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[1968 (Afterglow) // Notizen... ]

Started by Textaris(txt*bot), June 23, 2016, 01:46:37 PM

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Textaris(txt*bot)

#70
Pathetisch gesagt: Wir haben die abgespaltene Emotionalität zurückerobert.

Quote[...] taz FUTURZWEI: Lieber Herr Professor Sloterdijk, wir haben hier einen Brief von enttäuschten Lesern, die sich abwenden von dem, was wir als Vernunft verstehen, und zu den Corona-Protesten konvertieren. Wenn man das liest, denkt man, sie konvertieren von sich selbst zu etwas anderem. Uns interessiert, wie es genau funktioniert, dass angesichts einer krisenhaften Entwicklung Leute so wegkippen oder die Seite wechseln. Dem Sozialpsychologen fällt nichts dazu ein. Deshalb fragen wir den Philosophen.

Peter Sloterdijk: Ich fürchte, der Philosoph als solcher ist auch nicht imstande, hierauf sinnvoll zu antworten. Ich dürfte höchstens aus meiner eigenen Biografie schöpfen und mich daran erinnern, dass es in meiner Lebensgeschichte eine Periode gab, in der ich prekäre Erfahrungen gemacht habe, die ich nicht missen möchte, aber auch nicht festhalten konnte: das Glück, einer Sekte anzugehören, die im Besitz einer alternativen Wahrheit zu sein glaubt.

FUTURZWEI: Sie lebten um 1980 in dem Meditationszentrum des Bhagwan Shree Rajneesh im indischen Pune. Was suchten Sie?

Peter Sloterdijk: Damals gab es eine Phase, als bei uns die marxistisch codierten Rechthabe-Gefühle gegenüber dem Lauf der Welt am Verblassen waren, aber die Bereitschaft für eine alternative Wahrheit immer noch aktuell blieb, ob sie aus Indien kam oder von einem anderen Ende der Welt. Diese Neigung zu einer Konversion gegen das Gewöhnliche, so scheint mir, liegt auch heute wieder in der Luft. Jetzt wie damals wollen viele nicht glauben, dass die Vernunft bei der Mehrheit ist.

FUTURZWEI: Muss sie das denn?

Peter Sloterdijk: Nun ja. Lässt man sich auf die Annahme ein, dass Wahrheit auf die Dauer etwas mit Zustimmungswürdigkeit zu tun hat, so sollte es nicht falsch sein, wenn die Wahrheit sich um Mehrheit bemüht.

FUTURZWEI: Sind Sie damals auch aus der gesellschaftlichen Realität der späten 1970er-Jahre in eine alternative Wirklichkeit gewechselt?

Peter Sloterdijk: Nachdem das Wort »alternativ« so vergiftet ist, würde ich es anders ausdrücken. Die Fluchttendenz der späteren 70er-Jahre wies ja seltsamerweise in die Hauptrichtung der sozialen Entwicklung, sprich: Vermehrung der Freiheitsgrade, sexuelle Emanzipation, erhöhte Aufmerksamkeit für weibliche Werte. Was scheinbar als Orientalismus begonnen hatte, sollte sich als Vorschule zum kosmopolitischen Empfinden erweisen. 30 Jahre später wurde vom Mainstream eingeholt, was anfangs ins Abseits oder auf den Weg nach innen geführt hatte. Insofern hatten wir Poona-Reisenden Glück: Wären wir nicht vom Hauptfeld geschluckt worden, hätte sich die sektiererische Abspaltung vertieft. Das gilt vermutlich für die Vorhut meiner Generation insgesamt: Die 68er-Bewegung hatte die Form einer Sekte, die ironischerweise in den Mainstream mündete.

FUTURZWEI: Was ist denn damals mit Ihnen passiert?

Peter Sloterdijk: Mein Wechsel in die andere Wirklichkeit hatte damit zu tun, dass damals ein »alternatives« Wahrheitsverständnis aufgekommen war, vor allem dadurch, dass eine emotionale Komponente in die diskursiven Wirklichkeitsauffassungen eindrang. Die Sekte diente damals als ein Medium der emotionalen Vervollständigung. Pathetisch gesagt: Wir haben die abgespaltene Emotionalität zurückerobert. Mit bloß akademischen Mitteln, aber auch mit den Mitteln der traditionellen Psychoanalyse hätten wir sie nicht wiedergewinnen können. In den 70er-Jahren herrschte in der Subkultur eine gruppentherapeutische Euphorie. Die gipfelte in der Überzeugung, dass die Wahrheit im Gefühlsausbruch liegt und dass zur Authentizität eine gewisse Heftigkeit gehört.

FUTURZWEI: Das endete aber nicht zwangsläufig im Irrsinn.

Peter Sloterdijk: Sicher nicht. Doch warum? Weil wir damals in den inneren Grenzgängen den Unterschied zwischen Katharsis und Ausagieren kennenlernten. Wutausbrüche und Tränen sind manchmal Vorstufen zur Unterlassung von Verbrechen. Dadurch, dass die sektiererische Therapie- und Meditationsszene von damals eine Bewegung der menschlichen Vervollständigung war, musste sie eben nicht zur Abspaltung von der Gesamtgesellschaft führen. Diese Avantgarde-Idee, die damals mit einem gewissen Sektarismus verknüpft war, bedeutete ein Privileg, das Menschen in den 70er-, 80er-Jahren wahrnehmen konnten. Ich zähle mich zu den Begünstigten. Heute sehe ich hingegen mit Unruhe, dass auch viele Leute, die nicht zu denen mit den primitivsten Reflexen gehören, aus dem Gesprächszusammenhang der größeren Gesellschaft herausspringen, um ihre Wahrheiten nur noch subkulturell zu definieren. Diese Sezessionen zeigen eine riskante Dynamik auf. Man weiß nicht, ob diese Leute jemals zurückkommen.

FUTURZWEI: Versuchen Sie doch bitte eine Annäherung, was da genau passiert.

Peter Sloterdijk: Ich weiß nicht, wie die Matrix zu beschreiben wäre, aus der sich die sektiererischen Konversionen unserer Tage erklären ließen. Das allgemeine Schema von Krisenstress und Durchbruchsfantasie dürfte auch auf sie anwendbar sein. Hermann Broch hatte von den späten 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts an seine »Massenwahntheorie« formuliert, die ich in den 80er-Jahre studierte. Broch wusste, wovon er redet, er hatte die aufgepeitschten Massen der NS-Zeit vor Augen, und seine Faschismustheorie ist aktuell geblieben. Seiner Auffassung nach sind moderne Gesellschaften großformatige Ensembles in präpanischer Erregung, die unter dem Eindruck von Krisenstress mehr oder weniger plötzlich in akute Panikzustände versetzt werden können. Demnach wäre Panik der Stoff, aus dem die irrationalen Masseneffekte sind. Kollektivpaniken manifestieren sich in Massenflucht durch enge Ausgänge oder in der Zuflucht zu einem Retter. Der trägt das Mandat, das Volk wieder groß zu machen, indem er die befreiende Katastrophe herbeiführt.

FUTURZWEI: Werden die Leute, die jetzt abspringen, irgendwann wieder zur rationalen Betrachtung der Lage zurückfinden?

Peter Sloterdijk: Wenn ich Brochs Schema auf die aktuellen Verhältnisse in den USA anwende, sehe ich ein großes Segment der Population, das auf der Schwelle vom präpanischen zum panischen Zustand schwankt. Nachdem die panische Vorhut, die das Kapitol stürmte, zurückgeschlagen wurde, ist zu vermuten, dass zahlreiche Unterstützer sich zu milderen Formen von Sektarismus rekonvertieren werden. Auch fanatische Trumpianer werden wahrscheinlich nicht in der Dauerverrücktheit stehen bleiben. In Amerika sind die verschiedenen Formen des Irrationalismus sehr durchlässig und können jederzeit in weniger heftige Ausprägungen übergehen. Man weiß zum Beispiel, nicht alle, die sich bei Ron Hubbard und seiner Science-Fiction verhakt hatten, sind dabeigeblieben, obwohl man ihnen den Ausstieg schwer machte. Wer abfällt, kann sich dort drüben ziemlich leicht in mildere Formen des evangelikalen Separatismus einordnen.

FUTURZWEI: Die Frage ist doch, ob ein der Realität angemessenes wirtschafts- und klimapolitisches Rahmenprojekt überhaupt Konsens werden kann. Vielleicht sind die Lösungen für die aktuellen Probleme zu komplex, um populär zu werden, weswegen Radikalisierung und Irrsinn zunehmen.

Peter Sloterdijk: Eine Radikalisierung geschieht besonders in dem Augenblick, wo jemand sich selbst zum Medium des Zeitgeistes proklamiert, sagen wir etwa im »Modus Greta«. Radikalisierung liegt immer in der Luft, wenn Menschen die Flucht »aus der Angst in die Ekstase« vollziehen, um den Titel der bekannten klinischen Studie von Pierre Janet aus den 1920er-Jahren zu erwähnen.

FUTURZWEI: De l'angoisse à l'extase. [Von der Angst zur Ekstase. ... De l'angoisse à l'extase: études sur les croyances et les sentiments
Buch von Pierre Janet 1926]

Peter Sloterdijk: Konversionen sind für die kommenden Jahre und Jahrzehnte massenhaft zu erwarten; es ist sehr wahrscheinlich, dass immer mehr Menschen aus der Angst in die Ekstase aufbrechen, beziehungsweise aus der Ratlosigkeit in die Mission. Menschen als sinnsuchende Wesen sind leicht dazu zu bewegen, sich als Träger einer Mission zu verstehen, sobald sie spüren, wie der Appell eines Großproblems durch ihr eigenes Leben hindurchläuft.

FUTURZWEI: Wobei Greta Thunberg eine Zuwendung zu rationaler Politik repräsentiert und gerade nicht eine Abwendung.

Peter Sloterdijk: Sie wechselt aus der pubertären Ohnmacht in eine Ergriffenheit, aus der ihre Mission entspringt.

FUTURZWEI: Aber auf einer rationalen Grundlage: dass nur globale Politik in der Lage ist, die globalen Probleme zu lösen.

Peter Sloterdijk: In jeder Epoche werden andere Aufstiege in erweiterte Horizonte ausprobiert. Nach der Französischen Revolution führten die zeitgemäßen Konversionen regelmäßig zu liberalen oder zu sozialistischen Positionen. Wem dieses starke Entweder-oder zu anspruchsvoll schien – denn Liberalismus ohne Selbstlosigkeit ist ebenso undenkbar wie Sozialismus –, der konvertierte eher zur Nationalität und fand in der Behauptung des eigenen Kollektivs seine Mission. Was man als eine betrügerische Form der Selbstmission betrachten kann.

FUTURZWEI: Inwiefern?

Peter Sloterdijk: Dass man für das, was man durch Geburt sowieso ist, auch noch Partei ergreift, als ob die chauvinistische Selbstvergrößerung etwas Höheres sei. Dabei hatte der selige Nicolas Chauvin, der unter Napoleon diente, noch seine 17 Verwundungen, mit denen er prahlen konnte.

FUTURZWEI: Unsere Grundfrage lautet: Werden die Leute wirklich irre im Sinn einer Pathologie oder haben diese Formen von Wahrheitssuche im »alternativen« Bereich andere Ursachen? Sie haben jüngst in einem Essay über den »Zynismus des Pöbels« gesprochen und ihn als Reaktion auf den »Zynismus der Eliten« gedeutet. Zynischer Pöbel, das wären in den USA die Leute, die das Kapitol in Washington stürmen, bei uns sind es die Corona-Leugner, die keine Lust mehr haben, die Maske aufzusetzen, weil sie meinen, auf andere keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen, nachdem die anderen, scheinbar, auch keinerlei Rücksicht auf sie nehmen.

Peter Sloterdijk: Die Bilder vom Sturm aufs Kapitol werden uns noch eine Weile beschäftigen. Ich bin überzeugt, dass es keineswegs nur Unterschicht-Individuen waren, die sich da zusammengefunden haben. Es waren akademische Personen dabei, auch Militärs, Millionärssöhne und Staatsfeinde aller Couleur. In den USA läuft gerade eine interessante Diskussion darüber, ob es nicht »abwärtsmobile Intellektuelle« sind, zum Teil mit PhD – früher hätte man sie »deklassiert« genannt, die sich in den gegen den Konsensus meuternden Gruppen hervortun, weil sie dort Sprechrollen finden, wie sie sie als Hochschullehrer oder als Beiträger zu Feuilletondebatten nie und nimmer wahrnehmen könnten. Man sollte, scheint mir, solche Ereignisse immer auch mit dem Zynismus des geschulten Berufsberaters betrachten. Die Krise ist eine große Arbeitgeberin, und aus dem ideologischen Chaos entspringen immerzu wilde Karrieren, in die man nur im Modus der Selbsternennung gerät.

FUTURZWEI: Wenn ich bei der CDU nix geworden bin und zur AfD gehe, kriege ich dort eine beachtliche Rolle. Bekehrungen dieser Art sind sichtlich interessengeleitet. Aber es gibt unleugbar auch einen Teil der Gesellschaft, der es aufgegeben hat, an die Vertretung seiner Interessen im etablierten Parteienspektrum zu glauben. Der möchte jetzt einfach nochmal auf die Kacke hauen. Das ergibt seine alternative Wahrheit.

Peter Sloterdijk: Also hätten wir es nicht mit Wahrheitsuchern zu tun, sondern Wahnsinnssuchern, mit Krawallisten im Alternativengewand. Man kann das mit den grellen Posen in der Popkultur vergleichen. In der Multioptionsgesellschaft ist ein wenig Wahnsinn ein Geschäftsmodell. Man kommt vermutlich analytisch weiter, wenn man bei Phänomenen dieser Art eine Variante von politischem Existenzialismus als Deutungsschlüssel ansetzt, als wenn man beim Einzelnen tiefenpsychologische Motivforschung betreibt. Erweckungen gehören zu den elementaren Risiken von Lebensläufen, sie finden zu den ungewöhnlichsten Zeitpunkten statt. Oft geschehen sie zu Zeiten, wenn der äußere Druck zunimmt. Sektenforscher konnten zeigen, dass der Zustrom zu islamischen Gruppen sich verdoppelt, sobald die antiislamische Repression kulminiert.

FUTURZWEI: Das heißt?

Peter Sloterdijk: Das heißt, es gibt eine Dynamik der Gegenidentifikation. Wer der Mehrheit beitritt, löst sich auf. Mehrheit ist eine fade Bouillon. Meistens traut man sich nicht genügend Kompaktheit zu, um sich nicht in der Normalbrühe aufzulösen. In der Minderheit behält man Kontur. Wer verneint, spürt sich mehr. Im Übrigen muss man in diesem Zusammenhang auch an alte Soldatenweisheiten erinnern. Eine davon lautet: Noch immer hat der Krieg seinen Mann ernährt. Das heutige Äquivalent zum Krieg ist die andauernde Krise, auch die sorgt für die Ihren.

FUTURZWEI: Eine Sache, die auffällt, bei allem, was Sie schreiben oder in Interviews äußern: Die Medien, sagen Sie, sogar die Qualitätsmedien, seien Betreiber und Verstärker der Irrationalität. Weil das deren Geschäftsgrundlage ist?

Peter Sloterdijk: Ohne Zweifel. Die Medien sind in funktionaler Sicht Partner des Unfalls, des Verbrechens, des schlimmen Gerüchts. Sie bewirtschaften Ereignisse und Katastrophen. Die kurzfristige Katastrophenpublizistik hat naturgemäß einen irrationalen Anteil. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, die Medien kooperierten allesamt mit dem Irrsinn. Aber denken Sie an die Resonanz auf einen Terroranschlag im eigenen Land oder innerhalb der Europäischen Union: Regelmäßig wird jeder Angriff im Maßstab von eins zu einer Million vergrößert, bis sich alle bedroht glauben. Dabei sollte man längst wissen, dass Terrorismus eine Kommunikationstechnik ist, die nur funktioniert, wenn sie mit medialen Multiplikationen rechnen darf. In Lenins Dekreten über den roten Terror von 1918 wird verordnet, dass die Publikation der Listen der von Revolutionären Ermordeten in einem Umkreis von einhundert Werst bei denen, die als Nächste dran sein könnten, Furcht und Zittern bewirken muss.

FUTURZWEI: Sie haben gesagt, was sich als Information ausgibt, ist in der Sache oft nichts anderes als Erregung, Vergiftung und Zerstörung der öffentlichen Urteilskraft.

Peter Sloterdijk: Das kann man im Hinblick auf viele Abläufe bestätigen. Die Verknüpfung zwischen der Epidemiologie und der Semantik wurde übrigens schon durch Jean Baudrillard vor einem halben Jahrhundert hergestellt. Demnach soll man bei jeder Nachricht neben dem Content auch die emotionale Ladung in Betracht ziehen, weil sie es ist, die für die Ausbreitung sorgt. Nachrichten sind Vektoren, sie sind erfolgreich, wenn sie informatische Epidemien auslösen. Das moderne Nachrichtenwesen vollzieht sich im Modus von künstlichen Epidemien, die binnen 24 Stunden Millionenpopulationen infizieren. Ohne die Ansteckungsfaktoren können emotionale und thematische Synchronisierungen größerer Populationen nicht gedacht werden. Gelegentlich findet auch effektive Information statt, denn im Wettstreit zwischen dem Mitteilungswert und dem Erregungswert einer Nachricht kann gottlob so etwas wie Lernen und Abklärung geschehen. Wäre es anders, blieben uns nur Verhetzung und Verrücktmacherei.

FUTURZWEI: Abgedriftete Milieus lassen aufklärerische Informationen nicht mehr an sich heran.

Peter Sloterdijk: Das finde ich sehr beunruhigend. Auch die Tatsache, dass Trump hartnäckig den Wahlsieg reklamierte, spricht dafür, dass er nur noch den Spiegelungen seiner Fiktionen begegnete. Für Tatsachen gab es in seinem Weltbild keinen Platz mehr.

FUTURZWEI: Für knapp die Hälfte der Wählerschaft in den USA, 74 Millionen Menschen, scheinen unsere Rationalitätskriterien also nicht mehr konsensfähig. Aus historischer Sicht beobachten wir in den totalitären Systemen genau diesen Effekt: Was wir als moderne Demokraten als vernünftig verstehen, wird völlig suspendiert, und eine andere Form von kollektiver Wahrheit wird etabliert. Insofern ist die Frage nach dem Irresein letztlich auch eine Frage nach dem Verhältnis von Mehrheit und Minderheit. Bei einer knappen Minorität von 74 Millionen wird es schwierig.

Peter Sloterdijk: Wer heutzutage auf eine reine Konsensus-Theorie der Wahrheit setzen wollte, gerät in eine etwas problematische Situation, vorsichtig gesprochen. Der Konsensus ist offenbar nicht imstande, sich dem Schwerefeld des Wahns zu entziehen.

FUTURZWEI: Damit rühren wir an einem heiklen Punkt der Gegenwart.

Peter Sloterdijk: Aber auch an einem heiklen Punkt der Vergangenheit. Denken Sie daran, dass im 17. Jahrhundert jeder dritte Spanier sich entschlossen hatte, in einen Orden einzutreten. Was verrät, wie sehr die Lebensperspektiven für die meisten Menschen auf der Iberischen Halbinsel jener Zeit versperrt waren. Der Aufbruch in die Neue Welt, die man gerne mit der spanischen Seefahrt verbindet, war nur relativ wenigen zugänglich.

FUTURZWEI: Worauf wollen Sie hinaus?

Peter Sloterdijk: Das war die höchste Blütezeit der spanischen Kultur, die Wendung »Siglo de Oro«, Goldenes Jahrhundert, klingt uns ja immer noch in den Ohren. Gleichzeitig war der Faktor kollektiver Verrücktheit so immens wie später kaum jemals wieder. Um das an einem prominenten Beispiel zu erläutern: Würde uns Isaac Newton heute über den Weg laufen, auch er ein Geschöpf des 17. Jahrhunderts, würden ihn die meisten für einen illuminierten Verrückten halten. Seine Biografen berichten, dass er ein paar Hundert Bücher mit naturwissenschaftlichen Titeln besaß, der Schwerpunkt seiner Bibliothek bestand aber aus esoterischen Büchern, deren Inhalt wir längst als Hokuspokus betrachten. Sobald Newton der Mathematik den Rücken kehrte, schwelgte er in Irrationalismen. Wahrscheinlich neigen wir dazu, den Verrücktheitsindex für kollektive Zustände in der Vergangenheit zu unterschätzen und für die gegenwärtige Zeit zu überschätzen.

FUTURZWEI: Wenn wir uns der Gemeinde der modernen Vernunft zurechnen würden und bestimmte Rationalitätsunterstellungen machen, dann stellt sich angesichts der Hälfte der amerikanischen Wählerschaft doch die Frage: Trägt denn das noch, wozu wir uns bekennen? Oder stehen wir als selbsternannte Vernünftige längst mit dem Rücken zur Wand? In einem Essay zum Brexit im Handelsblatt haben Sie vor Kurzem einige diagnostische Denkfiguren vorgeschlagen: Sie deuten den Populismus als Aggressionsform der Simplifikation und die Demokratie als Ernstfall der Epidemiologie. Was heißt das?

Peter Sloterdijk: Wir sehen die Flammenschrift an der Wand doch schon seit längerer Zeit. Bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich vom April 2017 haben in der ersten Runde mehr als 41 Prozent der Wähler für links- und rechtsradikale Wahnsysteme votiert, die unter den Namen Le Pen und Mélenchon firmieren, zusammen über 14 Millionen Stimmen, während der spätere Präsident Macron in der ersten Runde achteinhalb Millionen Stimmen auf sich vereinte und froh sein durfte, die zweite Runde zu erreichen, um sie dann gegen Le Pen zu gewinnen; die erreichte bestürzende 34 Prozent. Die Bereitschaft von Menschen, mit ihren Wählerstimmen verrückte Dinge zu treiben, ist seit der Verkündung des allgemeinen Wahlrechtes sehr hoch, die Einführung der allgemeinen Vernünftigkeit erfolgte offensichtlich asynchron. Das ist, möchte ich meinen, eine geschlechtsneutrale Beobachtung.

FUTURZWEI: In dem oben erwähnten Brief lauten die zentralen Formulierungen, auf den Punkt gebracht: Hiermit trete ich aus der Wirklichkeit aus! Zugleich mache ich anderen das Angebot, mit mir aus der Wirklichkeit auszutreten. Auch angesichts der Entwicklungen durch die Pandemie stellt sich die Frage: Wächst das Bedürfnis nach dem Austritt aus der Wirklichkeit?

Peter Sloterdijk: Wenn man das wissen könnte! Sie rühren jedenfalls an dem sensitiven Punkt. Man könnte Heraklit zitieren, der bemerkte, dass schlafend jeder Mensch in seiner eigenen Welt sei. Es komme aber darauf an, der gemeinsamen Tageswirklichkeit zu folgen. Seit jeher werden viele Communities über Trauminhalte oder Fest- und Rausch-Zusammenhänge gestiftet. Es gibt wohl so etwas wie einen Sozialismus der Nacht. Wir Europäer haben zur Stunde Glück, dass die Wirklichkeitskonstruktion der Mehrheiten im Moment zumeist ohne allzu deutliche neurotische und psychotische Komponenten geschieht, zumindest was die westeuropäische und skandinavische Grundsituation anbelangt.

FUTURZWEI: Wie das?

Peter Sloterdijk: Nun ja, das Verlangen nach Wahnsinn scheint bis auf Weiteres noch bei den Minderheiten zu sein, obschon es an vielen Stellen köchelt. Von den irrationalen Wellen in Frankreich haben wir gesprochen; was soll man erst von den Polen sagen, die meinen, ihr Land sei der Christus unter den Völkern und der vor einigen Jahren mit dem Flugzeug abgestürzte Präsident ein Märtyrer?

FUTURZWEI: In Polen ist die Ansicht populär, ihr damaliger Präsident sei ermordet worden. Beobachter im Ausland gehen eher davon aus, er habe neunzig Leben auf dem Gewissen, weil er den Piloten der Unglücksmaschine nötigte, zum vierten Mal den Landeanflug zu versuchen, bei Sicht gegen Null.

Peter Sloterdijk: Die Formel vom »Austritt aus der Wirklichkeit« scheint mir sehr entwicklungsfähig. Gerade kommt mir der Satz von Joseph Beuys ins Ohr: »Hiermit trete ich aus der Kunst aus.« Er wollte in etwas eintreten, was wirklicher und verbindlicher sein sollte als Kunst in ihrer betriebsförmigen Verfasstheit. Man kann es auch so sagen, dass viele Menschen sich gern im spitzen Winkel zur Wirklichkeit aufstellen, wodurch die sogenannte Wirklichkeit an ihnen abgleitet wie am Bug eines Schiffes. Man geht im Keil auf das sogenannte Reale zu, Frontalität ist in der Regel unerwünscht. Das Austreten aus der Wirklichkeit ist übrigens zu einer Industrie geworden, seit die Menschen dank der Vierzigstundenwoche sehr viel Freizeiten erlangt haben. Seit der frühen »Kritischen Theorie« ist die Diagnose ausgesprochen und hingeschrieben, dass die Unterhaltungsindustrie auf ihre Weise den Ernstfall der Industriegesellschaft inkarniert. Ablenkung gehört zu den ernstesten Dingen – schon Pascal hatte das erkannt, als er notierte, ein König ohne Unterhaltung sei ein elendes Geschöpf. Zumeist treibt man Unfugsprävention, indem man den Unfug ritualisiert.

FUTURZWEI: Dazu gehört auch der heilige Unernst, mit dem häufig über Politik gesprochen wird.

Peter Sloterdijk: Könnte es nicht sein, dass die reale Realität die Summe der Eskapismen ist? Ich habe jüngst gelesen, die Lebenserwartung bei russischen Männern sei in den letzten 20 Jahren kräftig angestiegen. Gegen das Ende der Sowjetunion lag sie so niedrig wie zuvor nur bei steinzeitlichen Bevölkerungen. Viele Menschen im Osten hatten nicht den Übergang vom Kapitalismus in den Sozialismus erlebt, sondern den in den Alkoholismus. Diese Tendenz gehört im Übrigen zu den Modernismen, an denen die muslimische Welt sich nicht beteiligt. Wahrscheinlich hat die Erregungs- und Gekränktheitsbereitschaft von Muslimen etwas mit ihrer Abstinenzkultur zu tun. Das wichtigste Ventil der dionysischen Kulturen steht bei ihnen nicht offen. Dann nimmt auch die Religion leichter einen rauschhaften endomorphinistischen Zug an.

