://www.vice.com/en/article/n7zm9q/elon-musk-twitter-nazis-white-supremacy?utm_source=pocket_saves

"Studie belegt: Ab 2019 gewannen Klimaskeptiker auf Twitter die Oberhand" Hanns-J. Neubert (09.12.2022)
Klimaforscher ziehen sich von Twitter zurück. Sie haben die Nase voll von Desinformationen und Hassreden. ... Bei der Glasgower Konferenz 2021 waren es schon 56 Influencer, die die Szene der Klimawandelleugner mit ihren Ergüssen versorgten. Dazu gehörten auch Medienorganisationen, Journalisten und Politiker, wie die rechtskonservative, verschwörungstheoretische US-Mediengruppe Newsmax, der rechtsgerichtete Newsmax- und The-Daily-Caller-Kolumnist Benny Johnson und der rechtskonservative britische Abgeordnete Steve Baker.
Nach dem Besitzerwechsel bei Twitter konstatierte der britische Guardian jüngst eine weitere Eskalation der klimaskeptischen Aktivitäten. Denn Elon Musk, seit Oktober 2022 der neue Eigentümer der Plattform, hat die Content-Management-Teams entlassen, die Nachhaltigkeitsabteilung der Plattform aufgelöst und die Sperren für mehrere prominente Klimaskeptiker mit Millionen von Anhängern aufgehoben. Einigen Klimaexperten war das zu viel, wie sie der Zeitung berichteten. ...
https://www.heise.de/hintergrund/Studie-belegt-Ab-2019-gewannen-Klimaskeptiker-auf-Twitter-die-Oberhand-7370953.html

...

Quotefrueherwarallesbesser, 09.12.2022 20:30

Big Tech hat zu viel Macht

Generell sollten Social Media Unternehmen zu Neutralitaet und Meinungsfreiheit verpflichtet werden.
Gab es nicht mal die Forderung Algorythmen transparent zu gestalten ?


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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Im Frühjahr war die Debatte um dezentrale Netzwerke eher theoretischer Natur und fand in kleinen Nerd-Kreisen statt. Die Ankündigung von Elon Musk im April, Twitter zu übernehmen, brachte die notwendige Aufmerksamkeit, um über Alternativen zu sprechen. Und zwar nicht die üblichen Alternativen im Überwachungskapitalismus – yet another kommerzielle Plattform, die früher oder später genauso enden würde wie Twitter.

Sondern es gibt mit Mastodon und dem Fediverse funktionierende Alternativen, die ganz anders aufgesetzt waren: mehr Wikipedia als Twitter, dezentral organisiert und betrieben, in der Regel ehrenamtlich verwaltet und ohne Interesse, die Nutzer:innen so umfassend wie möglich zu überwachen zu können, um Profile für zielgerichtete Werbung zu bilden.

Gewiss, es gab in den vergangenen 15 Jahren Social-Media-Geschichte einige Wanderwellen. Aber nur wenige waren erfolgreich. Das lag auch daran, dass Netzwerk- und Lock-In-Effekte eine große Rolle dabei spielen, wann wir ein Soziales Netzwerk als wertvoll begreifen. Wenn fast alle auf WhatsApp sind, muss man da wahrscheinlich auch sein, selbst wenn man Signal besser und sinnvoller findet.

Die bislang letzte erfolgreiche Wanderwelle erfolgte einige Zeit nach dem Kauf von MySpace durch Rupert Murdoch im Jahr 2005. Das lag auch daran, dass mit Facebook in den darauffolgenden Jahren langsam eine Alternative heranwuchs, die es MySpace-Nutzer:innen einfacher machte, zu wechseln. Die Plattform wurde damals aus Kostengründen ausgeblutet, Innovationen blieben aus, Facebook wurde spannender. 2011 war MySpace dann weitgehend Geschichte.

Aber Facebook gehörte schon damals Mark Zuckerberg, der auch heute noch die Mehrheit der Stimmanteile im Mutterunternehmen Meta hält. Und mit vielen seiner Entscheidungen wurde Facebook zunehmend evil, gerade die Änderungen der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zum Nachteil der Nutzer:innen führten allzu oft dazu, dass diese sich über Alternativen Gedanken machten.

Eine dieser Alternativen entstand genau dann, als Facebook mal wieder einseitig die Regeln änderte. In New York hatten sich damals vier Studenten gefunden, die 2010 hochmotiviert ein alternatives Soziales Netzwerk entwickelten. Per Crowdfunding sammelten sie Geld und weil das parallel zum Facebook-Aufreger lief, erhielten sie viel Resonanz und das Crowdfunding hatte weit mehr Erfolg als erhofft. Das Diaspora-Projekt wurde gegründet und weckte Hoffnungen auf eine bessere Social-Media-Welt.

Aber die Erwartungen waren zu hoch für die vier Studenten. Ihre Idee war es, etwas Geld zu sammeln, um in den Semesterferien Miete und Pizza bezahlen zu können und gemeinsam an einem Open-Source-Projekt zu arbeiten. Unterstützer:innen waren daraufhin enttäuscht, Diaspora geriet zu kompliziert und war daher auch keine wirkliche Alternative zu Facebook. Aber dennoch wurde das alternative Soziale Netzwerk zu einer der wichtigsten Inspirationen für das, was später als Fediverse bekannt wurde.

Daneben gab es noch zahlreiche weitere kleine Wellen. Google+ löste eine im Sommer 2011 aus. Und  im Jahr 2014 geriet Ello für ein paar Tage zum Hoffnungsträger, bis aber auch dieses Netzwerk zum Datenfriedhof wurde.

Im Jahr 2016 stand Twitter dann erstmals zum Verkauf. Viele Nutzer:innen verbanden mit dem Hashtag #buytwitter die Hoffnung, dass man gemeinsam die geliebte Plattform kaufen und betreiben konnte. Eine bessere digitale Welt schien tatsächlich möglich, es gab Debatten um ein Genossenschaftsmodell und Platform Cooperativism. Aber die  Hoffnungen erfüllten sich nicht, denn die für den Kauf benötigte Milliardensumme erscheint per Crowdfunding nicht realistisch.

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Wir haben in den vergangenen 15 Jahren auf netzpolitik.org sehr oft dafür argumentiert, dass wir dezentrale und offene Kommunikationsinfrastrukturen brauchen, um eben nicht von Unternehmen und ihren Entscheidungen abhängig zu sein.

Wir hatten dabei meist Mark Zuckerberg im Kopf, der als Einzelperson für mittlerweile Milliarden Menschen eigenmächtig Entscheidungen treffen kann. Und wir dachten an Firmen, die vor allem mit dem Ziel betrieben werden, uns so umfassend wie möglich zu überwachen, um uns dann gezielt auf uns zugeschnittene Werbung ausspielen zu können.

Wir wussten nicht, dass es mit Elon Musk noch viel schlimmer kommen würde, der tagtäglich eigenmächtig Regeln nach Belieben ändert und willkürlich anwendet. Und der gleichzeitig eine ideologisch gefärbte Diskursverschiebung nach Rechtsaußen massiv betreibt. Da ist es auch egal, ob er selbst daran glaubt und politisch motiviert handelt oder nur denkt, dass er damit mehr Geld verdienen kann.

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Aus: "Irgendwas mit Internet: Twitter vs. Mastodon – ein Rück- und Ausblick" Aus einer Kolumne von Markus Beckedahl (25.12.2022)
Quelle: https://netzpolitik.org/2022/irgendwas-mit-internet-twitter-vs-mastodon-ein-rueck-und-ausblick/

https://netzpolitik.org/2022/twitter-exodus-links-zu-mastodon-twittern-verboten/

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Quote[...] Vor der Übernahme durch Elon Musk habe Twitter – anders etwa als Facebook – seine politische Verantwortung wahrgenommen und sei gegen Desinformation vorgegangen. Umso besorgniserregender sei die aktuelle Entwicklung.

