[...] Das vermutlich erste deutschsprachige Popgedicht hatte einen englischen Titel. "To Lofty with Love" entstand 1965 in London auf einem Notizzettel, nur 200 Meter von jenem Piccadilly Circus entfernt, an dem sein Verfasser Rolf Dieter Brinkmann fast genau zehn Jahre später mit 35 Jahren von einem Auto überfahren werden sollte. Gewidmet war der Siebzehnzeiler dem jetzigen Frankfurter Nachtklubbesitzer Ralf-Rainer Rygulla, der im Sommer 1966 einige Umzugskartons mit little mags - hektographierten Popschriften - aus den USA importierte. Die beiden hatten in Essen in einem "verhaßten Ausbeuterbetrieb" eine Buchhändlerlehre begonnen, würden in Kölner Wohnungen oder in fahrenden Zügen auf "Formulier- und Schreib-Partys" mit unterschiedlichsten Techniken und Textvorlagen experimentieren und 1969 im März Verlag die legendäre, damals in der BRD weitverbreitete Pop-Anthologie "ACID. Neue amerikanische Szene" herausgeben. Diese Anthologie, Brinkmann hatte 1969 schon zahlreiche eigene Titel veröffentlicht, war seine vorerst aggressivste Attacke auf den damals vorherrschenden Literaturgeschmack.
Im deutschen Sprachraum leben sich zu sehr auf Popideen einlassende Autoren statistisch gefährlich. Meistens werden sie überfahren. Fauser: Lkw; BAADER Holst: Straßenbahn; Brinkmann: Pkw. (Vesper und Schwab kamen auf andere Weise frühzeitig um.) Zwanzig Jahre nach Brinkmanns plötzlichem Tod und dem Erscheinen seines letzten Gedichtbandes "Westwärts 1 & 2" ...
... Was Brinkmann an der Literatur seiner Zeit am meisten vermißt, ist Gegenwart. Die meisten Texte sieht er als reinen "Erinnerungsfilm" angelegt, der sich "zynisch lächelnd" über die trivialen Ereignisse in nächster Nähe erhebt. Das Bewußtsein: "mit Bildern von gestern verstopft". Sein Gegenbild: die nackten Astronauten im Raum. Aber die ersehnte Projektion einer "schwerelos auszuführenden Sexualität" kann er in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht entdecken. Das gängige Schreiben zielt ihm viel zu sehr auf eine abstrakte, lustlos hervorgebrachte Kulturleistung ab: Unter dem Beifall der Literaturpolizei entstehen "entsetzlich verstellte" Produkte.
... Brinkmann schafft sich eigene Gattungsbegriffe: "ReiseZeitMagazin Tagebuch" oder "Verrecktes Traumbuch Totenbuch". Gedicht, Roman, Essay - "diese Einteilungen sagen längst nichts mehr, und das ist auch gut so . . ." Die von außen herangetragenen Stilfragen langweilen ihn - "alles Rituale". Seit der Moderne sind für ihn alle Stile verfügbar geworden, "und so kann auf einen Stil verzichtet werden. Mit der Auflösung der objektiven Funktion der Literatur hat sich weiterhin die Vorstellung von einem einheitlichen Werk, das zu leisten wäre, aufgelöst." Brinkmann wehrt sich gegen den Zwang, zu jedem Produkt gleich eine Theorie mitliefern zu müssen, und in seinem Protest formuliert er sie doch.
Was für Brinkmann allein zählt, "ist die Intensität der Hinwendung auf die Gegenstände, die jemand mag und die ihn faszinieren . . ." Seit Anfang der Siebziger wird für ihn daraus die verbissene Fixierung auf die Gegenstände, die er haßt - und die ihn faszinieren. In den ab 1971 entstehenden Text- und Bildbänden ("Drei neue Bücher habe ich eigentlich fertig") "Erkundungen für das Gefühl für einen Aufstand", "Rom, Blicke" und "Schnitte" treten Weltekel, Haß und Enttäuschung immer mehr in den Vordergrund, in ihnen sind die "Möglichkeiten der Verneinung bis zum Rand ausgeschöpft" (Genia Schulz). Erfreulich ausführlich im LiteraturMagazin die Beschäftigung mit diesen Nachlaßbänden, die bis heute oft als unzugänglich-sperrige Abfallprodukte der zuletzt erschienenen Gedichte abgetan werden.