FUTURZWEI: Könnte der Evangelikalismus US-amerikanischer Prägung zu einem Rauschdefizit führen, der sich dann in die Exaltiertheit der Wirklichkeitsdeutung übersetzt und in fanatische Gemeinschaftsbildung im Sinn einer Trump-Gefolgschaft übergeht?

Peter Sloterdijk: Man darf einen Zusammenhang vermuten. Dafür spricht die Tatsache, dass die evangelikalen Rituale sich als außerordentlich exportgeeignet erweisen. In Lateinamerika, wo die katholische Kirche das religiöse Feld jahrhundertelang nahezu monopolisiert hatte, hat man den protestantischen Sekten aus dem Norden Tür und Tor geöffnet. Die Triade aus Jubel, Arbeit und Struktur war bei den Ärmeren erfolgreich implantierbar. Sie gibt eine Art von Halt, wie er in der Szene des herkömmlichen katholischen Pauperismus nicht zu finden war. Über Phänomene dieser Tendenz wird man im Lauf des 21. Jahrhunderts noch einiges hören, denn die Sekten wachsen schnell. Es gehört ja, wie Canetti in Masse und Macht gezeigt hat, zum Wesen der Sekte, dass sie expandieren muss. Die Sektenmasse erhält sich, indem sie immer mehr vom Außen in sich hineinzieht. Ihre Hymne heißt: Wir werden immer zahlreicher.

...


Aus: "Philosoph Peter Sloterdijk im Gespräch: Austritt aus der Wirklichkeit" Interview: PETER UNFRIED und HARALD WELZER (2021)
Quelle: https://taz.de/Philosoph-Peter-Sloterdijk-im-Gespraech/!5763709/

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Die Beatles haben ihren letzten öffentlichen Auftritt zu viert, lösen sich aber nicht auf. Ihre nächsten Kompositionen sind Teil der 68er-Revolte

... Wer im Erfolg der Beatles ein nicht nur musikalisches, sondern auch politisches Phänomen sieht, wird gleichwohl die Jahre vor 1966 am interessantesten finden. Politisch? Sie taten doch nichts, als von Liebe zu singen. Immerhin machten sie außerhalb der Konzerte keinen Hehl daraus, dass sie etwa den Vietnamkrieg der USA missbilligten. In Manila, der Hauptstadt der Philippinen, spielten sie im Sommer 1966 vor 80.000 Menschen, weigerten sich aber anschließend, mit der Diktatoren-Gattin Imelda Marcos zu Abend zu essen. In den USA galt damals noch die Rassentrennung, auch bei Konzerten. Die Beatles bestanden jedoch auf deren Aufhebung und machten davon ihren Auftritt abhängig. ... An der letztgenannten ,,Nebensache" sieht man schon, was ihre ,,Politik" war, nämlich dass sie ungeheure Massen von Jugendlichen versammelten, denen sie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit gaben. Wenn sie auch sonst nichts verlangten oder erwarteten – keine spezielle politische Botschaft vortrugen, wie das andere Bands taten –, eine Spaltung ihres Publikums ließen sie nicht zu. Und das Gefühl der Zusammengehörigkeit war keine Illusion.

... Wenn man die Lieder der Beatles durchgeht, ist All You Need Is Love wohl noch das politischste. Paradox genug! Denn hier wird nicht einmal von der Liebe, wie in anderen Liedern, viel erzählt (wie man auf sie hofft, was ihre Krisen sind, wie sie scheitert), sondern wir hören ,,love, love, love" und nur so viel wird deutlich, dass es auch um den Frieden geht. Sie singen nicht ,,Make love, not war", aber darauf läuft es hinaus. Wichtig die Nebenumstände: Da das Lied für eine Fernsehsendung bestellt worden war, die am 25. Juni 1967 per Satellit weltweit übertragen wurde und 600 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer fand – nicht weniger, eher mehr als die Mondlandung 1969 ...

... Vor 1968 indes hatten die Beatles zur Einigkeit und Freiheit und Selbstautorisierung einer riesengroßen Jugendbewegung beigetragen. Was war denn so besonders an ihrer Musik? An dem Lied, das Ende 1963 ihren Durchbruch zur weltweiten Berühmtheit bewirkte, lässt es sich vielleicht zeigen: I Want to Hold Your Hand. Man sieht schon, wieder nichts als Liebe. ,,Und wenn ich dich berühre, fühle ich mich glücklich", ,,ich glaube, du wirst verstehen" und so weiter. Bei ,,Ich kann meine Liebe nicht verbergen" haben die Mädchen am lautesten gekreischt. ...


Aus: "1966: Tanz über Abgründen" (Michael Jäger | Ausgabe 35/2021)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/1966-tanz-ueber-abgruenden

Quote
man.f.red | Community (08.09.2021)

"There's nothing you can do that can't be done."

Gestern Abend etwas nachgedacht; ich will versuchen, das Geschehen der 60er und 70er einmal etwas beispielhaft zu verkürzen, auch mit drei Musikstücken, die den damaligen ,Geist der Zeit' aufzeigen mögen.

Die Bewegung im Westen, der 'Aufstand der Jugend' im weitesten Sinne, speiste sich im Wesentlichen durch drei kulturelle Quellen, die ich einmal so kategorisieren möchte:

- die ,Liebe und Frieden' Fraktion,

https://vimeo.com/252765355

All you need is love Beatles 1967

- die ,Freiheits'-fraktion (antiautoritäre Bewegung),

https://www.youtube.com/watch?v=Yo1vipNAC6w

Born to be Wild Steppenwolf 1968/69

- die ,Widerstands'-fraktion' (APO, SDS, Initiativen, u.a.).

https://www.youtube.com/watch?v=XBHdTzuveww

Der Traum ist aus Ton Steine Scherben 1971/72

-

Über die Jahre oszillierte Jung-Mann und Jung-Frau durch die Farben dieses Spektrums, vor und zurück, nur relativ wenige können wahrscheinlich nur einem Farbstrahl zugeordnet werden.

Graphisch dargestellt ist dies auf dem Album-Cover von

https://www.youtube.com/watch?v=1vw1pdjydp0

Dark Side of the Moon Pink Floyd 1973

-

M.E. das Entscheidende in diesen Jahren war die tiefgehende Verschmelzung von ,Liebe-Freiheit-Widerstand' die enorme kreative und konstruktive Potenziale bei Jung-Mensch freisetzte.

Das war etwas wie ,der gerechte Zorn' (obwohl das auch nicht ganz greift).

Ich denke, an den Gestaltungsmöglichkeiten dieser emotionalen Amalgamation hat sich bis heute - im Prinzip - nichts geändert.

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Der aufkommende Neoliberalismus und seine staatlichen Wächter/innen bogen diese ,Kategorien' (Farben des Spektrums) nach Gesichtspunkten der kapitalistischen Verwertbarkeit um, z.B. in das Ersatzprisma von ,Übersexualisierung – endlosem Konsum – geregeltem Aktivismus (e.g. Sport)' mit einer wesentlich strikteren Überwachung- und Ordnungsmacht.

"Shop till you drop."

Kaufen bis zum Umfallen.


...

Textaris(txt*bot)

#72
Peter Brückner (* 13. Mai 1922 in Dresden; † 10. April 1982 in Nizza) war ein deutscher Kritischer Sozialpsychologe und Hochschullehrer. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Br%C3%BCckner

Aus dem Abseits ist ein deutscher Dokumentarfilm von Simon Brückner aus dem Jahr 2015. Darin porträtiert er seinen Vater, den Sozialpsychologen Peter Brückner, der in den 1970er Jahren zur Symbolfigur der Studentenbewegung wurde. Der Kinostart war am 3. Dezember 2015. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Aus_dem_Abseits

Aus dem Abseits – Ein Film über Peter Brückner
Filmbesprechung von Klaus-Jürgen Bruder
Die Suche des Sohnes nach dem verlorenen Vater
(BRD 2015, Kinostart: 03.12.2015)
Regie, Buch: Simon Brückner
Filmbesprechung von Klaus-Jürgen Bruder  - Hamburg, 03.12.2015
http://www.film-und-politik.de/BRK-ADA.pdf

Aus dem Abseits (Trailer)- Kinostart: 03.12.2015
https://youtu.be/fErkfSg4mvU


Textaris(txt*bot)

#73
Der Neue Deutsche Film (auch Junger Deutscher Film, abgekürzt JDF) war ein Filmstil in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre. Prägende Regisseure waren Alexander Kluge, Hansjürgen Pohland, Edgar Reitz, Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Werner Herzog, Hans-Jürgen Syberberg, Peter Fleischmann, Werner Schroeter sowie Rosa von Praunheim und Rainer Werner Fassbinder. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Neuer_Deutscher_Film

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Quote[...] Rainer Werner Fassbinder (1945-1982) war wahrscheinlich die wichtigste Figur des deutschen Nachkriegsfilms. Ganz sicher kam ihm an Produktivität niemand gleich. Seine Filme sind nur noch selten zu sehen. Die frühen, die ihn sehr schnell bei der damals filmisch sehr interessierten politischen und kulturellen Avantgarde berühmt machten, sieht man so gut wie nie. Wer aber "Liebe ist kälter als der Tod", "Katzelmacher" oder "Warum läuft Herr R. Amok?" gesehen hat und mehr über Fassbinder erfahren möchte, der renne in die nächste Buchhandlung und kaufe "Fassbinder über Fassbinder", eine Sammlung von Interviews mit Fassbinder. Sie entstanden zwischen 1969 und 1982.

Er muss anfangen mit dem ersten Interview. Es entstand 1973 und wurde völlig zu Recht dem Band vorangestellt. Corinna Brocher wollte damals einen Film über Fassbinder drehen und unterhielt sich dafür mehrere Tage mit ihm. Diese Gespräche nehmen hier mehr als 150 Seiten ein. Sie sind nicht nur die beste Einführung in Leben und Werk Fassbinders, sie sind einer der besten Texte über 1968. Die Ursprünge und der Verlauf der Revolte werden selten so klar, so erschreckend klar wie hier. Natürlich hat das auch damit zu tun, dass kaum jemand sie so extrem gelebt hat wie Fassbinder. Wer damals gegen den Vietnamkrieg war und nur drei, vier Mal im Jahr gegen ihn demonstrierte, ansonsten aber Schule und Studium brav absolvierte, der war gefeit vor den selbstmörderischen Verrücktheiten, wie sie im Fassbinder-Clan gelebt wurden. Aber man versteht 1968 nicht, wenn man nicht begreift, dass es damals vor allem um diese Verrücktheiten ging. Man nannte das "Bewusstseinserweiterung". Darunter versteht man damals wie heute in erster Linie extensiven Drogenkonsum. Aber 1968 gehörte zur "Bewusstseinserweiterung" auch die Infragestellung aller überkommenen Ansichten. Je selbstverständlicher sie einem erschienen, desto heftiger wurden sie in Frage gestellt. Es war die Zeit, in der das Private öffentlich wurde und die Normalen für verrückt erklärt wurden.

Heute, da in langen Jahren heftigster Auseinandersetzung geklärt wurde, wie weit man mit den Gedanken gehen und wie kurz die Strecke ist, auf der man ihnen mit Taten folgen darf, ist einem das damals fast Selbstverständliche ganz fern gerückt. Die verzweifelten, selbstanalytischen Gespräche, die Hinterfragung einer jeden Handlung, sind wieder in die Intimität der Zweierbeziehung verschwunden. Damals waren sie ein paar Jahre lang wenn nicht öffentlich, so doch in den kleinen Öffentlichkeiten der sich politisch gerierenden Gruppen. Fassbinder erzählt zum Beispiel, wie er seine erste Theatergruppe bekam: Er schlief mit der Frau des Chefs. Der hieß übrigens Horst Söhnlein und war später bei den Kaufhausbrandstiftern in Frankfurt/Main dabei. Er sprang aber noch rechtzeitig ab, bevor die sich zur Roten Armee Fraktion entwickelten. Nicht anders - das wissen wir heute nach den Forschungen von Jane Goodall - geht es bei Schimpansengruppen zu. Vielleicht gibt es auch unter ihnen Männchen, die das mit ähnlich emanzipatorischen Floskeln garnieren, wie Fassbinder das tat. Das Großartige aber ist, dass je länger man das Interview liest, einem immer unklarer wird, ob Fassbinder seine Geschichten zur Verteidigung erzählt und ihm die Wahrheit - oder das, was wir dafür halten - nur so nebenbei entschlüpft, oder ob Fassbinder uns nicht doch die Wahrheit erzählen möchte, weil er besessen ist von ihr. So sehr besessen, dass er an ihr festhält, auch wenn sie gegen ihn spricht.

Er hat sich einfach mehr für die Wahrheit als für die Moral interessiert. Er zeigt sich als das Schwein, das er ist, nicht aus Demut, sondern weil er es interessant findet, dass jemand, der so begabt, so deutlich den anderen überlegen ist, nicht verzichtet auf die niedrigsten, verwerflichsten Mittel, um seine Begabung zu praktizieren und durchzusetzen. Wer heute glaubt, Fassbinder sei nur ein Meister der Darstellung des Psychoterrors gewesen - man denke nur an einen der großartigsten Filme der Filmgeschichte, an "Martha", für den Corinna Brocher übrigens das Script führte -, der wird hier eines Besseren belehrt. Fassbinder war Psychoterrorist. Wenn er filmte, dann filmte ein Täter. Ein Täter freilich, der seine Opfer sehr gut beobachtet hatte. Ein Folterer, der genau Bescheid wusste, wann es wo besonders weh tat. Gerade das macht Fassbinders einzigartige Stellung im Neuen Deutschen Film aus. Er war kein Sozialdemokrat.

...

"Fassbinder über Fassbinder". Hrsg. von Robert Fischer. Verlag der Autoren, Frankfurt/Main 2004. 673 Seiten, broschiert, ISBN 3886612686

Rainer Werner Fassbinder: "Im Land des Apfelbaums". Gedichte und Prosa aus den Kölner Jahren 1962/63. Hrsg. von Juliane Lorenz und Daniel Kletke. Schirmer/Graf, München 2005. 187 Seiten, farbige und s/w. Fotos, gebunden, ISBN 3865550193



Aus: "Kein Sozialdemokrat - Vom Nachttisch geräumt: Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann" (06.02.2006)
Quelle: https://www.perlentaucher.de/vom-nachttisch-geraeumt/fassbinder-war-kein-sozialdemokrat.html

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#74
Hat ja niemand behauptet, dass der erst 1968 begann.

Quote[...] Die "Akte Seberg" hat hunderte Seiten. Jede davon ist voll illegal erhaschter Einblicke in das Leben, die Psyche und das Bett der Schauspielerin Jean Seberg. Die Akte beinhaltet ihren Tagesablauf und ihre Aufenthaltsorte, Mitschriften ihrer Telefonate und heimlich geschossene Fotos. Und dazwischen sind interne Memos der US-Ermittlungsbehörde FBI abgeheftet, die für all das verantwortlich ist. Denn Seberg engagiert sich gegen Rassismus und für die US-amerikanische Black Panther Party. Das Ziel ihrer Überwachung wird in der Akte mit einem einzigen Wort zusammengefasst: ihrer "Neutralisierung".

Die Kettenreaktion, die zu alldem führt, wird 1956 in Gang gesetzt. Jean Seberg ist erst 17 Jahre alt, als sie durch eine Talentsuche vom ländlichen Iowa nach Hollywood gerät. Blutjung und unerfahren wird sie für Rollen ausgewählt, die sie nicht ausfüllen kann. Die Kritiker sind gnadenlos, der Regisseur, der sie entdeckt hat, ebenso. Als sie in einer Szene auf einen Scheiterhaufen steigen soll, gerät dieser tatsächlich in Brand. Die Flammen erfassen ihren Körper. Fasziniert von ihrem unverfälschten Schrei verwendet der Regisseur ihn im Film. Mit nur 21 Jahren verlässt Seberg Hollywood. Die Traumfabrik hat sie beinah zermalmt.

Sie geht nach Paris und erhält dort eine der Hauptrollen in "Außer Atem". An der Seite von Jean-Paul Belmondo spielt sie eine amerikanische Studentin, die einem Kleinkriminellen erst zur Geliebten und dann zum Verhängnis wird. Der Film bricht mit den etablierten Regeln des Kinos, stößt erst auf Unverständnis und wird dann zu einem Klassiker der Nouvelle Vague. Seberg mit ihrem raspelkurzen Haar und dem bildschönen Gesicht wird zur Ikone. Das T-Shirt, das sie in ihrer Rolle trägt, wird bis heute als kultiger Merchandise gekauft.

Seberg ist plötzlich ein Star des französischen Kinos. 1962 bringt sie in Paris einen Sohn zur Welt, dessen Vater der Schriftsteller Romain Gary ist. Die beiden heiraten und führen eine offene, von einvernehmlichen Affären geprägte Ehe. Sebergs Erfolg bleibt auch in ihrer Heimat nicht unbemerkt. Die nächsten Jahre lebt und arbeitet sie beiderseits des Atlantiks. 1968 reist sie für ein Engagement zurück in die USA, wo die Bürgerrechtsbewegung und die Proteste gegen den Vietnamkrieg gerade ihren Siedepunkt erreichen. Und Seberg weiß, auf welcher Seite sie steht.

Sie unterstützt die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) und Indigene, die nahe ihrem Heimatort leben. Ihr Engagement spricht sich herum, und wohl nicht ganz zufällig lässt sich auf einem Flug neben ihr der schwarze Aktivist Hakim Jamal nieder. Als die beiden den Flieger verlassen, hat er sie als Unterstützerin gewonnen. Ab da setzt Seberg sich für die Black Panther Party ein, eine sozialistische Bewegung, die für die Rechte schwarzer Amerikaner:innen kämpft.

Die Black Panthers setzen dabei auf Selbstverteidigung. Bewaffnet patrouillieren sie durch Stadtviertel, um Polizeigewalt zu verhindern. Daneben führen sie Sozialprogramme ein, etwa ein tägliches Frühstück für armutsbetroffene Kinder. Dieses Frühstücksprogramm unterstützt Seberg mit einer Spende. Es ist das erste Mal, dass sie auf dem Radar des FBI auftaucht. Denn die Behörde versucht, die Black Panther Party mit allen Mitteln zu zerschlagen.

Die Vereinigten Staaten sind damals, zur Zeit des Kalten Krieges, von der "roten Angst" ergriffen. Panik vor kommunistischer Unterwanderung umspült Politik, Bevölkerung und Behörden. Das FBI unter J. Edgar Hoover lanciert das berüchtigte Programm "Cointelpro". Es soll "subversive" Organisationen und Menschen durch Überwachung, Psychoterror und Verfolgung mundtot machen. Viele der verwendeten Methoden werden Jahre später von einem Komitee des US-Senats als illegal eingestuft. Doch Jean Seberg trifft das Programm mit aller Wucht.

Als Prominente ist sie für die Black Panthers eine wertvolle Verbündete, für das FBI eine Bedrohung. Seberg hilft der Bewegung mit Geld und Presseauftritten und gewährt Aktivisten in ihrem kalifornischen Haus Zuflucht. Noch 1968 lanciert das FBI eine Kampagne gegen sie. Ihr Telefon wird abgehört, ihre Briefe geöffnet, ihr Haus ausspioniert und jeder ihrer Schritte überwacht. Das FBI ist stets über ihren aktuellen Aufenthaltsort informiert. Seberg merkt, dass etwas nicht stimmt. Wenn sie telefoniert, hört sie ein Klicken in der Leitung. Auf der Straße wird sie beschattet. Auch in ihren privatesten Momenten spürt sie immer den Blick fremder Augen auf sich. Ihre Psyche beginnt zu splittern, doch endgültig zerbrechen wird Seberg erst im Jahr 1970.

Durch die Überwachung weiß das FBI von ihrer offenen Beziehung und ihren Liebschaften mit Black-Panther-Aktivisten. All das – die freie Ehe, ihr Aktivismus, ihr Umgang mit schwarzen Menschen und insbesondere schwarzen Männern – reicht schon einzeln für einen Skandal aus. Doch im Frühling 1970 erwartet Seberg ein Kind. Ihre Schwangerschaft bietet die Chance zu einem letzten, unerbittlichen Schlag. Und so wird in FBI-Memos in nüchternen Worten die Vernichtung der Jean Seberg skizziert.

"Es wird Erlaubnis erbeten, die Schwangerschaft von Jean Seberg, bekannte Filmschauspielerin, publik zu machen", steht in einer direkt an Hoover adressierten Meldung. Es soll das Gerücht gestreut werden, dass der Vater des ungeborenen Kindes ein Black Panther sei. "Wir glauben, dass die mögliche Veröffentlichung von Sebergs Lage dazu führen könnte, sie bloßzustellen und ihr Image in der Öffentlichkeit zu entwerten." Der FBI-Direktor erteilt die Erlaubnis – mit der Anweisung, so lange zu warten, bis Sebergs gewölbter Bauch auch sichtbar ist.

Der falsche Tipp wird Klatschblättern in Hollywood gesteckt. Im Mai landet er auf dem Schreibtisch einer Kolumnistin der "Los Angeles Times", deren Klatschspalte in über hundert Zeitungen landesweit erscheint. Die fingierte Geschichte ist an diesem Tag ihr großer Aufmacher. Seberg wird nicht namentlich genannt, doch ihre Identität ist nur allzu leicht erkennbar. "Papa soll ein prominenter Black Panther sein", schließt das Stück über ihre Schwangerschaft in honigsüßem Ton. Wenig später greift das große Nachrichtenmagazin "Newsweek" die Story auf – und veröffentlicht Sebergs Namen.

Im siebenten Monat schwanger flieht sie vor der medialen Kampagne in die Schweiz. Doch sie ist nervlich so am Ende, dass viel zu früh die Wehen einsetzen. Ihre Tochter Nina wiegt bei der Geburt nur 1,8 Kilogramm und stirbt zwei Tage später. Seberg lässt ihr Kind in ihrem Heimatort beisetzen und zuvor öffentlich aufbahren. Hunderte Paparazzi fotografieren den kleinen Leichnam. Er ist weiß.

Danach zerbricht Jean Seberg endgültig. Sie leidet an Angstzuständen, Paranoia und Depressionen. An jedem Todestag ihrer Tochter versucht sie, sich das Leben zu nehmen. Das FBI hat die Überwachung eingestellt. Doch Seberg, die in viele Scherben zersprungene Frau, wähnt ihre unsichtbaren Beobachter noch immer um sich. Sie verfällt Alkohol und Drogen und gerät immer wieder an Männer, die ihre Labilität ausnutzen.

Im Spätherbst 1979 verschwindet sie plötzlich aus ihrer Pariser Wohnung. Erst Tage später wird sie tot in einem geparkten Wagen entdeckt. Bei ihr wird ein kurzer Abschiedsbrief gefunden, die Pariser Polizei stuft ihren Tod als Suizid ein. Doch ein Jahr später nimmt sie wegen unterlassener Hilfeleistung Ermittlungen gegen unbekannt auf. Sebergs Blutalkohol lag bei fast acht Promille, einem Wert, den ein Mensch unmöglich selbst erreichen kann. Bis heute ranken sich verschiedene Verschwörungstheorien um ihren frühen Tod.

Nur Tage danach wird ein Antrag auf Dokumentenherausgabe an das FBI gestellt. Es muss die "Akte Seberg" veröffentlichen, die Zerstörung einer Frau liegt plötzlich offen da. Fassungslose Reporter:innen setzen die Scherben zusammen und erkennen die eigene Instrumentalisierung. Doch es ist zu spät. Jean Seberg wird auf dem Friedhof Montparnasse in Paris beigesetzt.


Aus: "Geradegerückt: Jean Seberg: Vernichtet vom FBI" Ricarda Opis (11.2.2022)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000133176570/jean-seberg-vernichtet-vom-fbi

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edifier

Keine Verschwörungstheorie

Kann so absurd sein, wie die Realität. Danke für den Artikel, welcher u.a. das nahtlose Zusammebewirken der Medien mit der US Politik beschreibt. Deswegen habe ich den Eindruck, dass kaum ein Reporter "fassungslos" darüber ist, wie er " instrumentalisiert" wird. In den meisten Fällen gilt : Herr verzeihe ihnen nicht, denn sie wissen genau,was sie tun.


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Zornica

Wir sind die Guten

Damals wie heute - geändert hat sich eigentlich nichts, auch die Öffentlichkeit hat nichts gelernt


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Mags

Aber die Russen sind doch die bösen.


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Ján Zelení

Der KGB war damals auch nicht zimperlich Dissidenten in die Psychiatrie zu sperren. Oder heutzutage mit Polonium oder anderen Substraten zu hantieren. Wobei sich auch die Russen damals (und heute) als die wahren "Guten" sehen.


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#wemnütztes

Das Verbrechen der einen rechtfertigt nicht das Verbrechen der anderen


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Tamimueller

Wenn man aus welchen Gründen auch immer, ins Fadenkreuz der Mächte gelangt, egal, ob Ost oder West, ist man ein armer Hund. Die gehen über Leichen. Skrupellos. Die Medien als Ausführungsgehilfen. Keine Entschuldigung, keine Veränderung, keine Verbesserung. Solche Fälle gibt es vermutlich immer noch.


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Kreisky's Erben

Danke! Mich nervt das ewige ablenken auf andere.
In Russland ist es genauso falsch, wie überall anders auf der Welt. Nur spielen sich meiner Meinung nach die USA als die einzig wahren Verfechter der Demokratie auf und treten die Menschenrechte genauso mit Füßen, wie viele andere auch. Wenn sogar Schweden beim üblen Spiel gegen Assange mitgemacht hat, wie wird es dann in Staaten mit mächtigen Wirtschafts-und Geopolitischen Interessen sein.


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fizzzzzz

Deswegen, liebe Medien denkt immer dran: die Hand, die euch füttert, weiss schon, warum Sie das tut....


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Der Oley

zu Beginn des Kalten Krieges - der Kalte Krieg begann schon mit der Jalta Konferenz 1945. Nicht 1968. Soviel Geschichte muß sein.


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Puritsche

Hat ja niemand behauptet, dass der erst 1968 begann.


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Jene Grüne Straßenkatze

Danke für diesen Artikel. Er zeigt ganz gut, dass staatliche Intervention gegen unliebsame Personen nicht nur dann ein Problem ist, wenn die Mittel Pistolenkugeln, Giftpillen und Gefängnisstrafen sind. Es gibt so viele subtilere Methoden, jemanden zu "vernichten" (wie in Österreich manche Leute durchaus offen sagen, wenn sie wünschen, dass Karriere, Ruf und Privatleben einer Person zerstört wird). Und weil diese Methoden alle so soft sind, ist es viel weniger fassbar, was geschieht.