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Aus: ",,Twitter verzerrt die Wirklichkeit": Die ersten deutschen Politiker hören auf zu zwitschern" Karin Christmann (12.11.2022)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/twitter-und-der-politik-betrieb-vorerst-geht-das-zwitschern-weiter-8865658.html

QuoteMadame_X
12.11.22 18:48

@Bragerio am 12.11.22 14:31

Diese Blasenbildung ist ein Problem ... Man wähnt sich in der Mehrheit, weil alle Beteiligten das Gleiche vertreten. Dabei ist es nur ein Gruppe, zusammengesetzt aus gleich Denkenden. Das Diskutieren mit gegensätzlichen Standpunkten findet man nicht mehr oft, jeder sitzt in seiner Gruppe fest.


QuoteVolBla
12.11.22 13:13

Alle Hochkulturen dieser Welt in der Historie sind weniger an äußeren Einflüssen zugrunde gegangen als von innen heraus zerfallen. Man wird dereinst die Wirrnis des Internets (und dabei eben auch Twitter) für den Zerfall unserer Gesellschaft rückblickend, historisierend feststellen. Versprochen.


QuoteSchartinMulz
12.11.22 13:03

Es hat ja schon etwas unfreiwillig amüsantes, wenn Menschen, die einen nicht unerheblichen Teil ihrer Zeit mit dem Schreiben von Kommentaren in Leserforen verbringen, sich über Menschen mokieren, die ständig ihre Meinung über Twitter hinausposaunen müssen.


QuoteEstevan
12.11.22 15:48
@SchartinMulz am 12.11.22 13:03

Da passt es ja ganz gut, dass auch sie ihre Zeit mit dem lesen und beantworten solcher Diskussionen "verplempern".


QuoteWaedliman
12.11.22 11:33

Ich habe den Zwang, permanent irgendwas in die Welt zu zwitschern, noch nie verstanden. So gesehen ist es mir natürlich gleichgültig, ob Twitter überlebt oder nicht, aber schön wäre es, wenn Menschen sich mal wieder in die Augen schauen würden, wenn sie miteinander "reden".


Quoteyoda
12.11.22 10:34
@margin_call am 11.11.22 19:17

Abkassieren

Kostet Twitter was?


Quotemargin_call
12.11.22 12:22
@yoda am 12.11.22 10:34

Ja. Es kostet dasselbe wie Facebook und Instagram. Sie bezahlen dort mit ihren persönlichen Daten und bald auch noch mit Ihrer Kreditkarte.


Quoteisetschech
12.11.22 12:57
@margin_call am 12.11.22 12:22

Am schlimmsten ist: Man bezahlt mit wertvoller Lebenszeit!


QuoteZehlendorfer
12.11.22 12:50
@yoda am 12.11.22 10:34

    Kostet Twitter was?

Als Nutzer kostet es Sie auf Dauer den Verstand ...


...

-

QuoteGelöschter Nutzer 107415 #24

Man muss einfach lernen, mit diesen neuen Medien, mit diesen neuen Arten der sozialen Interaktion umzugehen. Sie verraten immerhin, was die Menschen wirklich denken und gut finden. Das ist z.B. in dem massiv zensierten Kommentarbereich hier nicht möglich, so dass Menschen mit der hier erwünschten Gesinngung den Eindruck gewinnen könnten, alle Welt sei ihrer Meinung.


QuoteElisabeth 20 #24.8

Was für eine beängstigende Vorstellung, ein Medium, bei dem Algorithmen bestimmen, was mir angezeigt wird, als Mittel zur politischen Teilhabe zu erklären.

Ein Medium, welches darauf ausgelegt ist, möglichst viele Klicks zu generieren, um dann möglichst viel Werbung zu zeigen und mit den gesammelten User-Daten Profit zu machen, ist doch kein neutraler Raum.

Twitter ist nicht neutral, Twitter ist manipulativ.
Twitter zielt darauf ab, den User möglichst tief in seine Blase zu ziehen, weil es dann die meisten Daten gibt.


QuoteGelöschter Nutzer 107415 #24.10

"Was für eine beängstigende Vorstellung, ein Medium, bei dem Algorithmen bestimmen, was mir angezeigt wird, als Mittel zur politischen Teilhabe zu erklären."

Sie wissen doch, dass das so ist, also können Sie kompetent damit umgehen. Außerdem stört es Sieja nur, wenn es nicht ihre eigen Meinung ist, die zu Blase wird! -Etwa nicht?

"Twitter ist nicht neutral, Twitter ist manipulativ."
Mag sein, aber dass sind sämtliche traditionellen Medien doch auch! Wir müssen eben nur lernen, dass das so ist und dass ein Nobody den Nerv der Zeit u.U. mindestens genau so gut treffen kann, wie die privilegierten Schichten, die früher alleinigen Zugang zur Massenkommunikation hatten.


QuoteElisabeth 20 #24.12

In traditionellen Medien gibt es Berichterstattung, Meinungen und Kommentare.
So kann man sich alle Seiten einer Debatte anschauen.

Auf Twitter gibt es nur Dauerempörung in 280 Zeichen.

Gehen Sie auf Tagesschau de. Da kommt keine Werbung.


QuoteGelöschter Nutzer 107415 #24.14

Bei den traditionellen Medien bin ich aber völlig wehrlos den Behauptungen einer privelegierten Klasse ausgeliefert, die sich ziemlich oft als Lügen, Aufschneiderei und ungedeckte Schecks und inkompetentes Gesülze herausstellen. Der Reporter tut dann so, als ob das alles ernstgenommen werden muss, kriecht den Bonzen vielleicht noch in den Arsch, damit er das nächste Interview mit ihm machen kann usw.usw. Erzähl mir doch keiner, dass es da nicht um egoistische Interessen geht!

Sehen Sie auch mal, dass es für so einen Journalisten bzw. eine Zeitung immer bequemer ist, wenn es nur wenige verschiedene Meinungen gibt, weil man da nach einer Weile nur noch vorgestanztes Zeug labern braucht - die sogenannten Narrative. Die haben gar kein vernünftiges Interesse an Meinungsvielfalt!

Mich persönlich stört ja Werbung gar nicht so sehr - jedenfalls sehe ich meine Meinungsbildung durch sie nicht gefährdet.


QuoteElisabeth 20 #24.16

,, die sich ziemlich oft als Lügen, Aufschneiderei und ungedeckte Schecks und inkompetentes Gesülze herausstellen."

Bei Twitter natürlich nicht, niemals.


QuoteGelöschter Nutzer 107415 #24.20

Was ich meine ist nicht unbedingt meine persönliche unmittelbare Reaktion, sondern, dass im Prinzip jeder die technische Möglichkeit hat, seine Meingung zu einer wichtigen Meinung zu machen.

Und wie oben schonmal angedeutet, gibt es keinen Anlass, an der Repräsentativität der Twitter-User zu zweifeln. Wahlumfragen, die u.U. zeimlich präzise sind, werden mit sehr, sehr viel weniger Personen durchgeführt. Auf der anderen Seite läuft man mit dieser Haltung wie gesagt Gefahr, die Realitäten zu verkennen.

Ein sehr lehrreiches Buch zu diesem Thema ist übrigens "Everybody Lies: Big Data, New Data, and What the Internet Can Tell Us About Who We Really Are" von Seth Stephens-Davidowitz. Er zeigt da u.a. dass man Trumps Abschneiden gegen Clinton Bundesstaat für Bundesstaat hätte vorhersehen können, wenn man bestimmte soziale Netztwerke ernst genommen hätte.

Und dann ist es ja evtl.eine Illussion, dass eine eingehende Analyse ausgerechnet zu Ihren Meinungen führen muss! In der Politik hat ja fast alles normativen Charakter, da gibt es kein wahr und falsch, sondern oft nur "das will ich" und "das will ich nicht". Die Welt mit bestimmten persönlichen Interessen als Prämissen, die Sie evtl. nicht teilen, zu analysieren, kann ebenso komplex sein.


QuoteGelöschter Nutzer 107415 #24.25

> Und nein, die "neuen Medien" "verraten" Gott sei Dank, nicht, "wie die Menschen wirklich denken"!

Doch, doch,das tun sie. Und es gefährlich, das zu ignorieren.

> Und, nebenbei, es wird niemand gezwungen, hier zu kommentieren, genauso wenig wie auf Twitter.

Die Inquisition oder Stalin hätte es nicht viel anders ausgedrückt.


