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[Zum Gesicht von Familie (Notizen)... ]

Started by Textaris(txt*bot), January 28, 2016, 01:28:33 PM

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Textaris(txt*bot)

#35
Quote[...] Die mütterliche Liebe und Geborgenheit blieben ihm sein Leben lang verwährt. Allein vor der Presse zeigt sich seine Mutter stolz und bewundernd. Ihre Zuneigung hegte sie hingegen für den jüngeren Bruder Simenons, Christian. War sie immerhin der Meinung, dass es ausgesprochen bedauerlich ist, dass ausgerechnet sein Bruder Christian sterben musste. Christian Simenon, Kolonialbeamter im Kongo und Kollaborateur während des  zweiten Weltkrieges, starb als Fremdenlegionär in Saigon im Oktober 1947. In dem autobiografischen Werk ,,Brief an meine Mutter", das er vier Jahre nach ihrem Tod, also 1974, veröffentlichte, schreibt er: ,,Bei einem meiner seltenen Besuche in Liège sahst du mich einmal lange und eindringlich an und sagtest  etwas,  was  ich  nie  vergessen konnte: "Wie  traurig  Georges,  daß  gerade  Christian  sterben  mußte." " Sein Hunger nach menschlichem Kontakt veranlasste ihn dazu, mit unzähligen Frauen zu schlafen ... In ,,Ein Mensch wie jeder andere", der Originaltitel lautet ,,Un homme comme un autre",  erschien  1975  bei  dem  Verlag  Presses  de  la  Cité  und  1978  bei Diogenes, äußert sich Simenon zu seinem Bedürfnis nach Frauen wie folgt:,,(...) meiner übergroßen Neugier und auch meinem Verlangen nach einer Form des Kontaktes, das nur sexuelle Beziehungen befriedigen konnten (...) Frauen sind für mich immer außergewöhnliche Menschen gewesen, die ich vergebens zu verstehen suchte. Es war eine lebenslange, unaufhörliche  Suche.  Und wie hätte ich Dutzende, vielleicht Hunderte von Frauenfiguren in meinen Romanen schaffen können, wenn ich nicht diese Abenteuer erlebt  hätte, die zwei Stunden oder zehn Minuten dauerten?" ...


Aus: ",,Le Train" – ,,Der Zug" von Georges Simenon - Transformationsanalyse: Buch, Hörspiel, Film" Julia Fleischmann (Wien, 2008)
Quelle: http://othes.univie.ac.at/2167/1/2008-10-28_0204594.pdf

Textaris(txt*bot)

Kommentare zu: https://www.derstandard.at/story/2000111949198/geschwister-sie-lieben-und-sie-hassen-sich

Quote
gelöster Loser

Unvergessen ein Gespräch mit meiner sechsjährigen Tochter, die währenddessen zweifelnd zur neunjährigen Schwester rüberschielte welche den "ich erklär dir nachher wie es wirklich ist"-Blick aufsetzte.

Ab da war mir klar, dass Eltern als Welterklärer bei den jüngeren Kindern absolut keine Chance haben.


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Frau Papaya

Untereinander können wir leidenschaftlich verschiedener Meinung sein, das war von klein auf so. Bei einer ungeraden Zahl gab es natürlich auch (oft stündlich) wechselnde Allianzen.
Aber wehe, von außen wagt es jemand, etwas gegen eines der Geschwister zu sagen!!


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Kamiikatze

Meine Schwester und ich sind 9 Jahre auseinander und sie war von Anfang an ziemlich eifersüchtig. Da sie noch in den 80ern aufwuchs und ich in den 90ern, hatte ich natürlich von Anfang an mehr vom Wohlstand. So musste sie zB jeden Tag 800m zur Bushaltestelle gehen, während ich oft gefahren und geholt wurde (wer sagt da als Kind schon nein), da wurde so sehr gefetzt, dass meine Eltern oft die Scheiben von den Türen wechseln mussten, erst als sie auszog stellte sich ein normal-gutes Verhältnis ein. Lebt man in einem großen Haus, wo jeder seinen eigenen Bereich (Badezimmer, WC, Wohnzimmer) gibt es viel weniger Reibereien.


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der lange Treck

Das ist Quatsch, mit dem Haus, ich bin 9 und 16 älter als meine Brüder und wir lebten alle in einem riesigen Haus, sogar zusammen mit den Großeltern und einem Bäckereibetrieb.
Es hat nichts geholfen, wir hassen uns alle wie die Pest. Keiner hat heute noch Kontakt zu dem anderem.


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Tagesfresse

Ich bin gegen die inflationäre Verwendung des Wortes "hassen".
Es reicht ignorieren, verachten, egal sein.



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Kamiikatze

Das was Sie beschreiben ist schon eine andere Liga, da scheint es viel größere Probleme gegeben zu haben, bei uns waren es definitiv so Sachen wie "Du bist zu laut", "Du blockierst wieder das Bad"...


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singulärunsympathisch

Ich glaube ich kann mich mit keiner Person so intensiv und trefflich über Kleinigkeiten streiten wie mit meiner Schwester, das kleine Gfrast.
Aber wenns dann drauf ankommt ist man selbstverständlich füreinander da. Zudem weiß niemand wie schwer es mit unseren Eltern manchmal war, das verbindet enorm.


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WoaschWiaIMoan?

Als Jüngster von 5 Kindern aufgewachsen, wobei meine älteste Schwester genau 10 Jahre älter ist, als ich. Wie es bei uns zuhause drunter und drüber ging kann man sich vorstellen, zumal wir alle 5 nicht auf den Mund gefallen sind und über die Stärken und Schwächen der anderen ebenfalls sehr genau Bescheid wissen! Trotz alldem, hatte jede/r von uns von Geburt an 4 enge Freunde, auf die er/sie sich immer (BEDINGUNGSLOS) verlassen kann. Ich sehe das als Riesenprivileg, auch wenns nicht immer einfach war/ist - vor allem für unsere Eltern, denen wir dieses einzigartige Verhältnis zu verdanken haben. Heute gehen wir sogar noch alle 5 gemeinsam feiern. Ich liebe sie alle!


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causa_bibendi

Geschwister... ich vertraue ihnen nicht einmal weit genug um ihnen im gleichen Raum den Rücken zuzudrehen, aber würde jederzeit jedem der Nervensägen eine Niere spenden.


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moscoweverywhere

Mein Bruder 14 und ich 12
Da haben wir beschlossen, jetzt sind wir erwachsen, deshalb wird nicht mehr gerauft.
Haben wir die letzten 45 Jahre eingehalten.

Es gibt aber immer noch Themen, die wir nicht diskutieren, da es sonst in einen Streit endet.
Mittlerweile sind wir aber so Altersklug, dass wir es akzeptieren, dass wir eben zu bestimmten Themen grundverschiedene Meinungen haben und lassen diese dem anderen auch.

Aber er ist mein Bruder und ich seiner. Damit weiß jeder, dass er sich auf den anderen Verlassen kann, wenn es notwendig ist.
Und damit haben wir, wenn ich so das Forum lese, mehr erreicht als viele andere.


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SonDeTeuf

7 Geschwister....
und ich würde behaupten, dass wir einer der komplexesten und undurchsichtigsten Familienstrukturen haben.

Völlige Distanz bei gleichzeitiger Vertrautheit und das bei der absolut selben Person innerhalb des Familienbunds sind vollkommen "normal".
Für außenstehende bzw. hinzukommende Partner dauert es meist ziemlich lange sich zurechtzufinden.

Ein bisschen so, als würde man in einen geheimen Club aufgenommen werden, welcher nicht einmal als Club erkennbar ist.



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anton muffl

... Leider war das Leben mit meinem Bruder sehr kurz, als er vor wenigen Jahren starb. Dieses Verhältnis werde ich bis an mein Lebensende vermissen - trotz aller Konflikte die ich mit ihm hatte.


...

Textaris(txt*bot)

Quoter (@wasserdanke) twitterte um 7:51 vorm. on Mo., Jan. 13, 2020:
knapp 10 jahre nachdem sich meine eltern getrennt haben ist meine mutter in love again und der typ ist kein kompletts arschloch und sie verhält sich als wäre sie wieder 16 und schickt mir die ganze zeit lustige pärchenfotos und ich kann gar ned ausdrücken wie schön ich des find
(https://twitter.com/wasserdanke/status/1216613837970923520?s=03)


Textaris(txt*bot)


Quote[...] Ich bin seit dreizehn Tagen Gefangener im Homeoffice. Und ich verwahrlose zunehmend. Die Bude sieht aus wie Schlumpf. Alte Socken weisen den Weg ins Badezimmer. Geschirr möchte in den Spüler geräumt werden und wird es doch nie. Ich selber laufe den ganzen Tag in Unterhose herum und trinke zu viel. Auf und ab. Notebook an, Notebook aus. Playstation. Netflix. Restaurant raussuchen. In Jogginghose und Flip Flops zum Späti auf ein Vormittagsbier. Meine Bude geht mir auf den Sack. Hart. Ich überlege, die Wände mit dem Schlagbohrer zu bearbeiten. Einfach so. Um mich zu spüren.

[...] Ich habe mal in die Statistiken von diesem Bloggolem hier geschaut, die der Anbieter WordPress so auffährt. Ich habe 65 Follower, von denen die überwiegende Anzahl derer, die ich zuordnen kann, Frauen sind. Oft mit eigenem Blog, deren doch sehr seriöse Inhalte ich so gar nicht mit dem Mist in Einklang bringen kann, den ich hier ins Internet würge. Ehrlich, das überrascht. Und irritiert. Gefällt denen der Auswurf hier wirklich oder sind es versammelte Fehlklicks? Oder ist es faszinierter Ekel? Wie bei einem Autounfall. Wenn man nicht wegschauen kann, wenn da ein abgerissener Arm rumliegt. Doch, schon irritierend.

[...] Netflix-Empfehlung des Monats ist Systemsprenger. Ich klinge jetzt zwar wie eine dahergelaufene Esoterikschnepfe, aber ich habe den Film gespürt. Es ist so derb, wie das Verhalten von Eltern in den jungen Jahren der Kinder so einer Entwicklung einen Drive geben kann, der später nur schwer einzufangen ist. Ich habe mit 12, 13, 14 Jahren bis zur 15 und 16 Sperrholztüren verschiedener Schulen kaputt getreten, Mülleimer angezündet, jede greifbare Fläche zersprayt, Briefkästen gesprengt und alle möglichen Dinge zerschlagen. Weil ich der Meinung war, ich müsse mich wehren. Ich habe heute immer noch Gewaltimpulse, ausgelöst durch bestimmte Reize, nur habe ich sie in meiner Kontrolle. Die Gewaltimpulse, die immer wieder durch irgendwas ausgelöst auflodern, werden nie weg gehen, das weiß ich, aber ich kontrolliere sie. Schaffe regelmäßige Ventile. Routinen, mit denen ich sie innerlich abmoderiere. Muss immer aufmerksam sein, um wegen eines dahergelaufenen Auslösers nicht zu explodieren. Das geht auch nie wieder weg. Das weiß ich. So bin ich jetzt.

Die Schuld an dem Zustand haben natürlich die Psychos, die meine Eltern waren und es endlich nicht mehr sind. Ich war Kind. Ich hatte keine Schuld.

[...] Ich ziehe auch wieder einmal den Hut vor dem Erziehergewerbe, das versuchen muss zu reparieren, was Eltern so alles verkacken. Systemsprenger. Nochmal. Großer Film. Für mich. Das Thema möge Ihnen am Arsch vorbei gehen, mir leider nicht.


[...] Ich habe es letztes Jahr nach vielen Jahren des Herumtragens und Gärens geschafft, den Text über meine scheiß Mutter [https://pestarzt.blog/2019/02/23/reden-wir-doch-mal-uber-meine-scheis-mutter/] fertig zu schreiben. Das tat gut, das war quasi der Abschluss des ganzen unheiteren Reigens meines seelenzerfickten Aufwachsens und jetzt ist diese Frau einfach nur ein Mensch wie alle anderen geworden, den ich einfach nur nicht leiden kann. Sie ist nicht mehr der mich bestimmende Faktor. Hat keinen Einfluss mehr. Kann nicht mehr verletzen. Nichts mehr werfen. Nicht mehr höhnen. Und sie ist für mich ganz persönlich jetzt endlich schon zu Lebzeiten beerdigt. Nach wie vor ein gutes Gefühl.


Aus: "Gedankensudelei 03/20" pestarzt (26/03/2020)
Quelle: https://pestarzt.blog/2020/03/26/gedankensudelei-03-20/


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Quote[...] Meine Mutter war boshaft. Das kommt oft vor. Es passiert vielen Kindern und mir eben auch. Das ist gar nicht mal selten. Heile Welt ist oft anderswo. Früher dachte ich, dass nur mir das so ging. Das ist Unsinn. Viele. Es gibt viele wie mich.

,,Glotz nicht so arrogant." Sie. Aus dem Nichts. Da war ich sieben Jahre alt.

,,Iss nicht wie ein Pascha!". Sie. Unerwartet. Da war ich neun.

,,Das Machogehabe treib ich dir aus!". Sie. Von Null auf Hundert. Da war ich zwölf.

Ich habe gelernt, dass mit einem Comic auf der Couch zu liegen und still zu lesen böse ist. Immer wenn ich das tat, gab es Geschrei. Jedes Mal. Und Hausarrest. Wenn ich den Comic nicht schnell genug weggeräumt habe, hat sie mit Gegenständen geworfen.

Ich habe früh gelernt, dass es eine Methode gibt, frauenfeindlich zu essen und zu schauen oder einfach nur frauenfeindlich in der Gegend rumzustehen. Oder eben auf der Couch einen Comic zu lesen. Was ich tat, galt prinzipiell als gegen sie gerichtet. Alles. Ich habe irgendwann versucht, so wenig wie möglich zu tun. Flach zu atmen. Blick zu senken. Unsichtbar zu machen. Bloß nicht mit irgendwas zu provozieren. Sonst fliegt wieder was. Ich habe gerne Höhlen gebaut. Weniger aus Abenteuerlust oder Spieltrieb. Sondern um mich zu verstecken. Ich fühlte mich in den Dingern sicher, wenn auch nur so lange bis sie die Wolldecke wegzog und schrie.

Für einen jungen Mann in der Pubertät sind gezielte Demütigungen schlimmer als alle Ohrfeigen der Welt. Und ich habe sie bekommen. Laufend. Oft vor Publikum. Meine Gwen Stefani-Poster hat sie vor den Augen eines stark irritierten Schulfreundes von meiner Wand gerissen, meine erste Freundin hat sie vor mir gewarnt und sich vor späteren Freundinnen über mich lustig gemacht. Gerne mein Gewicht. Mein aus der Hose hängendes Shirt. Der Pickel auf der Stirn. Meine abgekauten Fingernägel. Meine Unsicherheit. Mein fehlendes Selbstvertrauen. Mich. Über mich. Ihr Junge, die Witzfigur. Der Watschenmann. Eine ständige Peinlichkeit.

Prügel gab es auch, wenn auch sehr viel seltener als die alltäglichen Demütigungen und toxischen Fiesheiten. Einmal gab es den Teppichklopfer. Einmal den Zollstock. Und auch einmal die flache Hand. Drei Mal körperlichen Schmerz. Das geht noch. Ich habe genau mitgezählt und weiß heute noch wie oft sie es tat. Wie oft sie körperlich wurde. Zuschlug. Ihr die Hand ausrutschte. Nur drei Mal. Doch. Das geht noch. Zu der Zeit war so eine Strafe für mich auf irgendeine kranke Art okay. Denn ich war ja immer schuld. Ich hatte es ja verdient. Das glaubte ich irgendwann ernsthaft. Das verinnerlichen Sie, wenn Sie es von ganz klein auf permanent hören. Quasi jeden Tag. Dann glauben Sie daran, Sie leben das, es wird zu Ihrem Selbstverständnis, Ihrem Ich, Sie fühlen sich wertlos, Sie gehen geduckt, aus Angst vor der nächsten höhnischen Tirade, dem Spott, den Vorwürfen, Sie beginnen sich irgendwann zu hassen, weil Sie Ihre Mutter zu Taten und Aussagen zwingen, die sie unmöglich wollen kann. Denn die Mutter hat doch immer Recht. Das Urvertrauen von mir als Kind sagt mir doch, dass die Mutter immer Recht hat. Und wenn die Mutter sagt, dass ich schuld bin, dann ist das auch so. Ich habe das als Kind nie in Frage gestellt. Und später lange Zeit auch nicht.

Einen Vater gab es auch. Der war nur kaum da und ist es heute gar nicht mehr. Doch ich erinnere mich, dass ich Schonzeit hatte, wenn er da war. Dann bekam er die volle Packung. Ich glaube, er hat sich nie gewehrt. Er hat bezahlt, eingesteckt und sich auf den Montag gefreut, an dem er nicht mehr hier sein musste. Doch eigentlich weiß ich gar nicht wie es ihm ging, ich lag unter der Decke, habe die Tage gezählt und darauf gewartet, dass diese fürchterliche Jugend zu Ende geht und ich fort gehen kann. Heute weiß ich, dass alles was sie da mit mir tat, ein Substitut war. Ersatzhandlung. Eine Projektion. Ich hatte die Funktion des Statthalters meines Vaters, den sie sehr gehasst haben muss, aber der zu selten greifbar war. Und daher gab ich den Watschenmann für sie. Sie sah ihn in mir und in ihrer Wut auf ihn zog sie mit aller Rigorosität gegen mich zu Felde, gegen die ich als Kind keine Abwehr fand.

Ich habe irgendwann damit begonnen, mich während der Tiraden selbst zu verletzen. Ich habe mich selbst geschlagen. Mich selbst bestraft. Quasi als Vorwegnahme. Damit sie es nicht mehr tun musste. Damit sie aufhören konnte. Doch auch das war kein Mittel. Sie hat nur gelacht. Und gehöhnt. Sie trat auf den, der sich selbst erniedrigte, noch einmal drauf.

Ich wohnte in einem Zuhause mit fliegenden Gegenständen. Es flogen Teller. Es flogen Tassen. Flaschen. Bücher. Stiefel. Ich lernte, mich schnell zu ducken, wenn die Dinge wieder flogen. Denn wenn ich mich duckte, erwischte mich vielleicht nichts. Das galt auch dann, wenn keine Gegenstände flogen. Ich habe mich lange geduckt. Ducken gab mir ein wenig Sicherheit. Aus der Deckung habe ich mich erst sehr spät getraut. Da war ich schon über zehn Jahre erwachsen.

Ich habe jetzt endlich keine Mutter mehr. Ich habe sie aus meinem Leben entfernt. Rausgeschnitten wie ein Geschwür. Rausgebrannt wie eine wuchernde Warze aus Hass. Ich habe sie in einem Kraftakt (meinem einzigen ihr gegenüber) in Grund und Boden und zuletzt aus meiner Wohnung gebrüllt, so lange bis sie endlich ruhig war. Bis sie endlich einmal ihren Mund gehalten hat. Ihren verdammten ätzenden höhnischen Mund, aus dem immer nur wortreiche Säure kam. Es war das erste Mal, dass ich das getan habe. Dass ich überhaupt irgendetwas gegen ihr Trommelfeuer getan habe. Ich habe mich zum ersten Mal gewehrt. So fühlt sich der berühmte aus allen möglichen Filmen und Dokumentationen bekannte Akt der Befreiung an, bei dem ich tatsächlich selbst der Protagonist war. Adrenalin. Hämmernder Herzschlag. Zittern. Tränen. Die noch Minuten später geballte Faust. Diese dann folgende unfassbare innere Zufriedenheit, diese Ruhe, diese Befreiung, die ich so nicht kannte. Die Alte ist weg und darf nie wieder kommen. Weil ich das so will. Und ich habe sie auch nie wieder gesehen. Sie schrieb nur noch einmal einen höhnischen Brief voller Vorwürfe, auf den ich nicht antwortete, und seitdem habe ich meine Ruhe, wenn auch erst viel später meinen Frieden gefunden. Kraftakt ist ein zu schwaches Wort für diese Amputation. Kein anderes Problem in meinem Leben war härter zu bewältigen. Vorher nicht, nachher nicht. Diese Mutter aus meinem Leben zu operieren, hat mich psychisch ganz an den Rand von allem gebracht. Doch das Ergebnis ist gut. Narben ja, die sind da und bleiben auch, aber sie schmerzen nicht mehr.

Seit diesem Tag muss ich den Umstand der aus meinem Leben entfernten Mutter immer wieder erklären, wenn das Thema darauf kommt. Und es sind immer wieder dieselben Entgegnungen. Wie kannst du das machen? Es ist immerhin deine Mutter! Mutter. Mutter. Aber es ist doch deine Mutter. Deine Mutter. Es ist doch deine Mutter. Du wirst immer ihr Sohn bleiben. Mutter verstoßen. Darfst du nicht. Kannst du nicht. Das tut man nicht. Unausgesprochene Vorwürfe stehen im Raum. Es ist doch die Mutter. Aus der Mutter kommen wir doch alle immerhin raus. Das ist doch was Besonderes. Nein. Also nein. Was ich da gemacht habe, geht nicht. Sagen viele.

Und dann diese Rechtfertigungen für alles. Sie hatte es sicher auch nicht leicht. Bestimmt hat sie auch viel einstecken müssen. Als Kind. Vom Vater. Immer vom Vater. Dafür kann sie doch auch nix. Ich müsse Verständnis aufbringen. Dafür dass sie die Dinge so tat. Dass das gar nicht ihre Schuld war. Warum verstehe ich das nicht? Warum habe ich sie nicht akzeptiert. Verarbeitet. Ausgehalten. Nein. Was ich gemacht habe, macht man nicht. Mit der Mutter brechen. Das geht nicht.

Doch doch, das geht. Sehr gut sogar. Ich habe sie entfernt und das war gut. Sie darf nie wiederkommen. Und wenn sie wiederkommt, werfe ich mit Gegenständen bis sie den Rückzug durch das Treppenhaus antritt. Etage für Etage. Und zur Haustüre raus. Hier ist nichts mehr zu holen. Hier gibt es niemanden mehr zum demütigen. Ich vergebe nicht, ich vergesse nicht, sie hat mir die Kindheit versaut, die Jugend vergällt, den Start als jungen Mann mit tiefsitzenden Selbstzweifeln garniert, das kann ich nicht vergeben und ich will das auch nicht. Und ich fühle mich gut damit. Ich habe keine Mutter aus meinem Leben rausgebrannt, sondern eine Hyäne, die meine über viele Jahre gründlich und fast irreparabel zerfetzte Seele in die Volljährigkeit entlassen hat und die ich viel zu spät erst reparieren konnte. Sie ist weg und das tut immer noch so gut.

Ich warte auf die Nachricht, dass sie gestorben ist. Noch lebt sie. Sie wird bald 70. Es kann nicht mehr lange dauern. Wenn es so weit ist, werde ich eine Flasche dunklen schweren Rotwein aufmachen. Und austrinken. Und lange ins Leere schauen. Nachdenken. Eine zweite Flasche öffnen. Und erst dann wird es vorbei sein.



Aus: "Meine scheiß Mutter lebt immer noch" pestarzt (23/02/2019)
Quelle: https://pestarzt.blog/2019/02/23/reden-wir-doch-mal-uber-meine-scheis-mutter/


Textaris(txt*bot)

"The Kids Are Alright" Andreas Wolf (3. April 2020)
Die Mützenfalterin fragt: ,,Was weiß man, wenn man Kinder bekommt (müssen ja nicht gleich vier sein)? Gibt es wirklich aufrichtige Antworten darauf, warum man sich Kinder wünscht? Legt man Rechenschaft ab über seinen Kinderwunsch? Und wenn ja, wem gegenüber? Vor sich selbst? Vor den Kindern? Der Gesellschaft? Und warum?"
...
https://waldundhoehle.wordpress.com/2020/04/13/the-kids-are-alright/

Quote[...] In meinem letzten Eintrag hatte ich mir Fragen gestellt zu Kinderwunsch und Elternschaft, wie das alles persönlich erfahren wird, und was es eventuell über uns als Gesellschaft aussagt. Ein Vater hat geantwortet, sonst war es eher still, um nicht zu sagen stumm. Darum beantworte ich jetzt die Fragen aus meiner eigenen kleinen Perspektive. Und hoffe weiter, dass vielleicht doch noch die eine oder der andere seine Geschichte erzählen mag.

Ich habe tatsächlich sehr wenig über das Leben mit Kindern gewusst, bevor ich selbst Mutter wurde. Da war keine ältere Schwester und die Cousinen hatten ihre Kinder bekommen, als ich in ganz anderen Welten unterwegs war. Freundinnen, die Kinder hatten gab es auch nicht, oder aber sie verschwanden aus dem Freundeskreis, sobald das Kind da war.

Zum Kinderwunsch gibt es zwei Erinnerungen. Eine davon kommt mir selbst unglaubwürdig romantisch vor, aber ich erinnere es genau so. Ich war vielleicht 19 oder 20, als ich irgendwo im Gedränge der Einkaufsstraße eine Frau sah, die einen unglaublichen Gesichtsausdruck hatte, vollkommen in sich ruhend, glücklich, zuversichtlich, aber all diese Adjektive treffen es nicht wirklich, vielleicht müsste ich so ein Wort wie ,,erleuchtet" bemühen. Jedenfalls machte sie auch ohne das passende Adjektiv einen sehr großen Eindruck auf mich. Und diese Frau war schwanger. Irgendwie muss ich den dicken Bauch und das erleuchtete Gesicht zusammengebracht haben und von da an hatte ich diese Überzeugung, dass es nichts Schöneres, Erfüllenderes und Erstrebenswerteres gibt, als schwanger zu sein. Auch wenn das noch Zeit hatte.

Die zweite Erinnerung: ich bin mittlerweile Ende 20, Anfang 30. Immer häufiger fragen mich Kinder, ob ich denn selbst auch Kinder hätte, und jedes Mal schäme ich mich, wenn ich nein sagen muss. Warum ich mich schäme? Das frage ich mich bis heute selbst.

Und was die Rechenschaft angeht, natürlich haben wir früher, in den 80er gesagt, geht gar nicht Kinder in diese kaputte Welt zu setzen. Unverantwortlich. Und dann nicht mehr darüber gesprochen, wenn die Kinder da waren. Oder auf einer ganz anderen Ebene darüber geredet. Dabei war die Welt kein bisschen besser geworden, nur wir vermutlich bequemer, oder einfach älter. Das auf jeden Fall. Es gibt ja diese Theorie, dass wir Kinder als Verlängerung unserer selbst in die Zukunft, die wir selbst nicht mehr erleben werden, betrachten. Dieser Gedanke ist mir eigentlich fremd.

Andreas schreibt von der Korrektur der eigenen Kindheit. Da ist etwas dran. Ich kann mich jedenfalls noch gut erinnern, wie häufig ich während meiner Kindheit und noch viel häufiger in der Pubertät gedacht habe; das werde ich niemals tun, ich werde meine Kinder ganz anders behandeln. Und das habe ich auch getan, und natürlich auch wieder nicht.

Die Antwort einer Bekannten ist mir nachhaltig in Erinnerung geblieben, weil ich erstens sicher bin, dass sie jedes Wort genauso gemeint hat, und weil ich zweitens kein Wort davon glaube, was sie gesagt hat. Ich glaube, dass ich meinen Kindern eine wirklich gute Mutter bin, hat sie gesagt, dass sie es kaum besser haben können, dass ich das kann, Kinder glücklich aufwachsen lassen. Und mir wird noch heute schwindelig vor so viel Selbstbewusstsein. Denn das habe ich nie geglaubt, dass ich diesen wunderbaren Wesen, die erst innerhalb und wenig später außerhalb von mir heranwachsen durften, jemals auch nur annähernd gerecht werden konnte und kann. Ich weiß nie, wie es geht. Das mit der Fürsorge, das mit dem Loslassen, das mit der richtigen Balance dazwischen. Es gibt keine schwierigere Aufgabe als Mutter zu sein. Und keine schönere.


Aus: "Was man weiß oder im Titel finden bin ich miserabel" Muetzenfalterin (April 15, 2020)
Quelle: https://muetzenfalterin.wordpress.com/2020/04/15/was-man-weis-oder-im-titel-finden-bin-ich-miserabel/

QuoteVerwandlerin
April 15, 2020 um 12:37 pm

Also ich wollte Mutter sein, weil es dazugehört und auch dachte auch, ich habe einen tollen Kindsvater und es macht mir Freude. Kam alles anders. Hatte postnatale Depression und Ehe war ab dem Moment kaputt. Mein Exmann fand, ich sei [eine] schlechte Mutter. Meine Kinder sagen heute, sie finden mich cool. War alles schwierig. Jetzt, wo die Kinder in der Pubertät sind, läuft es lustigerweise besser.