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hilde peymann

heute dürfte sich seberg nicht mehr für schwarze einsetzen, weil cultural appropriation. so zynisch ist es inzwischen. rechts wie links im separierten identitätswahn statt solidarität. ...


Quote
Mark.Er

Fassungslose Reporter:innen setzen die Scherben zusammen und erkennen die eigene Instrumentalisierung.
Ist das Zynismus? Assange, Snowden.

Nein, wir sind nicht betroffen, wir machen da mit.
Ganz besonders UNSERE Journalisten. ...


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Nada7791

Ein Dank an Ricarda Opis für diesen Artikel! Frau Seberg und ihr Schicksal ist, trotz des Kinofilms, vollständig an mir vorbeigegangen; es zeigt in voller Härte die Perversion eines in Angst erstarrten, von narzistischen Persönlichkeiten getriebenen Polizeistaats, der damals in den USA regierte. Die Figur Hoover ist von jeher umstritten, eine Aufarbeitung der Ära täte mehr als gut. Wer weiß, wie viele nicht so prominente Menschen das FBI unter dem Deckmantel des antikommunistischen Kampfes vernichtet und diskreditiert haben? Wer weiß schon, wie FBI (und wie die Dienste alle heißen) heute gegen unliebsame Menschen (müssen ja keine Aktivisten sein) vorgehen?


Quote
mauserle

Es war ja auch die McCarty-Ära, dem Senator, der sehr viel Prominente (auch Schauspieler wie Gary Cooper z.B.) vor den Untersuchungsausschuss zwangsvorgeführt hat, die dort wegen jeder noch so geringen Äußerung in Richtung Kommunismus streng verhört wurden, dann u.U. ihre Stelle verloren und Repressalien von Seiten der Regierung auf sich nehmen mussten.


Quote
fitzcarraldo

Leider fehlt den meisten Journalisten die Sensibilität für Beeinflussung durch Geheimdienste


Quote
Solomon Benvenisti

Jaja, die westlichen Werte, da muss man auch Opfer bringen.


Quote
Hattie Caroll

Jean Seberg hat alles richtig gemacht und wurde dafür vom FBI "vernichtet".
Die Methoden von J. Edgar Hoover standen den Methoden der Stasi um nichts nach und waren zudem auch noch illegal. Von offizieller Seite kam es bis heute nie zu einer Entschuldigung für derlei Machenschaften und wenn man an Guantanamo, George Floyd oder die drohenden 175 Jahre Haft für Julian Assange denkt, bekommt man nicht unbedingt den Eindruck, dass sich die Dinge in den USA seither zum Besseren verändert haben.


Quote
Puritsche

Das galt und gilt viel mehr für die UdSSR und Russland.
Im Westen wurde von 1968 bis jetzt der Staat viel kritischer gesehen.


Quote
Kommentatorin Frwdib527v

Die Macht des Staates gehört kontrolliert! Damals wie heute!
Wer glaubt, dass so etwas heutzutage nicht mehr möglich ist, der schaue sich die Schicksale von Edward Snowden, Julian Assange und Julian Hessenthaler an!


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#75
Quote[...] Götz Haydar Aly (* 3. Mai 1947 in Heidelberg) ist ein deutscher Politikwissenschaftler, Historiker und Journalist. ... In seinem 2008 erschienenen Buch Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück[22] analysiert Aly die Reaktion der Gegenseite auf die deutsche Studentenbewegung der 1960er Jahre. Er greift dabei auf Akten deutscher Behörden und zeitgenössische Reaktionen, unter anderem von Joseph Ratzinger, Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal, zurück. Er kommt zu dem Schluss, dass die 68er ihren Eltern – der nationalsozialistisch geprägten ,,Generation von 1933" – weitaus ähnlicher gewesen seien, als sie dies selbst wahrnehmen wollten.

Als Indizien für seine These benennt Aly den antibürgerlichen Impetus, die Gewaltbereitschaft, den Antiamerikanismus, den latenten Antisemitismus, das Ausblenden von Kritik an linken Despoten. Die 1968er seien als ,,Spätausläufer" nicht die Lösung des Totalitarismus-Problems, sondern ein Teil des Problems selbst. Auch bei der Liberalisierung der Moral und Sitten seien die 68er nicht die Auslöser, sondern lediglich Nutznießer eines Prozesses gewesen, der schon in den 1950er Jahren begonnen habe. ,,Es ist schwer, den eigenen Töchtern und Söhnen zu erklären, was einen damals trieb", so Aly angesichts seiner eigenen Biographie.[23]

Alys Buch über die politische Generation der 68er führte zu einer lebhaften Diskussion der Grundlagen der 68er-Bewegung.[24] Der Historiker Norbert Frei erklärte zu Alys Vergleich zwischen der ,,Generation von 1933" und den 68ern: ,,Ich meine, hier hat sich einer um des medialen Knalleffekts willen zu einer historiographisch völlig überzogenen Darstellung hinreißen lassen." Der 68er-Generation eine 33er an die Seite zu stellen, dient nach Freis Auffassung ,,allein der Provokation, nicht der historischen Erkenntnis".[25] Rudolf Walther wirft Aly vor, seine Gleichsetzung von 68er- und nationalsozialistischen Studenten sei ein Kurzschluss aufgrund lediglich gewisser äußerlicher Ähnlichkeiten.[26] ...


"Götz Aly"
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Quote[...] Dagmar und ich gehören demselben Jahrgang 1947 an, wurden 68er, trafen uns bei der Westberliner Roten Hilfe, gingen berufliche Umwege, beschäftigten uns seit den 1980er Jahren wieder mit dem Nationalsozialismus, wählten später eher CDU als Grüne und haben jeweils ein Kind bekommen, das etwas anders als erwartet wurde. Meine Tochter heißt Karline. Dagmars Sohn heißt Timm. Sie hat ihn geliebt und wollte für ihn möglichst viel Selbstständigkeit und Normalität. Das war ihr wichtig.

Dagmars Geburtsjahr 1947 fällt in die sogenannte schwere Zeit. Unsere Eltern standen 1945 mit fast nichts da: materiell, ideell und moralisch entwurzelt und meist schwer traumatisiert: der Bombenkrieg, die vielen Gefallenen, Flucht, Vertreibung, Hunger. Über dem Land derjenigen, die den Krieg begonnen und Europa mit 19 Millionen deutschen Soldaten verwüstet hatten, lagen Starre und Orientierungslosigkeit. In den frühen 1950er Jahren folgte die von geschichtsabgewandter Betriebsamkeit geprägte Periode des Wiederaufbaus. Dabei herrschte in den meisten Familien eine merkwürdige Kälte. Oft fehlte es den späteren 68ern an dem, was man Nestwärme nennt, eine Generation emotional frierender Kinder.

Dagmars Mutter Roswitha war 1943 mit 27 Jahren Witwe geworden. Ihr Mann, Kapitänleutnant Heinsohn, war mit seinem U-Boot samt 45-köpfiger Besatzung bei Neufundland versenkt worden. Da saß sie nun mit ihren beiden Söhnen, schwanger mit dem dritten, im besetzten Polen, in der Hafenstadt Gdynia, umbenannt in Gotenhafen. Im Sommer 1944 floh Roswitha Heinsohn mit den Kindern nach Blankenhagen in Hinterpommern, im Januar 1945 weiter nach Schleswig-Holstein. Dort wurden der Flüchtlingsfamilie eineinhalb Zimmer unterm Dach zugewiesen. Am 28. Dezember 1947 wurde Dagmar in diese Situation hineingeboren. Dagmars Vater war Dietrich Sigismund von Doetinchem de Rande, der Gutsherr von Blankenhagen, der ersten Fluchtstation der Mutter.

Mit dem Wirtschaftswunder kam 1955 Bruder Andreas zur Welt. Dagmar schloss die Schule mit Mittlerer Reife ab. Dann geschah etwas, worüber sie später nicht sprach: Dagmar wurde als ,,Maid" in die niedersächsische Landfrauenschule Obernkirchen gesteckt. Kaiser Wilhelm II. hatte dort seine Töchter hingeschickt, Richard Wagners Enkelin Verena und Hans-Dietrich Genschers Ehefrau lernten dort Hauswirtschaft, Gartenbau und Kleintierzucht – und eben auch, eingekleidet in Maidentracht samt Häubchen, unsere Dagmar, später von uns liebevoll ,,die Gräfin" genannt.

Klar ist, dass solche familiären Abgründe zur Rebellion herausforderten, zur Suche nach etwas Neuem, nach menschlicher Nähe. Dagmar fing damit früh an. Sie ging nach Westberlin, zog in die legendäre Kommune 1, dann in die Kommune 2, lernte dort ihren ersten Freund, Ulrich Enzensberger, kennen. Man kann über die Kommunen, über die Wege und Irrwege, die Verrücktheiten, Verblendungen und das Scheitern der ummauerten Westberliner 68er sagen, was man will: Das Aussteigen aus der alten, eingefrorenen, kalten und verlogenen Welt der bundesdeutschen 1960er Jahre war verständlich.

Die Um- und Rückwege, die wir dann genommen haben, endeten manchmal komisch, manchmal tragisch. Nicht wenige sind gescheitert, auf Abwege geraten oder psychisch krank geworden, manche haben sich das Leben genommen. Auch Dagmar hatte schwere existenzielle Krisen. Wie schnell die Revolte von 1968 jedoch gewirkt hat, kann man auch daran ermessen, dass die Landfrauenschule Obernkirchen 1970 geschlossen wurde, und zwar ,,infolge gesellschaftlicher Veränderungen der 1968er-Jahre".

Ich habe Dagmar 1971 bei der Roten Hilfe kennengelernt. Wir produzierten 1972 die schreckliche Broschüre ,,Vorbereitung der RAF-Prozesse durch Presse, Polizei und Justiz". Horst Mahler saß als Mitbegründer der RAF und Terrorist im Knast. Er erschien uns als eine Art Heiliger, seine groben Briefe hielten wir für diskussionswürdige Botschaften. Eine Erklärung, die Ulrike Meinhof 1972 als Zeugin im Mahler-Prozess vor dem Berliner Landgericht abgegeben hatte, fand in der Roten Hilfe kein kritisches Echo. Sie lautete: ,,Der Antisemitismus war seinem Wesen nach antikapitalistisch. (...) Ohne dass wir das deutsche Volk vom Faschismus freisprechen – denn die Leute haben ja wirklich nicht gewusst, was in den Konzentrationslagern vorging –, können wir es nicht für unseren revolutionären Kampf mobilisieren." Ein ähnlicher Satz ist von Dutschke überliefert.

Wer die Lebenserinnerungen Marcel Reich-Ranickis liest, erfährt dort: 1964 war Ulrike Meinhof die ,,erste Person in der Bundesrepublik", die, am Ende unter Tränen, ,,aufrichtig und ernsthaft wünschte", von Reich-Ranicki über dessen ,,Erlebnisse im Warschauer Ghetto informiert zu werden". Als sie sich 1976 im Gefängnis erhängte, wählte sie ausgerechnet die Nacht vom 8. zum 9. Mai. ,,Wäre es denkbar", fragte Reich-Ranicki, dass es zwischen der deutschen Vergangenheit und dem Weg zum Terror ,,einen Zusammenhang gibt"?

Aber es wird noch verrückter. Horst Mahler, der als Holocaustleugner und Rechtsradikaler jahrelang im Gefängnis saß, hatte sich 1967 zusammen mit Joseph Wulf, Heinz Galinski, Max Horkheimer, Nahum Goldmann, Léon Poliakov und Fritz Bauer dafür eingesetzt, die Wannsee-Villa in einen Ort zur Erforschung nationalsozialistischer Verbrechen umzuwandeln. Das Vorhaben scheiterte.

1968 war in der alten Bundesrepublik auch der verzweifelte Versuch der ersten Nachkriegsgeneration, der deutschen Geschichte zu entrinnen. Plötzlich sprachen wir nicht mehr vom Nationalsozialismus und seinen Verbrechen, sondern vom internationalen Faschismus. Der hauste nicht so sehr in Deutschland, sondern in Washington, Saigon und Teheran, hieß Lindon B. Johnson, Reza Pahlewi, Nguyễn Văn Thiệu oder General Westmoreland. Der Vorteil: Sie alle hatten keine deutschen Namen und lebten Tausende Kilometer entfernt. Wir selbst schlugen uns auf die Seite der vermeintlich Guten, der Freiheitskämpfer, der Guerilleros.

Man kann diese Ausweichmanöver verstehen. Schließlich waren wir die Kinder der 1933er, wir mussten plötzlich, unvorbereitet und ungeschützt in die Abgründe deutscher Geschichte und unserer Familien blicken. Das Beste an der Roten Hilfe war, dass sie sich ziemlich schnell sang- und klanglos auflöste. Danach landeten viele von uns wieder im Morast deutscher Geschichte.

Dagmar wurde nicht, wie von ihr einmal gewollt, revolutionäre Lehrerin, sondern Hebamme. Damit markierte sie, dass sie sich von revolutionären Utopien verabschiedet hatte. In einem nächsten Schritt setzte sie sich mit der ihr eigenen Gründlichkeit mit dem Nationalsozialismus auseinander, plante die Ausstellung und schrieb die wesentlichen Teile des Buchs ,,Zerstörte Fortschritte. Das Jüdische Krankenhaus in Berlin".

Den Titel hatte Klaus Hartung gefunden, ihr geschiedener Mann, der ihr zudem die Einleitung schrieb. Klaus sprach darin von ,,einer merkwürdigen öffentlichen Stummheit", von ,,einer tonlosen Gegenwärtigkeit", die über dem Thema liege, dem man ,,nun endlich mit größerer Sorgfalt" nachgehe. Damit meinte er auch sich selber, unsere Generation, die damalige Neue Linke.

Das Jüdische Krankenhaus bestand bis 1945 – immer mehr der Gestapo und SS unterworfen. Dagmar schrieb am Ende ihres Buchs: ,,Die Geschichte des Jüdischen Krankenhauses im Dritten Reich ist weniger die Geschichte einer Institution als die von bedrohten und verfolgten Menschen." Um das möglichst genau darzustellen, hatte sie Überlebende in großer Zahl besucht: in Berlin und Mainz, in New York und Chicago, in Lugano, London, Haifa, Tel Aviv und Jerusalem. Sie befragte dem Holocaust Entronnene, hörte ihnen zu, verlieh ihnen in Deutschland eine Stimme.

Im Juni 1989 wurden Ausstellung und Buch im Jüdischen Gemeindehaus feierlich präsentiert. Dank Dagmars Arbeit waren etwa 40 Ehemalige des Jüdischen Krankenhauses nach Berlin gekommen, ältere Leute, teils hinfällig, ,,aber wache und energievolle Menschen sind es, die etwas wollen, voneinander und auch sonst". So schilderte Klaus Hartung den Eröffnungstag in der taz.

Als Dagmar zum Podium schritt, verhaspelte sich die sonst so selbstbewusst Auftretende, verlor den Faden und fand kein Ende. Aber es wäre falsch zu sagen, sie hätte eine schlechte Rede gehalten. Sie zeigte die tiefe, damals weit verbreitete Unsicherheit. Wir 68er hatten zu mehr als 90 Prozent Väter, die Soldaten der Wehrmacht gewesen waren. Etwa 30 Prozent waren Mitglieder der NSDAP, deutlich mehr hatten dem Führer zugejubelt. Dagmars Stimme versagte immer wieder vor so vielen ihr freundlich und offenherzig zugewandten Juden, die überlebt hatten und nun – dank ihrer Recherchen – nach Berlin gereist waren.

Dagmar lebt von nun an in unserer Erinnerung. Wir erinnern uns mit einem Lächeln und mit Freude an ihre Eigenheiten und an ihre großen Stärken.


Aus: "Nachruf auf Dagmar von Doetinchem: Erinnerungen an die Gräfin" Götz Aly (15. 2. 2022)
Quelle: https://taz.de/Nachruf-auf-Dagmar-von-Doetinchem/!5831941/

Quotenzuli sana
16. Feb, 20:29

Aber die Rote Hilfe gibt es doch seit vielen Jahren mit zahlreichen Ortsgruppen.
Und eine Hebamme kann auch unter Linken zu finden sein. Zum Beispiel dem Netzwerk Solimed.
Seltsame Auffassungen.


...

Quote[...]  Anfang 2021 wird bei ihr ein seltener Tumor an der Speiseröhre entdeckt. ,,Man reißt sich zusammen", hieß es in ihrer Kindheit. Das tut sie jetzt auch. ,,Ach, ich will nicht rumjammern", sagt sie, wenn es allen Grund zum Jammern gibt. Als ihr klar wird, dass ihr Leben abhängig sein wird von Ärzten und immer neuen Therapieversuchen, schwindet ihr Lebenswille. Sie geht friedlich, als ihre Tochter auf der Palliativstation neben ihr am Bett sitzt und zeichnet.

Auf dem Friedhof in der Bergmannstraße liegen schon Steve und ihr Bruder Knut. Um ihn hat sie sich jahrelang gekümmert, als er, psychisch krank, in Berlin auf der Straße lebte. Nun ist sie zu den beiden in ihre letzte WG gezogen. ...


Aus: "Nachruf auf Dagmar Hartung von Doetinchem de Rande Die ,,Gräfin"" Lisa Seelig (25.02.2022)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/berlin/nachruf-auf-dagmar-hartung-von-doetinchem-de-rande-die-graefin/28080656.html

Textaris(txt*bot)

Themen Morrisons: die Befreiung von Autoritäten, insbesondere von Vaterfiguren, die Bewusstseinserweiterung, rauschhafte Triebbefriedigung, die Lebensreise und die Geburt eines neuen Menschen, den keine Zwänge mehr plagen. Es sind Themen, die das konservative Establishment fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Der Gesamtzusammenhang des Songs ist schwer nachzuvollziehen. Warum? Weil sich wohl poetische Experimente und psychedelische Drogen mal wieder bestens verstanden haben.

Quote[...] Es geht wahrlich fix in den Sixties. Wie das Aufbegehren einiger Subkulturen vollzieht auch die Rockmusik in nur wenigen Jahren gewaltige Evolutionsschritte. Eine weltweite Gegenkultur entsteht, und der Soundtrack dazu sprengt schon bald den üblichen dreiminütigen Songrahmen. Stile und Arrangements werden vielfältiger, musikalische und textliche Strukturen werden komplexer, experimenteller. Zu einer der ,,Königsdisziplinen" avanciert der amerikanische Psychedelic Rock, sein spektakulärstes Aushängeschild sind The Doors. Alles an dieser Band aus Los Angeles ist ungewöhnlich. Die Besetzung kommt ohne Bass aus, dafür dominiert eine Orgel; die zum Teil schwer zu deutenden Lyrics haben visionären Charakter; der exzessive Frontmann Jim Morrison, ein multimedial denkender Dichter und Ausnahme-Performer, hält nicht nur die Staatsmacht, sondern auch seine Bandkollegen in Atem: Die Songtexte rütteln auf, die Livekonzerte provozieren Polizeieinsätze und Tumulte.

Einer der berühmtesten und spektakulärsten Songs der Doors erscheint 1967 gleich auf dem ersten Album. The End, als simpler Trennungssong begonnen und dann über einen längeren Zeitraum hinweg zum psychedelischen Epos weiterentwickelt, dauert fast 12 Minuten und behandelt im Rahmen eines düster-dräuenden Klangszenarios die zentralen Themen Morrisons: die Befreiung von Autoritäten, insbesondere von Vaterfiguren, die Bewusstseinserweiterung, rauschhafte Triebbefriedigung, die Lebensreise und die Geburt eines neuen Menschen, den keine Zwänge mehr plagen. Es sind Themen, die das konservative Establishment fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Der Gesamtzusammenhang des Songs ist schwer nachzuvollziehen. Warum? Weil sich wohl poetische Experimente und psychedelische Drogen mal wieder bestens verstanden haben.

Zu Beginn des Stücks erklärt das Song-Ich, dass etwas zu Ende ist. Auch ein wunderschöner Freund wird besungen, und fast scheint es, als sei mit diesem Freund besagtes Ende selbst gemeint: ,,This is the end, my only friend, the end." Aussagen Jim Morrisons zufolge ist das Ende der Tod. Und dieser Tod habe überhaupt nichts Beängstigendes, sondern sei als Freund anzusehen, weil mit ihm doch alle Schmerzen endeten. Und wenn es heißt: ,,I'll never look into your eyes again", dann klingt – Auf Wiedersehen, Ende! – vielleicht schon ein Neubeginn an. In den darauf folgenden Versen ist von grenzenloser Freiheit die Rede, aber auch von einer römischen Wildnis des Schmerzes, von wahnsinnig gewordenen Kindern, merkwürdigen Szenen in der Goldmine und von einem archaischen See im Westen, den man auf einer Schlange erreicht: ,,Ride the highway West, baby / Ride the snake, ride the snake / To the lake, the ancient lake, baby ..." Schon etwas nachvollziehbarer klingt da die Ankündigung einer spirituelle Reise ins Unbekannte, die später in einem blauen Bus fortgesetzt wird: ,,The blue bus is callin' us ..." Ein Kreativtrip nach der Wiedergeburt? Vielleicht in einem Bus wie dem der ,,Merry Pranksters", die als Hippie-Aktivisten durch die USA fuhren, um Drogen-Events zu veranstalten? Na, wenn das so ist – da kann man schon mal zusteigen.

Aus dem Ich ist inzwischen ein Wir geworden, das aber schnell in einer neutralen Erzählung aufgeht. Und dann folgt eine der berüchtigtsten Songpassagen der Rockgeschichte. Es ist die Passage, in der ein Mörder morgens aufwacht, in seine Stiefel steigt, dann wie die Darsteller der griechischen Tragödie eine Maske wählt (,,He took a face from the ancient gallery") und seine Familie aufsucht. Die Geschwister verschont er. Doch den Vater droht er zu ermorden, und der Mutter kündigt er an, mit ihr schlafen zu wollen: ,,He walked on down the hall / And he came to a door, and he looked inside / Father ... – Yes, son? – I want to kill you / Mother, I want to ..." Es folgt kaum identifizierbares Geschrei, aber das ,,fuck you" ist da, es wird aus Gründen der Selbstzensur klanglich zugekleistert und erst später in Remixes offenbart. Die Passage nimmt Bezug auf die Ödipussage und, nicht nur im Motiv der Befreiung von der Autorität des Vaters, auf Sigmund Freuds Theorie des Ödipus-Komplexes.

Die Mitglieder der Doors sehen hier weniger den Skandal, sondern eine theatralische Inszenierung frei nach Sophokles – auch wenn der griechische Tragödiendichter wohl etwas weniger direkt formuliert hätte und ohne Four-Letter-Words ausgekommen wäre. Vielleicht sind die Ablösung von Vaterfiguren und das lustvolle Ausleben der eigenen Sexualität eine existenziell wichtige Etappe auf der angedeuteten spirituellen Reise? Auf jeden Fall kehren die Lyrics rasch zum blauen Bus zurück – ,,C'mon, baby, take a chance with us" – und dann schließt sich der Kreis mit der erneuten Feststellung, dass etwas unausweichlich zu Ende sei: ,,This is the end, my only friend, the end / It hurts to set you free / But you'll never follow me / The end of laughter and soft lies / The end of nights we tried to die / This is the end." Einmal mehr scheint dieses Ende den Beginn von etwas Neuem zu markieren ...

Der Text ist multiperspektivisch angelegt. Ich, Du, Er, Wir – alles fließt hier zusammen, einen logischen Zusammenhang sucht man vergebens. Aber vielleicht wird, ganz im Sinne der griechischen Tragödie, ein kathartischer Effekt angestrebt, eine seelische Reinigung? Schwierig. Der Rockexperte Tom Noga erkennt hier ,,die eklektische Struktur von Jim Morrisons Lyrik", die Mischung aus griechischem Drama, aztekischer Mythologie und ,,einer Prise Kerouac. Ödipus trifft auf die große Weltschlange und die Freiheitsprosa des Beatnik-Schriftstellers." Das US-amerikanische Musikmagazin ,,Rolling Stone" macht es sich einfach und sieht in dem Song ,,a goodbye to childhood innocence". Jim Morrison selbst war überzeugt, The End biete die unterschiedlichsten interpretatorischen Anknüpfungspunkte. Er sollte recht behalten. Es wurde ein Song, in dem sich viele jugendliche Hörerinnen und Hörer der Sixties – die Suchenden, die Zweifelnden, die Experimentierfreudigen, die Frustrierten und die Rebellischen – auf unterschiedlichste Weise wiederfanden. Und der das gesellschaftliche Establishment komplett verstörte.

Im Rockclub ,,Whisky A Go-Go" in Los Angeles gaben The Doors eine Zeit lang die Hausband. Doch nachdem sie das erste Mal The End komplett samt skandalöser Ödipus-Passage gespielt hatten, war damit Schluss. Grund genug für Elektra Records, die Combo unter Vertrag zu nehmen. The Doors wurden immer erfolgreicher – und Jim Morrison immer seltsamer: Er litt unter dem Erwartungsdruck, soff, nahm Drogen und zeigte, wie seine Mitstreiter mutmaßten, Anzeichen von Bewusstseinsspaltung. Gleichzeitig glaubte Morrison tatsächlich an die bewusstseinsverändernde Kraft von Musik und Drogen – an eine positive Transformation der Gesellschaft, ein Break on Through to the Other Side, wie es ein anderer berühmter Doors-Song formulierte. Passend dazu war er begeistert von den Ideen der anarcho-pazifistischen Theatertruppe The Living Theatre, die mit bewusster Manipulation und Entkleidungsaktionen arbeitete, um das Publikum zu unerwarteten Reaktionen zu bewegen. Und so provozierte Morrison nicht nur Ordnungshüter, die sich zunehmend alarmiert bei Doors-Konzerten einfanden, sondern auch Teile der Fans, die nicht jeder seiner Aktionen folgen konnten. Künstlerische Strategie oder persönliche Tragödie? Das war nicht immer auszumachen. Doch Verhaftungen, Freilassungen und die Beobachtung durch das FBI sind verbürgt.