QuoteGelöschter Nutzer 107415 #24.26

Sie wissen ja gar nicht, wo Ihre Freunde überall die Sau rauslassen ;-) Wussten Sie, dass die meistbesuchtesten Interseiten der Welt Pornoseiten sind? Das ist mit Stephens-Davidowitz' "Everybody lies" gemeint.


...

QuoteElisabeth 20 #24.36

... Wenn Sie ernsthaft glauben, ~300 Kommentatoren auf einer Online- Plattform einer Wochenzeitung wären repräsentativ für die Gesellschaft, dann sollten Sie sich vielleicht mal mit Statistik befassen.

Wenn Foren wie ZON so stark repräsentativ sind, wie Sie glauben, wieso gibt es dann so viele SUV- Fahrer, während diese hier auf ZON ein beliebtes Feindbild sind?

Welche Gruppe, die bei Twitter zu welchem Thema postet ist denn Ihrer Meinung nach repräsentativ? Die Gruppe, die unter Kommentaren gegen Z.B. Einwanderung postet, oder eher diejenige, die bei einem Thread über die Vorzüge von veganer Ernährung kommentiert?


QuoteGelöschter Nutzer 107415 #24.37

300 Kommentatoren sind recht repräsentativ für die Leser eines betreffenden Artikels. Im Prinzip zumindest.

Da muss man aber in Rechnung stellen, dass durch die starke Zensur einige nur sagen, was sie sagen sollen und nicht was sie denken, dass viele Kommentare gelöscht werden oder Nutzerkonten gesperrt werden und es nicht alle so unterhaltsam wie ich finden, sich einen neues Konto nach dem anderen zu erstellen.

Kurz gesagt, die Kommentare gaukeln Ihnen eher ein in Ihrem Sinne zu positives Bild vor. Wenn Sie hier eine Schmähung gegen Scholz oder Esken finden, zählt das zehnfach. ("Pfeife" ist übrigens erlaubt, "Flasche" hab ich nicht gesehen.)

Ich bin nicht auf Twitter aktiv und kenn mich da gar nicht aus. Ich gehe aber davon aus, dass die vielen Follower, die Trump hat, sehr repräsentativ sind. Er hat die letzte Wahl nur sehr knapp verloren, vielleicht auch nur, weil die Demokraten diesmal nicht ganz so ignorant rangegangen sind, wie bei der Wahl zuvor.


QuoteElisabeth 20 #24.45

[Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen Meinung und Hass oder Hetze. Das scheint aber vielen, die von Zensur fabulieren, nicht klar zu sein.]


So, ich bin dann mal in der realen Welt.
Ich wünsche Ihnen einen guten Rutsch!


QuoteGelöschter Nutzer 107415 #24.47

Ich wünsche das selbe! ;-)


QuoteGelöschter Nutzer 107415 #24.54

Hängt von der Definition ab. Für mich ist "Hass" mit einem erhöhten Maß von aggressiven Gefühlen verbunden und "Hetze" ist gewissermaßen die Anstachelung zu solchen Gefühlen. Nicht jede ablehnende Haltung - nicht jedes "Nein!" - ist aber "Hass".

Ob jemand wirklich hasst, ist auch kaum belegbar und kann daher mit einer gewissen Beliebigkeit einfach unterstellt werden. Wenn jemand -ganz emotionslos - sagt "ich will nicht, dass Deutschland muslimisch wird", wird das aber nach meiner Beobachtung schon per se als Hass und Hetze ausgelegt und unter diesem Vorwand werden dann Menschen mit dieser Meinung mundtot gemacht oder wenigstens als Ausländerfeinde diffamiert.

Es ist aber auf der anderen Seite durchaus erlaubt, z.B. den Sachsen den Anschluss an Russland nahezulegen oder ähnliche Sachen - hab hier sowas schon Dutzende Male gelesen. Oder Elon Musk als Faschisten zu verunglimpfen, geht hier locker durch.

So ganz klar sind die Grenzen keineswegs!


QuoteSemon #31

Au weia, wie kann man nur TWITTER als den "Draht zum Volk" ansehen? Da sind schon seit 10 Jahren nur noch Selbstdarsteller, Politiker und Journalisten unterwegs.


QuoteFriesenelfe #35

Solange ein Mensch Nutzen von Twitter hat, findet er das ganz toll. Denn er kann sich freuen, dass seine Ansichten und Thesen überall in der breiten Masse Anklang finden.
Da mittlerweile kein "Stein mehr auf dem anderen bleibt" und viele Menschen ( endlich !) bemerkt haben, dass es ja zig laute fake news , Verschwörungstheorien etc gibt und man selbst Wissenschaft teils nach ideologischen Maßstäben in die Welt posaunt ,findet, und gerade Politiker wie Trump den sozialen Medien geschadet hat und es den Menschen immer schwerer fällt zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden, nun ein Aufwachen stattfindet.
Plötzlich entdecken wir " Nachhaltigkeit" im persönlichen Gespräch. Und das ist gut so.
Einige wollen es nicht merken, doch die sind längst drin im Strudel der angesagten Blase und Trends.
Gestern stolperte ich über einen Satz " ,,Das größte Problem in der Geschichte der Menschheit ist, dass die Leute, die die Wahrheit kennen, den Mund nicht aufmachen. Und diejenigen, die von nichts eine Ahnung haben, bekommt man einfach nicht zum Schweigen."


...

https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-12/twitter-krise-kommunikation-kevin-kuehnert-saskia-esken-stephan-weil?page=6#comments

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Quote[...]  Seit 2019 ist Werbung für politische Inhalte bei der Plattform untersagt. Nun will Twitter die Richtlinien nach eigenen Angaben an die des Fernsehens angleichen.

... Twitter lockert seine Richtlinien für politische Werbung. Der US-Kurzmitteilungsdienst werde seine Politik für "Werbung zu sozialen Belangen" in den Vereinigten Staaten überarbeiten und "an die des Fernsehens und anderer Medien angleichen", teilte das Unternehmen von Neueigentümer Elon Musk mit.

...


https://www.zeit.de/digital/2023-01/twitter-werbung-politik-richtlinien (4. Januar 2023)

QuoteOhOhOhj #6

Hier sieht man die Auswüchse des Kapitals


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] "Gestern war – laut Elon – mein Datenlimit um 7:51 Uhr verbraucht. Von da an ging nix mehr", schreibt eine österreichische Twitter-Nutzerin Montagfrüh. Damit wird die Drohung von Elon Musk auch im deutschsprachigen Raum Realität, die Nutzung von Twitter für Nichtzahler künftig massiv einzuschränken. Das Netz kocht, aber die wenigsten wissen, wo sie alternativ hingehen sollen.

Als der US-Unternehmer, Tesla-Chef und omnipräsente Selbstdarsteller Elon Musk vor rund acht Monaten den Nachrichtendienst nach diversen Eskapaden tatsächlich kauft, ist der Aufschrei in der Twitter-Bubble groß. Man wolle Alternativen suchen und den Egozentriker nicht mit der eigenen Anwesenheit unterstützen. Viel passiert ist allerdings nicht. Plattformen werden genannt, auf die man wechseln könnte. Mastodon etwa, Bluesky und andere. Tatsächlich steigen die Nutzerinnenzahlen auf Twitter. Auch, weil Musk, nachdem er große Teile des Twitter-Teams entlassen hat, viele gesperrte und umstrittene Personen wie Donald Trump oder Andrew Tate als Verweilzeit-Magneten zurückholt. Auch in dieser Zeit ist der Aufschrei groß, ein Kommentar im STANDARD spricht von "Twitter wird zur Kloake", wirklich abgewandert wird dennoch nicht.

Nicht nur ein Twitter-Nutzer fasst diese ambivalente Stimmung am Montag erneut zusammen: "Dieses Phänomen ist einfach absolut grotesk. Wie oft wollten alle schon von der gruseligen Plattform Twitter weg, sind dann aber doch geblieben?"

Mit den neuen Beschränkungen könnte Musk, der ja offiziell nicht mehr CEO von Twitter ist, die Benutzbarkeit des Services für viele unmöglich gemacht haben. Neben der eingangs erwähnten Nutzerin jammern viele über nicht dargestellte Tweets, es häufen sich Fehlermeldungen wie "Etwas ist schiefgelaufen. Probiere es erneut zu laden".