QuoteStephanie Jaeckel
April 15, 2020 um 3:17 pm

Zum Kinderwunsch habe ich eine Erinnerung: Ich bin sieben oder acht. Meine Eltern sind arbeiten. Es ist ein sonniger Nachmittag, ich sitze im Wohnzimmer und schwöre mir zwei Dinge: Niemals heiraten, niemals Kinder. Die Entscheidung war früh und richtig. Ich komme aus einer kaputten Ehe. Ich wusste, dass ich weder zur guten Ehefrau noch zur guten Mutter tauge. Ich liebe Männer und Kinder. Aber eigene will ich nicht. Es gibt so viele Möglichkeiten für mich, für Kinder da zu sein, Männer zu schätzen und von Herzen zu mögen. Insofern wundert es mich oft, dass Frauen und auch Männer sagen, sie hätten nicht gewusst, was mit den Kindern auf sie zu kommt. Als hätten sie ihre eigene Vergangenheit vergessen. Eine Vergangenheit, die natürlich auch viel schöner als meine gewesen sein kann. Aber was Familie ist, ich meine, das weiß man doch – oder irre ich mich da?


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 28.09.2013 ...  "Elterliche Selbstmythologisierungen", so Schreiber, "sind nur schwer zu durchbrechen." ...


Zu: "Susan Sontag - Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke, Tagebücher 1964-1980"
Quelle: https://www.perlentaucher.de/buch/susan-sontag/ich-schreibe-um-herauszufinden-was-ich-denke.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Jetzt wird der Zoff über die Medien ausgetragen. ,,Christian hat vom ersten Tag an versucht die Katrin rauszukriegen", sagt ein Kenner der Familie Haub. ,,Nun erhöht er den Druck." Christian Haub ist der jüngere Bruder von Karl-Erivan Haub, der am 7. April 2018 nicht von einer Skitour in den Alpen zurückkam. Katrin ist die Ehefrau von Karl-Erivan und Schwägerin von Christian, der nach dem Verschwinden Karl-Erivans die Führung der Tengelmann-Gruppe übernahm. Und Katrin loswerden möchte. Am Mittwoch offerierte Christians Anwalt im ,,Handelsblatt" Katrin ein Angebot.

Angeblich, so der Anwalt Mark Binz, stünden Katrin für ihre Anteile an Tengelmann rund 950 Millionen Euro zu. ,,Mit Rücksicht auf die familiären Beziehungen ist mein Mandant bereit, diesen Betrag auf 1,1 Milliarden Euro aufzustocken."

Der 1932 in Wiesbaden geborene Erivan Haub und seine Gattin Helga haben drei Söhne: Karl-Erivan, Georg und Christian. 1969 hatte Erivan von einem Onkel Tengelmann übernommen und vor allem durch Zukäufe zum größten Handelskonzern Deutschlands ausgebaut. Im Jahr 2000 übernahm Charly, wie der älteste Sohn Karl-Erivan genannt wird, die Führung. Georg, gelernter Architekt, bekam damals die Verantwortung für die Immobilien übertragen, und der jüngste Sohn Christian ging in die USA, um sich dort um die Beteiligungen der Gruppe zu kümmern – für den Investmentbanker der richtige Job.

Karl-Erivan wiederum räumte den Mühlheimer Gemischtwarenladen auf und verkaufte Beteiligungen – von der Süßwarenfabrik Wissol über den Discounter Plus bis zu Kaiser's. 2003 betrug der Tengelmann-Umsatz 27 Milliarden Euro, heute sind es noch gut acht Milliarden mit etwa 90 000 Mitarbeitern. Zur Gruppe gehören die Baumarktkette Obi, die Discounter Kik und Tedi, die Immobiliengesellschaft Trei Real Estate sowie Beteiligungen an Dutzenden Unternehmen in Europa und in den USA.

Tengelmann-Chef Christian Haub hat nach Angaben seines Anwalts die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG mit der Ermittlung des Firmenwerts beauftragt: Vier Milliarden Euro, die sich auf die drei Brüder respektive deren Erben verteilen. Bis März 2018 hielten die Brüder jeweils 31,3 Prozent der Anteile und der Vater Erivan noch 6,1 Prozent. Nach dessen Tod gingen die 6,1 Prozent hälftig auf Karl-Erivan und Christian über, der Anteil des psychisch labilen Georgs blieb unverändert. Die 34,3 Prozent von Karl-Erivan liegen nach dessen mutmaßlichen Skiunglück in den Schweizer Bergen seiner Ehefrau Katrin und den Kindern Viktoria und Erivan.

Der Anwalt von Christian Haub erklärt nun dem ,,Handelsblatt" zufolge, dass nach der Tengelmann-Satzung beim Ausscheiden eines Gesellschafters diesem nur 70 Prozent des Verkehrswertes seiner Anteile zustünde. Das wären dann rund 960 Millionen Euro für Katrin. Damit sie geht, legt Christian noch 150 Millionen Euro drauf – sozusagen sein Beitrag respektive der des Unternehmens zur Erbschaftssteuer von schätzungsweise 450 Millionen Euro.

Die werden indes erst fällig, wenn der Erbfall eintritt – und dafür muss Karl-Erivan für tot erklärt werden. Das möchte aber Katrin nicht. Die ,,Süddeutsche Zeitung" zitiert den Anwalt von Christian Haub: ,,Frau Katrin Haub hat während einer der vielen Gespräche im Jahr 2019, in denen mein Mandant versucht hatte, eine Lösung für die Finanzierung der zu erwartenden Erbschaftsteuer zu finden, erklärt, dass sie seinen Bruder nie für tot erklären lassen würde." Deshalb hätten Christian und Georg nun einen Antrag beim Amtsgericht Köln auf Todeserklärung gestellt. Das wieder um findet die mutmaßliche Witwe Katrin Haub ,,befremdlich und anmaßend" von ihrem Schwager Christian. Mit seinem jüngeren Bruder Georg ist sich der angeblich handelseinig – Georg verlässt die Gruppe und nimmt sozusagen die Immobilien mit.

Als Christian nach dem Verschwinden Karl-Erivans aus den USA nach Mühlheim zurückgekehrt war und die Führung übernahm, hatte er den von Karl-Erivan geringschätzig behandelten Georg in den Tengelmann-Beirat geholt und sich mit ihm gegen Karin verbündet. ,,Der Familienzweig, der den Häuptling gestellt hat, ist jetzt isoliert", hieß es damals in Mühlheim mit Blick auf die Familienangehörigen von Karl-Erivan.

Wenn Christian nun Georg mit den Immobilien abfindet und Katrin das Milliardenangebot annimmt, hätte er sein Ziel erreicht. ,,Christian hat von Anfang an versucht, alle rauszudrängen", sagt ein Kenner der Familie. ,,Aber Katrin wollte nie raus." Das sei auch keine Frage des Geldes, selbst wenn der Wert der Gruppe auf bis zu sechs Milliarden Euro veranschlagt werde, wofür es Gründe gebe. Karl-Erivan und Katrin hatten die berufliche Zukunft ihrer beiden Kinder im Unternehmen gesehen.

Christian und seine Ehefrau Liliane lebten viele Jahre mit vier Kindern in den USA, wo Christian einst auch mit der Betreuung der vom Vater gekauften Supermarktkette A&P betraut worden war. Als die insolvent wurde, nahm das der große Bruder Karl-Erivan als Beleg für eher bescheiden ausgeprägte unternehmerische Fähigkeiten Christians. Aus dieser Zeit stammen offenbar Verletzungen, die bis heute nachwirken. Christian und Liliane hätten manche Demütigungen über sich ergehen lassen müssen, erfuhr der Tagesspiegel in Tengelmann-Kreisen.

Mit dem Verschwinden Karl-Erivans bei Zermatt war dann Christian über Nacht der mächtige Mann in Mühlheim. ,,Jetzt ist Liliane auf dem Rachefeldzug", hieß es damals über die Gattin des neuen Tengelmann-Herrschers. Dass mit 1,1 Milliarden Euro dieser Feldzug endet, ist eher unwahrscheinlich.


Aus: "Familienzoff im Hause Tengelmann: 1,1 Milliarden Euro zum Abschied" Alfons Frese (14.10.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/familienzoff-im-hause-tengelmann-1-1-milliarden-euro-zum-abschied/26275206.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Sie rauben, erpressen und morden – im Namen ihrer Urururgroßväter: Ein Clanmitglied berichtet von den Ehrvorstellungen Berliner Großfamilien. Das Problem der Clankriminalität ist gar nicht so schwerwiegend? Doch, ist es, sagt Khalil O.  – der Berliner, heute 37, gehört selbst zu einer der verbrecherischsten arabischen Großfamilien in Deutschland. Jahrelang brach er in Häuser ein und handelte mit Kokain, wie zahlreiche seiner Cousins es bis heute tun.

Hier erklärt er, wo das brutale Verhalten seiner Familie seinen Anfang nahm: weit weg von Berlin, in zwei kleinen Dörfern in der Türkei. Der Text ist ein Auszug aus dem Buch ,,Auf der Straße gilt unser Gesetz", erschienen bei Heyne, in dem er zusammen mit der Journalistin Christine Kensche von seiner kriminellen Karriere in Berlin berichtet.

Er selbst stieg vor 15 Jahren aus. Als Erwachsener holte er die Schule nach, machte Abitur und studierte. Heute arbeitet Khalil O. als Sozialarbeiter und betreut kriminelle junge Männer.


Manchmal sprechen mich fremde Leute auf der Straße an und sagen: ,,Du bist doch der Sohn von dem und dem." Und während ich noch überlege, wo ich die Typen schon mal gesehen habe, sagen die: ,,Wir sind verwandt." Berlin ist zwar eine Großstadt, aber wir leben immer noch wie auf dem Dorf. Jeder kennt jeden, und alle sind vernetzt.

Das liegt daran, dass fast alle großen Clans aus derselben Gegend stammen. Mardin ist eine Provinz am hinterletzten Ende der Türkei, und da, an der Grenze zu Syrien, liegt eine arabische Enklave von ein paar Dutzend Dörfern. Die meisten Familien, die immer wieder in der Zeitung stehen, kommen aus zwei Dörfern, die Luftlinie knapp drei Kilometer auseinanderliegen: Üçkavak und Yenilmez.

Das erste Dorf heißt übersetzt so viel wie ,,Drei Pappeln", das zweite ,,Unbesiegbar". Die Jungs, die im Frühjahr 2017 die Riesengoldmünze aus dem Berliner Bode-Museum gestohlen haben, zum Beispiel sind von der Familie R. Die R.s kommen aus Drei Pappeln und waren damals wie heute unsere Nachbarn.

Ich selbst kenne die Dörfer nur von alten Fotos, die mein Vater in einem Koffer aufbewahrt, und aus den Geschichten meiner Oma. Drei Pappeln und Unbesiegbar waren zwei Flecken aus quadratischen Häusern, die die Leute mit den schweren gelben Steinen bauten, die sie aus den Feldern zogen. So weit man gucken konnte, sah man nur Felder, Olivenbäume und eine staubige Straße. Ziegen, Schafe, Kühe und Kinder liefen frei herum.

Die Frauen schleppten Wasser, das sie aus dem Speicher schöpften. Eigentlich war es nur ein Loch in der Erde, das sie mit Lehm verputzt hatten. Der Dreck sank auf den Grund, und von oben schöpften sie halbwegs sauberes Wasser ab. Die Männer arbeiteten auf den Feldern und stellten sich an die Straße, um Durchreisenden Obst und Gemüse zu verkaufen.

Geld hatte eigentlich keiner, aber wenn mal was zusammenkam, wurde es in das Minarett gesteckt. Der Turm der Moschee war so groß wie der Stolz des Dorfes. Drei Pappeln zählte die meisten Familien und baute das größere Minarett.

Das konnte Unbesiegbar sich natürlich nicht bieten lassen und zog nach. Das Verhältnis zwischen Unbesiegbar und Drei Pappeln war ungefähr so wie zwischen Köln und Düsseldorf, oder Madrid und Barcelona. Nur dass Kriege bei uns anders ausgetragen wurden als mit Karneval oder Fußball.

Vor hundert Jahren gab es genau wie heute viel Streit zwischen den Familien und auch in den Familien selbst. In Drei Pappeln ging das so weit, dass sie irgendwann eine zweite Moschee bauen mussten, weil ein Zweig einer Familie so heftig mit einem anderen Zweig aneinandergeraten war, dass sie nicht mehr zusammen beten wollten. Selbst jetzt in Berlin ist das noch eine entscheidende Frage bei uns, in welche Moschee deine Familie damals ging: Real Madrid oder FC Barcelona? Freund oder Feind?

In Drei Pappeln erzählten sich die Leute, dass die von Unbesiegbar nachts ihre Ziegen stahlen. Umgekehrt war es wahrscheinlich genauso. Drei Pappeln hatte den Vorteil, dass sie mehr Männer, also auch mehr Fäuste hatten. Aber Unbesiegbar gab niemals auf, und wer eine Schlägerei gewann, behielt recht.

Streit gab es immer dann, wenn jemand sein Wort gebrochen hatte. Zum Beispiel: Einer verkaufte ein Stück Land an seinen Nachbarn. Der Deal wurde mit Handschlag beschlossen und die neue Grenze mit Steinen markiert. Aber in der Nacht setzte der Verkäufer die Steine heimlich zu seinem Vorteil um. Oder: Ein Bauer sagte einem Händler zu, ihm die gesamte Ernte zu verkaufen, und kassierte einen Vorschuss.

Doch dann bekam der Händler raus, dass der Bauer die Ernte schon einem anderen versprochen und doppelt abkassiert hatte. Oder: Einer von Unbesiegbar klaute eine Ziege von Drei Pappeln und behauptete, die sei ihm zugelaufen – ,,Ich schwöre auf meinen Bart!" So etwas konnte böse enden.

Konflikte machten die Familien unter sich aus. Staatliche Institutionen kannten sie ja nicht. Schon zur Zeit des Osmanischen Reichs hatte man sich einen Dreck um die paar Dörfer geschert. Und als im Jahr 1923 die türkische Republik gegründet wurde, haben sie zwar eine Polizeistation in die Provinz gebaut, aber die war immer noch ziemlich weit weg, und wahrscheinlich hätten die türkischen Beamten keinen Finger gekrümmt, wäre ein Araber da aufgekreuzt. Auf die Idee kamen meine Leute auch gar nicht.

Es ist so: Wenn du um Hilfe bittest, giltst du als schwach. Und wenn du schwach bist, kommen die anderen und fressen dich. So ungefähr endete jede Geschichte, die meine Oma uns erzählte.

Mit anderen Worten: Wer sich einmal verarschen lässt, wird immer wieder verarscht. Deswegen können wir nicht auf die Schnauze kriegen und einfach nach Hause gehen.

Wenn einmal Krieg ausgebrochen ist, wird meine Familie niemals Ruhe geben. Niemals. Die sind so gepolt, noch von damals. Ich habe Onkel, die laufen hier mit einer scharfen Knarre rum, weil vor hundert Jahren jemand aus unserer Familie jemanden aus einer anderen Familie umgebracht hat. Noch heute kann es jederzeit passieren, dass dafür einer von denen einen von uns umlegt. Egal wen, Hauptsache einen aus der gleichen Familie. Das nennt man Blutrache.

Es gab zwar keine Gesetze und keine Richter auf den Dörfern, aber es gab Traditionen und Familienoberhäupter. Unter den Leuten waren keine Gelehrten, darum legte die Community das Recht selbst aus, nach Gewohnheiten, die sich mit der Zeit so eingespielt hatten.

Gab es Stress, wurden die Familienältesten gerufen. Die versuchten zu vermitteln, bevor eine Sache zu einer Fehde eskalierte. Wenn zwei Familien Streit hatten, riefen sie den Ältesten einer dritten Familie dazu, und der verhandelte einen Kompromiss. Das nennt man Sulha, Versöhnung.

Bei einem Mord musste die Familie des Täters Blutgeld an die Familie des Opfers zahlen. Über die Summe entschied der Vermittler. Damit war die Sache allerdings nicht unbedingt geregelt. Manchmal war der Drang nach Rache stärker.

Der Mann einer Tante von meiner Frau wurde vor 20 Jahren umgebracht, in Drei Pappeln. Worum es da eigentlich ging, weiß keiner mehr so genau, ich glaube, er war die Vergeltung für einen anderen Mord. Jedenfalls versteckten sich die Täter danach fünf Jahre lang in ihrem Haus. Warum? Das Haus eines anderen Mannes ist tabu. Du kannst nicht einfach zu ihm gehen und ihn umbringen. Du darfst ihn auch nicht in deinem eigenen Haus umbringen. Zu Hause darfst du deinen Todfeind nicht anfassen.

Wenn zum Beispiel eine Beerdigung in einer Familie stattfindet, dann kommt die verfeindete Familie zur Trauerfeier, auch wenn die beiden bis aufs Blut zerstritten sind. Man zollt sich Respekt, das gehört sich so. Du musst deinen Feind empfangen und ihm Tee servieren. Sobald er rausgeht, darfst du ihn abschießen, aber vorher nicht.

Deswegen haben die Täter sich also zu Hause versteckt, fünf Jahre lang, bis ein Blutgeld ausgehandelt wurde. Die Söhne des Opfers, die Cousins meiner Frau, akzeptierten die Zahlung auch. Aber nur scheinbar. Sie haben so getan, als sei jetzt alles okay, damit die anderen sich sicher fühlen und wieder aus dem Haus gehen. Das war ihre Chance.

Jahrelang haben sie nur auf diesen Moment gewartet, in dem sie die Mörder ihres Vaters rächen konnten. Ich habe ja schon gesagt, meine Familie gibt niemals auf.

Das ist das Schlimme eigentlich. Im wilden Osten hat diese Härte vielleicht einmal Sinn gemacht, weil sie abschreckend auf Feinde wirkte. Aber jetzt ist sie die Wurzel aller Probleme.

Meine Leute haben Angst, als Idioten dazustehen. Wer einmal einknickt, wird nicht mehr für voll genommen und macht sich angreifbar. Deshalb denken sie, sie müssen Blut mit Blut begleichen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das ist das Prinzip und das gilt auf dem Dorf genauso wie in Berlin.

Die Geschichte hat sich zwar Tausende Kilometer entfernt abgespielt, aber selbst hier in Deutschland haben die Verwandten der Täterfamilie Geld gesammelt und nach Drei Pappeln geschickt, damit sie dort das Blutgeld zahlen konnten.

Oder nehmen wir Nidal, den Typen, der vor dem Tempelhofer Feld in Berlin ermordet wurde. Der ist zwar Palästinenser, aber die haben ähnliche Sitten. In dem Krieg zwischen Nidals Leuten und einer anderen Familie ging es eigentlich um Drogengeschäfte, wem welcher U-Bahnhof in Neukölln gehört und wer da dealen darf und wer nicht.

Doch eskaliert ist es dann – das erzählt man sich so in der Community –, weil Nidal einen krassen Fehler gemacht hat: Er war auf einer Hochzeit eingeladen und hat einen älteren Mann geschlagen, vor dessen Frau und Kindern. Das hätte Nidal nicht machen sollen.

Es war eine heftige Ehrverletzung, der andere hat das Gesicht verloren. Nidal hat danach versucht, die Sache zu bereinigen. Er hat einen Vermittler losgeschickt, und der hat gesagt: ,,Nidal will das klären, es tut ihm leid" und dies und das. Aber der Vertreter der anderen Seite hat nur gesagt: ,,Nidal muss sterben."

Und dann haben sie ihn erschossen, im Park, beim Grillen mit seiner Familie. Dass Nidal vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder getötet wurde, ist kein Zufall, genau das war die Rache. Man fasst keinen Mann vor seiner Frau und seinen Kindern an. Das ist ein Gesetz, und wer das bricht, muss dafür bezahlen.

Vor ein paar Tagen hat mir ein Cousin ein Video aus Drei Pappeln geschickt. Da gab es einen Mord, eine Blutrache an entfernten Verwandten von mir, die sind eine bedeutende Familie in der Gegend und hier in Deutschland auch. Ich nenne sie mal Familie A. Davor soll Familie A., also der Vater von dem Opfer, vier Männer der Familie B. umgelegt haben, weil die B.s einen der A.s im Streit getötet hatten. Klingt kompliziert?

Ist es auch, das geht da jetzt schon seit Jahrzehnten so hin und her. Auf dem Video ist der Vater des jetzigen Opfers zu sehen, der selbst schon gemordet hat. Vater A. darf nur unter Polizeischutz aus dem Knast, um auf die Beerdigung seines Sohnes zu gehen. Polizisten mit Maschinengewehren und kugelsicheren Westen schirmen ihn ab.

Er steigt in einen Bus, der ihn zurück ins Gefängnis transportieren soll, da dreht er sich zu seinen Leuten um und brüllt: ,,Ihr unternehmt jetzt nichts, das ist eine Angelegenheit für echte Männer – ich werde mich darum kümmern!" Man kann sich also ausrechnen, wie es da unten weitergehen wird. Es ist ein ewiger Teufelskreis.

Das Verrückte ist: Von uns hier in Deutschland ist niemand mehr da geboren, selbst mein Vater kennt die Dörfer nur vom Hörensagen. Und trotzdem haben die Traditionen noch immer einen krassen Einfluss auf uns.

Bei jedem Familientreffen werden die alten Geschichten aufgewärmt, die Jüngeren posten Fotos und Videos auf Instagram, die sich auf unsere Herkunft beziehen. So ein Bild zum Beispiel: Zwei goldene Sturmgewehre kreuzen sich in der Mitte, drum herum stehen die Namen von allen wichtigen Clans – mein Nachname ist auch dabei. Die Magazine und Gewehrläufe bilden ein Dreieck, in dem ,,LKC" steht, das ist die Abkürzung für libanesisch-kurdische Clans. So bezeichnen uns Polizisten und Kriminalforscher.

Die haben sich sogar die Mühe gemacht, in unsere alten Dörfer zu reisen, um mehr über unsere Herkunft herauszufinden. Ein anderer Name für uns ist Mhallami-Kurden, und auch das ist ein Grund, warum wir irgendwo alle miteinander verwandt und bekannt sind: Wir stammen nicht nur aus derselben Gegend, wir gehören auch zur selben Ethnie. Wobei die Bezeichnung Kurden falsch ist. Wir selbst nennen uns nur Mhallami, weil wir eigentlich Araber sind, die nur lange Zeit unter Kurden gelebt haben. Bis es uns da zu brenzlig wurde.

Die Mhallami haben einen eigenen arabischen Dialekt, der von niemandem sonst gesprochen wird. Man erzählt sich viele Geschichten darüber, wo unser Volk herkommt und wie unser Dörfer entstanden sind. Einige behaupten, wir wären ursprünglich christliche Aramäer gewesen, die irgendwann zum Islam konvertierten, weil sie von den Muslimen unterdrückt wurden.

Manche sagen auch, dass wir auf einen großen arabischen Beduinenstamm zurückgehen, der bei den Feldzügen mitmachte. Die beliebtere Geschichte ist, dass wir die Nachkommen von arabischen Kriegern sind, die mit den islamischen Eroberungsfeldzügen im achten Jahrhundert in die Gegend kamen, um die christliche Bevölkerung in Schach zu halten.

Mahall ist der Ort und Mi'a ist hundert. Unser Name bedeutet also so viel wie ,,Der Ort der Hundert".

Für meine Familie steht jedenfalls fest, dass wir echte Araber sind. Einer meiner Onkel hat mal eine DNA-Analyse machen lassen, bei der man sich ein Wattestäbchen in den Mund steckt und es in ein Labor schickt. Dabei kam heraus, dass wir ursprünglich von der Arabischen Halbinsel stammen. Das war eine wichtige Erkenntnis für uns, weil wir immer wie Dreck behandelt wurden, auch von Arabern.

Mein Vater hat einen Stammbaum gezeichnet, mit allen Informationen, die er aus der Verwandtschaft kriegen konnte. Ein großer Baum mit dicken Ästen und vielen Zweigen, in denen Namen stehen – aber nur von den Männern. Bei uns zählt die Blutlinie des Vaters.

Die eigene Familie, also das gleiche Blut, geht über alles. Wenn wir Stress mit einer anderen Mhallami-Familie haben und es eine Schlägerei gibt, werden deshalb auch immer nur die Onkel und ihre Söhne zur Verstärkung gerufen, nicht die Söhne meiner Tanten.

Das könnte uns sonst jemand als Schwäche auslegen, so nach dem Motto: ,,Die sind nicht stabil genug, um sich selbst zu verteidigen." In dem Stammbaum ist jeder dritte Name gleich, weil es bei uns so üblich ist, dass der Erstgeborene den Namen des Großvaters erbt.

Meine Vorväter sind schon immer viel gewandert. Vom Jemen nach Saudi-Arabien, in den Irak und nach Syrien, von dort in die Türkei, dann in den Libanon und von Beirut schließlich nach Berlin. Meine Großeltern haben hier inzwischen 300 Nachfahren, und soweit ich weiß, planen alle zu bleiben.

Früher gab es viele Gründe, zu gehen. Entweder versiegte die Wasserquelle im Ort, oder die Familie wurde zu groß und das Land reichte nicht mehr für alle Söhne. Oder es gab Streit mit einem anderen Stamm, und damit die Fehde nicht auf die Kinder überging, zog man lieber weiter. Im Osmanischen Reich war ja alles eins, es gab keine Grenzen, keine Kontrollen, keine Abschiebungen.

Ein Mann konnte wandern, wie er wollte. Mein Urururopa war Maurer und deshalb nicht so mit der Erde verbunden wie ein Bauer. Wenn eine Arbeit erledigt war, zog er ins nächste Dorf. Mein Ururopa dagegen bestellte ein Feld und baute ein kleines Steinhaus, in dem meine Familie über mehrere Generationen lebte. Doch dann kam Mustafa Kemal Atatürk, gründete die Türkei und verbot alles, was nicht türkisch war.

So war das damals mit Minderheiten: Erst vertrieben oder töteten die Türken die Armenier. Dann gingen sie gegen die Kurden vor und dann gegen unsere arabische Kultur. Den Familien wurden neue Namen verpasst, sie sollten nur noch Türkisch reden. ,,Atatürk hat uns unsere Namen genommen, Atatürk hat uns unsere Sprache genommen", sagen die Älteren.

Und als die Kurden dann einen Aufstand machten, waren wir auf einmal mittendrin, dabei hatten wir gar nichts mit den Kurden zu tun und mit den Türken auch nicht. Aber unsere Dörfer lagen in den kurdischen Gebieten, und so gerieten wir in die Unruhen.

Die Mhallami wurden gegen die Kurden bewaffnet: Die Türken gaben dem Bürgermeister ein Gewehr und wollten die Jungen in den Militärdienst einziehen. Daraufhin griffen die Kurden unsere Dörfer an. In den 1940er Jahren entschied mein Opa, endgültig in den Libanon zu gehen. Er und sein Vater hatten schon als Saisonarbeiter auf dem Gemüsemarkt von Beirut gearbeitet, als die Lage in den Dörfern immer schlechter wurde, und darum wussten sie, wie gut die Leute da lebten.

Der Libanon war die Schweiz des Nahen Ostens. In der Schweiz gehörten wir zwar zu den Ärmsten der Armen, aber das war immer noch besser, als auf den Steinfeldern zu ackern oder als Kollateralschaden der Kurdenaufstände zu enden. Also machten sie sich zu Fuß auf in die große Stadt.


Aus: "Wo die Gewalt ihren Ursprung hat: Fast alle Taten Berliner Clans gehen auf die Fehde zweier Dörfer zurück" Khalil O. (31.10.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/berlin/wo-die-gewalt-ihren-ursprung-hat-fast-alle-taten-berliner-clans-gehen-auf-die-fehde-zweier-doerfer-zurueck/26573888.html

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Quote[...] Dilek Güngör, geboren 1972 in Schwäbisch Gmünd, studierte Sprach- und Kulturwissenschaft in Germersheim, Journalistik in Mainz und Race and Ethnic Studies in Warwick. Ihre gesammelten Kolumnen erschienen in den Bänden, "Unter uns" und "Ganz schön deutsch". ...

... Wann haben wir aufgehört, miteinander zu sprechen? Als ich zwölf wurde oder dreizehn? Oder erst später, als wir schon übers Ausgehen stritten? Bin ich eines Morgens in die Küche gekommen und habe mich gewundert, warum du nichts sagtest? Habe ich dir beim Brotabschneiden etwas erzählt und du hast nur "ja" gesagt oder "hmh" oder nichts? Wäre es so gewesen, wüsste ich das. Ich würde mich an den genauen Tag erinnern, an den genauen Moment, daran, was es an diesem Morgen zum Frühstück gab. Wohin du sahst und wohin ich sah, ob ich meinen Satz wiederholte oder nur dachte, ich hätte etwas falsch gemacht.