Legendärer Höhepunkt dieser Dynamik war ein Auftritt am 1. März 1969 in Miami. Ganz offensichtlich zugedröhnt beschimpfte Morrison das Publikum und stachelte zum Umsturz auf. Zusätzlich simulierte er an seinem Gitarristen Fellatio – ein seinerzeit gewagter Bühnen-Stunt, den später David Bowie als Ziggy Stardust mit Mick Ronson zum Standardelement von Rockshows machen sollte. Darüber hinaus hantierte Morrison mit einem verstörten lebenden Lamm, um es schließlich, wie er ins Mikro nuschelte, ,,doch nicht zu ficken". Und dann nestelte er auch noch an seiner schwarzen Rockerjeans und setzte dazu an, seinen Penis zu zeigen. Ob ihm das tatsächlich gelang? Oder ob er das Ganze sowieso nur andeuten wollte? Die Antwort kennt nur die Lederhose – denn eindeutige Belege für diesen letzten Akt der Provokation fehlen. Auf jeden Fall wurde Morrison irgendwann von der Bühne gedrängt und kurze Zeit später vor Gericht gestellt. Konzerte wurden abgesagt, Demonstrationen organisiert – gegen die Doors im Speziellen und gegen den Sittenverfall an sich. Die gerichtlichen Auseinandersetzungen dauerten Monate, teils entzog sich der Star, teils war er auf freiem Fuß. Bis er 1971 unerwartet mit nur 27 Jahren verstarb. Die genauen Umstände seines Todes in einer Pariser Wohnung sind bis heute ungeklärt. Morrison galt vielen als gefallener Engel und Prophet, als Kämpfer für die individuelle Freiheit und Opfer eines Systems, das mit überharter Verfolgung ein Exempel an ihm statuierte. Der Stoff, aus dem Rockmythen sind.


Aus: "1967 Was für ein Theater! - The Doors: The End" Michael Behrendt (2021)
Quelle: http://archiv.faustkultur.de/4648-0-Michael-Behrendt-The-Doors-The-End.html

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Quote[...] Für eine Gesellschaft der befreiten Arbeit und Liebe. Dušan Makavejevs Film ,,W.R. – Die Mysterien des Organismus" ist eine Hommage an Wilhelm Reich.

... ,,Liebende Kameraden, fickt frei, eurer Gesundheit zuliebe! Der Krebs ist die Hysterie von Zellen, die zum Tode verurteilt sind. Krebs und Faschismus gehören zusammen. Der Faschismus ist ein Rausch sexuell verkrüppelter Menschen!" So spricht eine Stimme aus dem Off über Aufnahmen aus einem sexualrevolutionären Aufklärungsfilm aus dem Jahr 1931.

So ist der Ton gesetzt für Dušan Makavejevs Film ,,W. R. – Die Mysterien des Organismus", der zwischen 1968 und 1971 in den USA und Jugoslawien gedreht und vor vierzig Jahren auf der Berlinale gezeigt wurde, weswegen er dort nun wieder zu sehen ist.

,,Die Mysterien des Organismus" ist eine ernste, traurige, radikale, humorvolle und lebensbejahende Hommage an Wilhelm Reich. Dieser setzte sich mit der Funktion des Orgasmus auseinander, weil er annahm, dass mit jeder psychischen Erkrankung eine Störung der sexuellen Erlebnisfähigkeit einhergehe.

Dieser Film ist ein Klassiker, der nichts von seiner Relevanz verloren hat, abgesehen davon, dass niemand mehr an Revolutionen glaubt.

Makavejev vermerkt auf einer der Texttafeln, die den Film einleiten, Reich habe die Wurzeln der Angst vor der Freiheit, vor der Wahrheit und vor der Liebe im Menschen aufgedeckt. ,,Reich kämpfte für eine Arbeitsdemokratie, glaubte an eine Gesellschaft der befreiten Arbeit und Liebe."

So kann man das zusammenfassen. 1931 hatte Reich den Deutschen Reichsverband für Proletarische Sexualpolitik, kurz Sexpol, gegründet. Aus der KPD wurde er wegen seines Buches ,,Massenpsychologie des Faschismus" hinausgeworfen. Schon 1936 kritisierte er die reaktionären Entwicklungen im Stalinismus scharf.

Die Kirche der Psychoanalytiker schloss ihn später unter anderem wegen seiner Theorie der Lebensenergie aus, die er in Orgonakkumulatoren auf den menschlichen Körper wirken ließ. In den späten 1950ern verbrannten die amerikanischen Behörden seine Bücher und sperrten ihn ein. 1957 starb er vor der Zeit, Opfer der Angst vor der Freiheit und der Liebe.

In den 1960ern hatten seine Ideen großen Einfluss auf die Studentenrevolte, offenkundig nicht nur im Westen, sondern auch im sozialistischen Jugoslawien, wo sie unter anderem Dušan Makavejev inspirierten.

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Aus: "Ohne Orgasmus keine freie Gesellschaft: Die Angst vor der Liebe" Ulrich Gutmair (20. 2. 2020)
Quelle: https://taz.de/Ohne-Orgasmus-keine-freie-Gesellschaft/!5662832/

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Quote[...] Reichs damalige Lebensgefährtin, die Tänzerin Elsa Lindenberg, hatte ihr Domizil in der Berliner ,Künstlerkolonie', einer Hochburg des Widerstands gegen Hitler. Reich war Mitglied der dortigen kommunistischen Zelle, der u. a. der Schriftsteller Arthur Koestler, der Philosoph Ernst Bloch und der Schauspieler-Sänger Ernst Busch angehörten. Nur wenige Tage nach dem Reichstagsbrand kam es zu einer Großrazzia, über die der Völkische Beobachter am 15. März 1933 berichtete: ,,Heute Vormittag wurde durch eine Bereitschaft Schutzpolizei [...] der große Block am Südwestkorso in Wilmersdorf, der den schönen Namen ,Künstlerkolonie' führt, abgeriegelt und durchsucht. Dieser Gebäudekomplex beherbergte seit seinem Bestehen eine Auslese übelster Intellektueller und Kommune-Blutredner, die dort in luxuriösen Wohnungen, im Schutze eisenbeschlagener Türen, ihre Haßgesänge gegen das erwachende Deutschland verfaßten." Zu diesem Zeitpunkt war Wilhelm Reich schon nicht mehr in Berlin. Denn er gehörte zu den ,,österreichischen Staatsangehörigen", die wegen ,,ihrer Betätigung in der kommunistischen Bewegung" auf einer Liste standen, die die Gestapo im Mai 1933 der Bundespolizeidirektion Wien übermittelte. Dorthin war Reich geflohen, um seiner Verhaftung zu entkommen. Dass Reich in Gefahr war, das wusste auch Max Eitingon, der Vorsitzende der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG), der im Sommer 1933 (nach Palästina) emigrierte. Er ließ Wilhelm Reich ,,mitteilen", das Berliner Psychoanalytische Institut (BPI) ,,nicht mehr [zu] betreten, damit, falls er verhaftet werden würde, dies nicht in unseren Räumen geschehen könne". So steht es in einem der Berichte, die Felix Boehm – der im November 1933 als ,arischer' Nachfolger Eitingons das Amt des DPG-Vorsitzenden übernahm – für Ernest Jones, den Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) anfertigte, um ihn über das ,Schicksal' der Psychoanalyse unter Hitler auf dem Laufenden zu halten.

... Wilhelm Reich war – neben Otto Gross als Vorläufer und Erich Fromm als Zeitgenosse – einer der Pioniere der Erforschung der autoritären Persönlichkeit. Die 1933/34 in Szene gesetzte Ausgrenzung Wilhelm Reichs aus den psychoanalytischen Organisationen erfolgte nach Lesart der vereinspolitisch motivierten Geschichtsschreibung jedoch nicht wegen dieser – aus heutiger Sicht – begrüßenswerten Pionierleistung, sondern deshalb, weil aus Reich ein ,schlechter' Psychoanalytiker wurde. Robert Waelder, ein vormaliger Lehranalysand Anna Freuds, der 1934 beim Luzerner Kongress an der Sitzung des IPV-Gremiums teilgenommen hatte, das den 1933 beschlossenen DPG-Ausschluss Reichs absegnete, formulierte in einer Besprechung der von Reich herausgegebenen Exil-Zeitschrift harsch: ,,So muß denn in aller Klarheit gesagt werden, daß die hier vorliegenden ,wissenschaftlichen' Bestrebungen mit der Psychoanalyse nichts mehr zu tun haben, daß niemand, der Reich auf seinem Weg folgt, mehr Recht hat, sich noch auf die Psychoanalyse zu berufen [...]."

Am 17. April 1933, also nur zehn Tage, nachdem Reich seinen Vortrag über die Massenpsychologie der nationalen Bewegung in Wien gehalten hatte, traf dort Boehm mit Freud zusammen, um mit ihm die weitere Politik der DPG zu besprechen. ,,Die Unterredung verlief sehr herzlich", heißt es in einem Bericht Boehms für Jones (dem auch die folgenden Zitate entnommen wurden). Bei der Verabschiedung habe Freud u. a. den ,,Wunsch" geäußert: ,,befreien Sie mich von Reich". Nachdem Eitingon (vermutlich durch Boehm selbst) von diesem ,,Wunsch" erfahren hatte, schrieb er an Freud, sollte Boehm tatsächlich ,,den Auftrag bekommen [haben], Reich hinauszuwerfen, so wird er das mit dem Takt machen, der uns sicher die Freude an der vollzogenen Tatsache ganz verderben würde". Und dann setzte er noch hinzu: ,,Wir sollten Reich nicht gerade jetzt hinauswerfen [...]."

... Reichs spätes Eintauchen in die Welt des Kosmischen ist vor dem Hintergrund einer von zahlreichen Verlusterlebnisse und Traumatisierungen geprägten Lebensgeschichte zu beurteilen (s. Bernd Nitzschke: Familiäre und gesellschaftliche Gewalt und Verfolgung im Leben Wilhelm Reichs. In: Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft, Heft 42, 2017). Anfang der 1960er Jahre konnte man in einer psychoanalytischen Fachzeitschrift einen Beitrag lesen, der den Titel trug: ,,Die Ermordung von wievielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?" Der – polemisch zugespitzten – Formulierung lag die Frage zugrunde, ob die psychische Erkrankung eines Überlebenden nationalsozialistischer Gewalt und Verfolgung als Traumafolgestörung anzuerkennen sei oder aber als anlagebedingt zu gelten habe. Im letzteren Fall konnte man die Forderung nach ,Wiedergutmachung' zurückweisen. Unter der Zwischenüberschrift ,,Trauma und Psychose" schrieb Kurt R. Eissler, der Autor dieses Beitrags, dass ,,die Widerstandskraft gegen psychotische Erkrankungen" bei jedem Menschen ,,durch die Umwelt gestärkt oder geschwächt werden kann". Auf Wilhelm Reich bezogen heißt das: bei der Beurteilung seines Spätwerkes wären neben den lebensgeschichtlich frühen auch die Traumata zu berücksichtigen, denen er nach seiner Flucht aus Deutschland ausgesetzt war.

Nach seiner Emigration kurz vor dem Ausbruch des 2. Weltkriegs im August 1939 wurde Wilhelm Reich in den USA erneut zum Objekt der Beobachtung – durch das FBI (Federal Bureau of Investigation) – und der Ausgrenzung – durch die FDA (Food and Drug Administration). Anfang der 1950er Jahre wurde seine ,Orgon'-Medizin als Quacksalberei verurteilt. Seine Schriften wurden zum zweiten Mal verbrannt (s. Philip B. Bennet: The persecution of Dr. Wilhelm Reich by the government of the United States. In International Forum of Psychoanalysis, 2009). Schließlich kam er wegen Missachtung des Gerichts ins Zuchthaus Lewisburg, Pennsylvania, wo er kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag am 3. November 1957 einsam und verlassen an Herzversagen – beziehungsweise an gebrochenem Herzen – starb.

Reich hatte sich in eine scheinbar bessere Welt gerettet, die er in den ,Orgon'-Schriften beschwor, während er die schlechte Welt, in der er Verfolgung und Vertreibung, Diffamierung und Verurteilung erlebte, mehr und mehr aus den Augen verlor. Bei einem 1951 unternommenen ORANUR-Experiment (abgeleitet von: ORgone Against NUclear Radiation) jagte er die Welt um sich herum buchstäblich in die Luft. Das in einen ,Orgon'-Akkumulator eingebrachte Radium hatte eine Explosion ausgelöst, bei der Mitarbeiter Reichs, seine Tochter Eva (aus erster Ehe) und seine zweite Ehefrau, Ilse Ollendorff, zu Schaden kamen, die sich kurz darauf (1954) von ihm scheiden ließ. Der Versuch, DOR (abgeleitet von: Deadly Orgon = radioaktive Strahlung) mit Hilfe heilsamer ,Orgon'-Energie unschädlich zu machen, war gescheitert. In einem Brief an Alexander Neill beschrieb Reich die Katastrophe mit diesen Worten: ,,Es war eine schreckliche und zugleich sehr aufregende Erfahrung, so als hätte ich den Grund des Universums berührt."

Verworfen und ausgegrenzt geriet Wilhelm Reich bald nach seinem Tod in Vergessenheit. Ein Jahrzehnt später erinnerten sich dann aber die 68er-Rebellen an ihn, denn einige Titel seiner Bücher klangen so, als hätte er sie eigens für sie geschrieben: Die Funktion des Orgasmus (1927), Die sexuelle Revolution (1966). In Westdeutschland kam die Auseinandersetzung der Söhne und Töchter mit den Eltern, die ihnen nicht erklären konnten oder wollten, warum sie sich 1933 einer Diktatur beugten oder sie sogar enthusiastisch begrüßten, noch hinzu. Die 68er interessierten sich deshalb nicht nur für Marx und Freud, sondern auch für einen marxistischen Psychoanalytiker, der als Gegner der Nationalsozialisten im Exil ein Buch mit dem Titel Massenpsychologie des Faschismus veröffentlicht hatte.

Wollte man bisher die von Wilhelm Reich 1933 formulierte Analyse des realen Faschismus beziehungsweise der Gläubigkeit der Anhänger und Befürworter autoritärer Herrschaft (kirchlicher, politischer oder sonstiger Gruppierungen) nachvollziehen, musste man auf einen der ,Raubdrucke' der Massenpsychologie zurückgreifen, die in der Folge der Wiederentdeckung Reichs durch die 68er-Bewegung erschienen sind, oder man nahm eine Neufassung zur Hand, in die Reich die ,Orgon'-Theorie umfangreich eingearbeitet hat. Bis heute zitierten geschichtsvergessene Autoren, die Reich kritisieren wollten, immer wieder spätere Überarbeitungen, ohne auf die Unterschiede zur Originalausgabe der Massenpsychologie zu achten, geschweige denn darauf hinzuweisen. Nun aber hat Andreas Peglau eine sorgfältig editierte Neuausgabe des Originaltextes der Massenpsychologie des Faschismus von 1933 vorgelegt, ergänzt durch das Nachwort zur 2. Auflage von 1934, eine Zeittafel mit den wichtigsten Lebens- und Werkdaten zu Wilhelm Reich sowie einen biographisch-zeitgeschichtlichen Abriss, in dem der Kontext des Werkes vorzüglich erläutert wird. Diese Neuausgabe ist allen Lesern zu empfehlen, die nachvollziehen wollen, wie sich ein jüdisch-marxistischer Psychoanalytiker 1933 in einer Exil-Publikation mit dem sich abzeichnenden Unheil nationalsozialistischer Macht- und Gewaltpolitik auseinandergesetzt hat.

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Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933.
Herausgegeben, redigiert und mit einem Anhang versehen von Andreas Peglau.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2020.
280 Seiten , ISBN-13: 9783837929409




Aus: "Die Wiederkehr eines Verdrängten" Bernd Nitzschke (Nr. 1, Januar 2021)
Die Neuausgabe von Wilhelm Reichs ,,Massenpsychologie des Faschismus" lädt zur wissenschaftshistorischen Rekonstruktion eines epochalen Werkes ein
Quelle: https://literaturkritik.de/reich-massenpsychologie-des-faschismus-die-wiederkehr-eines-verdraengten,27469.html


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Quote[...] [Es] haben [ ] antitotalitäre Autoren in den 1990er Jahren vor allem in Frankreich in direkter Anspielung auf historische Schwarzbücher zum Faschismus ein Schwarzbuch des Kommunismus erstellt, das seinerzeit auf große Resonanz und geharnischte Kritik gestoßen ist und zahlreiche Ungenauigkeiten und Übertreibungen, aber auch einen wahren Kern enthielt. Im Anschluss an ex-kommunistische Dissidenten und sog. ,,Renegaten" schon seit den 1930er und 1940er Jahren wurden Menschheitsverbrechen kommunistischer Regime vor allem gegen Kritiker:innen und Gegner:innen angeprangert, die lange aus einem falsch verstandenen Anti-Antikommunismus, wie man die reflexhafte Übersprungreaktion auf den grobschlächtigen Antikommunismus westlicher Provenienz bezeichnen kann, ignoriert, geleugnet oder beschönigt worden waren.

Eine sympathetische Variante der Kommunismuskritik bietet [ ] der Antistalinismus, der sich von allen Perversionen und Gewalttaten kommunistischer Potentaten distanziert und zum Teil einen unkontaminierten Kern der kommunistischen Idee zu retten versucht.

... Dass der Kommunismus erinnerungswürdig ist, sollte unbestritten sein. Eine Idee, die Millionen Menschen in ihren Bann geschlagen und mobilisiert hat, und eine machtvolle Bewegung, die zugleich Millionen Menschen auf dem Gewissen hat, sind schwerlich zu ignorieren. Es geht darum, wie man ohne die lange vorherrschende Hagiografie und Mystifizierung auskommt und die von den Gegnern und Feinden betriebene Propaganda vermeidet. Es bleibt das Spannungsverhältnis zwischen einem auf humanistischen Kategorien aufbauenden Menschenbild und diesen völlig zuwiderlaufenden Praktiken, die an jedem Ort eines ,,realexistierenden Sozialismus" aufgetreten sind.

... Was ist also ,,Kommunismus", dieses Gespenst, das einst in Europa und der Welt umging, heute: ein antiquarisches Studienobjekt, ,,nur so eine (in Schönheit gestorbene) Idee"? Oder das Monster, das für immer mit dem GULag assoziiert bleibt? Ein Untoter, der immer wieder idealistische Begeisterung hervorruft? Oder ein Mutant, der gerade die Gestalt des russischen Imperialismus angenommen hat? Von allem etwas wohl. Doch wie sagte Christian Semler, 68er, ex-KPD/AO und graue Eminenz der taz, gerne: Kein Kommunismus ist auch keine Lösung. [https://taz.de/fileadmin/static/pdf/2013-05-02_PM-Semler-Buch.pdf]


Claus Leggewie ist Ludwig Börne-Professor an der Universität Gießen und hat 2011 mit Anne Lang das Buch ,,Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt" bei C.H. Beck/München veröffentlicht.


Aus: "Wie erinnerungswürdig ist der Kommunismus? Zur geplanten Rekonstruktion des Revolutionsdenkmals von Mies van der Rohe" Claus Leggewie (26. Juni 2022)
Quelle: https://geschichtedergegenwart.ch/wie-erinnerungswuerdig-ist-der-kommunismus-zur-geplanten-rekonstruktion-des-revolutionsdenkmals-von-mies-van-der-rohe/


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Hans-Christian Ströbele, Horst Mahler und Otto Schily Anfang der 70er Jahre. Mahler ist der Angeklagte, die beiden anderen sind seine Verteidiger. ... Der Film [,,Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte" (Birgit Schulz, 2009)] verfolgt die Biografien von drei Männern, die einer Generation angehören und die sich in der selben bundesdeutschen Wirklichkeit entwickelt haben. Regisseurin Birgit Schulz untersucht, was diese Männer geprägt hat, was sie in Bezug auf ihre politischen Ideale verbunden hat, und an welchen Punkten die drei unterschiedliche Wege eingeschlagen haben, um am Ende Gegner zu werden ... Was in den einzelnen Biografien auf den ersten Blick widersprüchlich aussieht, ist für die Beteiligten logisch. Denn in sich haben alle drei Lebensläufe eine gewisse Konsequenz. Und zumindest behauptet jeder, sich treu geblieben zu sein ... | Zu: ,,Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte" (08.09.2015)| Quelle: https://www1.wdr.de/fernsehen/wdr-dok/sendungen/die-anwaelte-124.html // " ... ,,Die Gemeinsamkeit, die bei den drei früheren ,,Linksanwälten" über alle Gräben in dem Film spürbar wird, ist eine Lust an der Dissidenz. Darin sind sie nicht nur Erben der Revolte von 1968. In ihren Biographien entfalten sich auch die verschiedenen Facetten, Triumphe wie Abgründe, eines libertären Freiheitsverständnisses, das sich aus Gesinnungsethik und Widerstandsgeist speist. Es ist das Verdienst dieses irritierenden, hochspannenden Dokumentarfilms, dass er die Fragen an diese Biografien an uns weiterreicht." – Rüdiger Suchsland (2009)..." —> https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Anw%C3%A4lte_%E2%80%93_Eine_deutsche_Geschichte (04. Juli 2020)
-.-
Michael Sontheimer (31.8.2022): " ... Der junge Ströbele war ein schlechter Schüler und Elvis-Presley-Fan; kein an Politik interessierter Linker, sondern Leser von Springers Tageszeitung Die Welt. Erst bei der Bundeswehr erwachte sein rebellischer Geist, er schrieb zahlreiche Beschwerden für Kameraden und verweigerte seine Beförderung zum Gefreiten. Andererseits gewann er bei einem Schießwettbewerb einen Hubschrauberflug über der Lüneburger Heide. Sein Jurastudium in Heidelberg und West-Berlin betrieb er nicht übereifrig, schon vor dessen Abschluss heiratete er 1967 die Diplomatentochter und Schauspielerin Juliana Gregor, mit der er bis zuletzt zusammenlebte. Der entscheidende Wendepunkt seines Lebens war der 2. Juni 1967 in West-Berlin. Nachdem bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien der Student Benno Ohnesorg von dem Kriminalbeamten Karl-Heinz Kurras erschossen worden war [–> https://de.wikipedia.org/wiki/Karl-Heinz_Kurras], heuerte der Justizreferendar Ströbele bei dem bekannten Anwalt Horst Mahler [–> https://de.wikipedia.org/wiki/Horst_Mahler] an, der linke Studenten verteidigte. Zwei Jahre später gründete er mit ihm und Klaus Eschen das erste ,,Sozialistische Anwaltskollektiv". ... Bei den Grünen zählte Ströbele zu den ,,Fundis" oder ,,Fundamentalisten" und lieferte sich harte Kämpfe mit dem Ober-Realo Joschka Fischer und dessen Anhängern. Die Realos wollten so schnell wie möglich in die Regierung, Ströbele wollte an grünen Prinzipien festhalten. ... Der Einmarsch der Russen in der Ukraine hat ihn zuletzt schwer erschüttert. Das hatte er Putin nicht zugetraut. Aber er hätte auch seiner eigenen Partei, den Grünen nicht zugetraut, sich an die Spitze derer zu stellen, die mit schweren Waffen die Ukraine verteidigen wollen. Am Montag ist Christian in seiner Wohnung in Moabit am Ufer der Spree gestorben. ..." | https://taz.de/Christian-Stroebele-ist-gestorben/!5878473/

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Quote[...] Das Manifest der 2000 Worte (vollständiger Titel: Zweitausend Worte, die an Arbeiter, Landwirte, Beamte, Künstler und alle gerichtet sind; tschechisch: Dva tisíce slov, které patří dělníkům, zemědělcům, úředníkům, umělcům a všem) ist einer der wichtigsten Texte des Prager Frühlings in der Tschechoslowakei von 1968.

... Es beleuchtete nicht nur die Rolle der Kommunistischen Partei im Prozess des ,,Prager Frühlings" sehr kritisch und forderte eine unbedingte Weiterführung der Reformpolitik, gegen die reaktionären Kräfte im In- und Ausland, sondern übte auch allgemein heftige Kritik an den ,,Irrtümern des Sozialismus". Die Führung der Kommunistischen Partei lehnte das Dokument als eine Misstrauenserklärung gegenüber ihrer Politik ab. Die Bevölkerung, insbesondere auch die bis dahin eher passive Arbeiterschaft, begrüßte das Manifest hingegen in einem ,,stürmischen Echo". Generell führten die ,,2000 Worte" zu einer weiteren Radikalisierung sowohl der konservativen als auch der reformorientierten Kräfte, während die Regierung Černík und die Mehrheit der Parteiführung unter Dubček sich gezwungen sahen, zwischen beiden Seiten zu lavieren.  ...


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Manifest_der_2000_Worte

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Quote[...] Die meisten, die hierzulande ,,68" sagen, meinen damit die Protestbewegungen von Berkeley und Paris über Frankfurt und Berlin bis Tokio. Die weltweite Bewegung wurde von unterschiedliche Motiven gespeist. Der Kalte Krieg, Opposition gegen den Krieg in Vietnam sowie die Suche im Westen nach Alternativen zum kapitalistischen Produktions- und Konsummodell spielten sicher eine große Rolle. Vergessen wird dabei aber zumeist der zeitgleich stattfindende Aufbruch im Osten.

Der ,,Prager Frühling" von 1968 war das Fanal oder ,,Geschichtszeichen", um einen anderen Sozialismus als den des ,,realexistierenden" und polizeistaatlichen Sowjetmodells in Osteuropa durchzusetzen. Mit dem Prager Frühling verband sich 1968 vorerst letztmalig die globale Hoffnung auf einen Sozialismus mit ,,menschlichem Antlitz", einem sogenannten Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Staatskommunismus.

Das Wort ,,Geschichtszeichen" stammt von Kant. Er charakterisierte mit dem Begriff die Französische Revolution, in der er – trotz Jakobinismus und Terror – eine Tendenz für ,,das Fortschreiten zum Besseren" und ,,eine Revolution ... in den Gemütern aller Zuschauer" und ihrer ,,Denkungsart" sah. Oft sind es jedoch nicht erfolgreiche Revolutionen, die ,,das Fortschreiten zum Besseren" anzeigen, sondern Niederlagen, Rückschläge und Katastrophen. Das trifft im besonderen Maße auf den 21. August 1968 zu, dem Tag der militärischen Vernichtung des Experiments ,,Sozialismus mit menschlichem Antlitz".

Mit Kant kann man darin nichts Geringeres als den Beginn ,,einer Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen" sehen – nämlich die Befreiung von Völkern und Staaten, sich entscheiden zu müssen zwischen Pest und Cholera – kapitalistischer Entmündigung oder leninistisch-stalinistischer Diktatur. Der 21. August 1968 war eine Katastrophe für die direkt Betroffenen und eine Niederlage für alle nicht leninistisch-stalinistisch verblendeten Linken – ein ,,Geschichtszeichen": Denn ,,das Fortschreiten zum Besseren" ist möglich, sofern sich die politisch-moralischen Energiepotenziale, die die Ereignisse in der ČSSR bargen, auch in der ,,Denkungsart" der Zuschauer außerhalb des Landes verbreiten.