Sofort sind auch Verschwörungstheorien publiziert, etwa dass es sich um "Versicherungsbetrug" handle, was Musk hier macht: "Elon versucht, Twitter zu zerstören, um sich sein Geld von der Versicherung auszahlen zu lassen!" Einige stellen sich die Unterhaltung zwischen Musk und seinen Beratern vor, wie man mehr Werbekunden gewinnen will, gleichzeitig aber ein Leselimit einführt.

Am Montag veröffentlicht der deutsche Rivale Mastodon erneut eine Erfolgsmeldung. "Es sieht so aus, als ob die Zahl der aktiven Nutzer von Mastodon in den letzten Tagen um 110.000 gestiegen ist", schreibt Eugen Rochko, der Gründer des deutschen Kurznachrichtendienstes: "Ich würde es vorziehen, wenn Elon Musk seine Internet-Seite während der Arbeitswoche zerstören würde. Dies ist nicht das erste Mal."

Tatsächlich gab es einen solchen Zustrom in Richtung Mastodon schon vor ein paar Monaten – wirklich als Alternative durchgesetzt hat sich der Service aufgrund diverser Probleme allerdings nicht. Für Österreich ist ohnehin die Relevanz von Twitter und möglichen anderen Services dieser Art überschaubar. Rund 200.000 Nutzerinnen aus der Alpenrepublik sind laut Schätzungen aktuell auf Twitter aktiv.

Die Plattform zu verlassen ist selbstverständlich schwierig. Viele der Nutzerinnen haben über Jahre Communitys aufgebaut, Reichweite und natürlich auch ein Netzwerk, das sie täglich konsumieren. Gerade was Trends angeht, hat sich Twitter in den letzten Jahren zu einer wichtigen Austauschzentrale entwickelt. Gut, die Rückholung von Frauenhassern, Rassisten und Nazis wäre eigentlich Grund genug, sich eine Alternative zu suchen, aber offenbar war für viele der Leidensdruck noch ertragbar.

Nun muss man abwarten, wie es weitergeht. Meta arbeitet bekanntermaßen an einem direkten Konkurrenten, schweigt sich allerdings noch über ein mögliches Veröffentlichungsdatum aus. Dieser Tage wäre sicher ein guter Zeitpunkt, eine solche Alternative auf den Markt zu werfen, speziell, wenn man ein Tech-Riese wie Meta ist. Vor wenigen Stunden ist Musk nämlich schon wieder ein wenig zurückgerudert und hat die zunächst kommunizierten 600 anzeigbaren Tweets auf 1.000 erhöht.

Und was sagt Österreichs Twitter-König Armin Wolf? Dieser gab in den letzten zwei Tagen kein Kommentar zur Causa ab, obwohl er mit knapp 600.000 Followern die größte Reichweite im Land hat. Seine einzige Reaktion bisher war ein Retweet seines Kollegen Thomas Langpaul. Dieser schrieb am Samstag: "Haha! Twitter wird rationiert! Starke DDR vibes...". (aam, 3.7.2023)


Aus: "Twitter mit "DDR-Vibes", aber bis auf Frust wirkt das Netz ratlos" (3. Juli 2023)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/3000000177285/twitter-ddr-vibes-frust-alternativen

Quote
fijant _

Das Standardforum kann nun endlich twitter ablösen.


QuoteFlorian_G.

'Nicht nur ein Twitter-Nutzer fasst diese ambivalente Stimmung am Montag erneut zusammen: "Dieses Phänomen ist einfach absolut grotesk. Wie oft wollten alle schon von der gruseligen Plattform Twitter weg, sind dann aber doch geblieben?"' -schreibt er auf Twitter.

Ich mein...finde den Fehler.

...



Quotekanawasweribin

Liest sich wie von einem Junkie...


QuoteDerEwigeRaisonneur

"Das Netz kocht" - ist das die Nachfolgeshow von "Das Netz lacht"?


...

Textaris(txt*bot)

#20
Cory Doctorow (* 17. Juli 1971 in Toronto, Ontario) ist ein kanadischer Science-Fiction-Autor, Journalist und Blogger. Im Jahr 2000 wurde er mit dem John W. Campbell Award für den besten Nachwuchsautor ausgezeichnet. Seine Bücher veröffentlicht er unter einer Creative-Commons-Lizenz.
https://de.wikipedia.org/wiki/Cory_Doctorow


Quote[...]  Ein Essay von Cory Doctorow (10. März 2024)

Cory Doctorow ist Sonderberater der Electronic Frontier Foundation und Gastprofessor für Computerwissenschaften an der Open University. Sein neuer Roman The Bezzle ist im Februar bei Head of Zeus erschienen. Der vorliegende Text ist eine überarbeitete Fassung der Marshall McLuhan Lecture, die er im Januar in der kanadischen Botschaft in Berlin gehalten hat. Der Beitrag wurde zuerst auf Englisch in der Financial Times abgedruckt.

Im vergangenen Jahr habe ich den Ausdruck enshittification geprägt, man könnte es wohl mit Verschlimmscheißerung übersetzen, um zu beschreiben, wie Onlineplattformen verfallen. Das obszöne kleine Wort stieß auf ein großes Publikum; es traf den Zeitgeist. Die American Dialect Society wählte es sogar zu ihren Wörtern des Jahres 2023 (was vermutlich bedeutet, dass mir nun ein Kackhaufen-Emoji auf meinem Grabstein sicher ist).

Was also ist Verschlimmscheißerung, und warum hat der Ausdruck gezündet? Dahinter steckt meine Theorie, wie das Internet von Plattformen kolonisiert worden ist, warum all diese Plattformen so schnell und so konsequent schlechter werden, warum das von Bedeutung ist und was wir dagegen tun können. Wir alle durchleben eine große Verschlimmscheißerung, durch die sich die Dienste, die uns wichtig sind und auf die wir uns verlassen, in riesige Scheißhaufen verwandeln. Das ist frustrierend. Das ist zermürbend. Es ist sogar erschreckend.
Der Grundgedanke der Abwärtsentwicklung, also ebenjener Verschlimmscheißerung, trägt meiner Meinung nach viel zur Erklärung dieser Entwicklung bei. Er führt uns aus dem mysteriösen Reich der "großen Kräfte der Geschichte" in die materielle Welt spezifischer Entscheidungen, die von realen Menschen getroffen werden; Entscheidungen, die wir rückgängig machen können, und Menschen, deren Namen und Mistgabelgrößen wir herausfinden können.

Der Ausdruck enshittification benennt das Problem und schlägt eine Lösung vor. Er besagt nicht einfach nur, dass alles immer schlechter wird, obwohl ich kein Problem damit habe, wenn man ihn so verwenden will. (Es ist ein englisches Wort. Wir haben keinen Rat für englische Rechtschreibung. Englisch ist eine gesetzesfreie Zone. Flippt aus, meine Kerle.) Aber wenn Sie es genauer wissen wollen, lassen Sie uns anschauen, wie Verschlimmscheißerung funktioniert. Es ist ein dreistufiger Prozess: Erst sind Plattformen gut für ihre Nutzer. Dann missbrauchen sie ihre Nutzer, um ihren Wert für ihre Geschäftskunden zu steigern. Schließlich missbrauchen sie genau diese Geschäftskunden, um sich den ganzen Wert zurückzuholen. Und dann folgt ein viertes Stadium: Sie sterben.

Facebook ist aus einer Website hervorgegangen, die entwickelt wurde, um die sexuelle Attraktivität von Harvard-Studentinnen zu bewerten – und danach ging es nur noch bergab. Anfangs war Facebook nur für US-Hochschüler und Highschool-Gänger zugänglich. Dann öffnete es sich für das allgemeine Publikum mit einer wirkungsvollen Botschaft: Ja, ich weiß, ihr seid alle auf MySpace. Aber MySpace gehört einem Milliardär, der euch zu jeder Stunde ausspioniert. Meldet euch bei Facebook an, wir werden euch niemals ausspionieren. Kommt und erzählt uns, wer euch in dieser Welt wichtig ist.