Ich habe nichts falsch gemacht, auch du hast nichts falsch gemacht. Trotzdem war es vorbei. Kein Huckepack mehr, kein Ringen, kein Kitzeln, kein Kuscheln, keine Wasserschlachten, keine hartgekochten Eier im Bett. Jedem Gast, der über Nacht blieb, haben wir in aller Früh immer ein Ei unter die Decke geschmuggelt, und sie fanden es beim Wecken. "Du hast heute Nacht ein Ei gelegt!" Was haben wir gelacht und gekreischt und den Scherz jedes Wochenende wiederholt.

Dass es mit uns vorbei war, begriff ich erst, als es schon vorbei war. Vieles begreife ich erst hinterher oder gar nicht, auch dann nicht, wenn man es mir erklärt. Auch dass ich gewachsen war, begriff ich erst, als es schon jeder andere sehen konnte. Längst trug ich weite Sweatshirts und enge Unterhemden, die den Busen wegdrückten, alles sollte so bleiben, wie es war. Es blieb nichts, wie es war und jeder hatte etwas dazu zu sagen. Nachbarn, Bekannte, ehemalige Lehrerinnen, denen wir auf dem Wochenmarkt in die Arme liefen. Was bist du groß geworden. Dürfen wir dich noch duzen? Alle lachten, wo es nichts zu lachen gab, auch ich. Dann hob ich die Tüte mit den Einkäufen vor meine Brust.

Wann ist uns die Sprache abhandengekommen? Als mir die türkischen Wörter ausgingen und immer mehr deutsche hinzukamen? Worte wie Schullandheim, Referat, Gottesdienst, Praktikum und Monatskarte. Verknallt sein und mit jemandem gehen, die Tage kriegen. Ist es da passiert?

Vater und Tochter sollen sich nah sein, sich beieinander geborgen fühlen und zu Hause. Sie sollen sich berühren, mit Händen wie mit Worten und nicht am Ungesagten ersticken. Selbst wenn die Tochter zu groß wird, als dass man sie noch über die Schulter werfen kann. Selbst wenn die Tochter in die elfte Klasse kommt, obwohl der Vater schon nach der fünften von der Schule genommen wurde. Wenn die Tochter genau das studiert, was ihr und dem Vater am dringendsten fehlt: Sprachen.

Ich habe Englisch gelernt, dann Französisch und Spanisch. 5.000 spanische Vokabeln aus dem roten Grund- und Aufbauwortschatz. Ich trug die Wörter auf Karteikärtchen in der Hosentasche mit mir herum. El descanso: Pause, Erholung, el destino: Schicksal, Zukunft, Reiseziel, estar dispuesto, bereit sein. Auch in England führte ich ein kleines Heft mit mir, paw schrieb ich auf, die Katzenpfote und actually, was so vieles heißen kann und so schwer auszusprechen ist. Ich wollte nicht klingen wie eine Deutsche, die Englisch gelernt hat, ich wollte so klingen wie die Frau im Fernsehen, actually.

Irgendwann lernte ich auch Türkisch noch einmal, anders diesmal, aus Büchern und aus Zeitungen, mit Lexika und Grammatik. Und sieh an, das Türkische wurde zu einer Sprache wie jede andere auch. Der Makel fiel ab, sie war nicht mehr das, was wir in der Schule verschämt versteckten, eine Muttersprache, die nichts zählte, weil alle, die Türkisch sprachen, nicht ordentlich Deutsch gelernt hatten und sich nicht richtig anpassten.

Mama blieb über die Jahre einfach Mama. Sie redet noch immer so, als würde sie einen Pullover aufribbeln. Den Wollfaden in der Hand, ein leichtes Ziehen, schon geht eine Reihe nach der anderen auf, ein Satz zieht den nächsten nach sich. Wir reden über dieses und jenes, über Belangloses, und wir erinnern uns danach an nichts. Unsere Gespräche sind leicht und dünn, sie wehen uns davon. Nicht so wie dir und mir. Uns beiden ist das Sprechen eine Last. Am Telefon genauso wie von Angesicht zu Angesicht. Wir schleppen uns von einem Satz zum nächsten, ziehen uns die Worte mühsam aus dem Mund, auf eine kurze Frage folgt eine noch kürzere Antwort. Dann eine quälende Weile nichts. Wir wechseln Worte, gerade so viele, dass der Schein gewahrt bleibt, die Peinlichkeit verdeckt wird. Weil wir, Vater und Tochter, nicht wissen, wie miteinander sprechen. Wir gehen einander aus dem Weg, doch nur so weit, dass wir uns noch im Weg stehen. Besser dem anderen eine Last als nichts sein.

Aber kann das Schweigen unsere Sprache sein? Ich kenne dein Schniefen, dein Räuspern, deine Schuhe auf dem Boden. Selbst am Telefon erkenne ich, noch bevor du ein Wort gesagt hast, dass du es bist, der den Hörer abhebt. Da ist ein Zögern, eine Pause zwischen Rangehen und Sprechen. Ohne Worte.

Manchmal stelle ich mir vor, du wärst nicht mein Vater. Mit Fremden zu sprechen fällt mir nicht ganz so schwer. Ich spreche ständig mit Menschen, die ich zum ersten Mal treffe, frage sie Dinge, die ich dich nie zu fragen wagte. Ich muss es mir nur vornehmen, dann kann ich alles, was ich je für dich empfand, abstellen wie ein Radio, das man leiser und leiser dreht, und schließlich, über einen kleinen knackenden Widerstand hinweg, ausmacht. Mein Inneres wird dumpf und taub und still. Ich sehe dich vor meinem inneren Auge beim Zwiebelschälen oder Rasieren, betrachte dich und denke: Wir haben nichts miteinander zu tun.

Mama spricht oft für dich, sie füllt mit ihrer Stimme den Raum, aus dem du dich zurückziehst. Kommt dir das gelegen? Mir schon. Mit ihr spreche ich wie von selbst, gedankenlos. Ich frage sie, wenn ich dich fragen will, sie spricht für dich und über dich, als wärst du erst sieben, schüchtern, scheu und unbeholfen. In der Schüchternheit, da treffen wir uns, du und ich, sie ist unser gemeinsamer Ort. In der Unbeholfenheit sind wir uns nah, hier kennen wir uns aus und vielleicht fühlen wir uns hier wohl, ein wenig abseits, am Rand, in der Stille.

Wir kommen uns durchs Machen nah, durchs Tun. In der Küche stehen und kochen. "Brauchst du das Sieb noch?" oder "Soll ich die Petersilie waschen?" Wir brauchen unsere Hände zum Reden, sie wollen beschäftigt werden, etwas zu tun haben, anfassen, etwas festhalten, und sei es ein Topf Reis. Wir essen grüne Bohnen in Tomaten, kauen und sitzen beieinander, sehen zum Fenster hinaus, reichen uns Servietten oder die Schüssel mit Joghurt. Hüllen uns in unser Schweigen wie in eine warme Decke.

Sei's drum. Wir müssen gar nicht reden, um uns einander nah zu fühlen. Die Stimme im Ohr, die flüstert, Schweigen sei Versagen, wird leiser.


Aus: "Entfremdung in der Familie: Wie uns die Sprache abhanden kam" Dilek Güngör (1. Dezember 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2020-11/entfremdung-familie-vater-tochter-sprache-tuerkei-schweigen-dilek-guengoer/komplettansicht

Quotedigit.a. #2

Wunderschöner Text. Und tut weh. Muss nicht einmal Migrationsberührung haben, universelle Fragen sind berührt ...


Quotehansi55 #6

Was für ein schöner Text! Sehr berührend und obwohl er Schmerz, oder vielleicht eher Wehmut ausdrückt, kann die Autorin doch auf ein warmes Verhältnis mit dem Vater zurückblicken. Sie haben zusammen gelacht. Ich beneide sie ein wenig. Auch um ihre Sprachmächtigkeit.


QuoteSonnenblume89 #7

Kommt mir bekannt vor, leider....bei uns/meinen Eltern läuft der Fernseher non-stop. Meine Mutter fragte mich immer wieder, wann ich sie besuchen komme. Weil sie mich so sehr vermissen. Schaffe ich es doch zu ihnen, stelle ich fest, dass ich mit meinem Hund mehr rede und kommuniziere als mit meinen Eltern. Starren alle gemeinsam den Fernseher an und Frage mich derweil, warum ich dort bin. Ist inzwischen fast zwei Jahre her seit dem letzten Besuch.

Sehr schöner Artikel.


QuotePimienta #12

Es gibt auch das Gegenteil. Sobald ich mit meinem erwachsenen Sohn zusammen bin, müssen wir höllisch aufpassen, dass nicht nach einer halben Stunde die Fetzen fliegen.
Über Politik. Religion. Corona. Gesellschaft. Kindererziehung. Beziehungen. Alles mögliche.
Unsere Kommunikation ist mühsam und anstrengend.
Allerdings zeigte sich das bereits, als er noch ein ziemlich kleiner Junge war.
Glücklicherweise sehen wir uns nicht so oft. Er hat eine nette, passende Frau gefunden, ein süßes Kind bekommen und einen ausfüllenden Job, der viel verlangt.
Was will man als Elternteil mehr?



QuoteDunkles Ahnen #12.1

Ich wüsste noch manches. Aber es ist schon gut, sich vor Maximalerwartungen zu hüten.


QuoteNathalie2009 #13

... vielleicht ist es eine unglückliche Liebesbeziehung... tut weh, immer wieder.


Quotevorderwäldler #24

Ich denke,dass nicht unbedingt die Worte fehlen,wenn das Schweigen beginnt.
Was fehlt,ist oft die Zeit und der Raum,in dem auch sehr private Dinge erzählt werden können.
Aber in allererster Linie habe ich vermisst,es zu lernen,richtig gute Gespräche zu führen.
Die gibt es sehr selten.
In meiner Familie war es sehr schwer,überhaupt Gehör zu finden.
Der Vater traumatisiert durch
Krieg und Flucht,er war elf Jahre 1945,die Mutter hat ihre fehlende Geselligkeit mit Dauerreden ausgefüllt-
beides Beispiele für Sprachlosigkeit.
Die entstand in erster Linie dadurch,dass ihnen niemand zugehört hat,dass sie als Individuen nie wahrgenommen wurden und so nicht in der Lage waren,ihre innere Gefühlswelt überhaupt zu artikulieren.Dann noch 5 Kinder...
Verändert sich im Leben dann grundlegendes,z.b Pubertät oder höhere Schulabschlüsse der Kinder,reisst das fragile Band sehr schnell und zurück bleibt Sprachlosigkeit.
Ich habe früh begriffen,das gute Gesprächsführung unbedingt schon im Kindergarten und Schule gelernt werden sollte-
sonst bleibt es ein Leben lang ein Kampf um Macht und gegen Ohnmacht,ohne das es den Kommunizierenden überhaupt bewusst ist.
Zwischen meinen Geschwistern und mir ist es bis heute ein Machtspiel,wer wann was zu sagen hat,da wir immer an der Oberfläche bleiben und wenig in die Tiefe gehen.
Raum und Zeit haben gefehlt,die hätte eine Familientherapie vllt.bieten können. Ich befürchte,ich wäre dort die einzig Anwesende.
Die Geschwister haben ja keine 'Probleme',nur ich.


QuoteRoland Muck #29

Ein Text, wunderbar zu lesen und ein gerüttelt Maß an Erkenntnisgewinn, auch für das eigene Schweigen, kommt dazu.


...


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Kinder von Eltern mit einer psychischen Störung sind oft ebenfalls anfälliger für seelische Probleme. Wie kommt dieser Zusammenhang zu Stande? Zwei neue Studien liefern Antworten.

Wer mit psychisch erkrankten Eltern aufwächst, hat ein erhöhtes Risiko, später im Leben selbst seelische Probleme zu ent­wickeln. Das wirft die Frage auf: Ist eher eine genetische Veranlagung für die Übertragung verantwortlich oder das Aufwachsen in einem entsprechend belasteten Elternhaus? In zwei Studien, deren Ergebnisse im Sommer 2022 veröffentlicht wurden, gingen Forschungsteams aus den USA und Kanada der Sache auf den Grund.

Eine Gruppe um Alexandra Burt von der Michi­gan State University wertete Daten von 720 Familien aus, die an einer Langzeitstudie zur kind­lichen Entwicklung teilgenommen hatten. Manche Kinder wuchsen bei beiden biologischen Eltern auf, andere mit einem Stiefelternteil. In den meisten Fällen handelte es sich bei Letzterem um den Stiefvater, weshalb sich die Auswertung auf die Übertragung der Psychopathologie vom Vater auf die Kinder beschränkte.

Kinder aus Patchworkfamilien waren generell stärker psychisch belastet als jene, die mit beiden biologischen Eltern aufwuchsen: Sie litten als Teenager häufiger unter depressiven Symptomen und Konzentrationsproblemen, zudem fielen sie eher durch antisoziales Verhalten auf. Gleiches galt für Jugendliche mit einem Vater, der an einer Depression litt. Die Forschenden fanden dabei kaum Unterschiede zwischen Geschwistern innerhalb einer Familie, selbst wenn manche Kinder darin mit dem Vater genetisch verwandt waren und andere nicht. Dies deute darauf hin, dass die familiären Bedingungen und das gemeinsame Aufwachsen im Elternhaus stärker auf die Psychopathologie einwirkten als die Gene, so Burt und Kollegen. Tatsächlich ließ sich der Zusammenhang zwischen väterlicher Depression und psychischen Auffälligkeiten der Kinder zum Teil durch vermehrte Konflikte und Streitigkeiten in der Familie erklären.

Eine weitere Studie untersuchte, ob Eltern Angststörungen an ihre Kinder übertragen können. Das Team um Barbara Pavlova von der Dalhousie University im kanadischen Halifax befragte dazu 398 Kinder im Alter von durchschnittlich rund elf Jahren und ihre Eltern, soweit verfügbar. Angststörungen werden demnach ebenso von einer Generation an die nächste weitergereicht – allerdings geschlechts­spezifisch: von Müttern an die Töchter und von Vätern an die Söhne. Angsterkrankungen des andersgeschlechtlichen Elternteils spielten dagegen fast keine Rolle.

Auch dieses Ergebnis spricht den Forschenden zufolge dafür, dass das familiäre Umfeld für die Übertragung psychischer Störungen einen größeren Stellenwert hat als genetische Gemeinsamkeiten. Vorbild- und Nachahmungs­effekte führten dazu, dass sich Töchter unbewusst stärker an der Mutter orientierten, Söhne mehr am Vater. Pavlova und ihre Kollegen empfehlen Eltern, eine Angststörung rechtzeitig behandeln zu lassen: Damit könnten sie ihre Kinder vor einer Übertragung schützen.


Aus: "Familie: Wie Eltern psychische Probleme an ihre Kinder weitergeben" Joachim Retzbach (05.10.2022)
Quelle: https://www.spektrum.de/news/wie-eltern-psychische-probleme-an-ihre-kinder-weitergeben/2063559


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Bohemien: ... ich denke die Abwesenheit von Vätern in deren Familien ist ein sehr deutsches Thema. ...


https://www.zeit.de/zett/2023-04/mutter-sohn-beziehung-frauenbild-aufruf#cid-65100182

QuoteSpacelord

... Gibt kaum einen Menschen, dem ich mich spirituell näher und ähnlicher fühle als meiner Mum. Ich bin ihr Fleisch und Blut, unser Blick auf die Welt ist derselbe. ...


https://www.zeit.de/zett/2023-04/mutter-sohn-beziehung-frauenbild-aufruf#cid-65098551

Textaris(txt*bot)

"Kritik an den Eltern: Hast du den Kontakt zu deinen Eltern abgebrochen?"
https://www.zeit.de/campus/2023-04/kritik-eltern-koerpergewicht-berufswahl-partnerwahl

Quoteh-proettlin

Frage an die Leser.

Ein Sohn im Alter von 48 Jahren, Beamter A 16 und Oberstudienrätin, verh., 2 Kinder (14 und 12), beendet jeden Kontakt zu seiner Mutter (69) und seinem Bruder (46) nach der Auszahlen eines beachtlichen Erbes (2,25 Mio. DM, Erbteilung zu gesetzlicher Verteilung (Gericht), durch 100%iges Schweigen, jetzt seit 30 Jahren. Mutter ist seit 17 Jahren tot, ohne je Kontakt mit ihm wieder gehabt zu haben. Bei der Beerdigung war er mit Frau anwesend.

Ein Vielzahl von schriftlichen Kontaktversuchen und Bitten um Erklärungen wurden nicht beantwortet. Ein Besuch wurde untersagt. Eine Bitte um finanzielle Unterstützung (Anwälte) der Mutter wurde verneint, bzw. mit maximal 50 €/mtl. beziffert. (Anwälte)

Ohne jede schriftliche oder mündliche Begründung gegenüber Mutter und Bruder (ist z.B. Pate der Kinder).

Wie beurteilen, erklären Sie dieses Verhalten auf der Grundlage des oben beschriebenen, also ohne Geschichte, die natürlich für eine vollständige Beurteilung notwendig wäre.

Es geht mir daher ausschließlich um die Art und Weise der Trennung.

Schweigen.


QuoteDiätlüge

Auch Schweigen kann einen guten Grund haben, ohne die Geschichte kann das niemand beurteilen. ...


QuoteMit der anderen Sicht

Absoluter und radikaler Kontaktabbruch ist eine der besten Strategien die man fahren kann, wenn man seine Ruhe will und aus einer Belastenden Beziehung raus muss. Oftmals, vermutlich auch in diesem Fall, die letzte Option.

Immer traurig, aber in der Regel das was man tut wenn man vorher alles andere versucht hat.


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QuoteNeuntausend

Viele der Probleme mit Eltern sind auf eine Art narzisstischer Störung der Kriegskindergeneration und deren Kindern zurückzuführen. Meine Eltern sind solche Kriegskinder, und die Antwort auf meine Fragen, warum meine Familie so merkwürdig ist, habe ich erst durch entsprechende Literaturüber schwarze Pädagogik etc. bekommen.

In dem Wissen habe ich dann bewusst immer darauf geachtet, anders als meine Eltern zu sein. Ich habe zu meinen Kindern ein sehr gutes Verhältnis, sie sind zusammen kn eine WG gezogen und kommen oft vorbei. Wir reden und philosophiern viel, diskutieren auch, und sie sind eine absolute Bereicherung für mich. Sie bezeichnen mich als ihr Googlemaps des Lebens, und da binnich glücklich drüber. Aber: ich sehe was narzisstische Eltern bedeuten, wenn ich meine eigenen Eltern ansehe, und da kann ich nur raten: Loslassen. Jeder Mensch darf sich zurückziehen von Leuten, die ihm nicht gut tun. Eltern sind nicht perfekt, aber wenn sie nicht lieben können, können sie unheimlich viel kaputt machen in ihren Kindern. Das muss keiner aushalten.


QuoteKaine_Zeit

Scheidungskrieg, Vater heiratet danach neu. Die eigenen Kinder werden vernachlässigt, kritisiert & gemobbt. Opfer der Stiefmutter und des eigenen Vaters oft mit Übergriffen über jede Grenzen hinweg. Das Stiefgeschwister bei jeder Gelegenheit bevorzugt und bleibt von den Angriffen gegen Vaters Kinder vollkommen unbehelligt. Noch in der Kindheit sterben Vertrauen und Bindung.
Der Wunsch der Kinder lautet, nur noch weg. Vater und Kinder entzweien sich.

Der Vater sieht keinerlei Schuld bei sich. Im Gegenteil. Den Kindern wird Eifersucht und auch ansonsten jeder schlechte Charakterzug vorgeworfen. Er deklariert die Kindern zu Tätern.

Auch die Geburt der Enkel bringt keine Besserung. Nur die Enkel der Stiefmutter finden ein Nest. Die Kinder brechen den Kontakt zum Vater ab.


QuoteAm4ranth

Verhältnis zu meinem Vater gestaltet sich seit der ungeplanten Schwangerschaft meiner Partnerin schwierig. Durch sporadische und zumeist digitale Kommunikation erhärtete sich sein Eindruck, meine Freundin sei fremd gegangen. Er hatte sie bis dahin einmal gesehen, war selbst wieder Vater geworden (mit einer neuen Partnerin). Anstatt uns als werdenden Eltern Unterstützung zukommen zu lassen, forderte er einen Vaterschaftstest, dem wir zur Herstellung eines Burgfriedens auch durchführen ließen. Dieser wurde ignoriert und aus Konflikten mit meiner Mutter (seiner Ex) entwarf er neue Probleme mit uns. Durch die Pandemie ist er schließlich gänzlich ins Reichsbürgermileu abgerutscht, Kontakt mit ihm erfolgte bei der Beerdigung meines Großvaters, aber auch hier ist es sehr schwer, einen gemeinsamen Nenner zu finden.
Meine Mutter ist ebenfalls sehr esoterisch und mischt sich ungefragt in die Erziehung unserer Tochter ein, auch das Verhältnis zu meiner Partnerin gestaltet sich schwierig. Ich habe zu ihr während der Pandemie den Kontakt abgebrochen, mittlerweile haben wir wieder Kontakt, aber meine Partnerin meidet sie (was ich verstehe). Mir selbst fällt es schwer, da unsere Tochter eigentlich ein gutes Verhältnis zu ihr hat und ich auch schöne Momente mit meiner Mutter haben kann, wenngleich die Stimmung auch sehr schnell kippen kann.


QuoteTaminy

Meine Mutter ist in der Sekte der Rudolf-Steiner-Anhänger aufgewachsen. Ihre Eltern, glühende Hitler-Anhänger, haben den Hitler-Kult gegen den Steiner-Kult ausgetauscht und mussten nicht viel umdenken.
Meine Mutter war der felsenfesten Überzeugung etwas Besseres zu sein als die anderen, da sie schlicht und einfach etwas Besseres war. Stramm rechts, glaubte sie alles, was sie im Internet las und was ihr gefiel, gerne auch sich wiedersprechende Aussagen/Weltanschauungen.
Nach über 50 Jahren starken Rauchens starb sie über Jahre an COPD und weigerte sich zuerst, die Krankheit anzuerkennen, dann mit dem Rauchen aufzuhören, Medikamente zu nehmen oder irgendwas zur Besserung ihres Zustandes zu tun. Sie war eine bittere und böse alte Frau, die die ganze Welt hasste und mit der einfach keine Unterhaltung möglich war.
Ich hatte oft wochen- oder monatelang keinen Kontakt zu ihr, aber sie starb und brauchte Hilfe, also habe ich dann doch geholfen.
Wenn ich mir ihren Schwachsinn und ihren Hass einfach nicht mehr anhören konnte, brach ich den Kontakt ab. Sie hat sich dann gemeldet, wenn wie wieder Hilfe brauchte.
Ich glaube nicht, dass sie mich besonders gemocht hat. Geliebt wohl schon, aber gemocht, nein.
Als schwerst lungenkranke Frau hat sich nicht an Corona ,,geglaubt" und für meine Geschwister und mich ist es bis heute ein großer Sieg, dass sie nicht an Corona sondern an COPD starb, obwohl sie alles torpedierte, was wir zu ihrem Schutz unternahmen.
Ihr Tod war eine Erleichterung.


Quote
Aragorn'sMum

Ich habe meinem Vater Lebewohl gesagt, nachdem mein Sohn geboren ist.

Er war mein Leben lang abwesend außer, wenn er meine Hilfe gebraucht hat. Da wurde ich teilweise bei der Arbeit angerufen mit der Vorderung ihm sofort seinen Ersatzschlüssel zu bringen oder eine neue Autoversicherung zu machen. Ein mal sogar während im Krankenhaus lag. Als ich gesagt habe, dass ich ihm nicht helfen kann (liege an der Infusion, darf nicht weg), hat er so lange rumgenörgelt, bis ich jemanden gefunden habe, der ihm hilft.

Er ist einer Sekte beigetreten und wollte mich auch konvertieren. Dummerweise hat er damit angefangen, dass ich in die Hölle komme, weil ich Harry Potter lese. Harry Potter war mir wichtig als in den selben Himmel zu kommen wie er.

Mit der Zeit hat er zusätzlich eine komische politische Einstellung angenommen und ließ sich dann ganz tief in seine Bubble reinziehen. Ab da wollte ich mein Kind schützen und hab den Kontakt abgebrochen.

Ich blicke zurück und merke, dass ich zu diesem Menschen gar keine Bindung hatte. Seine Abwesenheit hat mein Leben kaum verändert. Nur die Anrufe mit Vorderungen haben aufgehört.


QuoteMadyMyDay

Meine Mutter wurde ungewollt schwanger, durfte wegen kath. Familie nicht abtreiben und musste heiraten und auf Wunsches des Mannes daheim bleiben. Sie wollte nie Mutter sein, hatte berufliche Pläne und war kreuzunglücklich in ihrem Zwangs-Hausfrauendasein. Meine Eltern haben nicht aus Liebe, sondern aus Pflichtgefühl geheiratet. Das bekam ich als Kind natürlich zu spüren. Sie versorgte mich und das war's. Der Vater kümmerte sich kaum um mich, da Kinder damals noch Frauensache waren. Am Wochenende wollte er seine Ruhe haben.
Meine Mutter wurde schwer depressiv, alkoholabhängig und war immer weniger erreichbar für mich.
Meine Eltern haben ihre Pflicht erfüllt (füttern, einkleiden, nötigste Benimmregeln beibringen), aber kein Verhältnis zu mir aufgebaut. Ohne Bücher wäre ich zugrunde gegangen. Alles, was mich im Kindes- und Jugendalter beschäftigt oder belastet hat, musste ich mit mir selbst ausmachen, auch Mobbing in der Schule etc.
Ich habe den Kontakt zu den Eltern abgebrochen, sobald ich aus dem Haus war.

Eine Frau, die gezwungen wird, ein Kind auszutragen, kann keine starke Frau sein und diese Stärke an ihre Kinder weitergeben, da sie ja bereits entrechtet und zum "Zuchtvieh" degradiert wurde. Mein Vater war nicht mehr als mein Erzeuger. Ich habe bis ins hohe Erwachsenenalter benötigt, um meinen Weg zu finden und Selbstbewusstsein zu entwickeln.


QuoteFragestellerin

Ich brach den Kontakt zu meiner Mutter vollständig ab. Sie prügelte meinen Bruder und mich, ihr zweiter Mann konnte seine Hände nicht von mir lassen und als ich ihr das mit noch nicht mal 14 Jahren völlig verzweifelt sagte, bekam ich Prügel weil ich ihre Ehe zerstören würde. Dennoch hielt ich lange Jahre noch Kontakt. Erst als ich bemerkte, dass sie meine Kinder gegen mich und den Vater meiner Kinder aufhetzen wollte, habe ich ihr ins Gesicht gesagt, was ich von ihr halte und ihr verboten in meine Nähe zu kommen. Meinen Kindern stellte ich frei, ob sie ihre Oma besuchen. Nach ein paar Besuchen mochten sie dann auch nicht mehr.

Meine Brüder brachen ebenfalls den Kontakt ab.

Ich habe es nie bereut, erst nach dem vollständigen Kontaktabbruch konnte ich meine Kindheit und Jugend aufarbeiten.

Es gibt toxische Eltern und Kinder haben das Recht, den Kontakt abzubrechen.


QuoteNeuntausend

Man kann solche Eltern als gefühlsbehindert bezeichnen. Als Kind hat man keinerlei Chance, sich dagegen zu wehren. ...


Quote
Koch_katrin

Meine Eltern haben sehr oft Grenzen überschritten.

Als Kind wurde ich mit Schweigen gestraft, wenn ich nicht richtig funktioniert habe.

Als Erwachsene wurde mir dann oft mitgeteilt, dass ich doch eh nichts könne. Ständig zeigte mir gerade meine Mutter ihre Verachtung und dass sie gegen alles ist, was mir wichtig ist.

Lange Zeit hielt ich das für normal. Es hat viele Jahre Therapie gebraucht, um zu lernen, dass ihr Verhalten nichts mit Liebe zu tun hat. Darüber hinaus ist gerade meine Mutter voller Zorn, Wut und Hass. Auf sich selbst und die ganze Welt. Viele Jahre habe ich gelernt, die Verantwortung dafür zu tragen, aber ich habe festgestellt, dass ich ihr Problem nicht lösen kann. Nichts, was ich tue, wird je genug sein.

Ziemlich genau vor 4 Jahren habe ich dann den Kontakt abgebrochen. Es ist eine riesige Erleichterung, dass ich heute machen kann, was ich will, ohne dass sie mir ständig sagen, dass das falsch sei oder warum ich tatsächlich noch die Frechheit besitze, mich mit anderen Menschen zu treffen.

Trotzdem bin ich traurig. Ich hätte so gerne vor allem eine Mutter, die mich liebt und die ich lieben kann.


QuoteKatrin Fischer

Das könnte auch meine Geschichte sein. Ich habe den Kontakt vor 3 Jahren komplett abgebrochen.


QuoteAbbeFaria

... Ich ... kann versichern, dass die Trauer über die Tatsache, keine liebende Mutter gehabt zu haben, irgendwann einer gewissen Wehmut weicht, mit der man leben kann


QuoteZuckerschote

Meine Eltern hatten erfreulicherweise auch ein eigenes Leben. Ihr zugewandtes Loslassen-Können hat dazu geführt, dass ich immer wieder freiwillig und gern 'nach Hause' gekommen bin.