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Aus: "". . . richtig zum Ekeln!"" Andreas Neumeister (22. März 1996 Quelle: DIE ZEIT, 13/1996)
Quelle:
https://www.zeit.de/1996/13/_richtig_zum_Ekeln_/komplettansicht-
" ... Es ist ein neuer Paragone, ein Widerstreit zwischen Bild oder – wie zu zeigen sein wird – Foto und Wort, der Rolf Dieter Brinkmanns Poetologie der 1960er Jahre bestimmt. Auf der einen Seite stehen das Wort und die negativ konnotierten Attribute, mit denen es von Brinkmann assoziiert wird: Abstraktion, Reflexion, Begrifflichkeit, Vergangenheit. Dem gegenüber sind dem Bild die positiv besetzten Begriffe der Sinnlichkeit, des konkreten Alltagsmaterials und der Gegenwart zu eigen. Vor dem Hintergrund dieser Polarisierung setzt sich Brinkmann von Anfang an als vehementer Verfechter einer neuen Bildlichkeit in Szene ... Bei der »hübschen Sache«, die zum Gegenstand der Darstellung wird, handelt es sich des weiteren nicht um eines der traditionellen Themen »hoher Literatur«, die durch intellektuelle Anstrengungen seitens des Autors in einen Begriff gefaßt werden, sondern um Material des Alltags, ja um den buchstäblichen Abfall, der dem Dichter zufällig in die Hände fällt: »Es gibt kein anderes Material als das, was allen zugänglich ist und womit jeder alltäglich umgeht, was man aufnimmt, wenn man aus dem Fenster guckt, auf der Straße steht, an einem Schaufenster vorbeigeht, Knöpfe, Knöpfe, was man gebraucht, woran man denkt und sich erinnert, alles ganz gewöhnlich, Filmbilder, Reklamebilder, Sätze aus irgendeiner Lektüre oder aus zurückliegenden Gesprächen, Meinungen, Gefasel, Gefasel, Ketchup, eine Schlagermelodie, die bestimmte Eindrücke neu in einem entstehen läßt.«
Indem der Alltag ins Zentrum des Interesses des Dichters rückt, kommt es zum doppelten Bruch mit der Vergangenheit: Einerseits ist Brinkmanns Interesse thematisch nicht mehr auf die Vergangenheit gerichtet, sondern auf die eigene unmittelbare Gegenwart und ihr »jetzt und jetzt und jetzt«. »Das Kurz-Zeit-Gedächtnis wird bevorzugt.«
... Der Fotografie ist für Brinkmann innerhalb dieses Paragones eine Potenzierung des Bild-Begriffs zu eigen. Ihre Bedeutung zeigt sich zunächst in einer Anspielung in »Der Film in Worten« auf den 1927 entstandenen »Photographie«-Aufsatz Siegfried Kracauers, der auch in der langen Liste der Widmungsträger der »ACID«-Anthologie auftaucht. Was später in Kracauers »Theorie des Films« – die Brinkmanns Auffassung vom fotografischen Medium sehr nahe kommt und die er 1966 las – als Vorzug der Fotografie hervorgehoben wird, wird hier noch gegen sie gewendet. In der Fotografie werden demnach stets nur materielle Äußerlichkeiten und diese nach dem Prinzip einer Oberfläche unterschiedslos abgebildet. Lediglich die »gegenwärtige menschliche Hülle« zeigt sich auf den Fotos, die Abgebildeten verwandeln sich in »Kostümpuppen«. Im Unterschied dazu operieren die Bilder des Gedächtnisses. Die Speicherung erfolgt hier selektiv und damit fragmentarisch: Bewahrt wird nur, was Wahrheitsgehalt besitzt und bedeutungsvoll ist. Derartigen Gedächtnisbildern, die Kracauer auch die »eigentliche Geschichte« des jeweils Dargestellten nennt, wird die Dimension der Tiefe zugeordnet – eine Dimension, die der Fotografie als Abbildung des rein Äußerlichen fehlt: »Unter der Photographie eines Menschen ist seine Geschichte wie unter einer Schneedecke vergraben.« ...
... Weil also das Objekt vor der Kamera bei Brinkmann ebenso in den Blickpunkt rückt wie das Subjekt dahinter, führen die Erkundungen des alltäglichen Materials gleichzeitig auch nach innen und werden als »Abenteuer des Geistes« zur »Eroberung des inneren Raums«. 1968, als Stanley Kubrick, einer der vielen Widmungsträger der »ACID«-Anthologie, im Kino Astronauten bis zum Jupiter »and beyond« schickte, die Menschen es in Wirklichkeit aber nur zum Mond schafften, durchdringen sich für Brinkmann Außen- mit Innenräumen. Denn es gilt, die Science-Fiction-Projektionen »auf uns hier, jetzt konkret« anzuwenden und zu einem »Vorstoß in die innere Dimension von uns selbst« zu machen, »die ebenso ein riesiger Raum ist wie der Weltraum, in den Raketen, Astronauten, Telestars, Mars-Sonden, Mondlandefahrzeuge hinauskatapultiert werden...«.
Logischerweise ist es dann auch die Figur des »Piloten« – so der Titel von Brinkmanns 1968 erschienenem Gedichtband –, die zum Sinnbild für denjenigen wird, der sich auf diese Mission ins Innere macht, zum »Breakthrough in the Grey Room«, wie Brinkmann den US-Schriftsteller William S. Burroughs im »Film in Worten« zitiert.