Das war die erste Phase. Facebook hatte einen Überschuss, das Geld seiner Investoren, und verteilte den dadurch generierten Mehrwert unter seinen Endnutzern. Diese banden sich dann an Facebook. Wie den meisten Technologieunternehmen nutzten auch Facebook die Netzwerkeffekte. Ein Produkt profitiert von Netzwerkeffekten, wenn es sich allein dadurch verbessert, dass mehr Menschen es verwenden. Sie gingen auf Facebook, weil ihre Freunde dort waren, dann haben sich andere angemeldet, weil sie da waren.
Doch Facebook zeichnete sich nicht nur durch starke Netzwerkeffekte aus, sondern auch durch hohe Transaktionskosten bei einem Wechsel. Wechselkosten sind all das, was man aufgeben muss, wenn man ein Produkt aussortiert oder sich von einem Dienst abmeldet. In Facebooks Fall waren das all die Freunde, denen man dort folgte und die einem folgten. Theoretisch hätte man sie alle zurücklassen können und woanders hingehen; praktisch war man gelähmt vom Problem kollektiven Handelns.
Denn es ist gar nicht so leicht, viele Menschen dazu zu bringen, zur selben Zeit dasselbe zu tun. Facebooks Endnutzer nahmen sich im Prinzip gegenseitig als Geiseln, was sie an die Plattform fesselte. Facebook nutzte diese Geisellage aus, entzog den Nutzern den Mehrwert und teilte ihn unter zwei Gruppen von Geschäftskunden auf: Werbekunden und Verlage.

Den Werbekunden sagte Facebook: Erinnert ihr euch noch daran, wie wir diesen Tölpeln gesagt haben, wir würden sie nie ausspionieren? Nun ja, wir tun es doch. Und den Zugang zu diesen Daten verkaufen wir euch in der Form fein abgestimmter Zielgruppenansprache. Eure Anzeigen sind spottbillig, und wir scheuen keine Kosten, um sicherzustellen, dass die von euch bezahlte Anzeige auch von einem echten Menschen gesehen wird.
Den Verlagen sagte Facebook: Erinnert ihr euch noch daran, wie wir diesen Tölpeln erzählt haben, wir würden ihnen nur zeigen, was sie von sich aus sehen wollen? Ha! Ladet kurze Auszüge eurer Website hoch, verlinkt sie, und wir werden sie Nutzern in die Augen schmieren, die nie darum gebeten haben, sie zu sehen. Wir bieten euch einen kostenlosen Traffic-Trichter, der Millionen Nutzer auf eure Webseite bringt, die ihr nach Belieben monetarisieren könnt.
Und so banden sich auch Werbekunden und Verlage an die Plattform.

Nutzer, Werbekunden, Verlage – alle waren in Facebook eingeschlossen. Was bedeutete, dass es Zeit für die dritte Phase der enshittification war: ihnen allen den Mehrwert zu entziehen und ihn an die Facebook-Aktionäre zu verteilen.
Für Nutzer bedeutete dies, dass der Anteil an Inhalten von Profilen, denen man folgte, auf eine homöopathische Dosis heruntergefahren und die entstandene Leere mit Anzeigen sowie bezahlten Inhalten von Verlagen gefüllt wurde. Für Werbekunden bedeutete das steigende Preise und eingeschränkte Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung, sodass sie am Ende viel mehr für Anzeigen zahlten, die wahrscheinlich viel seltener wahrgenommen wurden. Für Verlage bedeutete es, dass die Reichweite ihrer Posts algorithmisch heruntergeregelt wurde, wenn sie nicht einen immer größeren Anteil ihrer Artikel in den Auszug aus ihrer Website aufnahmen. Und dann begann Facebook, Verlage dafür zu bestrafen, wenn sie auf ihre eigene Website verlinkten, sodass sie eingepfercht waren und vollständige Texte ohne Links posten mussten, also zu Warenanbietern für Facebook wurden und für ihre Reichweite wie für ihre Monetarisierung gänzlich auf das Unternehmen angewiesen waren.
Wenn irgendeine dieser Gruppen protestierte, wiederholte Facebook einfach das Mantra, das jede Techführungskraft in ihrem Darth-Vader-MBA lernt: "Ich habe den Vertrag geändert. Hoffe und bete, dass ich ihn nicht noch weiter abändere."

Nun tritt Facebook in die gefährlichste Phase der Verschlimmscheißerung ein. Es will sämtlichen verfügbaren Mehrwert abziehen und gerade genug Restwert in dem Dienst belassen, um die Endnutzer aneinander und die Geschäftskunden an die Endnutzer zu binden, alles andere geht an die Aktionäre. (Erst kürzlich kündigte das Unternehmen eine vierteljährliche Dividende von 50 Cent pro Aktie sowie eine Erhöhung seiner Aktienrückkäufe um 50 Milliarden Dollar an. Die Aktienkurse stiegen sprunghaft.)
Doch ist das ein sehr fragiles Gleichgewicht, denn der Unterschied zwischen "Ich hasse diesen Dienst, kann mich aber nicht dazu durchringen, mich abzumelden" und "Um Himmels willen, warum habe ich so lange gebraucht, um mich abzumelden?" ist sehr gering.
Es reicht ein Cambridge-Analytica-Skandal, eine Whistleblowerin, ein Livestream von einer Massenerschießung, um User zu den Ausgängen zu treiben, und dann wird Facebook entdecken, dass Netzwerkeffekte ein zweischneidiges Schwert sind. Wenn Nutzer nicht gehen können, weil alle anderen bleiben, dann gibt es, wenn alle sich zu verabschieden beginnen, keinen Grund, es nicht auch zu tun. Das ist die letale enshittification.

Diese Phase geht üblicherweise mit Panik einher, von Techenthusiasten euphemistisch als pivoting bezeichnet, strategischer Kurswechsel. Weshalb wir Kurswechsel wie den folgenden erleben: In Zukunft werden alle Internetnutzer zu beinlosen, geschlechtslosen, stark überwachten Comicfiguren mit niedriger Polygonalzahl in einer virtuellen Welt namens Metaverse.

Das ist der Prozess der enshittification, der Abwärtsentwicklung. Das sagt uns aber noch nicht, warum alles gerade jetzt verschlimmscheißert wird, und ohne dieses Wissen können wir nicht überlegen, was wir dagegen tun sollen. Was genau hat in unseren Tagen zur Großen Verschlimmscheißerung geführt? War es das Ende der Niedrigzinspolitik? Waren es Führungswechsel bei den Techgiganten?
Ist der Merkur vielleicht gerade rückläufig?

Nö.

Die Phase zinsfreier Zentralbankmittel hat zweifellos dazu geführt, dass die Technologieunternehmen mit Gewinnüberschüssen um sich schmeißen konnten. Doch Facebook begann mit seiner enshittification lange vor dem Ende der Politik des billigen Geldes, Amazon, Microsoft und Google genauso. Einige der Techgiganten haben neue Vorstandsvorsitzende bekommen. Googles Verschlimmscheißerung aber ist schlimmer geworden, seit die Gründer wieder an Bord sind, um die KI-Panik – Entschuldigung, den KI-Kurswechsel – der Firma zu beaufsichtigen. Und ein rückläufiger Merkur kann es schon deshalb nicht sein, weil ich Krebs bin, und wie jeder weiß, glauben Krebse nicht an Astrologie.

Wenn sich eine ganze Reihe unabhängiger Institutionen gleichzeitig auf die gleiche Weise verändert, ist das ein Zeichen dafür, dass sich ihr Umfeld verändert hat, und genau das ist in der Techbranche passiert. Wie alle Firmen gehorchen auch Technologiefirmen entgegengesetzten Notwendigkeiten. Auf der einen Seite wollen sie Geld verdienen. Auf der anderen Seite bedeutet Geld verdienen, dass man kompetentes Personal anwerben sowie motivieren muss und Produkte herstellen, die Menschen auch wirklich kaufen wollen. Je mehr Wert ein Unternehmen seine Belegschaft und seine Kundschaft abschöpfen lässt, desto weniger bleibt für seine Aktionäre.
Das Gleichgewicht, in dem ein Unternehmen Dinge, die wir mögen, in ehrenhafter Weise zu einem fairen Preis produziert, ist so beschaffen, dass eine Erhöhung der Preise, eine Verschlechterung der Qualität und eine Benachteiligung der Mitarbeiter das Unternehmen mehr kosten, als wenn es gleich ein schmutziges Spiel spielen würde.