QuoteMahatma Pech

Ich habe bei Widerrede direkt ein auf die Fresse bekommen.


Quote
Kathrin12

Ohne Worte - ja, so war das.


QuoteMcFly_

Es ist meines Erachtens eine der wichtigsten Aufgaben junger Menschen die Übermenschlichkeit der Eltern irgenwann hinter sich zu lassen und eine gesunde Distanz aufzubauen. Dieser Prozess ist schwer und manchmal auch schmerzhaft.


Quotecoolray

Ich musste ihnen nie Grenzen setzen. Denn sie haben mir nie in mein Leben hineingeredet. Wenn sie mich unterstützen konnten haben sie es gemacht. So habe ich viele verschiedene Berufe gehabt und einige davon erlernt. Der letzte (mit Anfang 50) war eine Ausbildung zum Altenpflegehelfer. Ich arbeite seit ca 13 Jahren in der Altenpflege. Zuerst als Altenpflegehelfe und jetzt als Betreuungskraft. Ich habe so lange gebraucht bis ich den Beruf gefunden habe der zu 100 % zu mir passt. Deswegen ist mein Beruf auch nicht anstrengend. Sondern er isr bereichernd. Meine Mutter (mein Vater ist vor 14 Jahren gestorben, und ich habe ihn bis zu seinem Tod mit meiner Mutter gepflegt ) hat mich dabei unterstützt (so gut sie konnte) bei der Entscheidung diese Ausbildung zu machen .Und ich kümmere mich jetzt um sie und um alle Dinge die für jemanden mit 86 zu kompliziert geworden sind.


QuoteTiefenrausch 1968

"Hast du den Kontakt zu deinen Eltern abgebrochen?"

Bisschen komisch diese Frage, weil die Abnabelung von den Eltern ein längerer Prozess ist. Die Abnabelung von den Eltern braucht Überzeugungsarbeit, Abgrenzung, Distanz, das kann man nicht auf eine Anekdote verkürzen.


...

Textaris(txt*bot)

#47
Quote[...] Geboren 1936 in einer kommunistischen Familie in Hamburg, deren jüdischer Vater im KZ ermordet wird, kommt Wolf Biermann mit seiner Mutter 1953 in die DDR. Mit seinen Liedern und Gedichten eckt er schnell an und erhält Auftrittsverbot. Seine kritische Poesie, oft gesungen in seiner Wohnung in der Berliner Chausseestraße, wird DDR-weit und auch im Westen bekannt. Sein Lyrikband ,,Die Drahtharfe" veröffentlicht er in West-Berlin.

Biermann, eng befreundet mit dem Dissidenten Robert Havemann, wird zu einem der bekanntesten DDR-Oppositionellen. Nach einem Konzert 1976 in Köln, das vom Fernsehen übertragen wird und in Ost wie West Furore macht, wird er gegen seinen Willen ausgebürgert, was eine Solidaritätswelle in der DDR auslöst. In der Bundesrepublik fängt Biermann ein neues Leben an.

Wolf Biermann hat zehn Kinder und Ziehkinder, darunter Nina Hagen, Tochter seiner Lebensgefährtin Eva-Maria Hagen. Inzwischen 86 Jahre alt, lebt er heute mit seiner Frau Pamela in Hamburg. Politisch mischt er sich ein, gilt als Begleiter von Angela Merkel und nennt Kanzler Olaf Scholz einen Freund. Am Mittwoch eröffnet im Deutschen Historischen Museum in Berlin die Ausstellung ,,Wolf Biermann – ein Lyriker und Liedermacher in Deutschland".


...

Robert Ide: Ihr jüdischer Vater wurde verhaftet, als sie drei Monate jung waren, und später im KZ umgebracht. Ihre Mutter hat Sie aus dem Kriegsfeuer von Hamburg gerettet. Kommt daher Ihr Kämpferherz?

Wolf Biermann: Kinder ahmen automatisch ihre Eltern nach. Oft allerdings dialektisch: als deren genaues Gegenteil. Alle Eltern spielen ja Gott, formen die Menschlein nach ihrem Ebenbild.

Robert Ide: Ihr Vater konnte das nicht tun.

Wolf Biermann: Mein Vater Dagobert war in meinem Menschwerden anwesender als bei den meisten Kindern auf der Welt. Und da ich werde, solange ich lebe, bin ich immer noch auch in seiner Mache. Meine Mutter hat mir jeden Tag von ihm erzählt, das war ihr kleiner Krieg gegen Adolf Hitler. Wir wohnten im Hafengebiet von Hamburg, wo die Schlepper ihre Schuten durch die Kanäle zogen. Hinterhof, Seitenflügel. Vor unsrer Tür im Treppenhaus stand mein Leiterwägelchen. Darauf lag jeden Morgen eine Überraschung vom Vater, die er mir über Nacht aus dem Gefängnis geschickt hatte.

Robert Ide: Was hat Ihre Mutter in den Wagen gelegt?

Wolf Biermann: Ein ,,Nusspips" – so nannten wir das im Familienjargon. Wörtlich also: Nussbrei. Bedeutet: irgendein Leckerli. Ein Bonbon, ein Lakritz, eine schöne Murmel, eine bunte Feder. Meine Mutter erfand dazu wahrhaftige Lügengeschichten, wie etwa dieser leckere Keks aus dem Gefängnis in Bremen durch die Lüneburger Heide über die Elbe zu mir kam. Der Keks vom lieben Papa hat das geschafft, damit er in Wölfleins Mäulchen landet. So habe ich beim Kekskauen mein Liebe-Futter genossen. Das setzt sich tief in der Seele fest.

Robert Ide: Haben Sie beim Futtern an Ihren Vater gedacht?

Wolf Biermann: Es war eine antifaschistische Variation auf die Christen, wenn sie den Leib Jesu in der Kirche kauen als Oblate. Wenn Christen niederknien vorm Priester und Christi Blut als Wein trinken, stärkt das ihren Glauben. Meine Mutter hat so meinen Glauben nicht an einen Gott, sondern an die Menschen gestärkt. Sie hat ihren eingesperrten Mann geliebt und mir vorgelebt, wie ein tapferes Herz schlägt. Deshalb wehre ich mich, so automatisch wie Luftholen, gegen Unterdrückung, achte Menschen und verachte Schweinehunde. So etwas kriegt man nicht schon im Mutterleib mit. Es wird anerzogen, sobald das Baby im Offenen ist.

...


Aus: "Wolf Biermann im Interview: ,,Man geht auch an Schlägen kaputt, die man nicht austeilt"" Robert Ide (01.07.2023)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/wolf-biermann-mit-86-noch-zornig-man-geht-auch-an-schlagen-kaputt-die-man-nicht-austeilt-10067359.html


Textaris(txt*bot)

... Und nicht zuletzt verbirgt sich hinter dem grotesk-traurigen Roadtrip in «Eurotrash» der tragikomische, weil vergebliche Versuch des Sohns, durch die Reise eine Art Läuterung zu erfahren und den Ballast der Familiengeschichte abzuwerfen. ...

Quote[...] Wie nennt man die Hälfte einer Halfpipe? Eine Quarterpipe? Egal, jedenfalls füllt eine solche angeschnittene Rampe die Bühne in den Vidmarhallen, wo Regisseur Armin Petras seine Theateradaption von Christian Krachts Roman «Eurotrash» eingerichtet hat.

So blickt das Publikum auf eine ansteigende Wand in Kunstschneeweiss, die nicht zufällig an eine Bergflanke erinnert – und entfernt an eine Gummizelle (Ausstattung: Patricia Talacko). Auf jeden Fall werden sich die Schauspielenden in den folgenden knapp zwei Stunden hier ganz schön abrackern und auf der schaumstoffartigen Unterlage ihre Abdrücke hinterlassen; ein passendes Bild dafür, dass es um die Spuren von gelebtem Leben geht, um das also, was man seinen Nachkommen unweigerlich hinterlässt.

Christian Krachts Roman «Eurotrash» (2021) ist schon mehrfach auf die Bühne gebracht worden, unter anderem am Wiener Burgtheater oder an der Berliner Schaubühne. Bern verbucht nun immerhin die Schweizer Erstaufführung (Dramaturgie: Felicitas Zürcher).

Der Roman dreht sich um einen Schriftsteller, der wie sein Schöpfer auch Christian Kracht heisst und mit diesem einen grossen Teil der Biografie gemein hat. Es beginnt damit, dass Christian von seiner halb dementen Mutter nach Zürich gerufen wird, wo sie in ihrer Villa alte Ausgaben der «Bunten» liest, von schlechter Kunst umgeben ist und sich mit Medikamenten und billigem Weisswein den jämmerlichen Lebensabend zu wattieren versucht.

Vanessa Bärtsch, Jeanne Devos und Jonathan Loosli machen sich auf der Vidmar-Bühne zu dritt an diesem Stoff zu schaffen. Richtig, zu dritt, denn das Trio teilt sich die Rollen von Mutter und Sohn (und ein paar Nebenfiguren) auf, wechselt chamäleongleich von einem Charakter zum anderen oder spricht gewisse Passagen im Chor.

Es ist ein bewährter Kunstgriff des postdramatischen Theaters, Rollen auf mehrere Sprechende zu verteilen – um dem Publikum die Identifikation zu erschweren und damit je nachdem neue Lesarten zu ermöglichen. Im Fall von «Eurotrash» leuchtet das insofern ein, als auch Christian Kracht im Roman eine Art literarisches Spiegelkabinett aufbaut, bei dem man sich nie ganz sicher sein kann, was nun Fiktion und was reale Biografie ist.

Für Bärtsch, Devos und Loosli bedeutet das einen wilden Ritt, aber die drei meistern ihn bravourös. Sie werfen sich von einem Kostüm ins andere – ein knallgelbes Morgenrockkleid für die Mutter, ein braungrauer Anzug für den Sohn –, sie hasten, robben, rennen, und sie wuchten die drei Rollatoren die Rampenwand hoch, bis sogar die Hosenbeine nassgeschwitzt sind.

Das muss so sein, denn Regisseur Petras übersetzt die Nöte der Protagonisten ins Körperliche: Mutter und Sohn leiden nicht nur an ihrer verkorksten Beziehung und den gegenseitigen kleinen Grausamkeiten, sondern auch an ihrer Familiengeschichte. Der krachtsche Stammbaum ist durch und durch morsch, vor allem mütterlicherseits, da helfen auch all die Anwesen in Gstaad, Nizza und Sylt nichts, all die Ferragamo-Kleider und die Bulgari-Sonnenbrillen.

Mutters Vater nämlich war ein Nazi und blieb es bis zuletzt. Einst angestellt im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, fruchteten bei ihm alle Versuche der Entnazifizierung nichts, und es ist darum eine mehr als bittere Pointe, dass er als Werber im Nachkriegsdeutschland ausgerechnet die Markennamen «Badedas» und «Duschdas» erfand.

All das – und noch einiges mehr – schwappt hoch auf der Reise, auf die sich die Krachts nun aufmachen. Darum wird gepackt, befeuert von Iggy Pops schmissigem Song «Lust for Life», und das Trio auf der Bühne legt ein hinreissendes Rollkoffer-Ballett hin: Manisch stopfen die drei eine Unmenge an Klamotten in die Taschen, und ein Goldbarren muss auch noch mit. Man erkennt in diesem Gehaspel gut den verzweifelten Versuch einer übersättigten Upperclass, die innere Leere mit Kaschmirpullis und Glitzerhosen auszupolstern.

Mit einer Tüte voller Geld (genauer: den 600'000 Franken Gewinn aus Mutters Waffenaktien) reisen die beiden im Taxi nach Saanen, wo der Sohn kurz nostalgisch wird, was sich aber rasch legt, als das Odd Couple in einer vegetarischen Kommune auf einen Bärtigen trifft, der etwas von germanischer Medizin schwurbelt.

Weiter geht es mit der Gondel auf den Gletscher, dann nach Genf ans Grab von Jorge Luis Borges und am Ende in die psychiatrische Klinik nach Winterthur, wobei die Mutter, der die Wirklichkeit allmählich völlig entgleitet, darin die Ankunft im geliebten Afrika zu erkennen gewillt ist, wo sie noch einmal die schönen Hinterteile der Zebras bewundern kann.

Aus dem drastischen Verfallshumor der Vorlage – von Zeit zu Zeit etwa muss der Sohn den Beutel von Mamas künstlichem Darmausgang leeren – zaubert Armin Petras im Lauf des Abends ein Bombardement an Slapstickszenen auf die Vidmar-Bühne; es sind erschöpfend viele. Und leider rattert sein flotter Komödien-Zug, einmal in Gang gesetzt, auch über manch zarten Moment hinweg; das Trauma der Mutter etwa, die als 11-Jährige wiederholt missbraucht wurde.

So virtuos das Konzept der geteilten Rollen an diesem Abend auch umgesetzt ist, am Ende offenbart sich doch der grosse Nachteil davon: Krachts Figuren verlieren an Kraft, wenn sie dauernd aufgefächert werden, allen voran die Mutter, dieses Monument eines schwierigen Charakters: widerborstig, gemein, dünkelhaft, aber letztlich nicht weniger beschädigt als der Sohn.

Und nicht zuletzt verbirgt sich hinter dem grotesk-traurigen Roadtrip in «Eurotrash» der tragikomische, weil vergebliche Versuch des Sohns, durch die Reise eine Art Läuterung zu erfahren und den Ballast der Familiengeschichte abzuwerfen. Schade, dass diese melancholische Grundidee in den Vidmarhallen unter die Räder kommt – und dies gleich in dreifacher Rollatorstärke.


Aus: "Rollator überfährt Melancholie" Regula Fuchs (17.12.2023)
Quelle: https://www.derbund.ch/eurotrash-nach-christian-kracht-bei-buehnen-bern-hier-kommt-die-melancholie-unter-die-rollatorraeder-504236493968

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Textaris(txt*bot)

QuoteVeröffentlicht am 21. Dezember 2023   von tikerscherk

Die Wellen der Trauer werden durchbrochen von Momenten der Wut.
Der Kanzler hat uns Kinder wahrscheinlich geliebt, aber nicht den Mut oder die Kraft aufgebracht uns vor roher körperlicher und psychischer Gewalt zu schützen, noch vor Missbrauch. Sein ab und an laut geäußertes Bedauern über sein väterliches Versagen mit Berufung auf seine unheilbare Depression und seine Hörigkeit gegenüber unserer Mutter, stürzte uns Kinder in Schuldgefühle. Wir wollten ihn glücklich sehen.

irgendwann, vor etwa 3 Jahren, ließ er mich unter dem Druck seiner Lebensgefährtin, die den Namen meiner Mutter trägt, ganz fallen.
Seitdem trauere ich um ihn.


Quelle: https://kreuzbergsuedost.wordpress.com/2023/12/21/51170/

Textaris(txt*bot)

Quote[...] [D]as Titelbild ihrer nun auf Deutsch vorgelegten Biografie [zeigt] ein Selbstporträt Vivian Maiers aus dem Jahr 1954 [.] ... [E]ine wohlgekleidete Frau, ihre Rolleiflex in den Händen. Ein Foto, das mit Hell und Dunkel spielt und die Abgebildete in zwei Hälften teilt. Gründe für ihr stetes Bemühen, ihre Identität hinter schroffer Distanz zu verbergen und ihre Vergangenheit im Dunkeln zu lassen, findet Marks in Maiers Familiengeschichte.

Maier hatte eine labile, narzisstische Mutter, einen gewalttätigen, alkoholkranken Vater und einen schizophrenen Bruder. Die Tarnung gegenüber ihrer Familie wird verständlich.

... Vivian Maier war ,,eine Überlebenskünstlerin, die die Kraft und Fähigkeit besaß, sich aus einer dysfunktionalen Familie zu befreien und ihr Los exponentiell zu verbessern", resümiert die Autorin. ... Die Fotografie war für Maier mehr als ein Werkzeug, um sich auszudrücken. Durch die Fotografie gelang es Vivian Maier, schreibt Ann Marks schließlich, ,,ein Band zwischen sich und der Welt zu knüpfen. ..."

...


Aus: "Durch die Linse der Gouvernante" Wilfried Weinke (7.2.2024)
Quelle: https://taz.de/Buch-ueber-das-Leben-Vivian-Maiers/!5985313/

https://www.vivianmaier.com/

https://de.wikipedia.org/wiki/Vivian_Maier

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Während früher viele Eltern Strenge und Disziplin betont haben, war anderen Wärme und Empathie wichtiger. Erzählen Sie uns, wie Ihre Eltern Sie beeinflusst haben.

... Inwiefern sind Ihre Eltern respektvoll und aufmerksam mit Ihnen umgegangen? Waren Ihre Eltern emotional ansprechbar und haben sie getröstet? Wie hat sich deren Erziehungsstil auf Ihre Freundschaften und Liebesbeziehungen ausgewirkt? Wie beeinflusste Ihre Kindheit Ihr heutiges Verhältnis zu Ihrer Herkunftsfamilie? Was haben Sie im Umgang mit Ihren Kindern genauso gemacht wie Ihre Eltern – und was ganz anders?


Aus: "Kindheit - Aufruf: Wie hat Sie die Erziehung Ihrer Eltern geprägt?" (26. Februar 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/zeit-magazin/familie/2023-11/kindheit-erziehung-eltern-praegung-aufruf

Quoteweltbild

Bei meinen Eltern erinnere ich mich vor allem daran, dass sie aufgrund der DDRtypischen Berufstätigkeit kaum Zeit für mich hatten, so dass ich (Einzelkind) viel allein war und klarkommen musste. Meine Eltern reden das jetzt als Entwicklung zur Selbständigkeit schön, aber ich verbinde das emotional eigentlich eher damit, dass ich mich oft allein und hilflos gefühlt habe und mir einfach familiäre Nähe und Wärme gefehlt hat. 1 Kind hat man halt gehabt, aber dafür gab es ja Krippe, Kindergarten und Schulhort. Und sogar noch Schule am Samstag. Das führt auch dazu, dass ich meine Eltern eigentlich auch kaum kenne, und sie mich eigentlich auch nicht so richtig. Eine echte Verbundenheit fehlt eigentlich. Auch erwarteten meine Eltern von mir immer hohe Leistungen in der Schule (etwas, was sie nicht mal selbst geschafft haben), wenn ich da nicht funktioniert habe (was sollen denn die Leute denken), wurde das Verhältnis noch distanzierter. Das hat allerdings nicht etwa zu einer hohen Leistungsbereitschaft geführt sondern zu einem enorm gestörten Selbstbild, nach dem ich erst dann etwas wert war, wenn ich Leistung brachte. Der Therapeut hat lange gebraucht, dies und die damit verbundene Essstörung aufzuarbeiten. Das mich meine Eltern auf ihre Art geliebt haben und lieben, geschenkt, eine liebevolle ElternKindBeziehung gab und gibt es nicht.


QuoteGyges

Meine älteste Erinnerung ist eine Ohrfeige im Alter von 3 1/2 Jahren, im Laufe der Zeit gab es mehr davon, vor Angst habe ich mir auch in die Hose gepisst wenn mein Vater anfing zu schreien. Von Meiner Mutter kam nur der Spruch:" Duschlägst solange bis du mal triffst." Als ob er daneben geschlagen hätte. bis ich 18 war hatte ich panische Angst vor meinem Vater und mit 23 suchte ich das Gespräch mit ihm was nichts brachte. Seit dem habe ich ihn nie wieder gesehen und inzwischen ist er Tod. Meine Mutter fing an sich zu emanzipieren als ich 14 war, entgültg geschafft hat sie es aber erst als ich circa 20 war.

Vor kurzem hatte ich einen Traum in dem ich mich das erste mal gegen meinen Vater aufgeleht habe. Unzählige mal wünschte ich mir als Kind, daß er Tod wäre.

Im Nachhinein weiß ich, daß er nur das Ergebnis seiner Zeit war, das hat mir aber nicht weiter geholfen.
Ich bin Jahrgang 63 inzwischen in psychischer Behandlung und mache seit zwei Jahren ein Therapie.

Angst vor den Eltern kann einem das Leben einfach zu Horror machen.

Mein Vater wollte einen starken selbstbewusten Sohn, der aber absolut gehorsam ist. Paradoxer geht es wohl nicht.


QuoteSperrfisch

Ich kann mich sehr glücklich schätzen mit meinen wunderbar Eltern. Sie lieben mich heute noch sehr und ich sie. Sie haben mich in allen Situationen unterstützt, auch in den sehr unangenehmen. Abgenommen haben sie mir die unangenehmen Sachen natürlich nicht, aber sie haben mir niemals das Gefühl gegeben, dass ich alleine bin. Einen guten Umgang mit Menschen, Geld und Konflikten haben sie mich ebenfalls gelehrt. Wenn ich mich für Kinder entschieden hätte, wären meine Eltern Vorbild bei der Erziehung. Manchmal tut es mir schon sehr leid, dass ich meinen kinderlieben Eltern keine Enkel "geschenkt" habe, aber auch diese Entscheidung akzeptieren sie wertfrei (wenn auch manchmal schweren Herzens). Danke für Alles, Mama und Papa, ich liebe euch!


QuoteR3g3nwolk3

Das liest sich - einschließlich der Enkelsituation - wie eine Beschreibung meiner Eltern-Erfahrung.

Ich hab mich manchmal gefragt, ob meine 'Sehnsucht', selbst Kinder zu haben, vielleich auch so klein bis nicht vorhanden gewesen ist, weil ich nicht das Bedürfnis vespürt habe, etwas 'nachzuholen' oder 'besser zu machen'.

Mein jüngerer Bruder hatte übrigens die Theorie, dass wir uns als Kinder so oft und heftig gezankt hätten, weil das Elternpaar so völlig zankfrei war. Diese Geschwisterrivalität (ich war zwei Jahre älter und wollte lieber Einzelkind sein...) hat (insbesondere) meine Mutter mit ihrem großen Sinn für Gerechtigkeit gemeistert und es geschafft, uns niemals gegeneinander auszuspielen oder eineN zu bevorzugen. Als Erwachsene vertragen wir uns nun gut, auch in der gemeinsam übernommenen Pflege der Eltern.


QuoteDrei Morgenkaffee

Das kann ich genauso unterschreiben, ebenfalls ohne Kinder!


Quotealkyl

Meine Eltern sind die klassischen Johanna-Haarer-Opfer. Mein Vater hat jedem, der es nicht wissen wollte, erzählt, Kinder bräuchten einen strengen, starken, Vater, sonst könne aus ihnen nichts werden. Er hat erst aufgehört, mich zu schlagen, als ich mit vierzehn Jahren so groß war wie er selbst und ihn auslachte, als er mir wieder einmal eine runterhaute. Mit über 30 Jahren wurde er nach einem späten Studium ein bei seinen Schülern außerordentlich beliebter, lässiger Lehrer. Zu Hause war er das exakte Gegenteil. Und er soff wie ein Loch, wie sein eigener Vater.

Meine Mutter erzählte mir mal, wie ihre Eltern sie immer gezwungen hatten, mich als Säugling so lange in ein Zimmer zu sperren, bis ich aufhörte, zu schreien. Sie hätte das kaum ertragen, aber da wir bei ihren Eltern wohnten, konnte sie wohl nichts machen.

Heute sind meine Eltern achtzig Jahre alt. Mein Vater ist dement. Ich habe keinerlei Beziehung zu diesem alten Mann, der mir einfach nur fremd ist. Meine Mutter hätte so gern jetzt die körperliche und seelische Nähe zu mir, die sie mir als junge Mutter nicht geben konnte oder durfte. Aber ich schaffe es nicht, ich ertrage es einfach nicht.


Quoteserioso

"Die allermeisten Eltern lieben Ihre Kinder,"

Nun ja, meine Eltern gehören zur Minderheit. Mein Erzeuger hat sich aus der Verantwortung gezogen, meine Mutter allein gelassen, und sich um Unterhaltszahlungen erfolgreich gedrückt. Und meine Mutter, die mir immer gesagt hat, ich könne mich immer auf sie verlassen und dass mein Erzeuger ein Riesen-Arsch ist, die mich immer ermutigt hat, mir die Unterhaltszahlungen zurück zu klagen, und die ich wiederum in den letzten Jahren finanziell unterstützt habe - hat mir nach 40 Jahren gebeichtet, dass sie seit einiger Zeit wieder eine Affäre hat - mit meinem Erzeuger. Wie lange schon, hat sie mir nicht erzählt.


QuoteApfelsaftschorle

Ich war versorgt. Materiell kein Luxus, aber alles soweit da. Meine Eltern haben viel Wert auf Bildung gelegt, obwohl oder gerade weil sie selber aus Familien kamen, wo mehr als Volksschule nicht drin war. Dennoch waren sie bei Noten entspannt. Und sie haben mir ein gesundes Verhältnis zu Geld mitgegeben.

Emotional war und ist vor allem meine Mutter eine Katastrophe. Keine Empathie, kein Takt, kein Verständnis für "Empfindlichkeiten". Bis heute indiskret ohne Maß, jede noch so persönliche Info wird im Dorf rumgetratscht.

Mein Vater war da besser. Ruhiger, einfühlsamer. Und viel zu früh tot.


QuoteZeit_Nutzer24

Ich bin mit Eltern aufgewachsen, die unter schweren psychischen Erkrankungen leiden. Die Beziehung zu meiner Mutter (Borderline-Erkrankung & Angststörung) war durch ihre emotionale Instabilität geprägt. Zwischen Hass, Abwertung, Liebesentzug auf der einen Seite und extremer Fürsorglichkeit und erdrückender Liebe, lagen manchmal nur Minuten. Sie gab uns keine Freiräume, keine Möglichkeiten eigene Interessen zu entdecken. Jeder Anflug von Freiheit wurde unterdrückt, aus Angst man würde sie verlassen (oder anderer Horrorszenarien). Sie war (und ist) extrem kontrollierend. Meine Mutter lebt in einer Welt, in der der Weltuntergang permanent an die Tür klopft.

Mein Vater (narzisstische Persönlichkeitsstörung, Depressionen mit psychotischen Episoden) hingegen liebt die Extreme und seine eigenen Freiheiten. Er hat uns früher - und auch heute noch- permanent abgewertet, glänzte durch emotionale und physische Abwesenheit und Unzuverlässigkeit. Was die Erziehung angeht, hielt er sich weitestgehend heraus.

Beide vereint, haben Suizidversuche und Androhungen von Suizid, die wir ungefiltert miterleben durften.

Erst mit Mitte 20 begriff ich, in welchem Umfeld ich aufgewachsen bin. Seitdem versuche ich den verlorenen Teil meiner Kindheit und insbesondere Jugend nachzuholen. In meiner persönlichen Entwicklung hinke ich Gleichaltrigen immer noch hinterher. Ich habe quasi mit Mitte 20 eine zweite Pubertät erlebt, in der ich mich gegenüber meinen Eltern emanzipierte. Der Kampf hält an.


Quoteserioso

Mein Beileid. Deine Geschichte könnte von mir sein.


QuoteAli_Vegan

Ich sollte ständig beten in der Kindheit, und Fasten und Kleidervorschriften einhalten und so weiter.

Seitdem ist mir Religion zuwider.
Die Kindheit kann eine lehrreiche Schule sein.

Freiheit ist alles.


QuoteGiseppa17

Meine Mutter (1925-2011) war chaotisch, sehr liebevoll, sehr hübsch und manchmal kurz verbittert. Sie hat versucht alles unter einen Hut zu bringen, was oft misslungen ist. Daher war ich fast ein Opakind und im Internat.

Mein Vater war geflasht von ihr und obwohl durch seinen Dienst bei der USS Army viel abwesend hat er es geschafft dass ich mich mein ganzes Leben angenommen gefühlt habe.

Meine wütenden Kämpfe hab ich nur ausgefochten wenn ich jemanden anderem entsprechen sollte. ( zB bin ich aus dem Internat geflogen).

Ich bin dankbar, kann ich mit 63 sagen, irgendwie bin ich nicht " geformt " worden, ich war viel alleine aber es war immer ein Kontakt da. So was wie ein unsichtbares Seil.

Und es wurde immer alles ausgesprochen, wobei mein Dad immer meine Ideen irgendwie befürwortet hat, meine Mutter hat dann kurz gemeckert aber mich dann auch unterstützt. ...


QuoteR3g3nwolk3

Erst als ich schon erwachsen war, konnte ich erkennen, wie viel Glück ich mit meinen Eltern hatte. Was für ein Luxus, vorbehaltlos geliebt zu werden und zu 'genügen', nichts beweisen zu müssen. Da geht man, ohne dass man groß drüber nachdenkt, mit einem gewissen Urvertrauen ins/durchs Leben und denkt, das sei normal. Meine Mutter, inzwischen leider verstorben, war gerecht, sanftmütig und humorvoll. An 'falsche Töne' kann ich mich bei ihr nicht erinnern. Ich war ihr emotional näher als meinem Vater, auf den ich mich aber auch mein Leben lang verlassen konnte. Er ist nun ein sehr alter Mann und zwischen uns ist seit dem Tod meiner Mutter, die er sehr vermisst, noch einmal eine Nähe entstanden, von der ich selbst überrascht bin.