Das Ende des letzten Gedichtes des »Piloten«-Bandes mit dem programmatischen Titel »Alle Gedichte sind Pilotengedichte« führt zudem ein zweites Symbol für den von Brinkmann angestrebten Zustand der gesteigerten Wahrnehmung ein ... das Motiv der Tür, die sich öffnet, gleichermaßen für einen Moment der intensiven Erfahrung als auch für eben jene Durchdringung der Räume. Ist doch die eingeforderte »neue Sensibilität« des Subjekts für Brinkmann eine »nach innen und nach außen schwingende Tür«. Ja, der Moment des »snap-shots« selbst wird verglichen mit dem Moment, »wenn zwischen Tür und Angel, wie man so sagt, das, was man in dem Augenblick zufällig vor sich hat, zu einem sehr präzisen, festen, zugleich aber auch sehr durchsichtigen Bild wird, hinter dem nichts steht als scheinbar isolierte Schnittpunkte.« Für Brinkmann, der nicht zufällig immer wieder den Vers »Break on through to the other side« der »DOORS« zitiert, kennzeichnet somit neben den beiden anderen in den Aufsätzen propagierten bewußtseinserweiternden Mitteln, Pop- bzw. Rock-Musik und »Gras« – so der Titel von Brinkmanns letztem zu Lebzeiten 1970 publizierten Gedichtband – bzw. Drogen, die Fotografie eben diesen Augenblick des »Durchbruchs« als Ausbruch aus literarischen Traditionen. ..."
Aus: "Rolf Dieter Brinkmann - Die Foto-Texte der 1960er Jahre", Thomas von Steinaecker: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds. Bielefeld: transcript Verlag, 2007, http://kult-online.uni-giessen.de/archiv/2008/ausgabe-16/rezensionen/dialoge-zwischen-text-und-fotografie
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" ... NACKTHEIT- Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich" Herausgegeben von Kerstin Gernig (2002) - " ... Brinkmanns Ästhetik der Entblößung situierte sich zweifellos schon von Anfang an in der Nähe des Pornographischen, aber diese Nähe wurde konkreter und expliziter, sobald sie sich auf das Bildmaterial zu beziehen begann, das im Zuge der medialen Freisetzung der Nacktheit zunehmend aus dem Bereich klandestiner privater Lüste in die Öffentlichkeit zu wandern begann. An den Veränderungen von Brinkmanns Versuchen, zu einem bildhaften, an den Ausdrucksmöglichkeiten der Medien Film und Photographie orientierten Schreiben zu gelangen, läßt sich auch der Beschleunigungsprozeß ablesen, der die mediale Entsublimierung der öffentlichen Sphäre Ende der 60er Jahre kennzeichnete. ... Die 1968 veröffentlichte Gedichtsammlung "Godzilla" kann das Spannungsfeld besonders anschaulich machen, in das seine Poetik des "einfachen", sinnlich-sinnlosen Bildes geriet, sobald sie sich mit der Vermarktung der Sinnlichkeit im öffentlichen Raum auseinanderzusetzen hatte. Ausgangspunkt sind in diesem Band bunte Illustriertenphotos von leicht bekleideten, nur in Ausschnitten dargebotenen, meist verführerisch lächelnden Frauen, die buchstäblich von der "dearty speach" pornographischer Phantasien überschrieben werden. Eine Überschreibung, die als doppelter BeschmutzungsVorgang angelegt ist: Als materielle Beschmutzung, weil die bildlichen Unterlagen teilweise von schwarzen Lettern überdeckt werden und dadurch ihre Farbigkeit einbüßen; vor allem aber als symbolische Beschmutzung, weil die über die Schrift transportierten sexuellen Imaginationen durch ihre extreme Gewaltsamkeit schockierend wirken und in diesem Schock die verführerische Attraktion brechen, die von den erotischen Posen der reizenden Illustriertenschönheiten ursprünglich einmal ausgehen sollte.
Ein voyeuristischer Genuß der schönen Frauenkörper will sich nicht mehr einstellen, nachdem der pornographische Text entziffert wurde, der mit drastischer Eindeutigkeit auf der triebhaften Gewaltsamkeit sexuellen Begehrens insistiert und damit den Körper des Blickes ins Spiel bringt, der zum Funktionieren des voyeuristischen Dispositivs unsichtbar zu bleiben
hat. Die Worte des aus japanischen Science-Fiction-Filmen bekannten Monsters Godzilla konfrontieren das warenästhetische Versprechen nach sinnlicher Befriedigung, das von den überschriebenen Bildern ausgeht, brutaistmöglich mit der Todesverfallenheit des Körpers. Sie weisen auf das destruktive Triebpotential hin, das sich im hedonistischen Konsumrausch fröhlichbesinnungslos auslebt. ..."
Aus: "NACKTHEIT- Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich" Herausgegeben von Kerstin Gernig (2002),
Quelle:
https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/81908/Ehrlicher_Brinkmann.pdfhttps://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/81908/Ehrlicher_Brinkmann.pdfhttps://de.wikipedia.org/wiki/Rolf_Dieter_Brinkmann#Literatur