Was die westliche Presse ,,Prager Frühling" taufte, in Analogie zur Tauwetterperiode in der Sowjetunion, benannt nach dem Roman ,,Tauwetter" (1946) von Ilja Ehrenburg, begann schon Anfang der 1960er Jahre. Die ČSSR befand sich in einer wirtschaftlichen Stagnation, die Reformen unumgänglich machte. Der Ökonom Ota Šik (1919–2004) wurde zum Promotor dieser Reformen. Er lancierte das Projekt einer Verbindung von Markt und Plan zu einer ,,sozialistischen Marktwirtschaft". Nach seiner Flucht in die Schweiz wurde er zum Theoretiker des ,,Dritten Wegs" zwischen Kapitalismus und Sozialismus.

Wichtige Impulse verdankte der Prager Frühling auch dem Kultursektor. Im Mai 1963 fand unter Leitung des Literaturwissenschaftlers Eduard Goldstücker (1913–2000) eine internationale Konferenz zur Rehabilitierung Franz Kafkas statt. Der galt im Osten als Dichter der bürgerlichen Dekadenz. Die literarische Avantgarde um Ivan Klima, Pavel Kohout und Václav Havel wurde ab Mitte der 1960er Jahre zum Zentrum der Reformbewegung, die die politische Führung zunächst zur Lockerung der Zensur und im März 1968 zu deren Abschaffung zwang.

Mit der Abwahl des Stalinisten Antonin Novotný und der Wahl des Slowaken Alexander Dubček zum Ersten Sekretär der KPČ im Januar 1968 übernahm die Partei die Führung der Reform und legte ein Programm vor, das für einen Sozialismus stand, der ,,ohne selbsternannte Führer und ohne gefühllose Bürokratie" (Otfrid Pustejovsky) auskam und Pluralismus und Meinungsfreiheit garantierte. In Moskau, Warschau, Budapest, Sofia und Pankow schrillten die Alarmglocken. Gut einen Monat vor der militärischen Intervention vom 21. August 1968 warnten die interventionsbereiten ,,Bruderländer" am 15. Juli vor der ,,Gefahr einer Lostrennung der Tschechoslowakei von der sozialistischen Gemeinschaft".

Zum Scheitern des leninistisch-stalinistisch fundierten Sozialismus trug bei, dass er sich an vermeintlich wetterfesten Wissensbeständen über den Lauf der Geschichte und vermeintlich prall gefüllten Reservoiren an historischen Sinnvorräten orientierte, als deren wichtigste Quelle eine teils von Hegel, teils von Marx inspirierte Geschichtsphilosophie fungierte. Hegel wie Marx zehrten von der jüdisch-christlichen Tradition des göttlichen Offenbarungsversprechens (Apokalypse).

Wie die Glaubensgewissheit in der Religion funktioniert die Geschichtsphilosophie politisch als Transmissionsriemen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und ungewisser Zukunft. Ihre prinzipielle Unvorhersehbarkeit wird religiös sowie historisch-spekulativ und politisch-propagandistisch unterlaufen oder wegdisputiert. In der Geschichtsphilosophie wird das religiöse Erlösungsversprechen ersetzt durch die Beschwörung des Glaubens an ,,gesetzmäßigen" Fortschritt.

Dieser bildet das angeblich letzte Ziel der Geschichte, sie selbst wird zum Motor und Subjekt ,,der" Geschichte geadelt und zur Stellvertreterin des allwissenden Schöpfergottes. ,,Die" Geschichte als Super-Subjekt ist das Leitmotiv des fortschrittsgewissen Historismus ebenso wie des Leninismus-Stalinismus.

Marx ersetzte vor allem in seinen frühen Werken den Weltgeist Hegels durch das Proletariat. Lenin und seine Adepten überboten den Meister beträchtlich, als sie behaupteten, es existiere mit dem Proletariat eine soziale Klasse, die über einen privilegierten Zugang zur Gesellschaftstheorie, über den Schlüssel zum Gang ,,der" Geschichte und – mit ihren Universalwerkzeug ,,Partei" – Zutritt zur Wahrheit verfüge.

Mit dem Geschichtszeichen vom 21. August 1968 ist die Orientierung von Sozialismus an solchen Konzepten obsolet geworden. Linke Politik kann nicht länger mit spekulativ erschlossenen Sinnbeständen und Glaubensreservoiren rechnen, sondern muss ihr Handeln und Denken an den politisch-moralischen Energiepotenzialen von Geschichtszeichen ausrichten. Die Niederlage der Pariser Kommune von 1870/71 beförderte die Einsicht, dass die Arbeiterbewegung nicht ohne Organisation auskommt, wenn sie erfolgreich sein will.

Der kontinuierliche Aufstieg der SPD zur stärksten Partei im Kaiserreich begann mit Bismarcks Sozialistengesetz und der Einsicht, wie man die Willkür und das orchestrierte Zusammenspiel von Politik, Polizei und Justiz mit Fantasie, Vorsicht und Beharrlichkeit unterläuft, erschüttert und schließlich überwindet.

Mit der Absage linker Politik an geschichtsphilosophisch oder auf andere Weise spekulativ erschlossene Ziele und der Orientierung an Niederlagen und Katastrophen ist weder ein konturloser Pragmatismus verbunden noch die Option, dass nur weitere Niederlagen und Katastrophen die Wende zum Besseren bringen würden. Geschichtszeichen sind keine mit abstrakten Hoffnungen aufgeblasenen Ereignisse und keine Kopiervorlagen für Nachgeborene. Geschichtszeichen sind aber auch keine Vehikel, um ,,aus der Geschichte zu lernen", wie es im Volksmund heißt. Geschichte lehrt gar nichts.

Sie taugt nicht länger als ,,magistra vitae", als ,,Lehrerin fürs Leben", seit sich der soziale, politische und wirtschaftliche Wandel beschleunigt und dynamisiert hat. Versuche, Problemen und Umwelten mit den Mitteln und Methoden früherer Generationen zu begegnen, sind zum Scheitern verurteilt. Herkunft und Tradition kommen in Geschichte und Politik nur noch Nebenrollen zu. Nachspielen geht in der Politik nur noch für Narren und Narzissten.

Geschichtszeichen sind also nicht als Rezepte zum Denken und Handeln zu verstehen. Sie enthalten aber ein durch Erfahrungen gesättigtes politisch-moralisches Energiepotenzial. Kant nannte dieses Potenzial ,,Enthusiasm", der aus der ,,Teilnehmung am Guten mit Affekt" resultiert. Ob politisch-moralische Energiepotenziale von Geschichtszeichen aktualisierbar sind, ist nicht vorab auszumachen, sondern wird erst im Vollzug bestätigt oder widerlegt.

Sich an den politisch-moralischen Energiepotenzialen zu orientieren, wie sie das Geschichtszeichen vom 21. August 1968 in Prag enthält, ist auf jeden Fall rationaler und aussichtsreicher als ideologisch fundiertes Vertrauen auf den ,,objektiven Gang der Geschichte", auf vermeintliche Lehren daraus oder ihr spekulativ zugeschriebene dogmatische Ziele.


Aus: "Niederschlagung des Prager Frühlings: ,,Das Fortschreiten zum Besseren"" Rudolf Walther (21. 8. 2020)
Quelle: https://taz.de/Niederschlagung-des-Prager-Fruehlings/!5702939/

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Quote[...] In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 marschierten Truppen der UdSSR und der Volksrepubliken Bulgarien, Polen und Ungarn in die Tschechoslowakei (ČSSR) ein. Sie besetzten das Territorium eines "Bruderlandes", um die Umsetzung der von ihnen als konterrevolutionär bezeichneten Ideen der Prager Reformer vom Frühjahr des Jahres zu stoppen. Die DDR, so stellte sich nach 1989 heraus, war mit ihrer Nationalen Volksarmee für Versorgungsleistungen und wichtige Logistik im Umfeld der Besetzung außerhalb des tschechischen Territoriums eingesetzt.

Dass die Ideen des "Prager Frühlings" in der DDR für große Besorgnis in der politischen Führung sorgten, lässt sich auch an den Stasi-Unterlagen ablesen. Der mögliche "Riss" im sozialistischen Lager, in den das Ausscheren der Prager Kommunisten durch den Versuch eines demokratischeren Sozialismus umgewidmet wurde, wurde mit großer Sorge, fast Panik betrachtet. Für kein anderes Ostblockland war der Zusammenhalt des sozialistischen Staatenbündnisses von so existentieller Bedeutung wie für die DDR.

... Neben der aktiven Nachrichtenbeschaffung zur Lage in der ČSSR hatte das MfS zudem die Aufgabe, jede Art von Solidaritätsbekundung mit den tschechischen Reformern im eigenen Lande zu unterdrücken. Nach Analysen der DDR-Staatsanwaltschaft wurden allein bis Oktober 1968 1.189 Personen in der DDR wegen ihrer Sympathiekundgebungen für den Prager Frühling strafrechtlich belangt. Selbst innerhalb der SED wurden gegen 3.358 Mitglieder aus diesem Grunde Parteiverfahren eingeleitet. ...


Aus: "Die Stasi und das Ende des "Prager Frühlings"" (Abgerufen am 07.11.2022)
Quelle: https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/die-stasi-und-das-ende-des-prager-fruehlings/


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Quote...  Die Euphorie, mit der sie den umherschweifenden Schizo als eine gegen jegliche Ordnung aufbegehrende ,,Wunschmaschine" beschrieben, atmete zugleich zutiefst den Geist der antiautoritären Rebellion von 68, und wie noch jedes im Elan des Aufbruchs und der Veränderung verfaßte Werk wirkt, in der Rückschau betrachtet, auch dieses Buch in vielen seiner Hoffnungen naiv. ... Mathias Bröckers (31.10.1992)

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Quote[...] Gilles Deleuze und Félix Guattaris Text richtet sich zunächst und unter anderem gegen den zeitgenössischen psychoanalytischen Diskurs. Der Vorwurf lautet, dass mit dem Ödipus-Komplex eine Interpretationsfolie der Psyche angelegt wird, die ebenjene notwendigerweise auf einen theatralisierten Familienkonflikt reduziert, diesen ahistorisch als anthropologische Konstante totalisiert, die Struktur des Unbewussten auf Sprachlichkeit verpflichtet und – last but not least – eine Komplizenschaft mit dem Kapitalismus eingeht. Man mag die Kritik des Philosophen Deleuze und des Psychiaters Guattari stellenweise für überzogen wahrnehmen, doch ihre Produktivität lässt sich nicht leugnen. ...


Aus: "Lektüre-Klausur: Gilles Deleuze / Félix Guattari: Anti-Ödipus" Julian Werlitz  (21. Oktober 2020)
Quelle: https://ethik-der-textkulturen.de/etk/lektuere-klausur-gilles-deleuze-felix-guattari-anti-oedipus/


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QuoteSchizoanalyse ist ein kritischer Gegenentwurf zur Psychoanalyse. Die Schizoanalyse wurde von Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem gemeinsam verfassten Werk Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie (französisch Capitalisme et schizophrénie. L'anti-Œdipe) (1972/1980) entwickelt. ...


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Schizoanalyse

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Quote[...] Wunschmaschine (im Original französisch machine désirante ,Begehrensmaschine') ist ein Neologismus, der von Gilles Deleuze und Félix Guattari 1972 in ihrem Werk Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie Bd. 1 für das Konzept eines produktiven maschinellen Unbewussten eingeführt wurde. Der Begriff wurde im philosophischen und psychologischen Diskurs international und im deutschen Sprachraum aufgegriffen, zum Beispiel bei Henning Schmidgen: Das Unbewußte der Maschinen und bei Klaus Theweleit: Männerphantasien, sowie – bei Verlust der philosophischen Bedeutung – in die Alltagskultur und Konsumkultur übernommen. An seiner Stelle verwenden Deleuze und Guattari 1980 in ihrem Werk Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie Bd. 2, philosophisch neu definiert, den Begriff ,,Assemblage". ...


https://de.wikipedia.org/wiki/Wunschmaschine (24. August 2018)

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Quote[...] Vor zwanzig Jahren, im Sommer 1972, erschien der ,,Anti-Ödipus", ein Buch, zu dem sich Gilles Deleuze, Philosophie-Professor in Vincennes bei Paris, und der Psychoanalytiker Felix Guattari zusammengetan hatten und dessen Name Programm war: Es blies zum Sturm auf Ödipus, die Galionsfigur der Freudschen Theorie. Mit einem ungeheuren Erfolg: 20.000 Exemplare des schwierigen theoretischen Werks wurden allein im ersten Jahr verkauft, Übersetzungen sorgten in Europa und auch in den USA für eine Verbreitung weit über Spezialistenkreise hinaus. Aufsehen erregte der ,,Anti- Ödipus" in vielfacher Hinsicht: Er war das erste aus der Studentenbewegung gewachsene theoretische Werk und gleichzeitig alles andere als eine neue Theorie: ,,Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise", bekundeten Deleuze und Guattari, ,,es gibt keinen Tod des Buchs, sondern eine neue Art zu lesen. In einem Buch gibt's nichts zu verstehen, aber viel, dessen man sich bedienen kann. Nichts zu interpretieren und zu bedeuten, aber viel, womit man experimentieren kann." Trotz solcher ungewöhnlichen Leseanweisungen feuerten viele den ,,Anti-Ödipus" nach wenigen Versuchen als ,,unlesbar" in die Ecke. Wie eine schräge Frank-Zappa- Komposition gegen die Hörgewohnheiten des ,,Musikantenstadels" verstieß, so verstieß dieses Buch gegen die Lese- und Reflexionsgewohnheiten des akademischen Betriebs.

Mit dem Netz, das Deuleuze/ Guattari geknüpft hatten – in atemloser, provokanter Sprache, mit neuartigen Begriffen und tänzelnd assoziativem Stil –, sollte nicht nur der Ödipuskomplex von seinem Sockel gezerrt werden. ,,Kapitalismus und Schizophrenie" lautete der Obertitel des Buchs – es ging also um mehr als nur um eine Abrechnung mit Freud: Jedwede Verrücktheit allein auf den frühkindlichen Dreiecksstreß mit Mama und Papa einengen zu wollen – dies war nur eine von vielen Pressionen, an deren Beseitigung den Autoren gelegen war. Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe beschrieb Michel Foucault den ,,Anti-Ödipus" als Einführung in eine neue Lebenskunst: anti-ödipal zu sein, so Foucault, ,,ist ein Lebensstil geworden, eine Art und Weise zu denken und so zu leben. Wie kann man sich davor bewahren, ein Faschist zu sein, auch wenn man sich für einen revolutionären Militanten hält? Wie können wir unser Sprechen und unser Tun, unsere Herzen und unsere Lüste vom Faschismus befreien? [...] Deleuze und Guattari verfolgen die leisesten Spuren des Faschismus im Körper."

Die These des ,,Anti-Ödipus", daß die Gesellschaft von einem schizophrenisierenden Potential durchzogen ist, dem letztlich niemand entkommen kann, es also nur zu ,,normal" ist, an der Verrücktheit der Welt irre zu werden, mit dieser bedrohlichen Perspektive des Buchs korrespondierte gleichzeitig eine befreiende: Mit der Verrücktheit gehen kreative, befreiende Momente einher, der Wahnsinn ist ein Akt der Freiheit, und ein Top-Agent dieser Freiheit ist der Schizophrene, der Schizo, wie ihn die Autoren liebevoll nannten, ein revolutionäres Subjekt. Die Euphorie, mit der sie den umherschweifenden Schizo als eine gegen jegliche Ordnung aufbegehrende ,,Wunschmaschine" beschrieben, atmete zugleich zutiefst den Geist der antiautoritären Rebellion von 68, und wie noch jedes im Elan des Aufbruchs und der Veränderung verfaßte Werk wirkt, in der Rückschau betrachtet, auch dieses Buch in vielen seiner Hoffnungen naiv.

Deleuze und Guattari selbst sehen das so: ,,Der Anti-Ödipus war erfolgreich, aber dieser Erfolg wurde von einem noch größeren Scheitern begleitet. Der Anti-Ödipus wollte auf die Verwüstungen hinweisen, die Ödipus, das ,Mama- Papa' in der Psychoanalyse, in der Psychiatrie und selbst in der Anti- Psychiatrie, in der Literaturkritik und im allgemeinen Bild, das man sich vom Denken macht, anrichtet. Wir haben davon geträumt, Ödipus den Garaus zu machen. Aber diese Aufgabe war zu groß für uns. Die Reaktion auf 68 hat gezeigt, wie stark Ödipus noch in der Familie war und wie er weiterhin in der Psychoanalyse, in der Literatur und überall im Denken sein Regime der kindlichen Weinerlichkeit ausübte. [...] Im Anti-Ödipus gibt es drei Hauptthemen:

1) Das Unbewußte arbeitet wie eine Fabrik und nicht wie ein Theater.

2. Wahngebilde oder Romane gibt es überall auf der Welt und in der Weltgeschichte, und sie gehören nicht zur Familie – man deliriert Rassen, Stämme, Kontinente, Kulturen...

3) Es gibt eine Universalgeschichte, aber sie ist eine Geschichte der Kontingenz...

Der Anti-Ödipus war von Kant geprägt, er sollte eine Art Kritik der reinen Vernunft auf der Ebene des Unbewußten sein. ,Tausend Plateaus' beruft sich dagegen auf nach-kantianische (und überdies entschieden anti-hegelianische) Bestrebungen. Dieses Vorhaben ist ,konstruktivistisch': Es geht um eine Theorie der Mannigfaltigkeiten als solche."

,,Tausend Plateaus" war die Fortsetzung und der Schluß von ,,Kapitalismus und Schizophrenie" und erschien in Frankreich 1980. Beim Publikum hinterließ es eher Ratlosigkeit. Daß Kritiker und Leser mit dieser Theorie der Mannigfaltigkeiten so wenig anfangen konnten, ist allerdings keine Überraschung. Was soll das Publikum schon von einem Boxer halten, der seine niederschmetternden Qualitäten plötzlich ins ,,Konstruktive" wendet? Eben dies taten Deleuze und Guattari in einem zweiten Band: Statt sich im Ring einen Gegner zuzurichten, eröffneten sie neue Felder, tausend Plateaus, Ereignisfelder, auf denen vielfältige Auseinandersetzungen stattfinden. Ein Kaleidoskop der Menschheitsgeschichte, aufgehängt an scheinbar willkürlichen Daten und Ereignissen. Doch auch diese Anti-Struktur hat Methode: Es gibt keine aufsteigende Linie der Geschichte, keine Linearität vom Wilden zur Kultur: Statt der im ,,Anti- Ödipus" noch bewahrten Reihenfolge Wilde-Barbaren-Zivilisierte geraten nun alle möglichen gleichzeitig existierenden Gebilde in den Blick: primitive Gruppen wie hochorganisierte Apparate, das Tierwerden des Menschen ebenso wie seine Anpassung an Maschinen und Medien. Diese Theorie der Mannigfaltigkeiten ist auch eine der Gleichzeitigkeiten, der Vermischungen und Unschärfen, der Dissonanzen und der Vielstimmigkeit.

Der Philosoph Wittgenstein hat einmal gesagt: ,,Was auf einer Leiter erreichbar ist, interessiert mich nicht." Dieser Satz könnte als eine Art Konstruktionsprinzip dieser ,,Tausend Plateaus" gelten: axiomatische Ableitungen Schritt für Schritt, eine mechanische Philosophie, die von der komplexen Oberfläche der Dinge durch Ableitung zu immer einfacheren Gesetzen gelangt (und schließlich zur alles erklärenden Weltformel), interessieren Deleuze und Guattari nicht. Nicht die Oberfläche ist komplex und die Bausteine einfach, sondern umgekehrt: Je mikroskopischer die Wahrnehmung, desto komplexer, vielfältiger werden die Wechselwirkungen. Mit simpler Kausalität und Logik zum Wesen der Dinge zu kommen – diese Illusion haben diese Autoren hinter sich gelassen, nicht das Wesen, das Ereignis der Dinge ist Gegenstand ihrer Philosophie.

In einem Gespräch anläßlich des Erscheinens der französischen Ausgabe hat Gilles Deleuze das so ausgedrückt: ,,Dieses Buch ist wie eine Ansammlung von zerbrochenen Ringen. Jeder kann in die anderen eindringen. Jeder Ring oder jedes Plateau sollte seine eigene Atmosphäre haben, seinen eigenen Ton und seine eigene Stimmlage. Dies Buch ist ein Buch der Ideen. Die Philosophie hat sich immer mit Ideen beschäftigt: Philosophie machen bedeutet den Versuch, Begriffe zu erfinden und zu erschaffen. Nur haben die Begriffe viele mögliche Aspekte. Man hat sie lange benutzt, zu bestimmen, was eine Sache ist, das Wesen, das An-Sich-Sein. Wir dagegen interessieren uns für das Ereignis einer Sache, ihre Umstände [...], für uns muß das Konzept das Ereignis nennen und nicht umgekehrt, von daher die Möglichkeit, erzählerische, sehr einfache Verfahrensweisen in die Philosophie einzuführen. Zum Beispiel muß uns ein Konzept wie das des Ritornells sagen, in welchen Fällen wir das Bedürfnis verspüren, leise vor uns hin zu singen. Oder nehmen wir das Gesicht: Wir glauben, daß das Gesicht ein Produkt ist und daß nicht alle Gesellschaften Gesichter produzieren, aber daß bestimmte es nötig haben. In welchen Fällen und warum? Jedes Plateau muß deshalb eine Karte der Umstände aufstellen, deswegen hat jedes ein Datum, ein fiktives Datum, und jedes eine Zeichnung. Es ist ein illustriertes Buch. Was uns nämlich interessiert, sind die Arten der Individuation, die nicht mehr diejenigen einer Person oder eines Objektes sind. Zum Beispiel die Individuation einer Stunde des Tages, einer Region, eines Klimas, eines Flusses, eines Windes, eines Ereignisses. Vielleicht glaubt man zu Unrecht an die Existenz von Dingen, Personen oder Themen. Der Titel ,Mille plateaux' weist auf diese Individuationen hin; sie sind weder personaler noch dinglicher Natur."

Keine Person und kein Ding – auf tausend Plateaus umkreist dieses Buch die Sphäre des ,,Dazwischen": die Pole nicht mehr dualistisch denken, sondern interaktiv und vermittelt, als Intermezzo. Gegen die alten Dualismen setzen Deleuze und Guattari ihre neuen Begriffe, ein Denken nicht mehr in Abstammungslinien – Stammbäumen –, sondern in offenen Systemen, ,,Rhizomen"; nicht mehr in Familien, sondern in Meuten, Horden, Banden; nicht als hautverkapseltes ,,Ich", sondern als ,,organloser Körper"; nicht mehr staatlich, sondern ,,nomadologisch"; nicht seßhaft, sondern ,,vagabundierend"; nicht mehr in Grenzen, sondern in unscharfen Mengen, fraktalen Rändern, Wellen.

Dieses Buch ist das Gegenteil einer traditionellen philosophischen Abhandlung. Doch würden sich die Autoren hüten, diese Gegensätze zu nennen, ihre Anti- Begriffe didaktisch und pädagogisch zu präsentieren, sie praktizieren sie. Das Buch ,,Tausend Plateaus" hat keinen Anfang und kein Ende, keine aufsteigende Logik, keine kausalen Verkettungen, kein System im klassischen Sinne. Und doch, so Gilles Deleuze, ist es alles andere als ein unsystematisches Buch: ,,Das Versagen der Systeme ist heute eine geläufige Bemerkung geworden, die Unmöglichkeit, ein System zu schaffen wegen der Verschiedenheit des Wissens. Diese Idee hat zwei Nachteile: Man faßt nur noch ernsthafte Arbeiten über kleine, sehr lokale und bestimmte Themen ab, und, schlimmer noch, man vertraut alles Umfassende einer schwärmerischen Nicht-Arbeit an, wo jeder alles mögliche sagen kann. In Wirklichkeit haben die Systeme überhaupt nichts von ihrer lebendigen Kraft verloren. Heute gibt es in der Wissenschaft und in der Logik den Anfang einer Theorie der sogenannten ,offenen Systeme', die auf Interaktion begründet sind, die nur lineare Kausalitäten ablehnen und den Begriff der Zeit verändern. Was Guattari und ich Rhizom nennen, entspricht genau einem offenen System. Die Antwort auf die Frage: ,Was ist die Philosophie?' müßte sehr, sehr einfach sein. Alle wissen, daß die Philosophie sich mit Begriffen beschäftigt. Ein System ist die Gesamtheit von Begriffen. Es ist ein offenes System, wenn die Begriffe mit Ereignissen verbunden werden und nicht mehr mit dem Wesen. Aber auf der einen Seite sind die Ideen nicht vorgegeben, sie existieren nicht von vornherein: man muß Begriffe finden, schöpfen. [...] Neue Begriffe schaffen, die von Bedeutung sein würden, das ist immer das Anliegen der Philosophie gewesen. Auf der anderen Seite sind die Ideen keine Verallgemeinerungen, in der Atmosphäre der Zeit, sondern im Gegenteil, sie sind Einmaligkeiten, die auf die Flut des einfachen Denkens reagieren: Man kann sehr gut ohne Konzept denken, aber sobald es ein Konzept gibt, existiert wirklich eine Philosophie. Das hat nichts mit einer Ideologie zu tun. Ein Konzept steckt voller kritischer und politischer Kraft und Freiheit. Es ist ja gerade die Kraft des Systems, die alleine herausfinden kann, was gut, was schlecht ist, was neu oder nicht neu, lebendig oder nicht lebendig in einer Ideenkonstruktion ist. Nichts ist absolut gut, alles hängt vom systematischen Gebrauch und der Klugheit ab. In ,Tausend Plateaus' versuchen wir zu sagen: Das Gute ist niemals sicher – zum Beispiel bedarf es nicht nur eines ,glatten Raums', um die Einfurchungen und Engen zu überwinden, nicht bloß eines Körpers ohne Organe, um die Organisation zu überwinden. Man wirft uns manchmal vor, komplizierte Worte zu benutzen, um ,auf schick zu machen'. Das ist nicht nur bösartig, sondern auch idiotisch. Ein Konzept braucht manchmal ein neues Wort, um bezeichnet zu werden, manchmal bedient es sich eines gewöhnlichen Worts, dem es einen einmaligen Sinn gibt. Auf jeden Fall glaube ich, daß das philosophische Denken niemals eine solche Rolle gespielt hat wie heute, weil sich ein ganzes, nicht nur politisches, sondern auch kulturelles und journalistisches System bildet, das einen Angriff auf jedes Denken darstellt."