QuoteZEIT-Leser-seit-immer

Klassischer Arbeiterhaushalt, aber mit Rückhalt, Liebe und Herzlichkeit. Wochentags waren beide arbeiten, deshalb waren wir alle ,,Schlüsselkinder". Am Wochenende wurde viel zusammen unternommen. Unsere Eltern hatten viel Vertrauen ins uns. Und wenn wir es missbraucht haben, gab es ordentlich den Arsch voll. Wir haben gelernt, die eingebrockte Suppe stets selbst auszulöffeln. In unserer Jugend hatte jeder seine Aufgaben zu Hause. Darüber hinaus konnten unsere Eltern gut loslassen. Wir durften Scheitern, Erfahrungen sammeln und Resilienz aufbauen. Nur in Sachen Bildung mussten wir uns anderweitig orientieren, dafür gab es aber Elternhäuser von Schulfreunden. Es gab eigentlich nichts zu meckern.

Wie wurden wir geprägt? Eigenverantwortlich handeln, Grundwerte leben: ehrlich, fair, respektvoll, fleißig sein. Eigentlich der Kategorische Imperativ. Bescheidenen Wohlstand aufbauen, aber alles aus dem Blick von unten. Den Rest hat uns das Leben oder wir uns selbst beigebracht. Trotz gemeinsamen Elternhauses sind wir alle grundverschieden und das war schon im Kindesalter absehbar. Grundanlagen der Persönlichkeit sind einfach nicht weg zu erziehen.


QuoteLaus oder Hexe

Bis darauf, dass ich aus dem gehobenen Bildungsbürgertum komme, kann ich alles unterschreiben. Ein echtes Privileg (also die konsequente und großzügig liebevolle Wertevermittlung).Und in meinem Fall nicht von unten, sondern stets mit der Demut, dass ich auch eine gute Portion Glück im Leben hatte.Ich fand es sehr schön , bei Ihnen fast Wort für Wort das zu lesen, was ich schreiben wollte... noch schöner, dass wir einen unterschiedlichen Bildungshintergrund in unseren Familien hatten.Danke für Ihre Worte.


QuoteFragestellerin

Ich glaube, dass die ablehnende Haltung meiner Mutter : "Du bist ja nur ein Mädchen und schade, ich wollte noch einen Jungen" mich stark gemacht hat. Meine Mutter prügelte meinen Bruder und mich, manchmal mit einem Holzstock und sie schrie immer rum. Keines meiner 3 Kinder habe ich je geschlagen, keines meiner Kinder jemals angebrüllt.

Was mir geblieben ist: ich kann mit schreienden Menschen ganz schwer umgehen. Wenn mich jemand anbrüllt zittere ich am ganzen Körper und ich habe einen kurzen Fluchtreflex. Mit den Jahren lernte ich das zu beherrschen, aber es kostet mich noch immer Beherrschung. Als Rentnerin komme ich nicht mehr in die Situation angebrüllt zu werden. Während meines aktiven Arbeitslebens hatte ich mal einen cholerischen, brüllenden Chef. Einmal sagte ich zu ihm, wer schreit hat Unrecht und disqualifiziert sich selbst. Mich schrie er nie an.


QuoteSimplicio

Erwachsen werden heißt einsehen, dass es perfekte Eltern und die perfekte Erziehung nicht gibt. Für das, was gelungen ist, darf man dankbar sein, von den Erziehungsfehlern und Schwächen muss man sich lösen. Nachtragen bringt nichts.

Für mich entscheidend war die Vermittlung von Urvertrauen und die Sicherheit mit jedem Problem, was es auch sei, kommen zu können.


QuoteApfelsaftschorle

"Für mich entscheidend war die Vermittlung von Urvertrauen und die Sicherheit mit jedem Problem, was es auch sei, kommen zu können."

Wenn man aber genau das nicht vermittelt bekommen hat, wird es schwer mit dem Verzeihen von "kleineren Fehlern"


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Philine Bickhardt: Du gehörst einer Generation an, die etwa 30-35 Jahre alt ist und deren Väter aus dem Krieg zurückgekehrt sind, sowohl in Serbien, Bosnien als auch in Kroatien und anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens.

Monika Herceg:  Als wir in unser Dorf zurückkamen, hatte mein Vater schon aufgehört zu arbeiten, er trank viel, er war während des sogenannten ,,Heimatkrieges" Invalide geworden, er wurde bei einer Explosion verwundet, also hatte er Granatsplitter in seinem Hals und anderswo im Körper, er trank eigentlich buchstäblich den ganzen Tag. Er starb ziemlich früh, als ich 15 war, was vielleicht besser ist, ich weiß nicht, wie das Leben sonst ausgesehen hätte, denn Alkohol lehrt immer Gewalt. Ich kann mich an den Moment erinnern, als mein Vater starb, dass sogar meine Mutter sagte, dass wir gerettet seien (und meine Mutter würde noch heute ihre Hand dafür ins Feuer legen, dass er ein großartiger Vater und ein großartiger Ehemann gewesen sei). Wir blieben übrig, Mama und wir drei Kinder, und sie hat es irgendwie geschafft, uns mit dem bisschen Geld rauszuholen.

[...] Von damals erinnere ich nicht viel; Alkohol, Gewalt, ich erinnere mich, wie die Zigaretten auf den Boden fielen und brannten. Alles am Rande des Hässlichen. Ich grabe gerade sehr viel für meinen Roman – und ich versuche zu schauen, ob ich durch meine Heldin oder meine Heldin durch mich zu diesen Geschichten kommt und vordringen kann. Wir haben damals intuitiv sehr viel gefühlt, ich weiß, dass man uns doll geschlagen hat. Mein Großvater, der mit uns lebte, war auch Alkoholiker, er schlug Großmutter jeden Tag, eine wirklich schreckliche Figur, einfach ein Tyrann.

Ich gehe immer noch zur Psychotherapie – und die körperlichen Traumata in Form von Körperschmerzen können mehr erinnern als das Bewusstsein. Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir nicht gelernt haben, den Körper zu fühlen. Ich denke, Krieg erzeugt eine große Menge an Dunkelheit in den Menschen.

Weißt du, es ist schwierig für mich, den Krieg aus diesem Kontext herauszulösen, es ist einfach eine Tatsache, genau wie Armut eine Tatsache war. Als ich jetzt in der Ukraine war, bekam ich Gänsehaut, ich sehe so viel von dieser Tiefe, von dieser Dunkelheit; ich denke, sie entfacht die tiefste Gewalt in den Menschen. Ich denke, dieses Gefühl ist unverkennbar, und es hat mir wirklich Angst gemacht, wie sehr es uns umgibt.

...


Aus: ",,Ich hatte immer in meinem Kopf diese Stimme einer poetischen Freiheit"... Philine Bickhardt im Gespräch mit Monika Herceg" (24. Juli 2024)
Quelle: https://geschichtedergegenwart.ch/ich-hatte-immer-in-meinem-kopf-diese-stimme-einer-poetischen-freiheit-philine-bickhardt-im-gespraech-mit-monika-herceg/

Monika Herceg (born 1990, in Sisak) is a poet, playwright, editor, feminist and activist from the small village Pecki near Petrinja, Croatia. ...
https://en.wikipedia.org/wiki/Monika_Herceg

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Nach dem frühen Tod meiner Mutter wurde ich von allen Seiten dermaßen mit Süßigkeiten vollgestopft, dass ich binnen kurzem dick und fett wurde. Statt liebevoller Zuwendung stopfte man mich mit Keksen und Schokolade voll. Auf den Einschulungsfotos ist die Gewichtszunahme bereits deutlich erkennbar, aber richtig schlimm wurde es erst in den nächsten Jahren. Ich wurde ein kleiner Fettkloß und konnte kaum noch aus den Augen schauen. Das eigentlich tragische daran war, dass mein Vater dicke Menschen nicht mochte. Ich meinte, diese Abneigung nun auch mir gegenüber zu spüren. Der Vater wird sich angesichts des kleinen agonisierenden ,,Dicken", wie ich bald nur noch genannt wurde, gefragt haben, wie er zu so einem Sohn gekommen ist. Ich litt unter seinen fortwährenden Ermahnungen: ,,Beweg dich, tu etwas, träum nicht!" Er übernahm die Regie, er gab Hinweise, deutete dahin, zeigte dorthin, und hielt mich zur Mitarbeit an, worauf ich nur mechanisch reagieren konnte. Er animierte mich zu sportlichen Betätigungen. Ich wusste aus dem Durchblättern alter Familienfotoalben, dass Vater in seinen jungen Jahren ein begeisterter und guter Turner gewesen war, während ich am Reck hing wie der berühmte ,,nasse Sack". Ich ahnte, wie ich in seinen Augen sein sollte und wusste, dass er Dicksein verabscheute. Ich konnte diesen Erwartungen nicht gerecht werden und lebte in ständiger Sorge, von ihm nicht akzeptiert und gemocht zu werden. Niemand baute mir eine Brücke in die Welt, über den Abgrund, den der Tod der Mutter aufgerissen hatte. Nachdem mein Vater wieder geheiratet hatte und die neue Familie um mich herum ständig größer wurde, wurde meine Lage immer verzweifelter. Keine Ahnung, wie ich das überstanden habe. Unbeschadet jedenfalls nicht.

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Aus: "101 | Vom Antirealismus der Gefühle" Götz Eisenberg (9. Juli 2024)
Quelle: https://durchhalteprosa.de/2024/07/09/101-vom-antirealismus-der-gefuehle/

Textaris(txt*bot)

Die Eltern-Kind-Beziehung ist die soziale und emotionale Beziehung zwischen einem Elternteil und dem eigenen Kind. Sie ist eine häufig untersuchte Zweierbeziehung (Dyade). Man unterscheidet manchmal nach dem Geschlecht des Elternteils Mutter-Kind-Beziehung und Vater-Kind-Beziehung sowie zusätzlich nach dem Geschlecht des Kindes Vater-Sohn-Beziehung, Mutter-Tochter-Beziehung, Vater-Tochter-Beziehung, Mutter-Sohn-Beziehung. Ist der Sohn oder die Tochter erwachsen, wird meist eine der letztgenannten Bezeichnungen verwendet.
In der Familientherapie und -soziologie werden die beiden Eltern-Kind-Beziehungen auch zusammen mit der elterlichen Paarbeziehung als Vater-Mutter-Kind-Beziehung und somit als Triade (Dreierbeziehung) betrachtet. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Eltern-Kind-Beziehung

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Quote[...] Niemand hat uns so stark geprägt wie unsere Mutter und unser Vater. ,,Das betrifft Einstellungen, automatische Verhaltensweisen, aber auch, wie wir mit Gefühlen und Nähe umgehen,,, sagt die Psychotherapeutin Dr. Silvia Dirnberger-Puchner ...

Wird man als Tochter eine Kopie der Mutter?

Solange wir jünger sind und sich unser Leben von denen der ,Erwachsenen' grundlegend unterscheidet, fallen uns diese Parallelen gar nicht wirklich auf.

Sobald wir jedoch älter werden und sich unser Leben auch durch eine feste Beziehung, einen Job und eigene Kinder nicht mehr so frappierend von dem unserer Eltern unterscheidet, merken wir: Wir haben das Sicherheitsdenken unserer Mutter übernommen, haben auch einen Bausparvertrag und denken über einen Hauskauf oder was auch immer nach.

Bei einer Umfrage des englischen Online-Portals Netmums sagte die große Mehrheit der Frauen, dass sie ungefähr ab dem 32. Lebensjahr der eigenen Mutter immer ähnlicher geworden seien. Ticks, Rituale oder bestimmte Formulierungen – kaum eine Frau, der keine Gemeinsamkeit mit der eigenen Mutter einfiel.

... Im Zusammenleben mit unseren Eltern werden uns Muster vorgelebt und gezeigt. Die speichern wir ab und so bilden sich in unserem Gehirn Muster und Strukturen heraus, an denen wir uns im Leben orientieren und die unsere Handlungen bestimmen.

,,Abgespeichert in den Nervenzellen werden im Laufe der Jahre regelrechte Trampelpfade durch immer wiederkehrende Handlungsmuster gebildet", erklärt Dr. Dirnberger-Puchner.

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Aus: "Werden wir automatisch wie unsere Eltern?" Fiona Rohde (28.08.2024)
Quelle: https://www.gofeminin.de/mein-leben/werden-wir-immer-wie-unsere-eltern-s1209813.html

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Quote[...] Mutter-Fiktionen. Mutter-Konstruktionen. Eltern-Konflikte. Der Münchner Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer (83) publiziert seit einem Halbjahrhundert zugängliche wie durchaus lesenswerte Bücher über Psychologisches. Man realisiert bei Böse Väter, kalte Mütter?, über wie viel Routine er verfügt. Dramaturgisch ist das schlüssig wie argumentativ en détail gut nachvollziehbar.

Schmidbauer beugt sich über eine Fragestellung, die im ersten Moment ketzerisch klingt, im zweiten noch immer fast ruchlos anmutet: Warum erschaffen sich, warum kreieren Kinder schlechte Eltern?

Es geht um – ein treffendes Bild – den "Brückenkopf", den Eltern angeblich, mutmaßlich, präsumtiv, präpotent im Leben ihrer Kinder bilden, lebenslang. Es geht um das Widerspiel von Scham und Projektion, von Aggression, verharzter Perspektive und Ordnung, um Lenkung und Autonomie, reklamiertes Recht (und Rechthaberei) und akklamierte Demütigungsgefühle. Im Ausklang plädiert Schmidhuber für ein kompliziertes Wort, für Ambivalenztoleranz und für eine Verhaltenskorrektur namens Gnade.

Was die Gegenwart immer stärker konstruiert, ja einfordert, ist: Kontrolle. Kontrolle über die Welt und den Alltag, über rasant sich verändernde Prozesse der Arbeitsmilieus und über das scheinbar sich viel langsamer vollziehende Werk der Kindererziehung. Ängste nicht abzuwehren, sie auch einzugestehen, Fehler nicht zu verteufeln, sondern sie zuzulassen, nicht starr auf einem unveränderlichen Punkt zu verharren, sondern flexibel zu werden – das könne, so Schmidbauer, helfen, die oft heillos dämonisierte Verknotung von Eltern-Kinder-Vorwürfen aufzulösen, Verbitterung zu reduzieren, zu einem Miteinander zu kommen. Und dann sogar Danke zu sagen.

... Wolfgang Schmidbauer, mittlerweile 83, stellt sich in seinem neuen Buch "Böse Väter, kalte Mütter?" etwa die Frage: "Warum erschaffen sich, warum kreieren Kinder schlechte Eltern?" Es geht dabei viel um Projektionen.

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Aus: "Wenn das Leben einer Mutter Literatur wird" Alexander Kluy (11.5.2024)
Quelle: https://www.derstandard.de/story/3000000219536/von-mutter-erz228hlen

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Der Rückzug von Ulla Unseld-Berkéwicz ist für den Verlag aber eine Zäsur. Unseld-Berkéwicz ist die Witwe des langjährigen Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld. Mit dem Verkauf ihrer Anteile ist der Name Unseld bei Suhrkamp nach rund sieben Jahrzehnten Geschichte. Anscheinend gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen dem aktuellen Verlagsleiter und Ulla Unseld-Berkéwicz sowie der Ströher-Familie schwierig. Das sagte Verlagsleiter Jonathan Landgrebe in einem Interview mit «Zeit Online». Dass sich Unseld-Berkéwicz und die Ströhers jetzt zurückziehen, könnte im besten Fall Ruhe in den Verlag bringen. ...


Aus: "Was ist beim Suhrkamp-Verlag los?" (Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 7.10.2024, 17:10 Uhr. )
Quelle: https://www.srf.ch/kultur/literatur/umbruch-bei-traditionsverlag-was-ist-beim-suhrkamp-verlag-los

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Quote[...] ... In ihrem Romandebüt ,,Ein anderes Leben" erzählt Caroline Peters berührend von einer Patchworkfamilie, die von ihrem Zentralgestirn, der Mutter, verlassen wird. ...

Hannover - Die beiden älteren Schwestern, die sich erst entspannen, wenn die jüngste Schwester sauer wird. Die Mutter, die nacheinander ihre drei Jugendfreunde heiratet und von jedem eine Tochter bekommt, gleichzeitig aber vor allem für Gedichte und russische Literatur lebt und sich von den Erwartungen ihrer Familie erdrückt fühlt. Erinnerungen, die zur heiklen Angelegenheit werden, weil jeder sich anders erinnert. Und die Beerdigung des Vaters, die die jüngste Tochter dazu bringt, auf das Leben ihrer Mutter und die eigene Kindheit zurückzublicken. Es ist kein Familienidyll, das hier angerichtet wird.

,,Ein anderes Leben" ist der erste Roman der Schauspielerin Caroline Peters, die bislang eher mit Kino- und Fernsehproduktionen, etwa in der Krimiserie ,,Mord mit Aussicht" oder in Sönke Wortmanns ,,Der Vorname", auf sich aufmerksam machte. In dem Roman geht es darum, seinen eigenen Weg zu finden, sich aber auch zu behaupten gegen die eine übergroße Figur im eigenen Leben - in diesem Fall die längst gestorbene Mutter. Die, sie heißt Hanna, mit großer Energie und Hingabe, doch auch zunehmend verloren zwischen Bürgerlichkeit und Boheme mäandert.

Zum Beispiel: Den Sonntagmorgen verbringt sie mit Werken Puschkins und einem Sekt, den sie aus einer hauchdünnen Porzellantasse trinkt, im Bett, zusammen mit ihrer Jüngsten. Doch als sie ein Wort findet, das möglicherweise nicht gut übersetzt worden ist, vergisst sie die Zweisamkeit, umgibt sich mit Wörterbüchern und Zetteln und sucht eine Lösung. Wohl selten dürfte so einprägsam gezeigt worden sein, wie verloren sich ein Kind, in diesem Fall eine Jugendliche, fühlen kann.

Aus Nachmittagen beim Konfirmandenunterricht wiederum macht Hanna eine Show und legt einen großen Auftritt hin, steht wie so oft im Mittelpunkt - zum Entsetzen ihrer jüngsten Tochter, die rasende Wut verspürt. Und in der Universitätsbibliothek, wo sie arbeitet, flirtet sie mit Studenten - unter den Augen der Tochter.

Gleichzeitig aber wollen Hanna und ihr dritter Mann Bow, der Vater der jüngsten Tochter, in der Nachbarschaft nicht nur dazugehören, sondern auch glänzen: So kleidet sie sich wie alle Nachbarinnen cremefarben, verteilt Kuchen und Lachscanapé und versucht, Besucher zu beeindrucken. Die Folge der Verstellung: Depressionen. Schließlich verlässt sie die Familie.

Die Autorin weiß, was sie tut. Mittendrin fällt ein Satz, der ihr Erstlingswerk recht genau beschreibt: ,,Es ist schwer, die Erinnerungen in der chronologischen Ordnung zu halten." Das ist ein Gedanke der jüngsten Tochter, der Erzählerin, die langsam begreift, wie ihre ganze Welt, auch die drei Väter, ihre Schwestern und sie wie Planeten auf Umlaufbahnen um den Fixstern kreisen - ihre Mutter Hanna. Das Ergebnis ist ein Geflecht aus Erinnerungen aus ganz verschiedenen Zeiten, die wie Einsprengsel die Gegenwart mit der Beerdigung des Vaters und der Zeit kurz danach immer wieder unterbrechen, aufhalten und gegen den Strich bürsten.

Mit diesen verschiedenen Zeitebenen jongliert Caroline Peters in ihrem Debüt-Roman gekonnt, einfühlsam und liebevoll beschreibt sie die Eigenarten der immer wieder aus der erwarteten Rolle fallenden Mutter, die ihren eigenen Weg eigentlich ganz woanders sieht, nicht bei ihrer Familie. Dabei schimmert immer wieder Humor durch, selbst zum dramatischen und melancholischen Höhepunkt. Ein wirklich berührendes und fesselndes Buch - und absolut kein Grund zur Sorge nach dem Motto: Jetzt schreibt sie auch noch.

Und die Autorin hat keine Scheu davor, auch Unklarheiten nicht aufzulösen: Warum trennt sich Hanna von Mann und Familie: Und: Tut sie es überhaupt? An dieser Stelle wird deutlich, wie schwer es ist, sich auf Erinnerungen zu verlassen, und wie groß die Verwirrung, wenn andere Menschen sich an das gleiche Ereignis anders erinnern. So glauben die beiden älteren Schwestern, die Mutter sei nicht aus freien Stücken gegangen, sondern gewissermaßen ,,rausgeschmissen" worden von Bow und der jüngsten Tochter.

Doch die Erzählerin, immer nur ,,die Kleine" genannt, versteht schließlich, warum sich ihre Mutter von Mann und Familie trennt, ausbricht und in eine andere Wohnung zieht: ,,Ihr Denken und Fühlen war endlich an dem Punkt angekommen, auf den Hanna zugestrebt war: ein eigenes Zuhause. Keines Mannes Zuhause, keiner Mutter Zuhause, auch keines, das sie ihren Kindern zu bieten hatte. Ein Zuhause, das sie ihren sich überschlagenden Gedanken, den vielen Worten in ihrem Kopf und ihrer Seele schuldig war." Um endlich ihren eigenen Weg zu gehen.

dpa


Aus: "Mit Sekt und Puschkin im Bett - ,,Ein anderes Leben"" (15.10.2024)
Quelle: https://www.fr.de/kultur/literatur/mit-sekt-und-puschkin-im-bett-ein-anderes-leben-zr-93355829.html


Textaris(txt*bot)

Quote[...] ,,Und, was hast du gewählt?" Diese Frage brannte mir auf der Seele, als ich meinen Vater nach der Europawahl anrief. Die Antwort hatte ich schon befürchtet, doch es schmerzte trotzdem, sie zu hören: ,,Na das, was alle hier gewählt haben – die AfD."

Normalerweise würde ich solche Fragen nicht einfach so stellen, aber dieses ,,hier", von dem mein Vater spricht, ist Ostdeutschland. In seiner Region in Sachsen-Anhalt haben bei der Europawahl 30,5 Prozent der Menschen die AfD gewählt: Das ist fast jede*r Dritte. Die Stimmung ist geprägt von Unsicherheit, Ängsten vor sozialem Abstieg und Misstrauen gegenüber politischen Eliten, die als weit entfernt und unverständlich empfunden werden.

Mein Vater war nie rechts. Eigentlich war er überhaupt nie richtig politisch. Politik war in unserer ganzen Familie kein großes Thema. Es ging selten um das ,,Morgen", sondern immer mehr um das ,,Jetzt" – und vielleicht etwas mehr noch ums ,,Damals". In der Vergangenheit fühlte mein Vater sich schon immer am wohlsten. Die Erinnerung an Zeiten, in denen er sich sicher und wertgeschätzt fühlte, gibt ihm Halt.

Dabei ist er ein offener Mensch, reist gerne und ist begeisterungsfähig. Stundenlang schaut er Dokumentationen über fremde Länder, träumt von Reisen und anderen Kulturen. Oft spricht er davon, Deutschland zu verlassen, um anderswo ein sorgloses Leben zu führen. Vielleicht steckt dahinter der Wunsch, den eigenen Problemen zu entkommen – Problemen, die er sich oft selbst macht.

Als Landwirt fühlt er sich chronisch benachteiligt. Die Landwirtschaft war früher eine tragende Säule der Gesellschaft, heute scheint alles gegen seinen Beruf zu sprechen: die Preise, die Anerkennung, die Leistung. Man macht es nie allen recht. Eigentlich macht man es niemandem recht. Da staut sich Frust auf. Ich verstehe das.

Mein Vater hört gerne Musik. Oft Kuschelrock, Bryan Adams, Melanie C, ABBA. Im Radio, das bei ihm ständig läuft, kommen manchmal Songs von Die Ärzte oder Die Toten Hosen. Er wippt mit, mag die Texte, findet sie witzig, progressiv. Früher schaute er gelegentlich die ,,heute-show", und wenn ich ihm Videos aus Jan Böhmermanns ,,Magazin Royale" schicke, findet er sie gut. Wie kann jemand, der öffentlich-rechtliche Medien gerne verfolgt und zum Beat von Punk-Bands mitwippt, eine Partei wie die AfD wählen? Das verstehe ich nicht.

Vieles an seiner Wahl fühlt sich für mich falsch an. Nichts scheint so richtig zusammenzupassen. Ich würde so gerne verstehen, doch es fällt mir schwer. Vielleicht liegt es daran, dass sich seine wirtschaftliche und soziale Situation so sehr verändert hat, dass kulturelle Vorlieben und politische Überzeugungen plötzlich auseinanderklaffen.

Etwas in meinem Vater hat sich verändert. Die gelegentlichen politischen Gespräche, die wir früher (anscheinend viel zu selten) führten, kommen plötzlich wieder hoch. Er schickt mir Videos und Fotos von Plakaten, auf denen steht ,,Wir gendern nicht!", oder ,,Mami ist Mami und Daddy ist Daddy". Nach den Ereignissen beim CSD in Leipzig im August wurde ihm alles ,,zu bunt". In seinen endlos langen Nachrichten steht, dass ,,fremde Menschen unser Sozialsystem ausnutzen". Sätze wie ,,Deutschland ist und bleibt das Land der Deutschen!" sind fett gedruckt.

Seine Argumente sind schwammig, wirken wirr zusammengewürfelt aus diversen Reden, Artikeln und Videos, die man sich im Dorf hin- und herschickt. Das Internet und soziale Netzwerke verstärken diese Radikalisierung: Algorithmen spülen immer mehr einseitige, oft irreführende Informationen in seine Welt.

Wenn ich versuche, dagegen anzugehen, Argumente anzubringen, sogar versuche zu verstehen, dann blockt er ab. Da ist kein Platz für neue Impulse. Die Nachrichten werden immer länger, die Videos immer radikaler, die Quellen immer unseriöser.

Und ich? Ich habe sowieso keine Ahnung. Dafür bin ich mit meinen 26 Jahren ja noch viel zu jung. Zu jung, um zu verstehen, was da gerade passiert. Zu ,,blauäugig", zu ,,Großstadt". Und sowieso, früher, vor meiner Zeit, hat die Welt noch ganz anders funktioniert. Argumente wie diese machen mich wütend. Wenn ich nur daran denke, brodelt es in mir, ich spüre Trauer und Frust.

Warum aber fühlt er sich so abgehängt? In Gesprächen wird deutlich: Es ist eine Mischung aus Enttäuschung und Entfremdung. Die Politiker, die er früher als ,,Volksvertreter" gesehen hat, scheinen jetzt nur noch ,,eigene Interessen" zu verfolgen. Niemand will mehr etwas Gutes für ,,unser Land" tun. Niemand tut etwas gegen den Krieg. Niemand tut etwas für die Wirtschaft. Nur die AfD scheint das Volk voranzubringen. Nur die AfD sorgt sich um das ,,gute Deutschland". Nur die AfD spricht die einfache Sprache meines Vaters.

Vielleicht ist es auch ein ,,Ich"-Problem. Wäre es nicht einfacher, gar nicht mehr mit ihm über Politik zu sprechen? Und was wäre der Preis dafür? Schweigen? Ignoranz? Vielleicht wäre das der einfache Weg: ihm aus dem Weg gehen, die Diskussionen meiden.

Doch wie lange würde ich das Schweigen aushalten? Kann ich ihn noch lieben, wenn er gegen all das ist, was mir so wichtig ist? Demokratie, Freiheit, Gleichheit für alle – Werte, die für mich unverhandelbar sind. Kann ich jemandem nahe sein, der mit seiner Wahl all das infrage stellt?

,,Warum schmerzt mich seine Wahl so sehr?" Diese Frage beschäftigt mich fast täglich. Es tut weh zu wissen, dass jemand, den ich liebe, sich bewusst für eine Partei entschieden hat, die alles ablehnt, wofür ich stehe. Es ist, als wäre eine unsichtbare Mauer zwischen uns aufgestiegen, die immer größer wird.

Und dann ist da noch diese Wut, die sich mit der Angst vermischt, dass nicht nur mein Vater den Verstand verloren hat, sondern so viele andere Menschen auch. Menschen, die von allen verurteilt werden, und zwar zu Recht. Menschen, mit denen eigentlich niemand etwas zu tun haben will – auch ich nicht. Doch ich muss, er ist ja mein Vater. Oder?

Vielleicht liegt die Lösung in der Suche nach gemeinsamen Themen außerhalb der Politik. Verbindungen, die nicht nur über politische Überzeugungen, sondern über gemeinsame Interessen und Werte funktionieren. In Momenten, in denen es um Menschlichkeit geht, um das, was uns verbindet, könnte ein Brückenschlag gelingen. Vielleicht. Aber kann ich das?