Es gibt aber vier Kräfte, die Unternehmen disziplinieren und ihren Drang zur enshittification im Zaum halten:

Konkurrenz. Firmen, die befürchten müssen, dass man einfach woanders hingeht, halten sich mit Qualitätsverschlechterungen und Preiserhöhungen zurück.
Regulierung. Unternehmen, die höhere Geldstrafen durch Regulierer befürchten müssen, als sie auf betrügerische Weise erwirtschaften können, betrügen seltener.
Diese zwei Faktoren betreffen alle Branchen, die nächsten beiden gelten speziell für den Technologiebereich.
Selbsthilfe. Computer sind extrem flexibel, so wie auch die digitalen Produkte und Dienste, die wir mit ihrer Hilfe kreieren. Der einzige Computer, von dem wir wissen, wie man ihn baut, ist die turingvollständige Von-Neumann-Maschine, ein Computer, der jedes gültige Programm ausführen kann.

Das heißt, dass sich die Anwender immer irgendwelcher Programme bedienen können, um die Antifunktionalitäten auszuhebeln, die Werte von ihnen auf die Aktionäre einer Firma verlagern. Beispielsweise sagt jemand im Vorstand: "Ich habe ausgerechnet, dass wir netto zwei Prozent mehr Gewinn erzielen, wenn wir unsere Anzeigen um 20 Prozent invasiver machen."
In der digitalen Welt könnte jemand gut dagegenhalten: "Ja, aber wenn wir das tun, werden 20 Prozent unserer Nutzer Werbeblocker installieren, und unser Gewinn von diesen Nutzern wird auf null fallen – dauerhaft." Digitalunternehmen, heißt das, hält auch die Furcht im Zaum, eine verschlimmscheißernde Maßnahme werde die Anwender dazu bringen, zu ergoogeln: "Wie kann ich das entverschlimmscheißern?"
Und zu guter Letzt die Mitarbeiter. Die Angestellten in der Technologiebranche sind kaum gewerkschaftlich organisiert, aber das bedeutet nicht, dass sie keine Mitarbeitermacht haben. Der historische "Mangel an Talenten" hat bisher dazu geführt, dass sie an einem ziemlich langen Hebel saßen. Wenn sie mit ihren Vorgesetzten unzufrieden waren, konnten sie kündigen und auf der anderen Straßenseite einen neuen, besseren Job bekommen.

Das war ihnen genauso klar wie ihren Vorgesetzten. Paradoxerweise hat das dazu geführt, dass Techmitarbeiter sehr leicht auszubeuten waren. In überwältigender Zahl sahen sie sich nämlich als angehende Gründer, als Unternehmer, die nur vorübergehend angestellt waren, als die Helden von morgen.
Deshalb waren Firmenmottos wie Googles "Sei nicht böse" und Facebooks "Die Welt offener und vernetzter machen" wichtig; sie vermittelten der Belegschaft ein Sendungsbewusstsein. Die amerikanische Bibliothekarin Fobazi Ettarh nennt dies berufliche Selbstüberhöhung (vocational awe), Elon Musk nennt es extremely hardcore, super hartgesotten, sein.
Obwohl die Techbelegschaften große Verhandlungsmacht besaßen, spielten sie sie nicht aus, als ihre Chefs verlangten, dass sie ihre Gesundheit, ihre Familien und ihren Schlaf opfern sollten, um willkürliche Fristen einzuhalten. Solange ihre Vorgesetzten ihren Arbeitsplatz in einen drolligen "Campus" mit Fitnessstudio, Gourmet-Cafeteria, Wäscheservice, Massagen und dem vorsorglichen Einfrieren von unbefruchteten Eizellen verwandelten, konnten sich die Mitarbeiter einreden, dass sie verhätschelt würden – statt dazu gebracht zu werden, sich zu Tode zu arbeiten.

Doch gibt es eine Kehrseite, wenn die Unternehmensführung die Belegschaft mit Appellen an ihr Sendungsbewusstsein motiviert: Die Belegschaft verfügt dann über ein Sendungsbewusstsein. Wenn man sie anschließend auffordert, die Produkte zu verschlimmscheißern, für deren Herstellung sie ihre Gesundheit ruiniert hat, wird sie moralisch verletzt sein, entrüstet reagieren und mit Kündigung drohen. Deshalb bildeten die Techangestellten selbst das letzte Bollwerk gegen eine enshittification.

Die Zeit vor der Verschlimmscheißerung war auch nicht von besseren Führungsqualitäten geprägt. Die Manager selbst waren nicht besser. Sie wurden nur im Zaum gehalten. Ihre niedrigsten Impulse wurden durch Konkurrenz, Regulierung, Selbsthilfe und Arbeitnehmermacht gebremst. Bis eines dieser Hemmnisse nach dem anderen unterlaufen wurde und sich der Trieb zur Verschlimmscheißerung ungehemmt austoben und das Scheißozän einleiten konnte.

[...]

Wenn Sie versuchen, einen alternativen Client für Facebook zu entwickeln, wird man Ihnen vorwerfen, dass Sie gegen US-Gesetze wie den Digital Millennium Copyright Act (DMCA) und EU-Gesetze wie Artikel 6 der EU-Urheberrechtsrichtlinie (EUCD) verstoßen. Versuchen Sie mal, ein Android-Programm zu entwickeln, das iPhone-Apps ausführt und Daten aus Apples Media Stores abspielt – man wird Sie bombardieren, bis die Trümmer rauchen. Wenn Sie versuchen, Google komplett auszulesen, wird es Sie mit Atomwaffen beschießen, bis Sie glühen.

[...]

2008 kaufte Amazon Audible, eine Plattform für Hörbücher. Heute ist Audible ein Monopolist, der mehr als 90 Prozent des Hörbuchmarkts kontrolliert. Audible verlangt, dass alle Urheber auf seiner Plattform ihre Produkte über Amazons "digitale Rechteverwaltung" verkaufen, die sie an Amazons Apps bindet.
Ich schreibe also beispielsweise ein Buch, lese es über ein Mikrofon ein, bezahle einer Regisseurin und einer Technikerin ein paar Tausend Dollar, um das Ganze in ein Hörbuch zu verwandeln, und verkaufe es Ihnen dann auf der Monopol-Plattform Audible. Wenn ich später beschließe, Amazon zu verlassen, und Sie auf eine andere Plattform mitnehmen möchte, habe ich Pech gehabt. Wenn ich Ihnen ein Werkzeug zur Verfügung stelle, um die Amazon-Verschlüsselung von meinem Hörbuch zu entfernen, sodass Sie es mit einer anderen App abspielen können, begehe ich ein Verbrechen, das mit einer fünfjährigen Haftstrafe und einer halben Million Dollar Geldstrafe geahndet werden kann, sofern es sich um mein erstes Vergehen dieser Art handelt.
Damit droht einem eine härtere Strafe, als wenn man das Hörbuch einfach auf einer Torrent-Seite raubkopieren würde. Sie ist aber auch strenger als die Strafe, die man für den Diebstahl der Hörbuch-CD auf einem Fernfahrerrastplatz riskiert. Sie ist härter als die Strafe für den Überfall auf den Laster, der die CD transportiert.

Nehmen wir noch einmal die Werbeblocker, wie sie die Hälfte aller Internetnutzer nutzt. Kein App-Nutzer aber verwendet Werbeblocker, weil man erst die Verschlüsselung einer App überwinden muss, um einen Blocker installieren zu können, und das ist eine Straftat. (Jay Freeman, amerikanischer Geschäftsmann und Ingenieur, bezeichnet dies als "kriminelle Missachtung des Geschäftsmodells".)
Wenn also jemand auf der Vorstandsetage sagt: "Machen wir unsere Anzeigen um 20 Prozent penetranter und steigern damit unsere Gewinne um zwei Prozent", dann wird niemand einwenden, dass dies die Nutzer dazu bringt, zu googeln, wie man Werbung blockieren kann. Denn die Antwort lautet ja, dass man es nicht kann. Tatsächlich ist es wahrscheinlicher, dass jemand in diesem Vorstand sagen wird: "Machen wir unsere Anzeigen um 100 Prozent penetranter und steigern damit unsere Gewinne um zehn Prozent." (Das ist der Grund, warum jedes Unternehmen will, dass man seine App installiert, statt seine Website zu nutzen.)