Gegen diesen systematischen Angriff auf das Denken setzen Deleuze und Guattari ihr Anti-System der Philosophie, ihre Zungenbrecher wie das Wort ,,Deterritorialisierung", das einem schon im ,,Anti-Ödipus" den Nerv raubte. Wie hört sich das an, wenn man auf die Frage nach dem Inhalt eines Buchs antwortete: ,,Es geht um Deterritorialisierungen". Im besten Fall kann daraus ein Woody- Allen-artiger Monolog werden, in dessen Verlauf klar wird, daß es auch um moderne Kunst und Kosmos, Fluchtlinien des Begehrens, um Maschinen und Apparate, Stickereien und Patchwork, Bergbau und Viehzucht, Kriegsmaschinen und Beethoven, Ordnung und Gewalt, Steinzeit und Postmoderne geht, sowie – womit Woody dann zu Potte käme – um die Wünsche, die Energie, die Körper – und vor allem ihr Verschmelzen. Deterritorialisierungen eben.

Deleuze und Guattari betreiben eine fröhliche Wissenschaft. Sie lassen die Bedeutungen ihrer Begriffe schon auf der Zunge zerplatzen und stellen das symbolische Territorium der Worte in Frage: ,,Schreiben hat nichts mit Bedeuten zu tun, sondern mit Vermessen, mit Kartenmachen, selbst von noch unbekannten Gegenden." Philosophie als Landvermessung. Die Schwierigkeit, ,,Tausend Plateaus" zu lesen und zu verstehen, löst sich auf, wenn wir sie nicht als Abhandlung, sondern als Atlas lesen. Nicht als Bedienungsanleitung, sondern als Werkzeugkasten. Nicht als Lehrbuch, sondern als Wanderkarte. ,,Geologie der Moral" ist eines der Plateaus überschrieben, eine ironische Anspielung auf Nietzsches ,,Genealogie der Moral", auf das alte, lineare Denken in Abstammungsreihen.

Was aber haben geologische Formationen und menschliche Moral miteinander zu schaffen? ,,Für wen hält sich die Erde?" fragen Deleuze und Guattari und zeigen, daß die Art, in der Menschen im Raum verteilt sind, sehr wohl damit zu tun hat, wofür sie sich halten. Es waren Nomaden, die das Gefüge Mensch-Tier-Waffe, Mensch-Pferd-Bogen erfanden – die erste Kriegstechnik. Und es waren die Staaten und Städte, die sie pervertierten. Der Bau einer raumübergreifenden Kanone erfordert eine Investition, die nur ein Staatsapparat tätigen konnte. Derart sind die Geschichten, die Ereignisse, mit denen Deleuze und Guattari die Gegenwart konfrontieren, eine Gegenwart, in der Vergangenheit nicht auf eine tote Ahnengalerie reduziert ist, sondern virulent und wirksam, aktiv in einem mannigfaltigen Prozeß des Werdens.

,,Es geht um das Modell, das unaufhörlich entsteht und einstürzt, um den Prozeß, der unaufhörlich fortgesetzt, unterbrochen und wieder aufgenommen wird. Nein, kein neuer oder anderer Dualismus. Ein Problem der Schrift: Man braucht dringend anexakte Ausdrücke, um etwas exakt zu bezeichnen. Und zwar keineswegs, weil man da hindurch müßte, weil man nur durch Annäherungen weiterkäme, die Anexaktheit ist eben keine Annäherung, sondern genau eine Durchgangsstelle dessen, was Werden ist. Wir ziehen den einen Dualismus nur heran, um den anderen zu verwerfen. Wir benutzen den Dualismus von Modellen nur, um zu einem Prozeß zu gelangen, in dem jedes Modell verworfen wird [...], um zu der Zauberformel zu kommen, die wir alle suchen: Pluralismus=Monismus, und dabei durch alle Dualismen hindurchzugehen, die der Feind sind, aber ein unbedingt notwendiger Feind, das Mobiliar, das wir immer wieder verschieben."

In einer labyrinthischen Bibliothek, in der die Bücher dauernd verstellt und verschoben werden, kann man sich nicht auf herkömmliche Art zurechtfinden, sie verweigert sich jeder Registrierung, geschweige denn einer Inhaltsangabe. Vielmehr ergeben sich in den einzelnen Abteilungen der Bibliothek ständig neue Kombinationen, ethnologische Werke tauchen unter Ökonomie auf, politische Fragen werden musiktheoretisch beantwortet, unter Linguistik finden sich Bücher über Handarbeit, in der Abteilung Philosophie über Geometrie und mittelalterliche Technik. Nichts ist mehr, wo es war– und nichts ist mehr– alles fließt, ist in ständigem Werden. In einem Katalog der Bibliothek müßten jedem Schlagwort Verweise auf sämtliche anderen folgen – er wäre unbrauchbar. Nichts ist mehr, denn gegen das Verb ,,sein" setzen Deleuze und Guattari die Konjunktion des ,,und... und... und" – die überbordende Vielfalt, die bizarre Kombinatorik und die vom Kirchenvater Augustinus bis zum rosaroten Panther polyphonen Stimmen dieses Buchs sind kein Zufall, sondern Methode. Und wollte man diese Methode bezeichnen, dann am ehesten mit einem Terminus der Computersprache: konnektionistisch.

Konnektionistische Maschinen, aus vielen Rechnern zusammengeschaltete sogenannte Neuralnetzwerke, treffen ihre Entscheidungen nicht auf der Grundlage binärer Logik, fragen also nicht, ob etwas absolut richtig oder falsch ist, vielmehr hat jede einzelne Behauptung ein Gewicht. Auf die Frage, ob es sich bei einem Gegenstand mit der Seitenlänge von 4 mal 4 mal 3,9 Zentimeter um einen Würfel handelt, wird jeder digitale Rechner sofort ein ,,Nein" ausspucken, während ein Neuralnetzwerk einen Moment später zu dem Ergebnis kommt: ,,Das Ding sieht einem Würfel verdammt ähnlich". Eine Antwort, wie sie auch von den Fuzzy-Logikern Deleuze und Guattari sein könnte.

Die Parallele der ,,Tausend Plateaus" zur Parallel-Intelligenz trägt noch weiter: Für einfache Aufgaben ist die hierarchische, binäre Hackordnung von Digital- Rechnern nach wie vor unverzichtbar. Je komplexer aber die Probleme werden, als desto überlegener erweist sich die dynamische Interaktion der neuralen Netzwerke. Wer einfache Antworten sucht, wird sich auf den Hochebenen und in den Schwarzen Löchern dieses Buchs verirren. Je komplexer aber die Gegenwart wird, desto überlegener könnte sich das multiple Denken dieser beiden wilden Philosophen noch erweisen.



Gilles Deleuze, Felix Guattari: ,,Tausend Plateaus – Kapitalismus und Schizophrenie". Aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Vouillé. Merve Verlag 1992, 716 Seiten, 98 DM


Aus: "Und... und... und..." Mathias Bröckers (31.10.1992)
Quelle: https://taz.de/!1645739/


Textaris(txt*bot)

#82
"Rechtsextremismus in Ostdeutschland: 60 Prozent der Ostdeutschen halten Deutschland für "überfremdet""
Eine repräsentative Studie für Ostdeutschland zeigt: Viele wünschen sich "autoritäre Staatlichkeit". In einem Bundesland ist Ausländerfeindlichkeit besonders groß.
Von Jona Spreter, 28. Juni 2023
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-06/ostdeutschland-rechtsextremismus-efbi-studie

Quote
Kacma

Schade, dass die Studie nur auf die ostdeutschen Bundesländer beschränkt war. Der Vergleich mit Westdeutschland wäre erhellend gewesen. So liefert die Studie nur begrenzt Aussagen zu ostdeutschen Eigenheiten.


Quote
Jeremiah J.

60% der Ostdeutschen befremden mich.


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Manuel-Aldo 444 Liebenow @Maschinello 27. Juni
...Wir hörten von Eltern, GrEltern, Lehrern, Alten, Richtern..: "es war doch nicht alles (im "3.Reich) schlecht"... Bis 1968, dann wurde das etwas geklärt.

Tiniko @CNikolajew 27. Juni
... Die ,,bösen" 68er waren im Westen, trotz Springer, der Anfang vom Ende dieser Haltung.

Quote...

Superb *wildgewordene Userin
@batcatsupiwoman 1:32 nachm. · 26. Juni 2023
Sagt mir bitte nicht dass ihr tatsächlich überrascht seid?! Ich komme aus dem tiefsten Sachsen. Ich bin irgendwas zwischen 25 und 37 Jahre alt und ich kann euch erzählen wie der Großteil von uns erzogen wird. Erstmal bekommt man von klein auf den Satz zu hören damals (DDR) war es besser. Es wird hart auf den Westen geschimpft, über die Arroganz und Überheblichkeit. Warum u was "der Westen" genau gemacht hat, weiß ich nicht. Was ich weiß ist dass plötzlich viele arbeitslos waren,viele Immobilien wurden in den Westen verkauft.
Es wird einem eingetrichtert dass Ausländer böse sind, es gibt jedoch auch "gute Ausländer " was aber nicht heißt dass diese genauso toll sind wie Deutsche. Sämtliche beleidigende Betitelungen je nach Herkunftsland. Wenn du dich dann beim heranwachsen nicht selbst Hinterfragst warum oder ob das denn nicht alles Blödsinn ist u dass sich die Welt weitergedreht hat,bleibst du in dem Gedankengut. Es sind immerhin deine Eltern, Großeltern. Bekannte und Freunde die so reden,kann ja nicht falsch sein. Ich schätze viele sind in der DDR aufgewachsen, unter Propaganda. Mit Einschränkungen, Stasi kaum Freiheit. Es gab nur den einen bestimmten Weg, kaum Möglichkeiten sich selbst finden zu müssen,es gab Arbeit,man musste arbeiten. Die Freiheit wie wir sie haben in einer Demokratie ist noch nicht allzu lang für Die viele aus dem Osten. VIELLEICHT ist die Freiheit die ,die afd wähler wollen in Wahrheit einen vorgegebenen Weg um sich nicht selbst kümmern zu müssen um Grenzen zu haben da man sich sonst verlieren kann und man selbst verantwortlich ist. Freiheit muss man aushalten können.
Das ist absolut keine Rechtfertigung für die Rechten,Nazis usw. Will damit nur aufzeigen dass es mich nicht wundert. Propaganda läuft da wie gehabt. #Sonneberg
https://threadreaderapp.com/thread/1673293228408291331.html

https://twitter.com/batcatsupiwoman/status/1673293228408291331


...


iris @memories2019_12 26. Juni
Und wie kommt man dann an diese Leute ran? Wir haben keine Zeit zu warten, bis das Denken durchbrochen wird, zumal das ja schon etliche Generationen sind.

Superb *wildgewordene Userin @batcatsupiwoman 26. Juni
Ich glaube fast dass es nicht möglich ist. Nur wenn die Erfahrung wird lehren.

LieseLotte Müller
@Lieselotte2604 26. Juni
Unpopuläre Meinung, aber ich kann diese "Arroganz des Westens" nachempfinden.
Immer noch...und ich bin aus den "alten Bundesländern"...
Da braucht sich keiner rausreden...
Die Situation ist beschissen, aber mit dem Finger braucht da keiner deuten, alles fleißig mitverzapft ...

Tobias Lange @lange_tobias_hh 26. Juni
Es ist richtig, das wir nach 89 die kapitalistische Naivität des Ostens gnadenlos ausgenutzt haben und es nie um die Menschen ging. Sie waren egal und es war egal, dass sie mit Kapitalismus überfordert waren. Man wollte ihr Geld und wer nicht klarkam, egal!

Micha @Wasglbtsneues 26. Juni
Ich bin in der DDR aufgewachsen, Sachse und habe meine Kinder niemals rassistisch erzogen. Bitte nicht einfach verallgemeinern!

Superb *wildgewordene Userin @batcatsupiwoman 26. Juni
Wenn man bitte den Text lesen würde und sich nicht nur empören,Da steht nirgends ALLE uff

hexlein_le @HexleinL 27. Juni
Der Grundtenor klingt aber so.

Superb *wildgewordene Userin @batcatsupiwoman 27. Juni
Wenn man das so lesen will.

hexlein_le @HexleinL
Nein. Ich WILL es nicht so lesen, ich lese es so.

Chris @chgeese
Die Aussage ist ganz klar, dass das die persönliche Erfahrungswelt ist. Also subjektiv wahrgenommen ein grundsätzliches Problem. Also haben beide etwas recht: es ist eine Verallgemeinerung, aber deutlich als subjektiv und nicht statistisch bewiesen deklariert.

Superb *wildgewordene Userin @batcatsupiwoman 27. Juni
Ich möchte klarstellen dass es meine Erlebnisse sind,keine Analyse oder Studie,so bin ich aufgewachsen. Hinterfragst habe ich alles auch Zusammenhänge kenne ich jetzt. Und schon gar nicht pauschalisier ich! Bitte lest den ganzen Text!

@SoRi_Roe
Was mich dabei immer ein bisschen wundert: die Wiedervereinigung ist jetzt 33 Jahre her... Fast so lange wie vorher das DDR-Regime geherrscht hat... Braucht es wirklich genauso viel Zeit die alte Denkweise zu überwinden, wie es vorher gebraucht hat um sie in die Leute einzutrichtern? Sorry wenn ich mich vielleicht unglücklich ausdrücke .. waren die ~40 Jahre Kommunismus so prägend dass es fast genauso lange braucht sich davon zu erholen?

Linus Schroeder @SchroederLinus 26. Juni
Ich kann das nur unterschreiben. Erst mein Weggang aus Thüringen hat mir gezeigt, dass diese Denkweise überhaupt nicht so normal ist. Es war im Westen eine andere Welt.

Hoffnungslos @BigHoffnungslos 26. Juni
Kenne ich auch so aus meiner Zeit im Osten. Tiefster Rassismus, Antisemtismus und Misogynie als Grundeinstellung ohne jegliche Erkenntnis oder Verständnis das etwas untragbares gesagt wird.
Nach Selbsteinschätzung war kaum einer menschenfeindlich.

mandywe89 @mandywe89 26. Juni
Kann ich bestätigen, wir sind damals 1994nach Hessen gezogen, weil er dort besser verdient hat, seine Brüder waren entsetzt. Wenn ich heute fast 30 Jahre später mit meinen ostdeutschen Verwandten am Tisch sitze, fühle ich mich wie 1994. Nichts hat sich in den Köpfen bewegt.

Pandemiearzt @stegmeyer 26. Juni
Was ich mich aber zunehmend frage, weshalb in der alten BRD es die Nazis kaum je in die Parlamente geschafft haben. Bis weit in die 70er waren ähnliche Sprüche bzgl.  ,,Ausländer", Juden, Farbige völlig normal. ,,Unter Hitler gab es wenigstens noch Ordnung." Und die Autobahnen!

onezerotripleseven @10777_berlin 26. Juni
FAZ, 30.05., S. 7 Die Gegenwart. Frau Geipel beschreibts: "Noch immer halten die DDR-Kriegskinder das Binnenkollektiv Ost in ihrem Bann. Die jüngeren Generationen kreieren eine nach außen verlagerte Entlastungserzählung und versuchen, den Westen zum großen Buhmann zu machen."

UliLarike @ULarike 26. Juni
ja ich sehe das auch so, bin in Thüringen geboren, mit der Wende und Ausbildung nach Hessen, ich ertrage Klassentreffen nicht mehr, diese Ignoranz und Selbstgefälligkeit ist mega anstrengend, die Menschenverachtung wurde vorgelebt und nie aufgearbeitet.

Torsten Schreiter @TorstenSchreit1 26. Juni
Bin Dresdner und 40, bestätige diese Aussagen 100%.

Thomas Forget @Forget1962 26. Juni
Ich bin in Ost-Berlin aufgewachsen. Aber schon 1978 habe ich als Lehrling mitbekommen, was latenter Ausländerhass ist. Es ging schon damals gegen Vietnamesen und Kubaner, obwohl die ja nach ihrer Lehr- und Arbeitszeit meist nach 3-5 Jahren wieder in ihre Länder zurückgingen.

hann_sanne @HannSanne 26. Juni
Ich bin aus dem tiefsten Sachsen weggegangen, als Du geboren wurdest. Es ist sehr weit verbreitet, was Du schreibst.
Und viele haben Angst, sich dagegen zu äußern. Die Saat ist schon aufgegangen.

Tilhelm Well @TilhemWell 26. Juni
Die Ursachen für den Wahlerfolg sind vielschichtig und warum es gerade im Osten passiert und warum gerade eine Menge Ossis diesen Rattenfängern (wo die Spitzen mehrheitlich aus dem Westen stammen) nachrennen, die sie zuvor verteufelt haben, lässt sich nicht in 240 Zeichen packen.

ℕ𝕒𝕤𝕔𝕙𝕜𝕒𝕥𝕫𝕖 @niwolfi 26. Juni
Fast meine komplette Verwandtschaft aus der ehemaligen DDR (Thüringen und Brandenburg) ist leider auch, sehr fremdenfeindlich. Teils waren sie Stasi Mitarbeiter, teils nicht aber entnazifiziert sind irgendwie alle nicht... schlimm! ... ich habe zu keinem mehr Kontakt.

Die Bürokrateuse @Integrateuse 26. Juni
So sieht's aus. Mein Vater war immer rechts, heute wählt mein Bruder AfD. Dass das nicht normal ist, hab ich erst während des Studiums gemerkt, als ich das erste Mal mit Menschen aus den alten BL in Kontakt kam. Nichts an dieser Wahl überrascht mich.

Lukas Abegg @Dubio_ 26. Juni
Soziokulturell war die ,,Wiedervereinigung" eben viel mehr eine Annexion des Ostens durch den Westens. Aus dieser Perspektive gibt es einen klaren Sieger und klaren Verlierer, was die grossen Leitmedien aber nie so offen ansprechen.

Homo Sapiens @JunoWega 26. Juni
Auch aus Sachsen. Kann das Gesagte nicht teilen. Es gibt eine gewisse Trägheit. Aber die Leute sind nicht generell unerreichbar. Am wichtigsten ist es nicht einfach weg zuhören im Alltag, immer wieder auch im Kleinsten sachlich Kontra geben und zum Nachdenken anregen.

Stefan vom Lande @StefanH38016719 26. Juni
Meine Meinung ist, dass man dem Osten das rechtsextreme Gedankengut immer hat durchgehen lassen, immer beschwichtigt hat, das seien ja nur paar Querköppe. Seit 30 Jahren. ...

Tiniko @CNikolajew 27. Juni
Interessant, Ähnliches hörte man auch im Westen in der Nachkriegszeit, nur bezog sich die Relativierung da auf die Politik die 1933 ermöglichte. Die ,,bösen" 68er waren im Westen, trotz Springer, der Anfang vom Ende dieser Haltung.

Mascha & der Schrödi @Mascha66973759 27. Juni
Nun bestand die DDR aber nicht nur Sachsen, Entschuldigung! In den anderen neuen Bundesländern lief das offenbar etwas anders. Was also ist in Sachsen passiert? Ich kann das so nicht gelten lassen! Sorry!

Sündenziege @sundenziege 27. Juni
Ich bin in Sachsen aufgewachsen und stimme dir uneingeschränkt zu. Ich hab einen Wessi geheiratet (was lustig ist, weil wir beide nach der Wende geboren wurden) und bin ausgewandert.
Es erschreckt mich, wie lange ich diese Denkweisen selbst inne hatte.

Lotti ist Laut @Letustalk9 27. Juni
Eine Zeit lang wohnte ich in Leipzig und war beruflich viel in Sachsen und Thüringen unterwegs. Ich war ziemlich überrascht, wie sehr das Wessi/Ossi-Denken dort verankert ist, wie viel geschimpft und gefremdelt wird und wie winzig klein der Horizont ist.

COBE @Eyetwinkle79 27. Juni
Was mein Mann sagte: wir (Ost)Deutschen sind Untertanen. Haben nie gelernt, was Freiheit ist und bedeutet. Niemand kann damit umgehen, wenn keiner von Oben sagt, wo es lang geht. Und weil man abgehängt wurde, schimpft man auf die , die noch unter einem selbst sind.

Random Dude @xSoulHunterDKx 27. Juni
Das sind fast 1 zu 1 die Erlebnisse, die Freunde und Familien aus dem Osten dort erlebt haben. Einer meiner Freunde dort ist stramm rechts und seine ganze Familie auch. Nichts als Hass, Stammtischgelaber und inhaltlose, unrealistische Fantasien. Der ach so böse Westen und linke.

Nix wie weg! @KaznaSunstorm 27. Juni
Meine Frau kommt aus Brandenburg und jedes mal, wenn man mit der Familie dort Kontakt hatte, hörte ich das selbe. Am Ende lief es immer darauf hinaus, dass #dieAnderen Schuld sind am eigenen Leid. M.E. ging das mit der Freiheit anscheinend zu schnell. ...

Guru D. Safak @Politguru 27. Juni
Leider konnte ich vieles davon auch in NRW beobachten, auch bei ehemaligen Freunden.

StreuselkuchenmitSahne @Streuselkuche11 27. Juni
Ich lebe in Sachsen- Anhalt, war Teenager, als die Wende kam. Weder im Freundeskreis, noch Bekannte haben diese Denkweise. Ich ebenso wenig u so wurde mein fast erwachsenes Kind auch kein ewig gestriger Nachwuchs-Ossi.

BamBam1976 @BBam1976 27. Juni
Ja du triffst den Nagel auf den Kopf. In Brandenburg auch. Das erklärt die 25% AfD Wähler in total. Aber es erklärt nicht, warum 50% nicht wählen. ...

Frau in Blau @Frau_in_blau 27. Juni
Ich hab immer gehört: "In der DDR war nicht alles schlecht." Die Mär vom arroganten Wessi kenne ich auch (habe einen geheiratet und jetzt ist Ruhe), aber gegen Ausländer wurde nicht hergezogen. Im Gegenteil, Nazis wurden zutiefst verachtet.

тöт тип @sheepdog85 27. Juni
Digger, eine Umarmung. Von mir. Für dich. Ist in vielen postkommunistischen ländern so. Ich komme aus Russland, und habe das Glück dass mein Umfeld gut mit der Freiheit umgehen kann. Aber genau diese Hilflosigkeit sehe ich auch oft.

Manuel-Aldo 444 Liebenow @Maschinello 27. Juni
Moin zusammen, so wird also in D-Ost aufgewachsen. Das kennen wir "Wessis" zu 100%, nur in meinem Alter (>60) genau umgekehrt. Wir hörten von Eltern, GrEltern, Lehrern, Alten, Richtern..: "es war doch nicht alles (im "3.Reich) schlecht"... Bis 1968, dann wurde das etwas geklärt.

RandomChickBunchOfNumbers @ChickOfNumbers 27. Juni
Ich kann das so unterschreiben! Die gefühlte Demütigung durch die ,Besserwessis' sitzt tief, die wollen nur das schlimmste, wissen alles besser. Meine gesamte erweiterte Familie halt null Kontakt zu Marginalisierten, lebt komplett in einer weißen cis Blase ...

Grzegorz Brzęczyszczykiewicz @_eMaX_ 27. Juni
Es war ja nicht alles schlecht damals.

B H @HendrikKlarname 27. Juni
Also das mit der Wut auf Wessis ist halt nachvollziehbar.

angel on a rampage @cowgirlietina 27. Juni
Und genau dort ist eines der Probleme, nach 34 Jahren immer noch von Wessi und Ossi zu schreiben.

Trying my best @PosSumGame 27. Juni
Ich habe es satt! Warum denken dann Polen, Litauer, Letten, Esten, Tschechen, Slowaken, Rumänen, Kroaten nicht so? Warum gibt es hier nur diese eine Insel mitten in Europa, die sich nach russischem Imperialismus, Diktatur, Stasi, sogar Nazizeit zurücksehnt?

Edeldruide @edeldruide 23 Std.
Genau so sieht's aus. Als Thüringer kann ich zu all den Punkten ja sagen. Und es ärgert mich bis heute wie viele meiner Freunde und Bekannten mit 25-36 nicht über diese anerzogenen Dinge nachdenken.

Sazzy @Sazzylein
Genau das! Ich bin gleiche Altersgruppe wie du und genau so aufgewachsen.
Meine große Schwester war mit Nazis befreundet, meine Mutter war ähnlich gestrickt. Als ich als Teenie in den Westen gezogen bin, habe ich langsam verstanden wie "verkorkst" meine Familie eigentlich ist.

HeyNeira @HeyNeira
Bin krass deiner Meinung. Wohne auch in Sachsen, komme aus Sachsen Anhalt, bin Mitte 20 und kenne alle diese Sprüche.
Was aber nicht heißt, dass hier wirklich alle so sind und so denken. Aber leider sind es dennoch zu viele, die so denken. :(

electrolite @electrolite83
Ich kann das nicht bestätigen. Aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, heute 40. Was ich mitbekommen habe, war ein tiefes Misstrauen jedweder Regierung gegenüber. "Die bescheißen uns sowieso alle." Sie gingen trotzdem wählen, fanden es wichtig, wählten wechselnd, aber niemals rechts.

Kl op Kyke @klonkyke
Ich bin nur wenig älter und nicht so aufgewachsen.. Meine Eltern waren immer Linken-Anhänger (bewerte ich jetzt nicht) und selbst da bemerkt man Tendenzen, wo man versteht, warum manche direkt von links nach rechts kippen. Eltern (noch) nicht aber quasi das halbe Dorf.

Didi @WinterD22
Wir sind aus dem Ruhrgebiet und unsere Familie ist bunt. Einmal waren wir in Dresden und Polen zum Urlaub. NIE Wieder. Die übelsten Blicke und eindeutig ablehnende Haltung gegenüber uns. Das ist so traurig und macht wütend.

Andi beth Nahrin @AndiMesoPott
Es gibt aber auch gute Ossis.