Ich habe oft versucht, mit ihm darüber zu reden, ihm zu erklären, warum ich die AfD für gefährlich halte. Doch es ist, als würden unsere Worte aneinander vorbeirauschen. Er hört zu, nickt, scheint vielleicht sogar zu verstehen. Doch am Ende bleibt er bei seiner Wahl. Unsere Gespräche enden oft in Frustration. ,,Kennst du überhaupt das Parteiprogramm?", frage ich ihn. ,,Das gibt's ja nur noch im Internet. Damit komme ich nicht klar", lautet seine Antwort. Eine Ausrede? Eine Schutzbehauptung?

Es scheint, als habe er Angst, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Angst davor, zu erkennen, dass diese Partei keine echte Alternative bietet. Stattdessen verschließt er die Augen davor, setzt sein Kreuz an der falschen Stelle und schaut weiterhin fragwürdige Videos auf Youtube (wo man übrigens auch das Parteiprogramm der AfD findet). Es ist bitter, dass mein Vater das für richtig hält. Ich schäme mich dafür.

Es tut weh, zu akzeptieren, dass jemand, den man liebt, Entscheidungen trifft, die man nicht versteht. Diese Ohnmacht, nichts ändern zu können, lähmt mich. Vielleicht sollte ich ihm diesen Text schicken. Vielleicht sollte ich aufhören, mir den Kopf darüber zu zerbrechen. Vielleicht liegt die Lösung nicht im ständigen Diskutieren, sondern im Zuhören und Verstehen. Ihm zu zeigen, dass seine Sorgen ernst genommen werden, ohne dabei seine destruktiven politischen Ansichten zu unterstützen. Ein Balanceakt, der viel Geduld und Liebe erfordert. Liebe, die ich vielleicht gar nicht mehr in mir trage. Geduld, die längst erschöpft ist.

Vielleicht wird er irgendwann verstehen. Oder vielleicht wird er es nie tun, und ich werde lernen müssen, damit zu leben. Denn, was bleibt mir anderes übrig?


Aus: "Warum fühlt er sich so abgehängt?" Juliane Baxmann (15.10.2024)
Quelle: https://taz.de/Familienmitglieder-die-AfD-waehlen/!6039557/

QuoteAltunddesillusioniert
15.10.2024, 12:51 Uhr

Hört sich witzigerweise wie Pupertät an, nur dass die Rollen umgekehrt sind.


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Textaris(txt*bot)

Quote[...] In ihrer Studie mit 778 Kindern fanden die Leipziger Wissenschaftler:innen gemeinsam mit Forschenden anderer deutscher Universitäten heraus, dass 80 Prozent der untersuchten Kinder und Jugendlichen, die von Misshandlung berichteten, auch emotionale Misshandlung erfahren hatten. Damit stellte emotionale Misshandlung die häufigste Form von Kindesmisshandlung dar. Außerdem konnten die Wissenschaftler:innen zeigen, dass emotionale Misshandlung von allen Misshandlungsformen die stärksten Auswirkungen auf die Psyche der Kinder und Jugendlichen besaß, auch im Vergleich mit normalerweise wesentlich stärker beachteten Misshandlungsformen wie körperliche Misshandlung. Bei jüngeren Kindern zwischen drei und acht Jahren führte emotionale Misshandlung dabei vor allem zu Verhaltensauffälligkeiten, bei den älteren eher zu Depressionen und Angststörungen. Die Ergebnisse wurden im Journal "Child Maltreatment" veröffentlicht.

Erfasst wurden die Daten der Familien mit aufwendigen Interviews. Zudem werteten die Wissenschaftler:innen Akten von Jugendämtern auf Hinweise zu Misshandlungserfahrungen aus. Die Stichprobe umfasste 306 Kinder und Jugendliche mit sowie 472 Teilnehmer:innen ohne festgestellte Misshandlungserfahrungen. Rekrutiert wurden diese unter anderem über das Einwohnermeldeamt, Kindertagesstätten, Kinder- und Jugendpsychiatrien und Jugendämter der Städte Leipzig und München. ,,Wir sind besonders dankbar für die Unterstützung der Jugendämter, weil wir über diesen Weg Familien für die Studie rekrutieren konnten, die extrem schwierige Erfahrungen gemacht haben und die wir sonst nur schwer für Forschungsprojekte erreichen", sagt Dr. Jan Keil, Erstautor der Studie und Wissenschaftler an der Medizinischen Fakultät.

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass das Risiko für die Ausbildung psychischer Störungen nach Misshandlung bereits in der frühen und mittleren Kindheit erhöht ist, was die Notwendigkeit einer frühen Intervention unterstreicht. ,,Wir zeigen, dass die Form der emotionalen Misshandlung, zu der auch die emotionale Vernachlässigung von Kindern zählt, als eigene Dimension verstanden werden muss. Sowohl in der Forschung als auch in der Behandlung, etwa bei Kinderärzt:innen, sollte ein größerer Fokus darauf gelegt werden", sagt Dr. Franziska Schlensog-Schuster, Erstautorin der Studie, zuletzt Oberärztin am Universitätsklinikum Leipzig und seit Kurzem Chefärztin der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern.

Psychologe Dr. White erklärt mit Blick auf den Alltag von Familien: ,,Wir müssen Eltern dafür sensibilisieren, öfter die Perspektive des Kindes einzunehmen. Noch vor 30 Jahren gab es die landläufige Meinung, Kinder sollen schreien gelassen werden und das, was sie in der Kindheit erleben, vergessen sie sowieso. Zunehmend gibt es aber einen enormen Sinneswandel und ein Verständnis dafür, dass wir uns den Jüngsten auch zuwenden müssen, wenn sie schwierige Gefühle zeigen, zum Beispiel wütend oder traurig sind."

Die Ergebnisse der Studie stammen aus dem AMIS-Projekt ,,Analyzing Pathways from Childhood Maltreatment to Internalizing Symptoms and Disorders in Children and Adolescents". Es zielt darauf ab, Entwicklungspfade von Kindesmisshandlung zu psychiatrischen Symptomen und Störungen zu analysieren.

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Aus: "Von emotionaler Misshandlung zu psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter"
Medizinische Fakultät: Anne Grimm Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig (12.01.2023)
Quelle: https://idw-online.de/de/news807609

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Quote[...] D'aubigny, 22.10.2024

Wir unterhalten uns im Freundeskreis viel über das erlebte in der Kindheit, und wir sind immer überrascht wie ähnlich uns unsere Eltern misshandelt haben. Von Schlägen, anschreien, wegsperren über sogar ähnliche Drohungen "pass auf, sonst kommst du ins Heim", "ich werfe alles was dir gehört auf den Müll" oder das allseits beliebte "hör auf zu weinen, sonst gebe ich dir einen RICHTIGEN Grund zu weinen", oder die Beleidigungen, die einem so als Kind an den Kopf geworfen wurden: "wie kann man eigentlich so dumm sein?" "Du bist mir richtig peinlich" "hast du mal wieder was falsch gemacht" etc.

Um die schlimmsten Strafen und Ausraster meiner Mutter zu umgehen, half es manchmal sich zu verstecken oder die bevorstehende Stimmung frühzeitig zu erahnen. Das hat später dazu geführt, dass die Kommunikation mit meiner Mutter zu einem ewigen Eierschalentanz wurde, bis dann endlich der Kontakt ganz eingestellt wurde, aber dafür musste ich auch erst 40 werden.

Alle Menschen mit diesem Erfahrungen im Freundeskreis leben bewusst kinderfrei.

Viele haben auch den Kontakt mit Ihren Eltern abgebrochen oder stark eingeschränkt.
Genau diese Eltern sind dann aber ganz verwundert warum ihre Kinder sie nicht mehr besuchen.

Die Freundschaften ersetzen jetzt das warme Zuhause welches wir nicht hatten als wir klein waren.


QuoteCharlie1993

Ich hatte eine komplexe PTBS - also das, was auch Soldaten nach dem Krieg bekommen können - wegen meinen Eltern. Psychische und physische Gewalt an der Tagesordnung, wobei ich ehrlich sagen muss, dass die psychische am schlimmsten war, am längsten anhielt und mich am meisten kaputt gemacht hat.
Jahrelange Therapien und Medikamenteneinnahmen folgten.

Jetzt bin ich frei und gesund und habe keinen Kontakt mehr zu ihnen, was die beste Entscheidung meines Lebens war.


QuoteSchmetterlingsflieder

Meine Eltern haben mich manchmal angeschrien.

Na und?

Meine Eltern wurden noch von ihren Eltern geschlagen.
Das heißt, meine Eltern haben es besser gemacht, haben dazu gelernt.
Wir freuen uns schon darauf, gemeinsam Weihnachten zu feiern.


...

Kommentare zu: https://www.zeit.de/familie/2024-10/eltern-schreien-cholerisch-kinder


Textaris(txt*bot)

Quote[...] InVeloVeritas

Toll gemacht Frau Titze! Mein Vater leugnet seit Jahrzehnten, dass er Alkoholiker ist. Und weil er ja kein Problem hat gibt es auch keinen Grund etwas zu ändern. Als Kind war es furchtbar für mich, jetzt bin ich erwachsen, kann es einordnen, schwer ist es trotzdem für Alle. ...


QuoteKleiner Odradek

Mein Vater war Alkoholiker. Bis ins Erwachsenenalter hinein hab ich das nicht kapiert. Das war halt der Papa und der trinkt halt immer sein Bier. Erst im Rückblick hab ich die Situation gecheckt und auch die ständigen Jobwechsel, Scheidung, psychischen Probleme etc. einordnen können. Komplett tabuisiert, das Ganze. ...


QuoteSven Dirks

Genau 1000 trockene Tage sind es heute.

Jahrzehnte lang habe ich als Alkoholiker funktioniert. Job, Familie, Kinder und Krisen gemeistert und dabei jeden Tag spätestens ab dem Abendessen getrunken, bis die Bettschwere da war. 1-2 Flaschen Wein und dazu das Verdauungsschnapserl oder der Winterpunsch mit viel Rum waren die tägliche Dosis. ...


Zu: https://www.derstandard.at/story/3000000241557/verena-titze-ich-stand-im-leben-und-hatte-einen-guten-job-und-ich-war-alkoholikerin

...


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Sie gewissen Mustern in Ihrem Leben einfach nicht entkommen können? Dass Beziehungen – egal ob freundschaftlicher, romantischer oder beruflicher Natur – immer auf ähnliche Art ablaufen? Das hat zum Teil natürlich mit Ihnen selbst zu tun und mit den Erfahrungen, die Sie gemacht haben. Aber nicht nur.

Vielleicht liegt es weniger an Ihnen, sondern an Ihren Vorfahren – sagt Mariel Buqué. Die New Yorker Therapeutin hat sich auf Generationentraumata spezialisiert, das ist jene Art von Traumata, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Wenn Eltern ihre psychischen Belastungen nicht verarbeitet haben, bekommen das ihre Kinder zu spüren – es liegt dann an den nachkommenden Generationen, diesen Kreislauf zu durchbrechen.

"Das kann emotional ziemlich aufwühlend sein", weiß Buqué. Und oft ist dafür professionelle Unterstützung nötig. Sie hat deshalb das "Break the Cycle"-Traumazentrum in New York und New Jersey gegründet, auf ihren Social-Media-Kanälen klärt sie zum Thema auf. Jetzt gibt es ihre Erkenntnisse und praktischen Übungen auch in Buchform. In Break the Cycle liefert sie praktische Übungen und eine umfassende Anleitung für ein Leben frei von toxischen Mustern, die nicht die eigenen sind.

Magdalena Pötsch: Bei Genetik denken die allermeisten wohl an körperliche Merkmale. Aber auch Traumata können vererbt werden. Wie kann man sich das vorstellen?

Mariel Buqué: Das passiert an zwei Schnittstellen. Zum einen geht es um die biologische Ebene. Wir wissen, dass traumatische Erlebnisse unserer Eltern oder Großeltern unsere genetische Kodierung verändern. Das hat in weiterer Folge Einfluss auf die Art und Weise, wie unser Körper Stresshormone produziert. Wir sind dadurch also biologisch bereits anfälliger für Stress und Trauma.
Und dann haben wir noch die psychologische Ebene. Wenn jemand in ein Elternhaus mit viel Dysfunktion, Chaos und Konflikt geboren wird, ist es sehr wahrscheinlich, dass diese biologischen Schwachstellen durch diverse Trigger tatsächlich zu Traumareaktionen führen. Diese Personen sind meist schnell gereizt, chronisch traurig, sie können ihre Gefühle schlechter regulieren, tun sich schwer, gesunde Beziehungen zu führen.

Magdalena Pötsch: Die Familiendynamik spielt also eine entscheidende Rolle bei der Vererbung von Traumata, sagen Sie. Ist es aber auch möglich, dass vorherige Generationen psychisch stark belastet waren, die Nachkommen aber trotzdem kein Trauma vererbt bekommen?

Mariel Buqué: Absolut. Mit einer entsprechenden Erziehung können Traumareaktionen verhindert werden, selbst wenn eine biologische Anfälligkeit da ist. Wenn Eltern ihren Kindern von klein auf einen gesunden Umgang mit Stress beibringen, sie lernen, wie man Resilienz aufbauen kann, und die Eltern gesunde Dynamiken vorleben, statt ihren Stress auf das Kind zu übertragen, fördert das eine gesunde Entwicklung. Und zwar so sehr, dass das Kind trotz biologischer Prädisposition keine Traumasymptome entwickelt, weil es so viel Unterstützung und Fürsorge erfährt.

Magdalena Pötsch: Dabei seien nachkommende Generationen eh schon zu verwöhnt, empfindlich und sensibel, heißt es oft. Können Sie mit dem Vorurteil was anfangen?

Mariel Buqué: Ja, der Vorwurf, dass die junge Generation viel zu sensibel sei, ist weitverbreitet. Aber aus dem Blickwinkel von Generationentraumata frage ich mich, wie es anders sein sollte, wenn sie von ihren Eltern deren Traumata umgehängt bekommen haben. Warum erleben wir eine Generation an Kindern und Jugendlichen mit einer derartigen emotionalen Anfälligkeit, die sich in einer globalen Krise der psychischen Gesundheit manifestiert? Klar, da tragen mehrere Faktoren dazu bei, darunter auch die sozialen Medien. Aber es geht auch zentral darum, dass ihre Nervensysteme durch familiäres Chaos und vorherige Generationen auf chronischen Stress programmiert wurden. Man kann also mit Sicherheit sagen, dass ein Teil der emotionalen Verfassung, die wir bei der jungen Generation beobachten, mit den vererbten Belastungen zusammenhängt, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden und noch immer nicht ausreichend gelöst sind.

Magdalena Pötsch: Liegt es dann an den Kindern, diese zu lösen?

Mariel Buqué: Leider ja. Diese emotionale Arbeit fühlt sich oft wahnsinnig schwer an. Meine Klientinnen und Klienten haben auch manchmal das Gefühl, als würde sich diese Aufarbeitung gar nicht lohnen, weil das Generationentrauma zu groß sei. Gerade am Anfang fühlen sich viele überwältigt davon, wie viel Schmerz und Trauma in ihrer Familiengeschichte stecken. Aber es gibt Wege, um das Schritt für Schritt zu überwinden.

Magdalena Pötsch: Welche?

Mariel Buqué: Der erste Schritt ist einfach einmal, das Ganze anzuerkennen. Anerkennen, dass es hier ein Thema gibt, das Zuwendung braucht. Und auch anerkennen, dass es unfair ist, dass man sich mit Problemen befassen muss, für die man gar nichts kann. Der zweite Schritt ist, dass man eine Entscheidung trifft und sagt: Dieser Kreislauf des Traumas endet bei mir. Und dann kann die Arbeit beginnen, am besten mit professioneller Unterstützung. Denn das kann durchaus schmerzhaft sein.

Magdalena Pötsch: Inwiefern?

Mariel Buqué: Diejenigen, die den Kreislauf durchbrechen, sind häufig das schwarze Schaf oder der Sündenbock in der Familie. Sie brechen aus der Familiendynamik aus und werden oft nicht verstanden, das bringt eine Menge Kummer mit sich.

Magdalena Pötsch: Sie werden also doppelt belastet? Einerseits mit dem Generationentrauma und dann mit der Abgrenzung, weil sie genau das heilen wollen?

Mariel Buqué: Ja. Gleichzeitig gibt es hier ein gewisses Generationsprivileg. Unsere Eltern und Großeltern haben noch nicht so offen über Themen wie Trauma gesprochen, wie wir das tun. Sie hatten auch kaum Möglichkeiten, sich Hilfe zu holen, um eine schwierige Zeit zu überstehen. Wir hingegen können zum Smartphone greifen und dort auf Knopfdruck wertvolle Informationen bekommen und Fachleute kontaktieren, die uns bei der Bewältigung von Traumata helfen. Wir heilen also nicht nur für uns selbst, sondern auch für alle vor uns, die es nicht konnten, weil sie keine Ressourcen hatten oder der Schmerz schlicht zu groß war.

Magdalena Pötsch: Auf sozialen Medien findet man immer mehr Informationen und Aufklärung rund um mentale Gesundheit. Eine gute Entwicklung, finden Sie?

Mariel Buqué: Jein. Ich freue mich, dass wir psychische Gesundheit vermehrt zum Thema machen. Ich glaube, dazu hat auch die Pandemie viel beigetragen. Weil wir alle kollektiv eine Krise durchgestanden haben, konnten wir viel offener darüber sprechen. Aber ich glaube auch, dass wir unterscheiden müssen, was wirklich als Trauma eingestuft werden kann und was vielleicht nur emotionales Unbehagen ist.

Magdalena Pötsch: Werden Begriffe wie Trauma oder Trigger auf sozialen Medien zu leichtfertig verwendet?

Mariel Buqué: Ja, ich wünschte, es gäbe auf Instagram mehr Inhalte von ausgebildeten Fachleuten. Es gibt schließlich auch keine Kardiologie-Coaches, warum gibt es dann so viele Coaches für mentale Gesundheit? Wir müssen gerade bei so einem wichtigen Thema differenzieren und auf unsere Sprache achten, statt mit Begriffen aus der klinischen Praxis um uns zu werfen. Es gibt einen Unterschied zwischen einer Meinungsverschiedenheit und Gaslighting, zwischen ein paar Tagen Niedergeschlagenheit und einer diagnostizierbaren Depression. Gleichzeitig hat sich der Diskurs über mentale Gesundheit auf gewisse Weise aber auch stark verbessert.

Magdalena Pötsch: Auf welche Weise?

Mariel Buqué: Ich beobachte, dass wir uns aktuell in der Wie-Ära der psychischen Gesundheit befinden. Davor waren wir lange in einer Was-Ära, da ging es um Fragen wie: Was ist eine Depression? Was ist ein Trauma? Was ist eine Angststörung? Jetzt hat sich der gesellschaftliche Diskurs weiterentwickelt zu den Wie-Fragen: Wie heile ich? Wie kann ich meine Beziehungen stärken? Wie finde ich zu mir?

Magdalena Pötsch: Welche Auswirkungen hat die Heilung von Traumata auf nachkommende Generationen?

Mariel Buqué: Das ist ein Riesengeschenk, das wir künftigen Generationen machen können. Wir leben in einer zerrissenen Welt, die von kollektivem Trauma und Feindseligkeit geprägt ist. Aber wenn wir in der Lage sind, die überlieferten Wunden zu heilen, wir uns dadurch ausgeglichener fühlen, emotional intelligenter werden und bessere Verbindungen und Beziehungen aufbauen können, ist das das Beste, das wir für unsere Nachkommen tun können.

Magdalena Pötsch: Sind Sie zuversichtlich, dass das gelingt?

Mariel Buqué: Absolut. Schließlich bietet jeder Tag eine Gelegenheit, den familiären Kreislauf zu durchbrechen. Oft sehen Leute die Heilung von Generationentraumata als diese riesengroße Sache, die man über Jahre hinweg perfekt aufarbeiten muss. Und natürlich ist es eine große Sache, aber es geht auch um die vielen kleinen Interaktionen im Alltag, die uns die Möglichkeit geben, nicht so zu handeln, wie wir das in der Vergangenheit getan haben oder wie es Familienmitglieder getan hätten. Das Durchbrechen dieses familiären Traumakreislaufs geschieht in den vielen kleinen Momenten, in denen wir uns entscheiden, es anders zu machen. Und das summiert sich am Ende zu einem großen Ganzen.


Aus: "Therapeutin: "Junge Leute gelten als zu sensibel, dabei leben sie die Traumata ihrer Eltern""
Interview Magdalena Pötsch (19. November 2024)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/3000000242604/junge-leute-gelten-als-zu-sensibel-dabei-leben-sie-die-traumata-ihrer-eltern

QuoteGoogle wie wähle ich pseudonym?

"Wir wissen, dass traumatische Erlebnisse unserer Eltern oder Großeltern unsere genetische Kodierung verändern."

Wie genau "wissen" wir das?

Im Unterschied zu manchen psychologischen Studien (die nicht mehr replizierbar sind und eigentlich aus wissenschaftlicher Sicht nicht mehr verwendet werden sollten - aber man hat halt nichts Besseres und die Ergebnisse klingen zu gut) müsste man Veränderungen in der genetischen Kodierung doch präzise(r) erforschen können.

Kennt sich da jemand aus?


QuoteSirPostALot

"Can the legacy of trauma be passed down the generations?" Martha Henriques (26 March 2019)
Our children and grandchildren are shaped by the genes they inherit from us, but new research is revealing that experiences of hardship or violence can leave their mark too. ... The consequences of passing down the effects of trauma are huge, even if they are subtly altered between generations. It would change the way we view how our lives in the context of our parents' experience, influencing our physiology and even our mental health. ... researchers are convinced that they have found the hallmarks of epigenetic inheritance for several traits – in humans as well as animals. What's more, they think they've found a mechanism for how it works. This time it could be molecules similar to DNA – known as RNA – that are altering how genes function. A recent paper has revealed strong evidence that RNA may play a role in how the effects of trauma can be inherited. Researchers examined how trauma early in life could be passed on by taking mouse pups away from their mothers right after birth. "Our model is quite unique," says Isabelle Mansuy of the University of Zürich and ETH Zürich, who led the research. "It's to mimic dislocated families, or the abuse, neglect and emotional damage that you sometimes see in people." The symptoms these pups showed as they grew up also mimicked the symptoms seen in children who have experienced early trauma. ... At least in some cases, Dias says, healing the effects of trauma in our lifetimes can put a stop to it echoing further down the generations. ...
https://www.bbc.com/future/article/20190326-what-is-epigenetics


Quotehaspe

Epigenetik

Da gab es einerseits schon Studien an Mäusen mit Schmerzreizen, andererseits Auswertungen von menschlichen Daten. Die zeigen ziemlich beeindruckend und eindeutig, dass schlimme Erfahrungen die Epigenetik verändern können, einfach gesagt die Steuerung der Gene ändern. Habe ich im Studium jetzt schon mehrfach gelernt, ist also keine Pseudowissenschaft.


Quotepatricefuchs

Das ist ein großes Problem, dass das in Studien (wahrscheinlich Psychologie oder ähnliches Fach) gelehrt wird, weil es dafür keinerlei Belege gibt. Pseudowissen wird unter akademischer Fahne weitergegeben. Frag mal einEn EpigenetikerIn, wie sie/er zu den Auslegungen dieser Fachrichtung mancher PsychotherapeutInnen steht.


QuoteAch, ich bin, ich weiß nicht, wer

Mäuse, die einen Stromstoß bekommen, während sie Kirschduft riechen, entwickeln Angst vor dem süßen Geruch – und geben diese Angst an ihren Nachwuchs weiter. Auch dieser reagiert mit Furcht auf Kirschen, obwohl er den Stromstößen nie ausgesetzt war.


QuoteA world to win

"Persistent epigenetic differences associated with prenatal exposure to famine in humans"
Keywords: developmental origins, DNA methylation, insulin-like growth factor II, nutrition, periconception
Extensive epidemiologic studies have suggested that adult disease risk is associated with adverse environmental conditions early in development. Although the mechanisms behind these relationships are unclear, an involvement of epigenetic dysregulation has been hypothesized. Here we show that individuals who were prenatally exposed to famine during the Dutch Hunger Winter in 1944–45 had, 6 decades later, less DNA methylation of the imprinted IGF2 gene compared with their unexposed, same-sex siblings. The association was specific for periconceptional exposure, reinforcing that very early mammalian development is a crucial period for establishing and maintaining epigenetic marks. These data are the first to contribute empirical support for the hypothesis that early-life environmental conditions can cause epigenetic changes in humans that persist throughout life.
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC2579375/


QuoteAya mit den schwarzen Haaren

Beide Eltern waren sehr bemüht uns eine schöne Kindheit zu bieten, uns nie zu schlagen usw.
Und ich bin ihnen sehr dankbar dafür. Weil es für sie einen bewussten Akt gefordert hat diesen Schritt zu gehen.
Trotzdem hat ihre Geschichte auch auf uns Kinder gewirkt. Wenn die Mutter Opfer von schwerstem sexuellen Missbrauch in der Kindheit war (natürlich ohne Therapie damals) und der Vater samt Geschwistern vom Vater fast totgeschlagen wurde dann zeichnet das diese Menschen.

Da ist diese Schwere vielen Themen gegenüber, ein großer Teil einer Unbeschwertheit die ich als junger Mensch bei anderen gar nicht verstand hat komplett gefehlt. Man hat sehr oft das Gefühl gehabt auf die Eltern seelisch aufpassen zu müssen.



QuoteBengoni

Was mir aufgefallen ist, dass viele Väter meiner Generation (JG 85) unfähig sind über Gefühle zu sprechen, was ich sehr schade finde.


QuoteAmicus Brief

Millionen von Therapeuten machen ein Geschäftsmodell daraus, Eltern als Sündenböcke aufzubauen.
Wenn die Kinder die Traumata der Eltern leben, wer lebte deren Traumata? Und so hat man immer einen Vorfahren, der schuld ist.


QuoteAltFreak

"Wer lebte deren Traumata"? Ich bin noch die (späte) Generation "Kriegseltern". Vater heimatvertriebener Sudetendeutscher und SS-Mitglied und nie darüber geredet, dessen Vater als Soldat den 1. WK mitgemacht. Da braucht man nicht lange zu suchen....


QuoteTurmsi

Ja, deswegen nennt sich die Gewaltspirale auch Spirale.
Eine Spirale nämlich besteht aus unendlich vielen Windungen um einen festen Punkt herum.
Ein Buchtitel aus dem Werk der Alice Miller ist gleichzeitig auch Erklärung:
"Am Anfang war Erziehung."


QuoteUlrichW

"liegt es an den Kindern, diese zu lösen?"' "LEIDER JA"

Tolle Einstellung - Was wäre die Alternative? Dass man davon abhängig ist, dass die Eltern ihre Traumata lösen? So kann man wenigsten selber was tun, selber für die eigene Psychohygiene tätig werden.
Nur, wenn man selber auch etwas tun kann, geht was weiter. Verlassen wir uns auf andere, dann wird das nix. Das gilt natürlich auch hier.



QuoteMaxito Grantbär

Die jungen Leute gelten als schwach und sensibel?

Das haber die Boomer über uns auch gesagt. Und die Kriegsgenartion zu den Boomer. Usw...
Jeder Generation hat ihr "Binkerl" zu tragen, und gibt es zu Teilen auch weiter.
Meiner Meinung nach sollte viel mehr Generations übergreifend gesprochen und diskutiert werden um die andere Seite zu verstehen.

Junge Menschen lernen kaum noch wie sie Hindernisse, Probleme, Konflikte selbst lösen können, da zwar ihre Eltern alles für sie getan haben was möglich war, aber für "Hilfe zur Selbsthilfe" keine Zeit war.
Da wird man dann ausserhalb der Konfortzone schnell überfordert.


QuoteFoxox

... Nur so viel: unsere eltern/großelterngeneration war natürlich mental angeschlagen. Haben sie es trotzdem vielfach gut gemeistert? Ja! War es schön? Nein! Haben viele ihre angeschlagenheit weitergegeben? Ja!


Quotediesenftube

"Diejenigen, die den Kreislauf durchbrechen, sind häufig das schwarze Schaf oder der Sündenbock in der Familie. Sie brechen aus der Familiendynamik aus und werden oft nicht verstanden, das bringt eine Menge Kummer mit sich."

Das war immer meine große Sorge und im Nachhinein verfluche ich mich immer noch dafür, dass ich es nicht früher geschafft habe den Kontakt zu meiner Mutter abzubrechen. Die Aufarbeitung allein war ein großer Schritt, aber leider nur die halbe Miete. Ich habe viele Jahre gebraucht um zu realisieren, dass manche Beziehungen einfach nicht zu Retten sind und dass in gewissen Dynamiken immer einer den kürzeren zieht. Wenn es um eine Mutter-Kind Dynamik geht, kann das besonders schmerzhaft sein. Vor allem wenn Kinder das Gefühl haben, ihren Eltern ewig etwas schuldig zu sein.