[...]

Ich werde jetzt kein Plädoyer für den Kapitalismus halten. Ich glaube nicht wirklich daran, dass Märkte die effizientesten Verteiler von Ressourcen und Schiedsrichter der Politik sind. Aber der Kapitalismus von vor 20 Jahren schuf Raum für ein wildes und verworrenes Internet, einen Raum, in dem Menschen mit missliebigen Ansichten zueinanderfinden, sich gegenseitig helfen und organisieren konnten. Der Kapitalismus von heute hat ein globales, digitales Geistereinkaufszentrum hervorgebracht, gefüllt mit Bot-Mist, minderwertigen Geräten von Unternehmen mit konsonantenlastigen Markennamen und Kryptowährungsbetrug.
Das Internet ist nicht wichtiger als der Klimanotstand, Geschlechtergerechtigkeit, Gerechtigkeit für rassistisch diskriminierte Menschen, Völkermorde oder Ungleichheit. Doch ist das Internet das Feld, auf dem wir diese Kämpfe austragen können. Ohne ein freies, faires und offenes Internet sind sie verloren, bevor wir uns überhaupt ins Kampfgetümmel geworfen haben.

Wir können die Verschlimmscheißerung des Netzes rückgängig machen. Wir können die schleichende Abwärtsentwicklung jedes digitalen Geräts aufhalten. Wir können ein besseres, gegen solche Verschlimmscheißerung resistentes digitales Nervensystem aufbauen, eines, das dazu geeignet ist, die Massenbewegungen zu koordinieren, die wir brauchen, um den Faschismus zu bekämpfen, Völkermorde zu beenden und unseren Planeten sowie unsere Gattung zu retten.
Martin Luther King sagte einmal: "Es mag stimmen, dass das Gesetz keinen Menschen dazu bringen kann, mich zu mögen, aber es kann ihn daran hindern, mich zu lynchen, und das halte ich für ziemlich wichtig." So mag es auch stimmen, dass das Gesetz Unternehmen nicht dazu zwingen kann, Sie als ein menschliches Wesen zu behandeln, das einen Anspruch auf Würde und faire Behandlung hat, und nicht nur als eine wandelnde Geldbörse, einen Nachschub an Darmbakterien für den unsterblichen kolonialen Organismus namens Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Aber es kann Unternehmen dazu bringen, Sie genug zu fürchten, um Sie fair zu behandeln und Ihre Würde zu wahren – selbst wenn sie der Meinung sind, dass Sie das nicht verdienen.

Übersetzt aus dem Englischen von Michael Adrian.



Aus: "Die Verschlimmscheißerung des Internets" Aus einem Essay von Cory Doctorow (10. März 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/digital/internet/2024-03/plattformen-facebook-google-internet-cory-doctorow


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Quote[...] Man kann nicht mit dem Thermometer messen, wann eine Party vorbei ist. Man spürt es irgendwie. Der Vibe stimmt nicht mehr, es kommt zum Spannungsabfall, die Gespräche werden schleppend. Es dauert dann, bis alle Gäste das auch bemerken, und es dauert noch länger, bis sie aufbrechen nach Hause. Aber da war die Party in Wirklichkeit schon längst zu Ende. So läuft es auch im Internet.
Drei Meldungen aus den vergangenen Wochen. Meldung eins: Viele seriöse und zahlungskräftige Anzeigenkunden meiden inzwischen den Kurznachrichtendienst X. Nutzer stolpern über halbseidene Anzeigen, die für billige Handyspiele, Krypto-Casinos oder undurchsichtige Immobiliengeschäfte im Ausland werben. Das Technologie-Magazin The Information berichtet: Viele dieser neuen Anzeigenkunden haben für die Werbeschaltungen wohl mit gestohlenen Kreditkartendaten gezahlt; reihenweise fordern Banken von X ihr Geld zurück.
Meldung zwei: Adam Mosseri, beim Meta-Konzern verantwortlich für die App Instagram und den neuen Kurznachrichtendienst Threads, hat vor wenigen Tagen eine neue inhaltliche Strategie verkündet. Der Empfehlungsalgorithmus werde Nutzern in Zukunft keine "politischen Inhalte" mehr vorschlagen. Jedenfalls nicht, wenn die User dem in den Profil-Einstellungen nicht ausdrücklich zugestimmt haben.

Meldung drei: Das US-amerikanische Marktforschungsinstitut Gartner schätzt, dass bis zum Jahr 2025 die Hälfte der Verbraucher ihren Social-Media-Konsum erheblich einschränken oder ganz aufgeben wird.

Einige Jahre lang, ungefähr von 2009 bis 2013, war es für viele Internet-Nutzer unvorstellbar, dass das soziale Netzwerk Facebook eines Tages verschwinden könnte. Und bisher ist es auch nicht verschwunden, man kann sich dort immer noch einloggen, Menschen schreiben dort weiter ihre Beiträge. Viele jedoch haben das Interesse verloren. Es kam irgendwann der Tag, da scrollte man durch seine Facebook-Timeline und stellte fest: Das ist ja völlig uninteressant geworden. Die Party ist vorbei.
Was, wenn dieses Vorbei-Gefühl nicht nur für Facebook stimmt? Was, wenn es nicht nur für den Kurznachrichtendienst X stimmt, der so viel von seinem Reiz eingebüßt hat, seit Elon Musk ihn übernahm?
Was, wenn dieses Vorbei-Gefühl für alle sozialen Netzwerke stimmt? Kann es sein, dass wir gerade das Ende der sozialen Medien erleben?
Das jedenfalls behauptete kürzlich das britische Wirtschaftsmagazin The Economist."The end of the social network", so lautete die Zeile auf dem Titel der Zeitschrift. Zu sehen war ein traurig dreinblickender Emoji, der im Meer versank. Wer knallharte Belege sucht, der wird von den Texten im Heft enttäuscht. Auch beim Economist verlässt man sich, wenn es um Social Media geht, eher aufs Bauchgefühl als auf nackte Zahlen, von denen die Autoren eigentlich nur eine nennen, die auf ein drohendes Ende schließen lässt: 2020 gaben noch 40 Prozent der Amerikaner an, dass sie gern ihr Leben online dokumentieren. Jetzt sind es nur noch 28 Prozent.

Es lohnt sich dennoch, die Economist-Geschichte genau zu lesen. Denn hier wird eine hochspannende und durchaus plausible These entfaltet, die unter Digital-Experten schon seit einiger Zeit kursiert. Die Kurzzusammenfassung lautet: Jener Software-Cluster, den wir lange als "Social Media" bezeichnet haben, zerfällt gerade in zwei verschiedene Funktionslogiken – in seinen sozialen und seinen medialen Teil. "Die ganz eigene Magie der sozialen Netzwerke entstand, weil man persönliche Interaktionen kurzgeschlossen hatte mit massenmedialer Kommunikation", schreibt der Economist. "Dieses Amalgam wird nun wieder aufgebrochen, in seine zwei Bestandteile."

Zwei Bewegungen, die einmal zusammengehörten, bestimmen jetzt unsere digitale Gegenwart. Einerseits ziehen sich User zurück in die Nahkommunikation, in überschaubare digitale Sozialräume. Jüngere zum Beispiel schwärmen gern von der App BeReal. BeReal gilt als Gegenentwurf zum schicken Instagram, weil Nutzer dort keine auf Hochglanz polierten Fotos teilen, sondern authentische Schnappschüsse aus ihrem Leben. Zum Erfolgsgeheimnis der App gehört auch, wer diese Schnappschüsse zu sehen bekommt: Auf BeReal kommunizieren die User eher mit zwanzig oder fünfzig Freunden und guten Bekannten – und nicht mit allen 5,3 Milliarden anderen Internet-Nutzern. "BeReal won't make you famous", so lautet ein offizielles Marketing-Versprechen.
BeReal mag eine Nischen-App bleiben. Und dennoch steht sie für eine Veränderung im Nutzerverhalten: Auch ältere oder konservativere User sehnen sich heute danach, ihre Reichweite bewusst zu begrenzen. Sie ziehen sich zurück in geschlossene WhatsApp-Gruppen und tauschen Minion-Memes und andere Status-Updates lieber im engen Kollegenkreis aus und nicht mehr mit der ganzen Welt.