Daniela aka Alsbeth @alsbeth82
Komme aus Brandenburg, bin 41. In meiner Familie gabs das nicht. In vielen anderen Familien meiner Mitschüler aber schon. Ich war die einzige linke Zecke in der Klasse, 3 offene Faschos und der Rest hat den Kopf eingezogen und genickt. Selbst Lehrer waren teils so drauf.

verkehrswendebergstrasse @verkehrswendeb2
Ein Bekannter von mir zieht aus Dresden weg nach Norddeutschland, weil er es nicht mehr aushält bei dem ganzen Nazigedankengut im Alltag dort und seine Kinder dort nicht aufwachsen lassen möchte. Und er ist Ur-Sachse!

tomy @tomybee81
Das rechte Gedankengut war schon vor der Wende da, und den 90ern, den Baseballschlägerjahren, kultiviert. Zur Wahrheit gehört aber auch das Vakuum, über Nacht Millionen Arbeitslose, geschlossene Jugendclubs, keine ausgeprägte Vereinskultur, Leere in vielen Köpfen weil der Sinn Aufeinmal fehlte. Viele sind da glaub ich nicht rausgekommen. Die 90er waren wild für uns Jugendliche. Die Eltern gucken wie sie den Arsch an die Wand kriegen sollen und wir Kids mehr oder weniger vogelfrei. So empfinde ich das rückblickend zumindest War halt nur die Frage was man damit macht.  Ich bin eher in eine linke Richtung gegangen weil ich unbedingt Songs von nirvana lernen wollte in der 6. Klasse. Andere sind mit wütend mit baseballschlägern losgezogen und haben die gerade entstandenen dönerbuden angezündet Und das hat sich verfestigt bei vielen die geblieben sind ...


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... Ein irritierter Blick zurück ... Götz Aly, Politikwissenschaftler und Historiker ...

Quote[...] Der Titel der Sammlung seiner Vorträge und Aufsätze zum Thema lautet ,,Unser Nationalsozialismus". Gemeint ist beides: der Nationalsozialismus unserer Väter und Vorväter und unser Umgang mit ihm. Gleich in seiner Einleitung zitiert Götz Aly den israelischen Historiker Yehuda Bauer: ,,Das Fürchterliche an der Shoah ist eben nicht, dass die Nazis unmenschlich waren; das Fürchterliche ist, dass sie menschlich waren – wie Sie und ich." ,,Ebendas", meint Götz Aly, ,,die Nähe, erklärt das weitverbreitete Bedürfnis nach maximaler Distanz."

Wie recht er hat, weiß ich nur zu gut. Ich habe, wenn ich mich richtig erinnere, meinem Vater – er war Soldat in Frankreich und Russland gewesen – zwar häufig vorgeworfen, ,,mitgemacht" zu haben, wobei mir genügte zu wissen, dass er einer von Hitlers Soldaten gewesen war. Genaueres interessierte mich nicht. Niemals habe ich ihn gefragt nach dem, was er getan hatte.

Jahrzehntelang habe ich auch sonst niemanden befragt. Täter nicht und Opfer nicht. Vor der Nähe floh ich als 18-Jähriger in Hannah Arendts ,,Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", mit 20 dann in die Debatten zur Faschismustheorie. Das war eine Flucht, die sich als Aufklärung ausgab.

So wichtig es ist, systemische Ursachen aufzuspüren, so verfehlt ist es doch, wenn man darüber vergisst, dass solche ,,Systeme" von ganz konkreten Menschen gemacht und von ganz konkreten Menschen am Leben gehalten wurden.

Der Historiker Götz Aly, geboren 1947, war lange ein Außenseiter. Zu sehr bestand er darauf, seinen Beruf ernst zu nehmen und wissen zu wollen, wer wann wo was getan hatte. Er klärte uns darüber auf, dass nicht nur der NS-Staat von eingezogenen jüdischen Vermögen profitiert hatte, sondern auch die ,,Volksgenossen", die in die frei werdenden Wohnungen eingezogen waren, die Nachbarn, die Wertsachen und Mobiliar aus ihnen stahlen. Sie durften sich einbilden, keine Diebe zu sein. Die Juden waren enteignet. Ihr Gut war, soweit der NS-Staat es nicht beanspruchte, herrenlos. Natürlich gab es eine Grauzone, von der unsere Vorväter und Vormütter gerne Gebrauch machten. Wie viele jüdische Familien werden vor ihrer Flucht oder später noch vor ihrem Abtransport das eine oder das andere ihren arischen Freunden und Nachbarn in Verwahrung gegeben haben?

Götz Alys Generation wuchs in Häusern, in Wohnungen heran, von denen sie nicht wusste, wer vorher darin gewohnt hatte. Stammte das Silberbesteck, das 24-teilige Service wirklich von den Großeltern? Wir wussten es nicht und die meisten von uns zogen es vor, der eigenen Herkunft und der der sie umgebenden Dinge nicht nachzuforschen.

Diese Dimension fehlte in ,,Der gewöhnliche Faschismus" (1965) des sowjetischen Filmemachers Michail Romm ganz und gar. Auch die DDR-Genossen ließen die Profitgier der Volksgenossen der 30er und 40er Jahre, soweit ich weiß, ununtersucht.


Das Buch
Götz Aly: Unser Nationalsozialismus – Reden in der deutschen Gegenwart, S. Fischer Verlag, 304 Seiten


Aus: "Aufsätze von Götz Aly: Ein Glücksfall für die Wahrheitsfindung" Arno Widmann (26.06.2023)
Quelle: https://www.fr.de/kultur/aufsaetze-von-goetz-aly-ein-gluecksfall-fuer-die-wahrheitsfindung-92365334.html

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Quote[...] Götz Aly im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 13.05.2018

Dirk-Oliver Heckmann: Herr Aly, im Mai 1968, da kam es in Paris zu tagelangen Straßenschlachten. Auslöser war bekanntlich die Schließung der Universität von Nanterre und der Sorbonne wegen fortgesetzter Unruhen. Und bei der Räumung der Barrikaden, da gab es Hunderte zum Teil Schwerverletzte, zahllose Festnahmen natürlich. Die französischen Gewerkschaften, die riefen zum Generalstreik auf und weltweit gab es eine Solidarisierung mit den Studenten. Sie, Herr Aly, waren damals 21 Jahre alt, wenn ich richtig gerechnet habe. 50 Jahre ist das jetzt her. Welchen Eindruck haben diese Unruhen in Paris auf Sie gemacht?

Götz Aly: Ja, also wir waren furchtbar aufgeregt damals, überall diese Ereignisse, und haben die französische Polizei für die Ausgeburt des Faschismus gehalten und Leute wie Cohn-Bendit als junge, agitatorisch wirksame Führer einer solchen Massenbewegung bewundert. Nicht ich, aber einige meiner Freunde und Altersgenossen sind sofort nach Paris gefahren. Der eine kam begeistert zurück, ein Künstler, der sich später totgetrunken hat, Harald hieß er. Dieser Mann erzählte dann: ,,Ich habe die Pariser Börse brennen gesehen!" Also mit dieser Emphase hat sich das in Deutschland gespiegelt und natürlich hier die schon beginnende 68er-Revolte verstärkt.

Heckmann: Und diese Unruhe, die waren ja ein Höhepunkt der 68er-Bewegung in Europa oder auch weltweit, aber entstanden ist diese Bewegung ja auch schon früher. Was war denn Auslöser für Sie, dort sich zu beteiligen?

Aly: Das ging noch am Ende der Schulzeit los mit der Diskussion um die Notstandsgesetze. Das war ein mich politisierender Vorgang, und ich habe dann Kontakt gewonnen auch zur SDS-Gruppe, also dem Sozialistischen Hochschulverband in München der Deutschen Studentenschaft. Da gab es eine für die Schüler zuständige Agitatorin, und da wurde einem zum ersten Mal die Internationale zu Gehör gebracht und vorgesungen. Da gab es dann aber auch so Schriften als Raubdruck wie die Funktion des Orgasmus von Wilhelm Reich, und damit konnte man in bayrischen Schulen sehr viel bewirken damals noch. Das musste man nur auf den Tisch legen und schon war der Teufel los.

Heckmann: Wie würden Sie denn die Atmosphäre in der Bunderepublik damals beschreiben? Wie war das?

Aly: Gemischt, also extrem gemischt. Wir hatten in der Oberstufe in München sehr aufgeklärte CSU-Lehrer, die auf andere Formen des Unterrichts Wert legten und sich vollständig unterschieden von den Lehrern, die wir vorher hatten, die alle den Zweiten Weltkrieg noch mitgemacht hatten, die einen Arm, ein Bein oder ein Auge verloren hatten und auch entsprechend waren, unberechenbar im Durchschnitt und cholerisch. Das kann man ihnen nicht übelnehmen, aber so war die Situation im Nachkriegsdeutschland. Das hat sich verändert in der Oberstufe, in den späten 1960er Jahren in liberaler Weise, und es kam noch etwas hinzu. Wir wurden auf einen Schlag in diesen bayrischen Schulen über die deutschen Naziverbrechen aufgeklärt, und zwar das geschah so: Wir wurden in den Filmkeller geführt, da kriegte man normalerweise diese komischen Lehrfilme gezeigt, mit denen man heute keinen Schüler mehr hinter dem Ofen hervorlocken könnte, und da kriegten wir diese Filme von Erwin Leiser zu sehen mit den Szenen von der Befreiung von Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen, also mit diesen Leichenbergen, Sterbenden, und es hat uns vorher kein Lehrer darüber informiert und auch hinterher keiner etwas gesagt. Die führten uns schweigend, weil es war offensichtlich eine Aufforderung des Kultusministeriums, also des Staates, das zu tun, und es geschah weiter nichts und beim Abendessen zu Hause kam dann diese bekannte doofe Frage: ,,Wie war es denn in der Schule?" ,,Interessant." ,,Ach", das war eine unerwartete Reaktion. ,,Erzähle doch mal." Und meine Eltern, die waren versteinert. Und das hat sich damals in Zehntausenden Familien ganz ähnlich ereignet.

Heckmann: Das heißt, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit war dort, an dieser bayrischen Schule, bei Ihnen schon im Gang, auch bevor Sie richtig in der '68er Bewegung eigentlich mitgemischt haben.

Aly: Ja, aber natürlich, und das Interessante ist, dass der Staat diese Aufarbeitung vorangebracht hat und die Schwierigkeiten, und das weiß ich von Dutzenden meiner Altersgenossen, im Privaten, in den Familien lagen. Die Familien bildeten die Schweigekartelle, nicht so sehr der Staat. Wir haben uns dann später gegen den Staat gewandt.

Heckmann: Und zwar durchaus militant. Sie sind im Wintersemester '68 nach Berlin gegangen. Zwei Jahre später sind Sie als studentischer Vertreter in den Fachbereichsrat des Otto-Suhr-Instituts an der FU Berlin gewählt worden – als Vertreter der ,,Sozialistischen Arbeitskollektive", so hieß es damals. Sie waren Mitbegründer, Redakteur der Zeitung ,,Hochschulkampf. Kampfblatt des Initiativkomitees der Roten Zellen in West-Berlin", so der vollständige Titel, und 1971 beteiligten Sie sich an einer Aktion, bei der Aktivisten der Roten Zellen in ein Seminar eindrangen und mit Gewalt gegen den Professor vorgingen. Dafür sind Sie auch mit einer Geldstrafe belegt worden. Sie haben mal geschrieben, es sei schwer, den eigenen Kindern zu erklären, was einen damals trieb. Was ist Ihre Erklärung?

Aly: Also natürlich war es die Lust, irgendwelche wilden Umtriebe zu machen, die sind altersentsprechend, und es war die Lust an der Revolte. Das bringt viel durcheinander und bringt auch Menschen zusammen, die sich sonst ganz fremd sind und natürlich auch eine altersentsprechende Rechthaberei. Wir haben uns ja sehr stark also dem Marxismus zugewandt damals. Das war in den Schulen natürlich tabuisiert. Dort haben wir niemals etwas von Karl Marx erfahren, und der Kommunismus war nur der Generalfeind, also, das würde ich alles in den Bereich der Normalität nehmen, Gegenpositionen eingenommen und hatten plötzlich das Glück, eine eindimensionale Welterklärung zu finden.

Heckmann: Aber war es nicht auch die Empörung über eine total verstaubte Gesellschaft, die durchsetzt war mit Eliten, die aus der Nazi-Zeit kamen?

Aly: Nein, das hat uns damals nicht so sehr berührt. Die Frage Globke spielte keine Rolle. Kiesinger, gut, darüber wurde gesprochen, aber man muss sich klarmachen: Das damalige Kabinett Kiesinger hatte acht ehemalige NSDAP-Mitglieder.

Heckmann: Eben.

Aly: Ja, das hat uns aber nur im Fall Kiesinger interessiert. Die vier von der SPD haben uns gar nicht interessiert. Nein, was ich sagen wollte: Ich glaube, etwas spielt jedenfalls für mich und auch für viele andere eine große Rolle, auch für Rudi Dutschke, das hat ja nun gerade auch wieder Gretchen Dutschke betont: Wir sind aufgewachsen in einer schweigenden, kalten Nachkriegswelt, die auch gewalttätig war, die unangenehm war. Die Eltern, die Lehrer wussten im Grunde überwiegend, dass sie keine Vorbilder sein konnten mehr nach dem, was sie in diesem Krieg gemacht hatten und nach dem, was vorangegangen war und nach dem, wie sehr sie sich überwiegend mit Adolf Hitler und diesem Regime identifiziert hatten, und aus heutiger Sicht denke ich, das ist ganz normal, das musste so sein. Dann hat es begonnen mit der Verhaftung von Eichmann, an die ich mich lebhaft erinnere, dann mit dem Auschwitz-Prozess. Ich bin in Veranstaltungen von Fritz Bauer gegangen bei der ,,Humanistischen Union". Ich habe alle Nachrichten über NS-Prozesse gelesen und wir hatten damals etwa 30 Schwurgerichtsprozesse im Jahr, in denen meistens Männer angeklagt waren, die so alt waren wie unsere Väter, unsere Vorbilder, unsere Lehrer, die vorher und nachher normal waren und wir sind mit der '68er Bewegung aus diesem Land geflohen. Und wer das sofort erkannt hat, das habe ich in meinem Buch ja auch geschrieben, ,,Unser Kampf" heißt es ja, wer das sofort erkannt hat, war Kurt Georg Kiesinger. Kurt Georg Kiesinger hat damals intern gesagt seinen Beratern, und das ist protokolliert: ,,Diese jungen Studenten benehmen sich uns gegenüber heute genauso wie wir uns, die Nachkriegsgeneration, nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg 1932 gegen die damaligen Eliten und Regierung benommen haben."

Heckmann: ... Ihr Buch ... ist [2008] erschienen. Der Titel: ,,Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück". Das ist natürlich eine bewusste Anspielung auf Hitlers ,,Mein Kampf" und Ihre These ist ja, wenn ich das so zusammenfassen darf, die '68er waren ihren nationalsozialistisch geprägten Eltern, die Sie die 33er nennen, ähnlicher, als sie es selbst wahrnehmen wollten und Sie führen ein paar Beispiele an, die anti-bürgerliche Haltung beispielsweise, die Gewaltbereitschaft, der Antiamerikanismus, latenter Antisemitismus, das Ausblenden von Kritik an linken Gewaltherrschern. Daraufhin wurden Sie wüst beschimpft von Ihren Kritikern, kann man, denke ich, sagen, als Renegat, als Verräter, als Konvertit. Hat Sie diese Reaktion überrascht?

Aly: Nein, überhaupt nicht, interessant finde ich natürlich, dass die '68er, da meine Altersgenossen, dass die, die so alles infrage gestellt hatten, die Kritik zum Mittelpunkt ihrer Daseinsberechtigung gemacht hatten und die auch übrigens ja gelegentlich zu humoristischen Aktionen fähig waren, derartig versteinert und ablehnend und abwehrend auf etwas reagiert haben, was sie nun mal selber betrifft. Sie haben urdeutsch reagiert und insofern auch die These dieses Buches vollständig bestätigt. Sie sind die Kinder ihrer Eltern.

Heckmann: Aber das ist ja auch kein Wunder, wenn empörte Reaktion darauf kommen, wenn Sie da hergehen und Braun gleich Rot setzen beispielsweise.

Aly: Habe ich doch nicht gemacht.

Heckmann: Sie haben aber geschrieben, dass der Begriff ,,Linksfaschismus" ein passender Begriff sei. Das ist in Ihrem Buch zu lesen. Norbert Frei, der Historiker, der hat gesagt, das Ganze sei eine historiografisch völlig überzogene Darstellung von Ihnen um des medialen Knalleffekts willen, und auch Wolfgang Kraushaar, der sich da viel mit dem Thema '68er Bewegung beschäftigt hat, hat deutliche Kritik geübt, viele andere auch. Würden Sie vielleicht zehn Jahre später sagen, der Vergleich war doch ein bisschen überzogen?

Aly: Nein, überhaupt nicht, es steht da gar nicht drin. Und übrigens: Herr Frei sagt immer, ich würde irgendwas wegen medialem Knalleffekt tun, aber meine zentrale These ist die: Wir sind aufgewachsen als die Kinder unserer Eltern, und es ist völlig normal. Wissen Sie, als '68er haben Sie eine 95%ige Wahrscheinlichkeit, dass der Vater bei der Wehrmacht war und da schreckliche Dinge mitgemacht und erlebt hat. Sie haben eine mehr als 30%ige Wahrscheinlichkeit, dass er Mitglied der NSDAP war und Sie haben eine weit über 60%ige Wahrscheinlichkeit, dass er das Nazi-Regime toll fand, vielleicht nicht am Ende, aber zwischendrin. Dass sich etwas von diesem alten Gift, was unsere Eltern, was unsere Lehrer prägte, auf uns übertragen hat, das harte Freund-Feind-Denken, das ja auch im Kalten Krieg noch verstärkt worden ist bzw. fortgeführt wurde, das ist doch völlig klar.

Heckmann: Aber andererseits wurden die '68er natürlich auch als Gegenbewegung immer interpretiert. Man selber hat es ja auch so interpretiert und die Unterschiede, die es ja zwischen diesen beiden Bewegungen ergibt, die man ja so bezeichnen kann, die lassen Sie unter den Tisch fallen, nämlich der Rassismus, der fanatische Antisemitismus der Nationalsozialisten, das Führerprinzip, um drei Beispiele zu nennen.

Aly: Also, zum Führerprinzipe will ich einmal Folgendes sagen. Wir haben Mao Zedong verehrt, wir haben Hồ Chí Minh verehrt. Wir haben alle gejubelt über die Revolution in Kambodscha. Wir wussten darüber nicht viel, aber wir fanden es ganz toll und wir haben Führungsfiguren wie Rudi Dutschke abgöttisch verehrt. Wir haben Führungsfiguren wie Daniel Cohn-Bendit abgöttisch verehrt. Es war eine Männerbewegung, also dass wir da so rein antiautoritär gewesen wären, '67, '68, '69, '70, das hat sich später dann erst langsam geändert. Das ist eine Lüge. Es hat überall diese klassischen Leitungsstrukturen gegeben und auch diese Bewegungen in Richtung Parteigründung und so weiter, egal, ob das jetzt Trotzkisten waren, ob das die Kommunistische Partei – Aufbauorganisation oder ML oder eine proletarische Linke war, die waren alle autoritär auch durchstrukturiert. Insofern ist auch da das alte Gift. Aber ich will noch einmal etwas sagen. Das Problem an der '68er Generation in Deutschland ist auch das. Wenn ich meinen Vater nehme, der ist 1912 geboren und sein Vater kam 1918 als Artillerieoffizier völlig zerschlagen und ruiniert mit einer Niederlage zurück, Artillerieoffizier bei Verdun, das war keine angenehme Sache. Da werden sie nämlich auch dauernd beschossen. Und mein Vater sagt und seine fünf Geschwister, das war reiner Terror, als der zurückkam und in dieser '68er Generation spiegeln sich sehr ungünstig beide Kriegsniederlagen und setzen sich in ihr auch in dieser Gewaltverherrlichung, auch in diesem Autoritarismus, auch in dem Revolutionarismus, den man schon 1932 sieht, fort, ohne dass das jeweils dasselbe ist, aber das muss man sehen als eine besondere deutsche Geschichte, und ich kann meine Altersgenossen nur auffordern, das auch an den eigenen Familien nachzuvollziehen und zu sehen, wie befangen sie sind.

Heckmann: Ihre Kritiker sagen auf der anderen Seite, Sie differenzieren überhaupt nicht, diese '68er Bewegung war nicht die Bewegung, sondern es gab unterschiedlichste Kreise und die kann man nicht alle in einen Topf werfen. Ich möchte aber einen anderen Punkt noch einmal rausgreifen: ,,USA, SA, SS!" – das war eine Parole, die Furore gemacht hat. Eine andere Parole war: ,,Schlag die Zionisten, wo ihr sie trefft!" Welche Rolle spielten Antiamerikanismus und Antisemitismus '68?

Aly: Ja, das verstehe ich nur gar nicht, warum Sie mich das fragen. Das ist ja nun genau der Punkt, von dem ich handele, von den Kontinuitäten. Wir waren die erste Generation im Unterschied zu Ihnen, die ungeschützt und unvorbereitet in den Abgrund von Auschwitz gucken musste. Dabei hat uns niemand geholfen, wir wurden hart damit konfrontiert. In den späten 1960er Jahren, in einem Alter, in dem man besonders auch empfindlich ist und auch ratlos sein kann und '68 war in Deutschland auch eine Ausweichreaktion, eine notwendige Ausweichreaktion. Was die Leute ja gar nicht begreifen: Ich verteidige in diesem Buch '68, wir waren überfordert mit der gesellschaftlichen Situation in Deutschland, mit den Schweigekartellen, mit dem Nicht-Sprechen, mit der Kälte, auch mit der Gewalt, die es noch gab. Die Prügelstrafe ist in den Schulen offiziell erst 1972 langsam abgeschafft worden, vor allem in Süddeutschland, während in der DDR zum Beispiel 1952, und wir sind ausgewichen. Was haben wir gemacht? Wir haben gesagt: ,,Wir bekämpfen nicht den Nationalsozialismus, das haben uns vorher die deutschen Richter und Staatsanwälte und Kriminalbeamte und Israel mit dem Eichmann-Prozess schon bekannt gemacht. Wir bekämpfen jetzt den Faschismus und der Faschismus ist ein internationales Phänomen!" Der hat keine deutschen Namen mehr. Und die Faschisten wohnen in Teheran, beim Schar von Persien, sie wohnen in Saigon und sie wohnen in Washington, allesamt sehr, sehr weit weg.

Heckmann: Also eine Schuldverschiebung?

Aly: Eine Schuldverschiebung, eine Ausweichreaktion, aber eine Ausweichreaktion, die man auch noch verstehen kann, dass junge Leute vor diesem Deutschland flüchten wollen. Und das hat ungefähr zehn Jahre lang für viele gedauert, das können Sie an der Biografie von Joschka Fischer, aber auch an meiner nachvollziehen. Das ist eine völlig verständliche Ausweichreaktion gewesen. Sie müssen sich ja klar machen. Willy Brandt hat eine wunderbare Rede 1964 in New York gehalten über die Verfolgung der deutschen Juden und was die Deutschen den Juden angetan haben. Er hat in Deutschland niemals darüber gesprochen, weil er wusste, wenn er das täte, könnte er nicht Kanzler werden.

Heckmann: Willi Winkler hat mal geschrieben: Die Studentenbewegung hat durch ihr verbales Liebäugeln mit der Gewalt die Saat für die ,,Rote Armee Fraktion", die RAF, gelegt. Ist da was dran?

Aly: Ja, aber sicherlich ist da was dran. Die RAF ist natürlich ein Kind der '68er Bewegung auch. Wie in jeder größeren Verwandtschaft haben Sie auch da natürlich ganz gefährliche Elemente. Man kann nicht sagen, die '68er Bewegung als solche hat das hervorgebracht, aber es gehört dazu. Wir haben uns nächtelang unterhalten über Gewalt gegen Sachen, Gewalt gegen Personen und wenn Gewalt gegen Personen, gegen welche Personen? Das spielte eine große Rolle. Und ich kenne ja auch Leute, die mit mir studiert haben, die 20 Jahre im Untergrund waren, an deren Resozialisation ich dann versucht habe, mitzuwirken. Ich fühle mich da auch in der Verantwortung. Ich war Mitglied der ,,Roten Hilfe" eine Weile. Ich finde, man muss darüber reden, auch über den eigenen Blödsinn, die eigenen Fehltritte, um einigermaßen klar auch anderen sagen zu können, wie es dazu kam, auch andere davor warnen zu können, eindimensionalen Weltbildern anzuhängen. Und unsere Hauptgegner waren ja damals – und das ist in Deutschland eine zentrale Krankheit und verbindet auch die '68er mit der NS-Bewegung – das waren die Liberalen.

Heckmann: Herr Aly, springen wir ins Heute. Viele Kritiker sagen ja: ,,Die '68er, die schreiben uns das Denken vor, auch jetzt noch." Alexander Dobrindt von der CSU sagt, es gäbe eine linke Meinungsführerschaft, die ihren Ursprung habe in der '68er Bewegung. Er spricht von ,,Meinungsverkündern", von ,,Volkserziehern" und es brauche eine ,,bürgerlich konservative Wende", eine ,,bürgerliche Revolution". Stimmen Sie zu?

Aly: Also, man hört ja diese Sachen auch von der AfD. Das halte ich alles für eine Überschätzung. Diese Überschätzung geht teilweise, ging – jetzt sind wir ja nicht mehr richtig satisfaktionsfähig – ging von den '68ern auch selbst aus, aber ich glaube, dass diese Minderheit auch von Intellektuellen die Bundesrepublik zwar beeinflusst hat insgesamt dann, wenn man einzelne Biografien sich anguckt. Dazu rechne ich mich auch, in einem durchaus positiven Sinn. Dass sie aber die Meinungsführerschaft übernommen hätte, dass sie Deutschland nachhaltig geprägt hätte, das glaube ich nicht, weil die Liberalisierung des Landes hat vorher begonnen. Wir waren Profiteure der Liberalisierung. Da sind Leute wie Ralf Dahrendorf und junge CDU-Leute, wie zum Beispiel Helmut Kohl – der die '68er verteidigt hat als junger Ministerpräsident und gesagt hat, da ist einiges wahr an dem, was die hier sagen und wollen – die sind für das Gesamtklima in der Bundesrepublik deutlich wichtiger, auch natürlich führende Sozialdemokraten.

Heckmann: Aber es gab doch einen wirklich gesellschaftlichen, kompletten Umbruch in dieser Zeit, der mit der '68er Bewegung in Verbindung gebracht wird!

Aly: Wo sehen Sie den Umbruch?

Heckmann: Sexuelle Revolution.

Aly: Ach, das ist doch völlig albern.

Heckmann: Sexuelle Befreiung, Liberalisierung der Gesellschaft, reden Sie die Verdienste der '68er Bewegung nicht etwas klein?