Quoteder schalldämpfer

... wer versteht, warum mana/papa/omi/opa/usw manchmal so seltsam waren... und warum wir (die wir menschen ja primär durch vorbilder/nachahmung lernen) viele dieser verhaltensweisen ungeprüft übernommen haben... seit ich verstehe, hab ich noch mehr mitgefühl und liebe für meine ahnen.


QuoteVald

Traumata welche nicht aufgearbeitet werden schlagen sich in verschiedenen Verhaltenweisen nieder. Allein deshalb wird vieles (selbst ungewollt) weitergegeben.



QuoteFaulitier

Was viele hier falsch verstehen

Es geht dabei nicht um Schuldzuweisungen. Das ist auch ein riesiges Problem, wenn man beginnt, so etwas aufzuarbeiten. Weil man (wenn man grundsätzlich ein gutes Verhältnis hat) erstmal den reflex hat, die eigenen Eltern zu verteidigen. Weil sie ja nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben. Aber es kann nunmal keiner alles perfekt machen.

Meine Oma war der "Hütehund" der Familie, hat alle zusammen gehalten und war teilweise ein bisschen zu fordernd, was körperliche und emotionale Nähe anging. Meine Mutter war davon ihr Leben lang genervt und wollt auf keinen fall ihre Kinder mit emotionaler Erpressung zu irgendwas zwingen. Sie hat mich also machen lassen - und mir hat die Nähe wieder ein bissi gefehlt, weil zu viel Freiheit.


QuoteInVeloVeritas

Kinder sind wie ein Spiegel - die Verhaltensweisen die ich an mir nicht leiden kann erkenne ich tatsächlich bereits an meinen Kindern (1,5 Jahr & 4,5 Jahre) Ich möchte es meinen Kindern Vorleben, es besser machen und das Vorbild sein, dass ich gerne gehabt hätte, aber sch.... es fällt mir sicher nicht leicht. Wie schön wäre es, wenn ich einfach so wäre und nicht ständig hart an mir arbeiten müsste. Aber dafür bin ich an Guten Tagen auch stolz auf mich ;-)


QuoteDer Krokodackel und sein Donaupferd

Meine Mutter ist eine schwere Alkoholikerin die einem das Leben oft nicht leicht gemacht hat bzw. macht.

In der Früh vor 8 Uhr an der Vodkaflasche anzaht als wäre es Wasser gewesen...

Ich habe mir eine zweite Familie gesucht in der Jugendzeit...meine Freunde.
Diese Freundschaften existieren heute noch (bin bald 40).

Trotz gewisser Umstände bin ich zum Glück ein halbwegs glücklicher Mensch.

Wenn ich aber meine Freunde nicht gehabt hätte bzw. heute meine Partnerin, dann wüsste ich nicht was whs alles hätte schief gehen können.

Mein Tipp an Eltern: Saufts ned vor den Kindern und lassts eure eigenen Probleme nicht an den Kindern aus.
Das ist erbärmlich!
Am besten gar nicht saufen!


QuoteE_mobile_user

Vergangenheit gegenwart zukunft

Es wiederholt sich. In der Ukraine und im Nahen Osten werden jetzt in diesem moment sehr viele menschen traumatisiert.
Ich würde gerne möglichst viele von ihrem Leid befreien, aber bin dabei relativ machtlos.
Der Mensch ist zu sehr vielem fähig - gut wie böse.


QuoteDr. Strangelove, MD

Das richtige Traumata (zB Kriegserlebnisse, Hunger, Vergewaltigung bis zu Todesangst und Verletzungen) "vererbt" werden, halte ich für Humbug, das ist halt eine Idee, opportun für den Narrativ, jede Befindlichkeitsstörung wg eines lieblos marinierten Salats bis hin tw zur Lebensuntüchtigkeit durch schlichte Überforderung hätte ebenso wie reale psychiatrische - genetisch oder auch hirnorganisch bdingte - Diagnosen ihre Ursache in diversen "Traumata" und müsse über diese Schiene "geheilt" werden.
Dass sich durch Traumata begründete Verhaltensweisen in Familien fortsetzen und Leid bedingen, dass "gelöst" werden kann, ist klar. Hier geht ja auch zum Glück einiges weiter - ich teile lediglich den "epigenetischen" Ansatz nicht.


QuoteRedridinghood

Aber es gibt Belege. Sogar bei Mäusen:
"Extremer Stress kann vererbt werden" - Ein Attentat, eine Vergewaltigung, Folter, Krieg, Vertreibung: Traumatische Erlebnisse können nicht nur durch ein verändertes Verhalten weitergegeben werden, sondern auch durch Vererbung. Darauf deuten Versuche mit Mäusen hin. Martina Janning (02.05.2022)
https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/krankheiten/stress/stress-vererbung-100.html


Quotewilcofan

Das erinnert mich an ein ebenfalls ziemlich aufschlussreiches Buch für den deutschsprachigen Raum: "Kriegserbe in der Seele" von Udo Baer und Gabriele Frick-Baer. Darin wird beschrieben, wie sich die Kriegserlebnisse der Großeltern unbewusst auf Kinder und Enkel auswirken können. ZB in Verhaltensweisen wie, bloß kein Essen wegwerfen, aus einer Zeit herrührend, als Essen knapp war. Wenn dann die Enkel unerklärlicherweise kein Essen entsorgen können, obwohl genügend davon da ist, kann ein Zusammenhang bestehen. Oder wenn die ältere Generation Unmengen an Konserven herstellt, die sie niemals aufessen können, ohne dass eine Hungersnot bevorstünde. U.v.m. Spannend!

Kriegserlebnisse und die durch sie verursachten Traumata hinterlassen oft über Generationen Spuren in Familien, ohne dass diese konkret benannt werden können. Dieses Buch zeigt, woran Kriegskinder und Kriegsenkel die Folgen der von den Eltern oder Großeltern »vererbten« Traumata bei sich selbst erkennen. Es bietet konkrete Hilfe an, etwa bei scheinbar unbegründeten Ängsten, nicht zu greifenden Einsamkeitsgefühlen, dem quälenden Gefühl der Liebesunfähigkeit oder übermäßigem Leistungsdruck. Eine Fülle von Übungen helfen, den »Schritt beiseite« aus der Weitergabe von Kriegstraumata zu wagen. »Wir knüpfen dort an, wo die anderen Kriegskinder- und Kriegsenkel-Bücher aufhören: bei dem, was hilft. Denn die Kette der Traumaweitergabe muss unterbrochen werden, damit nicht auch noch unsere Kindeskinder unter den Kriegsfolgen leiden müssen.« Udo Baer und Gabriele Frick-Baer
https://www.morawa.at/detail/ISBN-9783407857408/Baer-Udo/Kriegserbe-in-der-Seele


QuoteSupercalifragilistiexpialidocious

Zur Epigenetik - Es gibt wahnsinnig spannende Kohortenstudien in Island, zB was das Risiko einer Alkoholabhängigkeit bei Kindern und Enkeln von Alkoholkranken angeht.


QuoteSwissiana

Vererbungslehre light ...

"Wir wissen, dass traumatische Erlebnisse unserer Eltern oder Großeltern unsere genetische Kodierung verändern. ... Wir sind dadurch also biologisch bereits anfälliger für Stress und Trauma."

Nein, das wissen nicht nicht, dass die Tradierung von (traumatischem) Wissen über den genetischen Code vonstatten geht. Richtig ist: Über (traumatisierende) früh- oder spätkinderlichen Sozialisationen. Dabei sind die gesellschaftlichen Strukturen zu vernachlässigen, die den äußeren Raum für traumatisierend sozialisierende Eltern und Familien hervorbringen.

Eine biologistisch argumentierende Psychologie ist - so ganz nebenbei - politisch reaktionär, da sie individualisierend angelegt ist und die gesellschaftllichen Bedingungen ausblendet.


QuoteSupercalifragilistiexpialidocious

... Meine persönliche Erfahrung als älteste Tochter einer ältesten Tochter aus ärmlichsten Bergbauernverhältnissen: sobald man selbst ein Kind großzieht, fällt einem erst auf, wie sehr bestimmte Verhaltensmuster und Reaktionsmuster verinnerlicht sind, ohne dass man weiß, woher sie kommen. Aber seit ich genauer drauf achte, was bestimmte Kommentare oder Anekdoten meiner Mutter in mir auslösen, hab ich schon einiges herausfiltern können. Ich bin ihr nie böse, sie wusste es einfach nicht besser. Dieses Aufarbeiten ist zwar für mich oft schmerzhaft, aber das ists mir wert für mein Kind.


Quoteparadigm change

Eingehende differenzierte Bearbeitung der Kriegsenkel-Situation:

"Wie Kriegsenkel heute ihr biografisches Erbe erkennen und nutzen"
Aufgewachsen mit traumatisierten Eltern, die als Kinder Krieg und Flucht erlebt haben, ist die Generation der Kriegsenkel in den letzten Jahren verstärkt in den Blick geraten. Doch ist das ganz besondere Erbe, das sie tragen, nur belastend? Durch ihre Familiengeschichte und besondere Sozialisation haben viele von ihnen eine mentale Ausstattung entwickelt, die es ermöglicht, mit heutigen Herausforderungen besser umzugehen. Die systemische Therapeutin Ingrid Meyer-Legrand richtet den Fokus auf die Ressourcen der Kriegsenkel. ... Viele von ihnen wagen es nicht, beruflich oder privat wirklich anzukommen. Doch dieses »Immer-wieder-neu-Anfangen«, diese Ruhe- und Rastlosigkeit lasst sich auch als Kompetenz betrachten, eine besondere Fähigkeit, flexibel mit Veränderungen umzugehen. Mit der von der Autorin speziell entwickelten Biografiearbeit wird es möglich, den roten Faden im eigenen Leben zu erkennen. Die innere Erfahrung, immer noch auf der Flucht zu sein, die bei vielen Kriegsenkeln vorherrscht, kann sich auflösen. ...
https://www.meyer-legrand.eu/die-kraft-der-kriegsenkel/


Quotegrashopper

Die meisten sind ziemlich verpeilt... Das erklärt wohl auch den Zustand der Gesellschaft... Wahlergebnisse, falsche Erwartungen...


Quoteabeze

Toxische Verhaltensweisen und Traumata werden oft von Generation zu Generation weitergegeben werden. Von Uroma zur Oma, von Oma zur Mutter und von der Mutter zum Kind. Was mir aber auch auffällt: Keine Generation ist perfekt, jede Generation macht ihre Fehler, während sie gleichzeitig die Fehler der Eltern nicht mehr machen will (und tw. auch nicht mehr macht).

In ein paar Jahren sind die Kinder der heute 25-40 jährigen erwachsen und dann werden genauso Vorwürfe kommen, was die heutige junge Elterngeneration alles verbockt hat.

Wahrscheinlich auch zurecht, wir alle sind Menschen, gleichzeitig tendieren wir dazu unsere Eltern auf ein Podest zu stellen und sprechen ihnen die Menschlichkeit ein wenig ab.


QuoteF.K.V.I.

Archive und Akten

Wir dürfen einigen Menschen dankbar sein, die diese grausamen Taten verfolgt, dokumentiert und archiviert haben.

Vielleicht helfen dem einen oder der anderen folgende Links.

Hier kann man mit Namen und Geburtsdatum anfragen:

1. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes
http://www.doew.at

2. Österreichisches Staatsarchiv, Bestand Gauakten (adrpost@oesta.gv.at)

3. Bundesarchiv Berlin, Bestand NSDAP-Zentralkartei (berlin@bundesarchiv.de)

4. Zuständiges Landesarchiv, Bestände NS-Registrierung und Akten des Volksgerichts (Gericht gegen Täter nach 1945 in Wien, Linz, Graz, Innsbruck, Salzburg und Klagenfurt); im Wiener Stadt- und Landesarchiv liegen ebenso Gauakten


QuoteOawaschln

Kann das Wort Traumata schon nimmer hören.


QuoteForen-Moderation

Ist Ihr gutes Recht, den Artikel dann nicht zu lesen. Niemand zwingt Sie dazu!


Quotecampano

Das finde ich auch bedenklich: dass jeder x-beliebige mentalcoach (die ausbildungen dazu werden einem - bei nötigem kleingeld - ja fast nachgeschmissen) in den sozialen medien seine weisheiten verbreitet.


QuoteDon Ravioli Calzone

Es darf auch jeder beliebige Keyboard Warrior hier im Standard Forum seine Meinungen und Weisheiten verbreiten ;-)


QuoteKaHawara

... Jetzt machen wir schon unsere Vorfahren für unsere Unzulänglichkeiten verantwortlich^^
Bin mit Ende 20 noch bei der jüngeren Partie dabei, aber dieses dauernde Gerede von Traumata und Therapie ist echt schon mühsam. Wennst nicht saufst, deine Frau/Kinder nicht schlägst usw. ist man unterm Strich eh gesellschaftlich verwendungsfähig. Und das hat sich in den vergangenen Jahrzehnten glücklicherweise stetig gebessert.


QuoteDon Ravioli Calzone

Es geht aber nicht um die "gesellschaftliche Verwendungsfähigkeit", sondern um deine ganz persönliche seelische Gesundheit. Es steht jedem frei, sich aktiv darum zu kümmern. So wie es jedem frei steht, regelmäßig Sport zu betreiben um seinen Körper fit zu halten ...


QuoteFaulitier

Nur weil man gesellschaftlich verwendungsfähig ist, gehts einem noch lang nicht gut. Ich hab während 5 Jahren Depression und Angststörung trotzdem weiter gearbeitet. Es hat mich so ziemlich alle Energie gekostet, die ich damals hatte. Und gut gings mir definitiv nicht.


Quotemijohe

Wissenschaft, adieu! Scharlatanerie, hurra! Ein gutes Geschäft...


QuoteRechts so legitim wie links

Dass Traumata den genetischen Code verändern ist nicht bewiesen, auch wenn es in diesem Artikel als Tatsache hingestellt wird.


QuoteGato con Botas

Da liegen Sie falsch. Der Zweig der Biologie, der sich damit beschäftigt nennt sich Epigenetik und es konnte z.B. nachgewiesen werden, dass sich Hungersnöte auf das Erbgut auswirken und dieses verändern.


QuoteLogspace

"How trauma's effects can pass from generation to generation" Dom Byrne (26 April 2023)
Neuroepigenetics researcher Isabelle Mansuy investigates how life life experiences and environmental factors can shape not only us, but also our descendants. ... Isabelle Mansuy's neuroepigenetics lab researches the impact of life experiences and environmental factors on mental health, exploring if these impacts can be passed on to descendants. Epigenetic inheritance, she says, is not confined to diets and exposure of factors such as like endocrine disruptors or environmental pollutants. All of these can modify our body and have effects in our offspring. But Mansuy, who is based at the University of Zurich and Swiss Federal Institute of Technology in Zurich, Switzerland, also asks if trauma modifies not only our brains, but also our reproductive systems. ...
https://www.nature.com/articles/d41586-023-01433-y


Article: Open access, Published: 01 November 2024
Severe traumatic injury is associated with profound changes in DNA methylation
https://www.nature.com/articles/s41525-024-00438-4


QuoteZenZen1

Schwieriges Thema

Was für mich zu kurz kommt, ist das Auseinanderhalten von transgenerationalem und individuell erlittenem Trauma. Auch wenn es oft ineinanderzufließen vermag. In dem Zusammenhang auch die unscharfe Verwendung des Traumabegriffs: Traumareaktionen sind nicht gleich Traumata. "Wir sind eh alle traumatisiert" lässt keine Worte übrig für jemanden, der es tatsächlich ist.


Quotekilling joke

Meine Großväter haben gelernt wie man gewissenlos plündert und mordet, auf Widerspruch mit Gewalt zu reagieren und seine Gefühle in Alkohol [zu ertränken]. Eine Generation in der man die Ehrlichen zur Lüge gezwungen hat und die Aufrichtigen umgebracht hat, gab uns so einiges mit.


QuoteNonogramm

Nach jahrelanger intensiver Arbeit an/mit mir kann ich endlich den transgenerationalen Schmerz als Begleiter akzeptieren. Es tut in mir nie weniger weh, aber allein das Bewusstsein zu haben, woher dieser tiefsitzende Schmerz kommt, hilft. Drei bis vier Generationen zurückzuforschen ist harte Arbeit, bringt auch Konflikte mit den noch Lebenden mit sich, aber lohnt sich doch, um Ruhe und Kraft zu finden.


Quoteholc

Natürlich können Ängste / Traumata über Generationen weitergegeben werden. Wie sehr das passiert und zu wissen, wie relevant dieser Umstand im Vergleich zu neu erworbenen Traumata / Belastungen wirklich ist,

ist die eigentlich relevante Frage (betrachtet man die Gesellschaft oder eine einzelne Person). Für jeden guten Therapeut:in ist es aber völlig normal die Kindheit (von Geburt an), die Eltern / GroßEltern (deren Erziehungsstile und mögliche Belastungen) mitzudenken und mitzubearbeiten. Das ist jetzt nix Neues. Selbst Freud sprach schon von "Gefühlserbschaft". Und der stand am Beginn. Also bitte ..

Nicht falsch verstehen: Ich finde die Beschäftigung mit dem Thema super interessant und wichtig. Aber überstrapazieren sollte man das Thema auch nicht. Im Interview klingt es, als ob alle Belastungen von der Generation davor kommen - und das heißt das Kind mit dem Bade auszuschütten ....

Aber klar, klingt knackiger beim Buchverkauf ...


Quoteparadigm change

Die Traumapsychologie - die ja erst in den USA nach dem Vietnamkrieg, in Europa jahrzehnte später in Gang kam - bringt insofern grundlegend neues, als sie sowohl die individuelle, wie auch systemische Perspektive überschreitet, und Arbeit an der

Kultur, an der Politik, am menschlichen Selbstverständnis darstellt und einerseits das Leiden vollständig zu kontextualisieren versucht - und damit enorm entlastend wirken kann - sondern vor allem auch das verkürzte und verkürzende Ursache-Wirkung-Denken überschreitet, denn was zählt, ist nicht das traumatisierende Ereignis, sondern die je individuelle einzigartige Reaktion darauf und DEREN Verständnis. Das definiert gewissermaßen auch das Subjekt neu, stellt ein neues Menschen- und Welt-Verständnis her - allerdings liegt das, zugegeben, weit jenerseits der populären Diskurse.


Quoteholc

Sorry, aber das ist so nicht richtig. Traumapsychologie gibt es nicht erst seit Vietnam. Bereits nach dem 1. Weltkrieg war das Thema - gerade in Europa - groß und Behandlungsmethoden wurden entwickelt und angewandt! Freud hat sich dem Thema schon davor gewidmet und Bion beispielsweise hat lange vor Vietnam schon in Gruppen am Thema gearbeitet.


QuoteGutGut

Das kann ja alles relevant sein ich halte es aber auch vor allem für fallspezifisch. Medial klingt es immer als sei das bei jedem ein problem und jeder steckt in einem negativen kreislauf.


QuoteSteingrab

Jeder nicht, aber schon sehr viele. Was glauben Sie, warum die meisten Patienten erst ab 50 beim Psychologen sitzen, weil sie ihr Leben überrollt? Richtig, weil man bis dahin seine Dysfunktionalitäten fälschlicherweise als liebevolle Charaktereigenschaften betrachtet hat.


QuoteOrangeHair

Es gibt hierzu einen hervorragenden Podcast, den ich gerne empfehle:
Sven Rohde - Gefühlserben

Und ein paar Bücher:
Kriegsenkel - Sabine Bode
Die geprügelte Generation - Ingrid Müller-Münch


QuotePPT74

"Harte Zeiten schaffen starke Menschen. Starke Menschen schaffen gute Zeiten. Gute Zeiten schaffen schwache Menschen"

Das bewahrheitet sich immer mehr, davon abgesehen das es auch ein lukrativer Wirtschaftszweig geworden ist vermeintliche Probleme zu analysieren.


QuoteDiego_Armando

Voll der erste Weltkrieg hat erst den weg ins Paradies geebnet.


Quoteaber geh ;-)

In harten Zeiten, bleibt einem nichts als zu funktionieren.

In guten Zeiten kann man mal durchschnaufen und kann analysieren, was die harten Zeiten angerichtet haben.
Kann ich von meinen 2 vorherigen Generationen definitiv so berichten. Und bin überzeugt, dass ich damit nicht alleine bin. Aber klar. Reißt euch zusammen, hat immer schon gut funktioniert!


QuoteGute Nacht sagt der Fuchs

Transgenerationale Traumatisierung ist kein Hype, sondern ein Forschungszweig zu dem schon seit Jahrzehnten geforscht wird und es auch jede Menge Literatur gibt. Da geht es von der unterschwelligen Übertragung von Stimmungen und Einstellungen der Eltern auf Kinder, über Cortisollevel im Mutterbauch bis hin zur Epigenetik.
Sehr spannendes Thema... Nach zwei Weltkriegen sind wir als Österreicher da insgesamt schon ziemlich betroffen und das hallt bis heute nach.


QuoteGuelim

"Wenn wir unseren Kindern alle Steine aus dem Weg räumen, verlernen sie später, die Hindernisse selbst zu überwinden."
Helmut Glaßl (*1950)

Insofern, JA, wir Eltern haben diesbezüglich Mist gebaut.


QuoteFrihet før Østerrike

Diese Aussage halte ich für eine Themenverfehlung

QuoteWARUM_87

Es gibt dazu immer mehr Forschung und Literatur, sehr gut. Danke, darüber auch hier im Standard zu lesen.

Auch wenn es viele Poster hier im Forum negieren und es besser wissen - oder einfach nicht wahrhaben wollen? Interessant und erschreckend, wie einfach sie sich die Welt zurecht legen und es wieder mal wegschieben. So zeigt sich darin aber genau jenes Muster weswegen viele Themen unaufgelöst an die nächste Generation weiter gegeben wird. Verstehen Wollen, wäre mal ein positiver Anfang von Veränderung.


QuoteFan_Tom

,,Das Familienleben ist ein Eingriff in das Privatleben".

Karl Kraus


Quotelove me or hate me

"Junge Leute gelten als zu sensibel, dabei leben sie die Traumata ihrer Eltern"

Gute zeiten erschaffen schwache menschen.
Schwache menschen erschaffen schwere zeiten.

Wir waren noch nie so wohlhabend und konnten so entspannt im überfluss durchs leben gehen wie die letzten 50 jahre.


QuoteSimya

Sie nennen es schwach. Ich nenne es bereit, die eigenen Probleme anzuerkennen. Und diese Menschen sind oft auch eher bereit, auf die Probleme anderer Menschen Rücksicht zu nehmen. Härte löst keine Probleme. Sie staut sie nur auf und entlädt sie irgendwann. Oft mit Kollateralschäden.


QuoteFrihet før Østerrike

Einfach nur eine fürchterliche Platitüde. Nicht jeder ist wohlhabend. Der Reichtum ist nicht so gerecht verteilt.


QuoteEumelinchen

Wenn man sich mal anschaut, wie viele "Traumata" frühere Generationen von ihren Eltern mitbekommen haben - Kriege, Massenmord im Nationalsozialismus, Armut, Hunger etc., dann wird die Frage nicht beantwortet, warum ausgerechnet jetzt die jüngeren Generationen so "sensibel" sind. ...


Quotewilcofan

Die jüngeren Generationen sind so "sensibel", weil die älteren ihren eigenen Schmerz unbewusst 1 : 1 an sie weitergegeben haben.


Quoteueberdentellerrand

also es gab früher sehr sehr viele Menschen die schwer traumatisiert waren. Die haben sich auch dementsprechend verhalten und waren auffällig. Es hat halt nur niemand gewusst warum bzw. auch gar nicht hinterfragt.


QuoteFrihet før Østerrike

Schon die 68er-Bewegung war eine Reaktion auf die Kriegstraumata.
Nur die waren richtig empört, dass die Eltern mit ihrer Vergangenheit so umgehen.


Quotedubitans

"Junge Leute gelten als zu sensibel, dabei leben sie die Traumata ihrer Eltern"

Waren etwa die jungen Boomer so sensibel? Deren Eltern hatten die WK2-Traumata erlitten; viele litten an PTSD, wofür es diesen Begriff noch nicht gab.


QuoteWARUM_87

Es geht wie man mittlerweile weiß über Generationen! Lesen Sie zu diesem Thema, es gibt genug Literatur. Dann verstehen Sie. Vielleicht.


Quotelotus04

genau diese Traumata und die von Ihnen angenommene Boomer-Robustheit/Unsensibilität führt eben zur Weitergabe an folgende Generationen. Diese haben jetzt die Ressourcen, sich daum zu kümmern. Das ist harte Arbeit.

So schade, dass Sensibilität als negativ gesehen wird.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Aufgewachsen mit einem berühmten, oft abwesenden Vater und einer exzentrischen wie "krankhaft rücksichtslosen" Mutter ... Über Frank Zappas kreatives Schaffen erfährt man hier wenig. Es geht schließlich ums Private: Ob es auf die Entwicklung eines Kindes positive Auswirkungen hat, wenn der Vater oft in fernen Ländern tourt, Wet-T-Shirt-Wettbewerbe liebt, zu Hause keine Unterwäsche trägt und seine Affären mit nach Hause nimmt, davon kann man sich mit der Lektüre selbst ein Bild machen. ...

Berührend sind die Kapitel über das langsame Sterben des krebskranken Vaters. Auch hier zeichnet Moon Unit ein durchwegs eigenwilliges Bild der Mutter, die vermutet, dass "Funkwellen" Frank krank gemacht haben, und die eine Frau engagiert, die den Teufel aus den Körperzellen des Künstlers entfernen soll. Nach dem Tod des Musikgenies entbrennt ein wilder Rechtsstreit um den Nachlass und das Erbe. Damit nicht genug, geht Moon Unit durch eine Scheidung und muss um das Überleben ihres Kindes bangen.

Mit "Earth To Moon" hat die 56-Jährige ihr traumatisierendes Leben aufgearbeitet. "Doch sie erzählt auch von sich selbst als junger Frau, die es schafft aus dem Schatten und dieser Vergangenheit herauszutreten und davon zu zehren, statt davon verzehrt zu werden", wirbt der Verlag. Das kann man so stehen lassen.

...



Aus: "Das traumatische Leben der Moon Unit Zappa in Buchform" Wolfgang Hauptmann (22.08.2024)
Quelle: https://k.at/news/das-traumatische-leben-der-moon-unit-zappa-in-buchform/402938869

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Quote[...] Während Frank Zappa die Rockszene aufmischte, brach seine Familie auseinander. Die älteste Tochter Moon hat diesen Zerfall in ihren Memoiren beschrieben: aufrichtig, genau, traurig.

Einmal schob sie einen Brief unter seine Studiotür. «Daddy, hi! Ich bin 13 Jahre alt. Mein Name ist Moon. Bis jetzt habe ich versucht, dir bei deinen Aufnahmen nicht im Weg zu sein. Jetzt aber bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich gerne auf deinem neuen Album mitsingen würde.» Anders kam Moon Unit Zappa nicht an ihren Vater heran. Obwohl sie ihn über alles liebte – für seinen Humor, sein Talent und seine Intelligenz. Obwohl sie ihm in vielem glich, was die Hartnäckigkeit betraf oder das Bedürfnis nach Autonomie.

Eigentlich arbeitete der Vater ganz in ihrer Nähe, im Keller des Privathauses im von zahlreichen Musikern bevölkerten Laurel Canyon bei Los Angeles. Trotzdem traf Moon kaum auf Frank. Also setzte sie ihren Brief auf. Wenig später, es war in einer Nacht im Sommer 1982 mitten in der Schulzeit, weckte der Vater sie auf und sagte: «Ich möchte einen Song mit dir machen.»

Über den Song und den Brief schreibt Moon Unit Zappa in ihren Memoiren, die gerade veröffentlicht wurden. Sie beschreiben den Niedergang einer dysfunktionalen Familie mit einem abwesenden Vater und einer unglücklichen Mutter – und drei jüngeren Geschwistern, denen der Vater ebenso skurrile Namen gegeben hatte wie bereits Moon Unit: Der Gitarrist Dweezil brachte später das väterliche Repertoire als «Zappa Plays Zappa» auf die Bühne – mit Können zwar, aber ohne jedes Charisma. Ahmet arbeitet als Filmproduzent und Diva als Schriftstellerin.

Nur Moon selber scheint nichts gelungen zu sein, wie sie selber schreibt. Sie las esoterische Literatur, versuchte sich erfolglos als Schauspielerin, schloss sich einer Sekte an, verliebte sich, bekam ein Kind, wurde verlassen, lebte als alleinerziehende Mutter, arbeitete unter vielem anderem als Fernsehmoderatorin. Heute, mit 56 Jahren, gibt sie Yogastunden.