Eine kleine Sprachbeobachtung veranschaulicht diesen Wandel: Es war noch Mitte der Zehnerjahre ein beliebter kulturpessimistischer Einwand gegen Facebook, dass dort der ehrwürdige Begriff "Freund" skrupellos entkernt werde. Wer kann schon 5.000 Menschen seine Freunde nennen? Später ließen viele Netzkonzerne das Wort tatsächlich fallen, man sprach eher von Followern oder von mutuals, also von zwei Usern, die sich gegenseitig folgen. Jetzt aber scheinen die "Freunde" zurückzukehren im Netz; BeReal redet wieder offen von den friends, die man dort erreichen kann. Und eine neue soziale App namens Amo wirbt gar mit dem schlichten Versprechen: "Just friends." Hier gibt's einfach nur deine Freunde.
Apps wie BeReal und WhatsApp-Gruppenchats sind weiterhin sozial, aber nur auf kurze Distanz. Sie erinnern an das Versprechen, das man Ende der Neunzigerjahre mit dem Internet verband, als die ersten sogenannten Instant-Messenger auftauchten. Da kam man von der Schule nach Hause, warf den Eastpak-Rucksack in die Ecke und schaltete im Kinderzimmer den PC ein; dort nämlich waren die Freunde, von denen man sich eben erst verabschiedet hatte, nun weiterhin anwesend, in dem hellgrauen Kasten von Fujitsu-Siemens, den man sicherheitshalber eingesperrt hatte in das billige Pressspanholz eines Computertisches. Jederzeit konnte jetzt eine Nachricht der Schulfreunde aufploppen, das versprachen Programme wie ICQ oder AIM. Damals träumte man davon, nie wieder einsam sein zu müssen. Selbst dann nicht, wenn man gemütlich alleine zu Hause sitzt.

Ein ganz anderer Internet-Traum formte sich kurze Zeit später: Man könnte hier aus dem Kinderzimmer mit der ganzen Welt kommunizieren oder, noch besser, von der ganzen Welt gesehen, gelesen, wahrgenommen werden. Diese zweite Funktionslogik, die Apps wie BeReal jetzt so offensiv hinter sich lassen wollen, fand ihren klarsten Ausdruck, als Twitter und Instagram zu den Leitmedien der Zehnerjahre aufstiegen, zu den Prototypen dessen, was wir unter Social Media verstehen.
In einem Essay für The Atlantic schreibt der Medienwissenschaftler Ian Bogost rückblickend über den entscheidenden Moment, in dem diese zweite Funktionslogik an die erste andockte. Anfangs, so Bogost, habe uns soziale Software dabei geholfen, wenn wir bereits geknüpfte soziale Verbindungen verstärken wollten. Meist diente solche Software sogar noch dem Offline-Leben, zum Beispiel weil wir online eine Geburtstagsparty organisierten, die dann im echten Leben stattfand. Dann aber verschalteten die Apps unsere Online-Verbindungen zu einem riesigen digitalen Rundfunk-Kanal, über den wir beständig in die Welt hinaus sendeten. "Plötzlich hielten sich mehrere Milliarden Menschen für Prominente, für Experten, für Trendsetter."

Diese zweite Funktionslogik ist keineswegs verschwunden; auch heute noch hört man von neuen TikTok-Stars, die aus ihren Kinderzimmern heraus ein Millionenpublikum erreichen. Die ultraerfolgreiche chinesische App schaltet kurze Videoclips ihrer Nutzer in Endlosschleife hintereinander. Hier gilt weiterhin: Erstell deinen Content und werde berühmt! Jeder kann es schaffen, ganz allein; keiner muss kritische Gatekeeper oder Legacy-Institutionen um Erlaubnis bitten, keine Feuilleton-Redaktion und kein Fernsehprogrammdirektor steht dir im Weg. Nur die chinesische Zensurbehörde.

Was die App TikTok jedoch unterscheidet von einem sozialen Medium im alten Sinne, das ist die scharfe Trennung der Rollen. Man nutzt die App entweder als content creator oder als consumer, als Sender oder Empfänger; nur selten ist man beides zugleich. Die einen machen vorne ihr Programm, die meisten lehnen sich zurück und gucken zu. Man könne auf TikTok zwar einzelnen Nutzern folgen, so erklärt Ian Bogost das neue Prinzip, aber viel eher werde man sich einfach "einem beständigen Strom von Videoinhalten hingeben, den der Algorithmus an die Oberfläche spült". Sich miteinander zu vernetzen, einst der oberste Zweck aller sozialen Apps, wird zur Nebensache.
So sind aus den sozialen Medien von einst längst postsoziale Medien geworden. TikTok lebt zwar von user-generated content, aber nicht mehr von der sozialen Interaktion, der weltweiten Vernetzung. Die findet nur in einem engen Rahmen statt, wie ihn auch eine Castingshow im Privatfernsehen verspricht: Jeder kann sich bewerben – und wer sich nicht bewirbt, darf zumindest für irgendwas voten. Überhaupt erinnert TikTok weniger an das Internet der Nullerjahre und mehr an das Privatfernsehen jener Zeit: Hier wird das RTL-2-Programm in Dauerschleife wiederaufbereitet, nur kann man die Videos jetzt noch billiger produzieren. Männer sind so, Frauen sind so; das sind die gefährlichsten Tiere der Welt; warum du deinen Wasserkocher falsch benutzt.

Man darf sich natürlich nicht vom eigenen Algorithmus täuschen lassen. Jeder bekommt, was er sich vorher zu lange angeschaut hat. Aber gerade deswegen bedienen die neuen postsozialen Medien die allereinfachsten Reiz-Reaktions-Muster. Anders als noch in den sozialen Medien spielt das "Teilen" keine große Rolle mehr auf TikTok – oder auf Instagram, wo man den Erfolg der Chinesen zu kopieren versucht und ebenfalls auf Kurzvideos setzt, hier heißen sie reels. Dem Reel-System ist vergleichsweise egal, welche Inhalte man weiterverbreiten möchte in der Hoffnung, als besonders intellektuell, feinfühlig, avantgardistisch zu erscheinen. Denn anders als bei einem Bild oder einem kurzen Text kann das System hier ganz leicht protokollieren, wie lange man einen Clip tatsächlich angeschaut hat; bei welchen Kurzvideos man tatsächlich hängengeblieben ist. Und von diesen Videos laufen dann so viele in der Timeline, bis man sich an ihnen stumpfgesehen hat.

Soziale Medien waren einst darauf angewiesen, dass ich interagiere; nur dann konnten die Algorithmen wissen, was mir gefällt. Postsoziale Medien wissen, was mir gefällt, selbst wenn ich passiv bleibe. Sie haben keinen Grund mehr, mich zu echter Aktivität zu verführen. Wohin diese Entwicklung führt, das brachte ein ehemaliger Mitarbeiter der App Snapchat kürzlich auf den Punkt. Er hatte die Firma enttäuscht verlassen und darüber in einem Beitrag geschrieben für die Website The Verge: "Die sozialen Medien haben sich evolutionär so weiterentwickelt, dass ich jetzt gar nicht mehr sicher bin, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, sie ›sozial‹ zu nennen." Es geht nicht mehr um Freunde, auch nicht um Follower; es dreht sich alles nur noch um Mini-Videos, "mit denen Nutzer ihre überhitzten, verwirrten Gehirne ruhigstellen".

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Aus: "Das Ende von Social Media" Lars Weisbrod (18. Februar 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/2024/08/soziale-medien-nutzung-facebook-instagram