Aly: Ja, das sind eingebildete Verdienste. Sehen Sie: Wir waren die erste Generation, die die Pille hatte. Also die Frauen hatten sie, das muss man ja auch sagen. Männer haben das ausgenutzt. Das ist nicht unser Verdienst. Der Aufklärer zum Beispiel Oswalt Kolle mit seinen Filmen war wesentlich menschlicher und wesentlich massenwirksamer als die Parole von uns linken Männern '68: ,,Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!" Frauen haben sich später dagegen gewehrt, aber ich weiß, dass das durchaus Praxis war.

Heckmann: Sie würden sagen, die Verdienste der '68er Bewegung waren so überschaubar, wie Sie es gerade gesagt haben?

Aly: Sie sind deutlich kleiner, als es sich viele '68er einbilden. Wir haben nichts getan für die Aufklärung der NS-Verbrechen. Das ist eine Lüge, wenn das immer wieder behauptet wird. Wir haben uns davon abgewandt aus guten Gründen, die erklärbar sind. Die sexuelle Revolution – das bilden wir uns ein. Auch die Rock'n'Roll-Generation, 10, 15 Jahre vorher her, wusste schon sehr gut, wie es geht und was man so alles machen kann miteinander. Das ist nichts Neues gewesen. Und ansonsten natürlich, es gibt dann sozusagen im späteren Verlauf Dinge wie die grüne Bewegung. Aber das hat erst einmal nichts mit '68 zu tun, das entsteht später. Natürlich auch die Emanzipation von Frauen, die Veränderungen an den Universitäten. Aber auch diese Veränderung an den Universitäten, die Reformuniversitäten sind alle vorher geplant worden. Konstanz, Bochum, Bremen, das sind keine Erfindungen von '68. Wir haben das ausgenutzt, und viele von uns sind dort dann irgendetwas geworden und haben noch ein paar Jahre ihre wilden Theorien mit öffentlichen Geldern sozusagen verbreitet.

Heckmann: Das heißt, 68 war eigentlich überflüssig?

Aly: Als Historiker würde ich weder sagen, es war überflüssig noch notwendig. Es war so und ich versuche zu erklären, warum es in Deutschland so war, wie es war. Es ist sehr viel härter verlaufen als in Frankreich. In Frankreich war das nach zwei Jahren verschwunden und die Leute waren wieder im französischen Bürgertum, wie vorher auch ihre Familien. Da hat sich nichts geändert. Es war eine kurze romanische Revolte. In Deutschland ging das sehr viel länger und in allen Staaten, die den Zweiten Weltkrieg begonnen und vom Zaun gebrochen hatten – und das sind Deutschland, Italien und Japan. Das scheint mir ganz entscheidend. Und da spiegelt sich eben diese negative Kontinuität, mit der wir uns auseinandersetzen mussten. Das Positive an 68, das ich sehe, ist das, dass uns in aller Wildheit, in aller Irrationalität, die wir damals an den Tag gelegt haben, die Möglichkeit gegeben wurde, dieses Alte auch zu überwinden. Das ist aber kein Verdienst, das ist keine Heldentat, das ist auch ein unangenehmer Prozess. Wir haben das sozusagen versucht ,,auszuschwitzen". Das riecht auch nicht besonders gut. Das kann man verstehen, das kann man erklären, das kann man auch begründen, aber man muss nicht hinterher sagen: ,,Wir waren die Tollsten!"

Heckmann: Herr Aly, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Aly: Bitte.


Aus: "50 Jahre 68er-Bewegung,,Verdienste der 68er sind deutlich kleiner, als es sich viele einbilden"" (13.05.2018)
Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/50-jahre-68er-bewegung-verdienste-der-68er-sind-deutlich-100.html

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QuoteHab da so meine Zweifel

"Je t'aime, moi non plus"

Erinnerungen.

Ich war damals noch ein Kind. Weiss aber noch wie heute, dass einer meiner aelteren Bruder auf dem Balkon Lautsprecher installiert hatte und alle unsere Nachbarn mit dem Gestoehne dieses Liedes unterhalten wurden - zum Aerger unseres Vaters, der das dann ganz schnell beendet hat.

Das Lied hat mich damals schwer beeindruckt und das tut es immer noch.


Quotede.bear

Sie hat mit dem Lied meiner Generation beigebracht, dass solche Gefühle ganz normal sind und nicht versteckt werden müssen. Im Gegenteil . . . !

Ich verdanke ihr viel!

RIP


Quote
Tom Hardy

Lief damals auf jeder Fete.

Klingt mir wieder in den Ohren.

R. I. P.
JANE


Quote²


Ich war immer in sie verliebt...

RIP


...

Kommentare zu: https://www.zeit.de/kultur/musik/2023-07/saengerin-und-schauspielerin-jane-birkin-ist-tot

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Soziale Phantasien und Ausdrucksformen der Achtundsechziger ...

Der von den Achtundsechzigern propagierte »Tod der Literatur« hat eine lebendige Debatte ausgelöst, die mehr enthält als die kulturpessimistischen Klagen über das Ende von Schrift und Buch.

Der Band enthält die Vorträge des Symposiums »Belles lettres / Graffiti«, das 1998 im Rahmen der Marbacher Jahresausstellung »Protest! Literatur um 1968« im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar stattfand. Helmuth Kiesel, Eberhard Lämmert und Klaus R. Scherpe hatten es in Zusammenarbeit mit Ulrich Ott vorbereitet.
Mentalitäten, Strategien und Schreibweisen von »Achtundsechzigern« wurden beleuchtet und in ihren Nachwirkungen sowie in ihrem Verhältnis zur Postmoderne beurteilt. Der daraus hervorgegangene Tagungsband versammelt Beiträge aus ideengeschichtlicher, linguistischer, System- und medientheoretischer Perspektive. Klaus Bogdal führt vor, wie man Sinn produzieren kann und Identität finden wollte, Christoph König schildert die problematische Suche nach dem Positiven und Andreas Huyssen profiliert die Unterschiede zwischen der amerikanischen und der deutschen »Erinnerungspolitik« im Hinblick auf »1968«. Helmuth Lethen beschreibt eine unheimliche Begegnung mit Carl Schmitt, Michael Rutschky erinnert sich an die Wiedereinsetzung der Großväter und Jürgen Link geht den Störungen des Normalen nach. Klaus J. Mattheier zeigt die soziale Einbettung von Politjargon und »dirty speech« auf, Fritz Hermanns wundert sich über den damaligen Reiz der Schwerverständlichkeit, Joseph Kopperschmidt fragt, warum die Studenten »so große Ohren« hatten, und Ulrike Haß-Zumkehr geht der »widerständigen Sprache« nach. Roman Luckscheiter skizziert die »unsichtbare Religion« der Bewegung und Manfred Lauermann erläutert den Begriff des Religioiden. Wolfgang Kabatek ruft Peter Handkes subversives Spiel mit Fernsehformen in Erinnerung und Ingrid Münz-Koenen macht deutlich, wie das Fernsehen zur Emotionalisierung des politischen Empfindens beigetragen hat.

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Roman Luckscheiter, geboren 1970, wurde an der Universität Heidelberg mit einer Arbeit über den postmodernen Impuls von 1968 promoviert.

Ulrich Ott, geb. 1939, war von 1985 bis 2004 Direktor des Schiller-Nationalmuseums und des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar. 2004 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz für sein Engagement für das literarische Erbe deutscher Schriftsteller ...

Zu: Belles Lettres / Graffiti - Soziale Phantasien und Ausdrucksformen der Achtundsechziger
Herausgegeben von Ulrich Ott und Roman Luckscheiter
168 S., ISBN 978-3-89244-472-5


Aus: "Belles Lettres / Graffiti" (2001)
Quelle: https://www.wallstein-verlag.de/9783892444725-belles-lettres-graffiti.html


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Quote[...] Alexander Kluge, Jurist, SPD-Mitglied, Autorenfilmer, damals Mitte dreißig, war im Mai 1968 in der Frankfurter Universität. Es herrschte kreatives Chaos. Studenten hatten die zur Karl-Marx-Uni umgetaufte ehrwürdige Institution besetzt, Türen waren zerbrochen. Die Studenten, so Kluge, neigten ,,zu auf dem Konkurrenzprinzip fußenden, sich gegenseitig steigernden radikalen Formulierungen". Extremer geht immer – die fatale Dynamik der akademischen Linken. Mittendrin hielt Oskar Negt, damals Assistent von Jürgen Habermas, als ruhender Pol Vorlesungen über Philosophie. ,,Er integrierte durch die Herstellung von Zusammenhang, nicht durch Beschneiden", so Kluge.

Die Neue Linke richtete sich bald darauf in einer Phantasiewelt ein, in operettenhaften Reinszenierungen der Weimarer Republik mit einer imaginären Arbeiterklasse. Negt tat das Gegenteil. Er veröffentlichte 1968 sein – wie er fand – einflussreichstes Buch. ,,Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung". Das war der geglückte Versuch, Kritische Theorie mit Gewerkschaftsarbeit in der Bundesrepublik der sozialliberalen Ära zu verbinden, die IG Metall mit Adorno. Es war Ausdruck einer fundamentalen Überzeugung: Es geht darum, lebendige Zusammenhänge herzustellen. Recht haben ist schön, aber zweitrangig.

Während in Seminaren um die korrekte Auslegung von Gramscis Begriff des organischen Intellektuellen gerungen wurde, gründete Negt in Hannover eine experimentelle neue Schule, speiste seine Ideen in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit ein und war spiritus rector des ,,Sozialistischen Büro". Das war nicht nach Kadern, sondern nach Berufssparten organisiert, weil die konkrete Erfahrung mit Arbeit im Zentrum stehen sollte. In den 70er und 80er Jahren verkörperte Negt jenen organischen Intellektuellen, nach dem in den neuen Elfenbeintürmen sehnsüchtig gefahndet wurde.

Viele 68er wie Hans Magnus Enzensberger oder Peter Schneider beugten sich später verwundert über das, was sie damals so gedacht hatten. Manche wurden vor Schreck Konservative. Negt nicht. Er hatte nichts zu bereuen. Er verfügte immer über ein klares politisches Unterscheidungsvermögen. 1972, als viele Linke Gewalt für eine diskutable Möglichkeit hielten, kündigte er der RAF jede Solidarität auf. Das erforderte, heute schwer vorstellbar, Mut.

Negt war und blieb Marxist. Nicht in der eisernen, leninistischen Façon, sondern in der flüssigen, offenen Art von Karl Korsch, einem mittlerweile in Vergessenheit geratenen kommunistischen Philosophen. Negts Denken kreiste um den Begriff Arbeit, den er aus den Verengungen der fordistischen Fabrikgesellschaft und der ,,Wenn Dein starker Arm es will"-Bilderwelt befreite und zu allen humanen Tätigkeiten öffnete, vor allem Bildung und Wissensproduktion.

Er schrieb Dutzende Bücher, über Intellektuelle und Gewerkschaften, Europa und Philosophie, die SPD und die Romantik, und seine Leitsterne Marx und Kant. Ein Kritiker hat ihn als Theoretiker mal ungnädig mit einem Ackergaul verglichen, zuverlässig, aber langsam.

Negt war als Denker immer solide, nie genial. Das war nicht schlimm – an unsoliden Genies war in der Linken kein Mangel. Er war ein Erfahrungswissenschaftler, mehr als ein Theoretiker. Ein Glücksfall war die Zusammenarbeit mit Alexander Kluge, dem Meister des Assoziativen. ,,Wir arbeiten zusammen, weil wir unvereinbare Gegensätze sind", schrieb Kluge dazu gewohnt paradox. Geistiges Abenteurertum und Bodenständigkeit waren bei dem Duo so klar verteilt wie bei Marx und Engels.

Das Opus Magnum erschien 1981: ,,Geschichte und Eigensinn". Eine solch wilde Collage von Theorie und Märchen, Wissenschaft und Comic, ein solches Dickicht von Material hatte es noch nie gegeben. Gleichzeitig war das 1300 Seiten Werk eine komplexe, konzentrierte Studie zu Negts immer wiederkehrender marxistischer Frage: Woher stammte unser Arbeitsvermögen? Der Leserschaft, die ebenso fasziniert wie verwirrt nach Halteseilen suchte, beschieden die Autoren: ,,Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch."

In den 80er Jahren formierte sich in Frankreich eine radikale Kritik der Moderne und eine vehemente Aufklärungsskepsis, vertreten von Foucault, Deleuze, Derrida, die sich mit Habermas, dem Rationalisten, bekämpften. ,,Geschichte und Eigensinn" war in diesem Battle eine listige Antwort, die quer zu allem stand. Sie löste gängige, sinnstiftende Erzählformen hin zu radikaler Subjektivität auf, und doch waren Kluges kalter juristischer Verstand und Negts Marxismus die Grundmelodie. Eine Art grundvernünftiger Vernunftkritik. ,,Geschichte und Eigensinn" blieb ein Solitär, ohne Vorgänger und Nachfolger.

Oskar Negt stammte aus kleinen Verhältnissen. Er war ein Bildungsaufsteiger mit unstillbarem Wissensdurst. Wer sein weiches, ostpreußisches Idiom einmal gehört hatte, vergaß es nicht wieder. Er war 1945, noch als Kind, mit seiner älteren Schwester aus dem Osten geflohen. Eine Odyssee am Rand des Todes. In ,,Überlebensglück" beschrieb er 2016, warum er das Grauen der langen Flucht ohne Folgeschäden überstanden hatte. Ihn schützte das aus dem Elternhaus stammende Grundvertrauen, das ihn befähigte, noch im Schrecken Sinnvolles zu erkennen.

Sein Werk spiegelt diese Erfahrung wider. Es ist durchzogen von historischem Optimismus, nie naiv, immer materialistisch begründet. Es verströmt ein ansteckendes Vertrauen in die Möglichkeiten des Menschlichen. Es gibt immer eine Lösung. Oskar Negt ist am Freitag mit 89 Jahren gestorben.


Aus: "Nachruf auf Oskar Negt: Es gibt immer eine Lösung" Stefan Reinecke (3.2.2024)
Quelle: https://taz.de/Nachruf-auf-Oskar-Negt/!5989935/

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Quote[...] Nach langer, schwerer Krankheit ist gestern der Sozialphilosoph Oskar Negt im Alter von 89 Jahren verstorben. Der Publizist und Filmemacher Alexander Kluge gehörte zu den längsten Weggefährten von Negt, zusammen veröffentlichten sie mehrere Bücher. Im Gespräch erinnert sich Alexander Kluge an einen Freund und großen Denker.

Peter Neumann:  Alexander Kluge, Sie haben Oskar Negt einmal als ihren "älteren Bruder" bezeichnet. Dabei sind sie zwei Jahre älter als er. Wer war er für Sie?

Alexander Kluge: Man nennt in China einen Menschen, den man sehr achtet, einen "älteren Bruder". Spirituell ist er der Ältere von uns beiden. Bei unseren gemeinsamen Büchern stand Negt immer an erster Stelle, auch wenn im Alphabet K vor N kommt. Ich habe zu ihm aufgeschaut.

Peter Neumann: Negt war eine zentrale Gestalt der Studentenproteste 1968: Studium bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Assistent von Jürgen Habermas in Frankfurt, dann Wortführer der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Wie haben Sie sich kennengelernt?

Alexander Kluge: Ich bin noch ein Vor-68er. Wir Filmemacher saßen da und waren erstaunt und verblüfft. Ich war es nicht gewohnt, jede Woche Pamphlete zu schreiben oder politische Programme für die nächsten 800 Jahre zu entwickeln. Das war mir fremd. Nachdem der Studentenprotest 1968 seine Hochphase durchlaufen hatte, zerfiel der Sozialistische Deutsche Studentenbund, er war zerstritten und löste sich auf. Oskar Negt eröffnete damals einen Runden Tisch, wo alle Leute, die untereinander verzankt waren, noch einmal zusammenkamen. Das hat mir imponiert. Da haben wir uns kennengelernt. Wir haben dann 52 Jahre lang zusammengearbeitet. Ich hing sehr an diesem Gefährten. Wenn ich sage, dass Oskar Negt mein Bruderherz ist, dann meine ich das wörtlich.

Peter Neumann: Es gab starke Auseinandersetzungen: Als Habermas 1967 vor einem "linken Faschismus" der APO warnte, der zu einer Gewalteskalation führen könnte, gehörte Negt zu seinen Kritikern. Er hat sich später dafür öffentlich entschuldigt. War die Sache damit vom Tisch?

Alexander Kluge: Negt war lebenslänglich loyal zu Habermas. Kritisch sein und loyal sein sind keine Gegensätze. Eine Mitte zu bilden, um die sich alle versammeln können, ist nicht ein Gegensatz zu Gründlichkeit, mit der man Dinge an der Wurzel fassen muss, wenn man radikal sein will.

Peter Neumann: Ihr erstes gemeinsames Buch, Öffentlichkeit und Erfahrung, erschien 1972. Was war Öffentlichkeit für Oskar Negt?

Alexander Kluge: Jeder Mensch macht Erfahrung. Aber ob diese Erfahrung mit Selbstbewusstsein verbunden ist oder ob sie einfach nur individuell, also robinsonistisch ist, hängt davon ab, ob man sie mit anderen austauscht. Wenn ich das, was ich denke und fühle, eichen kann an anderen Menschen, ist das Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeit entsteht im Zeitalter der Aufklärung, zwischen 1933 und 1945 gibt es sie gar nicht. Und 1968 erobern diese Jungen sie noch einmal zurück. Nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 ist das eine zweite Republikgründung. 

Peter Neumann: Negt dachte über den Wert der Arbeit und die menschliche Würde nach, über gewerkschaftliches Engagement und die Lebensform Demokratie. Er selbst stammte aus einfachen Verhältnissen, einer Familie von Bauern in Ostpreußen. Was war er für ein Denker? 

Alexander Kluge: Oskar Negt war kein Soziologe, aber auch kein Fachphilosoph. Er war Theoretiker. Ein theoros bezeichnet im alten Griechenland jemanden, der beim Besuch einer Stadtdelegation in der Fremde die Aufgabe hat, aufzupassen, ob die Fremden oder die Eigenen lügen. Er soll nicht verhandeln. Er soll nur aufpassen, dass niemand lügt. Das ist die Rolle des Mediators. Negt war also beides: Theoretiker und Mediator. Er war jemand, der Diskussionen wieder in die Wirklichkeit zurückführte, der Bodenhaftung herstellte. Er war ein Wirklichkeitshersteller.

...

Peter Neumann: Aktuell gehen Zehntausende Menschen in Deutschland gegen rechts auf die Straße. Wie hat Negt die Erosion der Demokratien in den vergangenen Jahren erlebt?

Alexander Kluge: Die Frankfurter Schule fängt 1932 an, aktiv zu werden. Beim Streik bei der Berliner Verkehrsgesellschaft verbünden sich Nationalsozialisten und Kommunisten gegen die Republik. Und da merken Horkheimer und Adorno, das geht schief. Sie warten nicht bis 1933, sondern bringen schon ein Jahr zuvor das Institutsvermögen in die Schweiz und verlagern das Institut, die hauseigene Zeitschrift und die Gruppe in die USA: Tatsache ist, dass diese Deviation, diese Desorientierung periodisch ist, wellenartig wie das Wetter. Auch heute müssen wir wachsam sein. Ich versetze mich jetzt in Negt, der würde sagen: Rede nicht so allgemein, sondern nimm das Jahr 1990. Da haben wir den Mauerfall hinter uns, den alle gut fanden, und dann kommt ein nüchternes Jahr der Steuerberater, der Glücksritter, der Sanierer. Und es wird eine ganze Wirtschaft abgewürgt, eine Öffentlichkeit wird zerstört. Hier liegt sicher einer der Gründe für einen Großteil der AfD-Wähler. Jetzt ist es zu spät. Aber es ist nicht zu spät, es zu verstehen. Wenn wir nicht wollen, dass 2029 der Rechtsruck in Frankreich und Deutschland absolut wird, dann können wir wenigstens an einigen Punkten aus diesen Fehlern lernen. 

...

Peter Neumann: Haben Sie einen Satz von Oskar Negt im Ohr, wenn Sie an ihn denken?

Alexander Kluge: Ich habe nur die Bedächtigkeit im Ohr, mit der er Sätze aussprach. Wenn er sagt, der "zärtliche Keim der Vernunft", dann ist das etwas, was ich im Ohr behalte. Das Ohr merkt sofort, wenn einer es gut meint. Noch vor dem ABC lernen wir die Unterschiede in der Tonart.

Peter Neumann: Das Tragische an der Arbeit ist, dass sie ein ständiges Anarbeiten gegen die Natur ist. Gegen das Verfallen. Gegen unsere Endlichkeit. Ist der Tod das Ende der Arbeit? 

Alexander Kluge: Zwischen den Generationen arbeitet es weiter. Und das ist nicht spiritistisch gemeint. Eine Seelenwanderung mit Oskar Negt wäre etwas sehr Reales. Schon in ihm bewegen sich andere Philosophen: Der alte Sokrates ist mit einem Spurenelement in ihm. Und so werden die 20 Werkbände, die er hinterlässt, auch in anderen Generationen weiterarbeiten. Da gibt es etwas, das ihm nachruft. Ich habe die Hoffnung, dass etwas von seinen Spuren maulwurfähnlich in die Zukunft durchdringt.

...


Aus: "Alexander Kluge über Oskar Negt: "Die Hierarchie war klar: Er sagte, wo es langgeht"" (3. Februar 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2024-02/oskar-negt-alexander-kluge-philosophie-sozialwissenschaft-nachruf/

QuoteKäpt'n Haddock

Ich mag Alexander Kluge. Ich würde mir nicht anmaßen zu behaupten, dass ich je etwas von dem, was er gesagt hat, verstanden hätte, aber ich mag ihn.


QuoteDagmar Schön

Sehr berührend, dass es heute noch einen Mann gibt, der einen anderen 'Bruderherz' nennt. Auch Schwesterherzen gibt es nicht mehr oft. ...


QuoteAkool

Oskar Negt hat es gut gemeint mit den Menschen und mich mit seinen Büchern und Gedanken 50 Jahre begleitet.
Dafür bin ich sehr dankbar.

Andreas Kohlmeyer


QuoteSchattenumarmerin

Flügel spreizen sich, der Dino in mir freut sich und ich (1968 16 Jahre alt) sage von ganzem Herzen Dank für dieses Gespräch!


QuoteWinfield

Alexander Kluge. Man darf nicht vergessen, daß dieser alte weiße Mann mit seiner Haltung zum Überfall auf die Ukraine das faschistische Terrorregime im Kreml unterstützt.

Und damit unsere Demokratie und Sicherheit gefährdet.


QuoteHaliflor

Ja, leider hat er sich im Alter sehr verirrt. Es gibt da auch persönliche Hintergründe, die ich jetzt aber nicht ausbreiten möchte.


QuoteDisordersystems

Das unterstützt er gar nicht. In Zukunft genauer lesen,.. Und sorry, aber ,,unsere Demokratie und Sicherheit gefährden" ganz andere alte weiße Männer.... Und ihre weiblichen Pendants. Dass jemand mit Weltkriegserfahrung nicht dafür ist bzw. war, in Europa nochmals Krieg zu führen, finde ich als erste Reaktion sehr nachvollziehbar. Und im übrigen Teil demokratischer Prozesse, zu einer konstruktiven Haltung zu finden. Wie eilfertig hierzulande immer gleich zu den Waffen gerufen wird und selbige finanziert, davon konnte man die bitteren Konsequenzen in den Jugoslawienkriegen sehen, und an anderen Orten der Welt. Das Recht auf Selbstverteidigung hat Kluge in einem Interview dazu gar nicht infrage gestellt, sondern nur überlegt, was der Ausweg wäre, der am wenigsten Leid, Tote und Quälerei mit sich bringt und Kräfte des Widerstands stärkt. Und Überlegen und (öffentlich, nicht geheim) einen Vorschlag machen, das gefährdet gar nichts in einer Demokratie. ... Da haben Kluge & Negt neue Standarts gesetzt. ,,Wir arbeiten zusammen, weil wir sich ausschließende Gegensätze sind". (Kluge Zitat über Negt in der taz:)


QuoteRunkelstoss

Sehr schönes Interview, danke.

Hier widerspreche ich.

    Die SPD braucht keine Theorie. Sie wird durch Zufuhr von Theorie auch nicht besser.

Seit dem die SPD "theorielos" ist, ist sie auch orientierungslos und das merkt man.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] In der Technischen Universität Berlin begann am 27. Januar 1978 der dreitägige TUNIX-Kongress mit etwa 15.000 TeilnehmerInnen. Dies war der Versuch verschiedener Basisinitiativen und unorganisierter Linken, die zerstreute neue Generation nach der 68er-Bewegung zu versammeln, die einen Gegenpol zum Politikverständnis der maoistischen K-Gruppen und der DDR-orientierten Organisationen bildeten.

Thematisch war der Kongress breit gefächert, so wie die Initiativen, die daran teilnahmen. So ging es nicht nur um die damals schon angesagte Themen wie Ökologie. Stadtzerstörung oder Neonazis, sondern auch um welche, für die es außerhalb der Linken kaum ein Bewusstsein gab. Themen wie Missbrauch der Psychiatrie, Aufbau einer eigenen Nahrungsmittelkette, alternative Energiegewinnung, Feminismus, der Kampf von Schwulen für ihre Rechte oder die Geschichte als Grundlage zur Einschätzung der eigenen Situation im Land.

In der Folge des Treffens begann bundesweit eine alternative Gründungswelle von Projekte, Gruppen und Kollektiven. Anders als bei der dogmatischen Linken ging es nicht mehr darum, die bestehende Gesellschaft umzustürzen oder sich nur auf den Widerstand gegen die Staatsmacht zu konzentrieren, sondern Alternativen zu schaffen.

Im Rahmen des TUNIX-Kongresses wurden auch zahlreiche Projekte vorgestellt, die es teilweise heute noch gibt. Zu nennen sind da vor allem die TAZ (die acht Monate später erstmals erschien) sowie das Konzept einer ökologischen Partei, aus der dann die Grünen wurden. Und auch die Frauen- sowie die Schwulenbewegung fanden hier den entscheidenden Aufschwung.


Aus: "Der TUNIX-Kongress" Aro Kuhrt (19. März 2024)
Quelle: https://www.berlinstreet.de/18858

Das Treffen in TUNIX fand vom 27. bis 29. Januar 1978 in der Technischen Universität (TU) in West-Berlin statt und war der kurzfristige Versuch einiger Initiativen von ,,Unorganisierten", die noch zerstreute neue Generation nach der 68er-Bewegung zu versammeln, die einen Gegenpol zum Politikverständnis der maoistischen K-Gruppen und der DDR-orientierten Organisationen wie der SEW bildeten. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Treffen_in_Tunix