«Earth to Moon» heisst das Buch nach der Art, wie die Mutter Gail Zappa ihre Tochter anzusprechen pflegte. Die Memoiren geben in den USA zu reden. Schon weil die Autorin mit Eleganz und Intelligenz schreibt und ihre Urteile gleichermassen kritisch und selbstkritisch fällt. Eindrücklich beschreibt sie ihre Sehnsucht nach einem herkömmlichen Familienleben, wo die Kinder zusammen mit ihren Eltern leben, ohne diesen beim lauten Sex zuhören zu müssen. Es störte die Tochter, dass ihre Familie ihr Haus stets mit halbnackten Unbekannten teilen musste, die jeden Tag ohne Einladung zu Besuch kamen.

Das Buch liest sich umso eindringlicher, als es die Chronik einer Familie formuliert, die zunächst auf Liebe und geteilten, nonkonformistischen Überzeugungen gründete. Später aber kamen sich die Familienmitglieder dermassen abhanden, dass sie ihre bitteren Differenzen zuletzt über Anwälte regelten. Der Vater Frank ist seit 1993 tot, die Mutter starb 2015 an Lungenkrebs. Die vier Kinder aber haben bis heute nicht wieder zueinandergefunden.

Sein offizielles Image machte Frank Zappa zum humorvollen, kämpferischen und vielbeschäftigten Vater, der mit seiner Frau eine offene Ehe führte, die Kinder in antiautoritärer Toleranz aufwachsen liess und sich Tag und Nacht mit seiner Musik beschäftigte, um diese von Helsinki bis Wetzikon aufzuführen.

«Absolutely Free» hatte Frank Zappa sein zweites Album genannt. Es erschien 1968 und enthielt die Lebenslüge schon im Titel. Denn frei fühlte sich nur der Patriarch selbst. Die Familie konnte Frank selten für sich in Anspruch nehmen. Gail musste ihn mit zahllosen Groupies teilen, auf die sich Frank während der Tourneen einliess. Und den drei jüngeren Geschwistern erging es wie Moon: Sie wuchsen weitgehend ohne Vater auf.

Frank Zappa mochte seine Kinder lieben, er sah sie aber kaum. Von seiner Frau wollte er sich zweimal scheiden lassen, er blieb aber aus Bequemlichkeit bei ihr und profitierte von ihrer hoffnungslosen Hingabe. Er hatte nie Autofahren gelernt, deshalb liess er sich von Gail auch herumchauffieren. Ausserdem kümmerte sie sich um das Management. Meistens durchlitt sie seine Affären mit der Ergebenheit einer Hilflosen. Dann wieder tobte sie gegen ihre Rivalinnen an. Keines von beidem nützte, beides war ihm egal. «I like to get laid», sagte er in einem Interview, er werde gerne flachgelegt.

Für das Leid, das ihr der Ehemann bereitete, rächte sich Gail Zappa mit boshafter Kälte an ihren Kindern. An der ältesten Tochter zuallererst, wohl weil sie ihrem Vater am stärksten glich. Gail sei eine «tief verunsicherte, sehr unglückliche Frau» gewiesen, so beschrieb sie ein Freund der Familie. Und weil ihr Selbstwertgefühl so gering war und ihre Liebe zu ihrem Mann so aussichtslos, strafte sie Moon mit Liebesentzug, was diese noch tiefer verletzte als die Abwesenheiten des Vaters.

Frank Zappa war ein Zyniker, das gab er selber zu. «Ich habe eine Familie, aber keine Freunde», sagte er auch. Das bekamen seine unzähligen Mitmusiker zu spüren, alles brillante Instrumentalisten. Er behandelte sie als Angestellte, denen er selbst auf Tournee qualvoll lange Übungsstunden und ein Konzertrepertoire von bis zu 80 hochkomplexen Stücken abverlangte. Zugleich verhöhnte er sie als «spielende Affen». Am liebsten arbeitete er alleine in seinem Keller am Synclavier, einer frühen Form des Musikcomputers. Dass die darauf komponierte Musik oft leblos klang und mechanisch, scheint er nicht realisiert zu haben.

Zappas Biograf Barry Miles erklärt sich die Gefühlskälte dieses doch so charmant wirkenden, humorvollen Mannes mit dem Trauma seiner Kindheit. Zappas Vater hatte als Chemiker für den amerikanischen Geheimdienst gearbeitet und musste mit seiner Familie dauernd umziehen. So wuchs sein ältester Sohn Frank in permanenter Einsamkeit auf. Die sizilianisch-griechisch-arabische Herkunft des Vaters, auch er ein Patriarch, mochte den Machismo seines Sohnes verstärkt haben.

Aus dieser Einsamkeit heraus fand Frank zur Musik als einziger Freundin, die immer zu ihm halten würde. Der autodidaktische Perfektionist hatte sich das Lesen und Schreiben von Noten bis hin zu Orchesterpartituren, aber auch Harmonielehre und Kontrapunkt ohne Hilfe in der öffentlichen Bibliothek beigebracht. Auch seine gitarristische Brillanz erarbeitete er sich selbst. Klassische Musik zu schreiben und Rock'n'Roll zu spielen, seien wie Auto fahren und ein Sandwich essen, sagte er einmal: zwei verschiedene Dinge, die man gleichzeitig tun könne.

Der Kettenraucher und Koffeinsüchtige verachtete alle illegalen Drogen und verbot sie seinen Musikern unter Entlassungsdrohung. Seine Lieblingsdroge war Sex. Er war ein Erotomane, der die Sexualität als Lebenselixier genoss, feierte und in seinem Gesamtwerk inszenierte. Wie kein anderer besang er den sexuellen Akt in all seinen Phantasien, Kostümierungen, Handlungen, Ritualen und Lächerlichkeiten. «Er zwang den Moralisten ihre Verdrängungen auf», schreibt der britische Kulturtheoretiker Ben Watson in seiner Werkbiografie und nennt Zappa einen «unaufhörlichen Vertreter des Unbewussten». Wozu natürlich passt, dass Zappa von der Psychoanalyse nicht das Geringste hielt.

Nach Frank Zappas Tod führte Gail die Geschäfte weiter. Kurz vor ihrem eigenen Tod musste sie den Kindern ein Defizit von sechs Millionen Dollar bekanntgeben. Sie verlangte von ihnen, auf das von Frank vorgesehene Erbe zu verzichten. Zudem wollte sie Zappas immenses, auf über 120 Alben berechnetes Gesamtwerk der Plattenfirma Universal verkaufen. Moon und Dweezil weigerten sich, Gails Forderung zu unterschreiben. Nach dem Tod der Mutter erfuhren sie, dass diese ihnen aus später Rache und gegen den Willen ihres Mannes deutlich weniger Erbe vermacht hatte als den anderen Kindern.

Nun leben Enthüllungen über berühmte Menschen vom Voyeurismus jener, die alles über Picasso, den Frauenverbraucher, über Miles Davis, den gewaltbereiten Choleriker, und über Nicole Kidmans Schönheitsoperationen wissen möchten. Ganz so, als müssten sie ihre Verehrung des Künstlers mit der Enttäuschung über den Menschen korrigieren. Aber genau diesen Gefallen gestattet Moon Zappa der Leserschaft nicht. «Earth to Moon» beschreibt psychologisch beklemmend und stilistisch gekonnt, welche Wunden Familienmitglieder einander schlagen, obwohl sie einander zu lieben glauben.

Auf ihre Weise hat Moon Zappa den Respekt ihres Vaters doch noch bekommen. Als er sie in jener Nacht weckte und ins Kellerstudio holte, bat er sie, den Slang ihrer Mitschülerinnen zu parodieren, mit dem sie ihn so zum Lachen gebracht hatte. Der Song mit ihren Improvisationen erschien 1982 unter dem Namen «Valley Girl» als Single. Zur Überraschung aller wurde er erst von den lokalen und dann von den landesweiten Radiosendern gespielt und löste sogar einen Trend aus. Vor allem aber wurde «Valley Girl» mit Moon Zappa zu Zappas einzigem Hit in Amerika.


Aus: "Seine Lieblingsdroge war Sex, und er hatte ständig halbnackte Gäste im Haus: Frank Zappas Tochter schreibt über den abwesenden Vater und ihre chaotische Familie" (Jean-Martin Büttner 17.09.2024)
Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/moon-zappa-frank-zappas-dysfunktionale-familie-ld.1848583


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Was ist in Familien los, in denen nicht mehr miteinander gesprochen wird? ...


[...] Die Psychotherapeutin Claudia Haarmann, Jahrgang 1951, hat mehrere Bücher über Verstummen und Kontaktabbrüche in Familien veröffentlicht. Ihr jüngstes Buch "Der Schmerz verlassener Eltern" erschien vor Kurzem im Kösel-Verlag.

Sven Stillich: Was ist los in Familien, in denen nicht einmal mehr nach dem Befinden gefragt wird?

Claudia Haarmann: In solchen Familien gibt es eine unausgesprochene Schweigevereinbarung: Da sind Themen, über die reden wir nicht. Wenn eine Tochter oder ein Sohn aber zu Hause anruft und die Mutter ans Telefon geht, wissen die Kinder dennoch sofort, wie es ihr geht. Sie spüren, ob sie schlecht drauf ist, heiter gestimmt ...

Sven Stillich: ... oder vorwurfsvoll, weil die Kinder schon wieder zwei Wochen nicht angerufen haben.

Claudia Haarmann: Genau. Die dumpfe Atmosphäre in schweigenden Familien ist greifbar für alle. Alle wissen um die riesige Beule auf dem Teppich, unter den sie so vieles gekehrt haben.

Sven Stillich: Darunter sammelt sich das Unsagbare. Dass der Onkel rassistische Sprüche macht oder die Tochter arbeitslos ist, der Sohn zu viel Alkohol trinkt, der Vater oft aggressiv ist.

Claudia Haarmann: Dass das nicht benannt werden darf, ist oft ein Versuch, die Familie zu schützen. Wir möchten doch alle gern aus Familien kommen, in denen alles in Ordnung ist – also scheint es hilfreich zu sein, Themen auszugrenzen, die dazu nicht passen, die Schmerzen bereiten, die man nicht geklärt hat. Bis irgendwann keiner mit keinem mehr in Kontakt ist.

Sven Stillich: Aber die Konflikte sind doch dadurch nicht verschwunden. In dem Song Baba singt der Rapper Apsilon über seinen Vater. Darin lautet eine Zeile: "Ich fühl sehr viel, wenn ich schweig; ich fühl wenig, wenn ich rede."

Claudia Haarmann: Das ist ein eindrückliches Lied. In den Köpfen, da kreisen die Gedanken ja weiter: Warum erreiche ich dich nicht, ich wünschte, du würdest endlich mit mir reden – ich fühle sehr viel, wenn ich schweige. Und wenn ich mal mit dir rede, erfahre ich nur, wie dein Urlaub war – ich fühle wenig, wenn ich rede.

Sven Stillich: Welchen Part haben bei familiärer Sprachlosigkeit die Älteren, welchen die Jüngeren?

Claudia Haarmann: Vor allem die Alten und die Älteren – die Kriegs- und die Wirtschaftswunderkinder – neigen dazu, Gefühle zur Seite zu schieben. Sie haben schlimme Dinge erlebt, die sie in sich verschließen. Sie können nicht über sich sprechen. Und sie wissen gar nicht, wie es ihnen wirklich geht. Wenn ich in meinen Beratungen nach Gefühlen frage, höre ich häufig: "Das kann ich gar nicht sagen." Diese Menschen haben keinen Zugang zu dem, was wirklich in ihnen vorgeht. Sie haben nur gelernt, zu schweigen und alles mit sich selbst auszumachen. Sie funktionieren und reden nicht.

Sven Stillich: Wie setzt sich das in den nachfolgenden Generationen fort?

Claudia Haarmann: Ich kenne viele Männer in ihren Fünfzigern, die sagen: "Ich habe mit meinem Vater nie über etwas Persönliches, mich Betreffendes geredet." Sie setzen das aber selbst so fort – und werden dann von ihren Kindern auf das Schweigen angesprochen. Es lohnt sich dann, zu forschen: Welche Muster habe ich gelernt? Habe ich erfahren, dass meine Bedürfnisse wertvoll sind? Darf ich ansprechen, was mich beschäftigt? Oder habe ich gelernt: Wenn ich das sage, mache ich meinen Eltern Kummer? In dem Lied, das Sie erwähnten, heißt es: "Mein Baba schleppt viel rum bei Nacht." Wenn ich als Sohn mit meinen Fragen und Klagen auch noch ankomme, belastet das meinen Vater noch mehr? Diesen Konflikt kennen viele erwachsene Kinder.

Sven Stillich: Die mittlere Generation ist also oft geprägt durch ein Schweigen, unter dem sie selbst gelitten hat – dennoch verhält sie sich ähnlich, ohne dass sie das eigentlich will?

Claudia Haarmann: Niemand will das. Unsere größte Sehnsucht, alles, was uns glücklich macht, ist Verbindung, Kontakt, Nähe. Die Jüngeren bewegen sich in diesen dumpfen Familienatmosphären oft wie mit angezogener Handbremse – dabei würden sie so gerne reden.

Sven Stillich: Was ist bei den Jüngeren anders?

Claudia Haarmann: Die jüngeren Erwachsenen zwischen 20 und 40 – die trauen sich, zu fühlen. Die wagen es, Dinge anzusprechen in ihrem Kreis, in Partnerschaften. Da wird über Intimes gesprochen und sich ausgetauscht. Sie haben oft auch einiges über Psychologie gelernt. Und fordern nun etwas von den Alten und Älteren, was die gar nicht können, nie konnten. Da stoßen Generationen aufeinander, die nicht wissen, wie sie eine Brücke bauen können.

Sven Stillich: Welche Rolle spielt Angst?

Claudia Haarmann: Die größte, auf allen Seiten. Die Kinder würden gerne fragen: Warum bist du so verschlossen? Manchmal habe ich das Gefühl, du liebst mich nicht – ist das so? Aber sie haben Angst davor. Weil sie sich fragen: Darf ich das überhaupt? Kann ich das? Oder brechen hier gleich alle in Tränen aus? Vielleicht hängt da sogar die Angst dran: Wenn ich das frage, gehen meine Eltern völlig auf Distanz? Werde ich dann verlassen?

Sven Stillich: Und wovor haben die Eltern Angst?

Claudia Haarmann: Eltern haben Angst, dass Konflikte aufkommen, die nicht mehr zu beherrschen sind. Die so groß sind, weil sie so lange Zeit zum Wachsen hatten. Gerade erzählte mir eine Frau, wie sie endlich einmal ihren Vater konfrontiert hat. Ihre Mutter reagierte mit: "Hört auf! Sonst bricht ja hier alles auseinander!"

Sven Stillich: Es gibt auch die Angst, eine Frage zu stellen, weil man nicht weiß, ob man mit der Antwort zurechtkommt. "Liebst du mich, Papa?" ist schwer zu fragen, wenn die Antwort "Nein" lauten kann oder gar nichts kommt.

Claudia Haarmann: Aber gleichzeitig ist es ja so: Erst wenn diese Fragen gestellt werden, dann kann Bewegung kommen in die dumpfe Atmosphäre. Erst dann.

Sven Stillich: Was, wenn eine Seite reden will, die andere aber nicht?

Claudia Haarmann: Es kann sein, dass Eltern sagen: Ich möchte nicht reden über das, was ich erlebt habe und was da ist bei uns. Und sie haben ein Recht dazu, finde ich. Wir alle vermeiden, verdrängen und verleugnen, das ist eine ganz wesentliche Möglichkeit der Seele. Oft brauchen Menschen auch nur Zeit, bis sich etwas lösen kann. Bis sie offener werden, über Wesentliches zu reden. Es ist also wichtig, dem Gegenüber Raum zu lassen, nachzudenken und auch nachzufühlen.

Sven Stillich: Was, wenn die Generationen noch miteinander in Austausch sind, aber nur in Form von Vorwürfen: "Ihr habt doch die Welt kaputt gemacht, in der ich jetzt leben muss", sagen die einen – "Du mit deinem Gendern", die anderen.

Claudia Haarmann: Das ist ein Ausdruck von Beziehungslosigkeit, auch von Bindungslosigkeit. Wären Eltern und Kinder liebevoller und zugewandter und hätten die Kinder erlebt, dass sie mit ihrem Kummer ernst genommen werden, dass sie wichtig sind – dann könnte man auch diese großen Problematiken besprechen. Dann wäre Vertrauen da. Wenn ich einen Mangel an Zuwendung spüre, wenn ich mich nicht aufgehoben fühle, dann eskaliert alles Politische oder Gesellschaftliche sehr schnell.

Sven Stillich: Was halten Sie von dem Vorwurf der "toxischen Eltern"? Darüber tauschen sich junge Menschen in sozialen Medien aus und meinen, dass ihre Eltern vorwurfsvoll oder kommunikationsunfähig sind.

Claudia Haarmann: Das ist ein zerstörerischer Vorwurf. Manche Kinder sind heute geneigt, ihre Eltern an den besten, bindungsfähigsten Eltern zu messen – und wenn sie nicht so sind, fällen sie dieses massive Urteil.
Auf solche Anklagen zu reagieren, haben wir Menschen, in diesem Fall die Eltern, nur drei Möglichkeiten: Sie werden entweder aggressiv, um sich zu verteidigen, sie treten die innere Flucht an und gehen aus dem Kontakt oder sie verstummen ganz.

Sven Stillich: Was wäre besser als solche Generalvorwürfe?

Claudia Haarmann: Wir sollten wohlwollender und friedlicher werden. Denn wir alle machen Fehler in unseren Beziehungen. Manchmal frage ich mich, was die heutigen Enkel ihren Eltern vorwerfen werden.

Sven Stillich: Es gibt den Begriff des cycle breaking, des Bruchs mit Mustern, die in der Familie vorherrschen. Dazu müssen die Eltern erst einmal anerkennen, dass es ein Problem gibt.

Claudia Haarmann: Ja, sodass sie sagen: Du hast recht, ich war da nicht für dich da. Ich kann mir vorstellen, dass bei dir das Gefühl entstanden hat, dass ich dich gar nicht liebe. Das ist aber für Eltern schwer. Stattdessen reagieren sie problematisch: Aber Kind, das stimmt doch nicht. Ich habe alles für dich getan und mein Bestes gegeben. Sie relativieren damit die Wahrheit des Kindes.

Sven Stillich: Eine Brücke zu bauen, bedeutet also erst einmal: stehen lassen, was das Gegenüber sagt?

Claudia Haarmann: Im Kontakt sein und zuhören, ohne in übliche Ja-aber-Muster zu gehen. Denn bei diesem Zuhören höre ich vielleicht zum ersten Mal, worum es in der Familie wirklich geht: Was hat mein Kind mit mir erlebt? Kann es sein, dass es recht hat? Daran schließt sich für die Eltern die wichtigste Frage an: Was habe ich selber erlebt? Was habe ich über Beziehungen und Familienkommunikation gelernt? Ich glaube, dass es darum geht, eine Atmosphäre zu schaffen, die nicht auf Konfrontation aus ist. Eine, in der wir unsere Urteile endlich mal beiseitelassen, wo es ein echtes Interesse an dem Gegenüber gibt. Und das vielleicht zum ersten Mal. Eltern sollten sehen: Ihre Kinder sind jetzt erwachsen. Und sie haben vielleicht etwas über das Leben erfahren, was sie selbst nie gelernt haben. Das ist eine der Voraussetzungen, gegenseitig wieder ins Miteinander zu kommen.

Sven Stillich: So wie in dem Lied. Der Junge sagt: "Ich habe das auch, Baba. Ich kenne das auch."

Claudia Haarmann: So verbinden wir uns in dem Schwierigen, in dem Schmerz. In dem Lied gibt es auch die Stelle: "Ich wünschte, er würde nicht immer rennen und sich dabei die Beine brechen ..." Das drückt aus, wie sehr der Vater funktioniert. Nur das hat er gelernt und das verunmöglicht ihm, innezuhalten – aus Angst, welche Fragen er sich dann stellen müsste, was dann in ihm hochkommen könnte. Der Sohn hält endlich inne und fragt, worum es wirklich geht. Er wünscht sich Nähe und findet Worte dafür. Er steigt damit aus dem Schweigegebot aus.

Sven Stillich: Ist die Frage "Wie geht es dir?" ein guter Anfang dafür?

Claudia Haarmann: Ja, und: Wie geht es dir mit mir? Und sich dann trauen, wirklich auf die Antwort zu hören. Ich erzähle in meinem Buch die Geschichte von einer Mutter, deren Tochter den Kontakt abgebrochen hatte, und die sich wieder annähern. Die Mutter erzählt, wie dann doch wieder eine Mauer stand zwischen ihnen. Wie sie spürte, wie ihr Gesicht hart wurde und ihre Stimme ärgerlich – doch dann konnte sie sagen: "So will ich eigentlich gar nicht sein." Die Mutter steigt aus dem Muster aus. Sagen, wer ich wirklich bin, was mich bewegt, das ist nicht leicht – aber es ist, glaube ich, das Geheimnis, das Schweigen zu durchbrechen.


Aus: "Wie bricht man das Schweigen in Familien?" Interview: Sven Stillich (21. Dezember 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/familie/2024-12/familienpsychologie-schweigen-eltern-kinder-gefuehle-konflikte-claudia-haarmann

Textaris(txt*bot)

#63
Quote[...] Zwei Männer umarmen sich. Ihre Hände sind unruhig, sie halten nicht still, klopfen sich ab – Schulter, Rücken, Schulter. Wenige Sekunden brauchen sie dafür. Die Männer lösen sich voneinander, stehen sich gegenüber, Zentimeter entfernt. ,,Alles gut?", fragt der Ältere, er sagt es auf Deutsch, er konnte diese Sprache früher so gut. ,,Bisschen Stress", antwortet der Jüngere. Dann sagen sie nichts, schauen sich an, weitere Sekunden lang. Der Jüngere fragt: ,,Wollen wir uns ein bisschen bewegen?"

So sieht es also aus, wenn sich zwei Männer nach 45 Jahren das erste Mal wiedersehen. Wenn sie Vater und Sohn sind, aber kaum etwas wissen voneinander. Der jüngere Mann hat im April dieses Jahres überhaupt erst erfahren, dass sein leiblicher Vater noch lebt. Der kam, wie etwa 8.000 weitere Männer, aus Algerien in das sozialistische Deutschland, in die DDR, um dort zu arbeiten. Und so wie die meisten dieser Männer musste er das Land wieder verlassen, als er seine Arbeit erledigt hatte. Ohne seinen Sohn.

Die beiden gehen über eine vierspurige Straße in Richtung eines Parks. Sie sind etwa gleich groß, aber der Körper des älteren Mannes ist kräftiger, runder. Nimmt er seinen hellen Hut ab, enthüllt er eine sonnengebräunte Glatze. Der jüngere ist hager, läuft mit ausgreifenden Schritten, lässt die Arme schlenkern, als wären sie aus Holz.

Die Männer wollen nicht mit ihren echten Namen im Text auftauchen. Beide haben Gewalt erfahren und Dinge getan, auf die sie nicht stolz sind. Sie wollen von ihren Leben erzählen, davon, wie sie sich wiedergefunden haben und wie schwierig Deutschland dieses Wiedersehen für Algerier macht, die früher hier gearbeitet haben. Und für ihre Kinder, die geblieben sind. Aber sie wollen nicht einfach per Suchmaschine im Internet aufzuspüren sein.

Der ältere Mann, im August ist er 70 Jahre alt geworden, will in diesem Text ,,Ali" heißen. So hätten ihn die meisten Deutschen genannt, auch eine Frau in dem Liebesbrief, den er abfotografiert und auf seinem Telefon gespeichert hat. Von 1974 bis 1979 hat Ali in der DDR gelebt und gearbeitet, meistens in Erfurt. 1974 schloss die DDR ein Abkommen mit Algerien. Das sozialistische Deutschland brauchte Arbeiter:innen aus dem Ausland, ebenso wie die kapitalistische BRD. Algerien schickte Männer um die zwanzig, wie Ali. Die sollten in der DDR nicht nur arbeiten, sondern auch eine Ausbildung erhalten.

Ali hat sich den Namen für diesen Text auch deswegen ausgesucht, weil sein Vater tatsächlich so hieß. Der wurde 1958 getötet, während des Unabhängigkeitskrieges gegen die französische Kolonialherrschaft. Ali war vier Jahre alt. Er wuchs als Halbwaise in Algerien auf, seit 1979 lebt er wieder dort. Im August 2024 ist er für ein paar Tage nach Deutschland zurückgekehrt. Er will seinen leiblichen Sohn das erste Mal nach 45 Jahren wiedersehen.

Der jüngere Mann soll in diesem Text ,,S." heißen. Er ist heute 48 Jahre alt. Als Ali die DDR verlassen muss, ist er drei. Seine Mutter zieht mit S. von Erfurt nach Neubrandenburg, heute eine Kreisstadt in Mecklenburg-Vorpommern. Sie heiratet einen anderen Mann, den S. Vater nennt, sie bekommt weitere Kinder. S. geht in der DDR zur Schule, erlebt die Revolution von 1989 in einem Kinderheim, geht nach Berlin, lebt als Punk auf der Straße. Im Moment arbeitet er bei einer Zeitarbeitsfirma, die Möbel für Behörden von einem Ort zum anderen transportiert, für die Feuerwehr, für die Polizei. Dass sein leiblicher Vater noch lebt, erfährt er, als er im Gefängnis sitzt.

Ende November 2024, nahe dem Bahnhof Gesundbrunnen im Berliner Bezirk Wedding. Es ist vier Uhr nachmittags, dunkel und kalt. S. will durch den Park laufen. ,,Ich war mir nicht einmal sicher, dass er noch lebt", sagt S. über Ali. Warum er in der Justizvollzugsanstalt einsaß, möchte er nicht erzählen, aber es war nicht das erste Mal.

Über zehn Jahre seines Lebens habe er insgesamt in Haftanstalten verbracht, sagt S., nicht nur in Berlin. In Nordrhein-Westfalen hätten sie ihn zum Beispiel vier Jahre inhaftiert, weil er zwei Nazi-Skins verprügelt habe. Im Frühjahr bekommt er eine Nachricht ins Gefängnis. Sie ist von Ali. Er sucht nach ihm. S. meldet sich zurück. Er wundert sich nicht nur, dass Ali noch am Leben ist, sondern auch, dass der ihn finden will. S. sagt: ,,Meine Mutter hat mir immer die Story erzählt, dass ich das Produkt einer Vergewaltigung sei."

Er hat Bilder seiner leiblichen Eltern gesehen, aus den siebziger Jahren. ,,Ich habe mich jahrelang gefragt, wie macht die Frau das?", sagt S. ,,Wie kann die ein Kind lieben, das genauso aussieht wie der Mann, der ihr so ein großes Brett angetan hat?"

An einem Morgen Anfang August 2024 steigt Ali in Erfurt in einen alten roten VW Polo. Heute Nachmittag wird er S. in Berlin wiedersehen. Vorher hatte er hier in der Stadt noch etwas zu tun. Er hat am Abend zuvor mit anderen algerischen Männern über ihre Arbeit und ihr Leben in der DDR gesprochen – vor Publikum. Der Raum war voll, Menschen saßen auf dem Boden, die Stühle reichten nicht.

Der Historiker Jan Daniel Schubert hat Ali nach Deutschland eingeladen. Schubert forscht zu algerischen Arbeitern in der DDR. Er hat einige in Algerien interviewt, auch Ali. Ali wiederum hat den Wissenschaftler gebeten, ihm zu helfen, seinen Sohn zu finden. Schubert hat die Mutter von S. aufgespürt und die hat wiederum den Tipp gegeben, dass S. im Gefängnis sein könnte. Deshalb hat Ali dort im Frühjahr eine Nachricht für S. hinterlassen.

An jenem Augusttag fährt Schubert Ali in seinem eigenen Auto von Erfurt nach Berlin. Ali zeigt Fotos auf seinem Mobiltelefon, Menschen und Dokumente, er erzählt die Geschichten dazu auf Französisch, Jan Schubert übersetzt: Wie freundlich Alis Kollegen waren. Wie er mit Teenagern Schnaps getrunken hat. Wie er an einer Brücke mitgebaut hat, die immer noch in der Nähe des Erfurter Hauptbahnhofs steht und am Hotel Kosmos, das heute einer großen Kette gehört. Er erzählt, wie er und seine algerischen Kollegen gestreikt haben, obwohl Streiks in der DDR politisch geächtet waren – sie wollten eine Zulage, die Arbeiter aus Polen und Ungarn bereits bekamen. Im November 1976 wird S. geboren.

Ali zeigt ein Familienfoto in Schwarz-weiß, er und seine Freundin, lächelnd, dazwischen Baby S. mit großen Augen und offenem Mund. Der Ali von damals und der S. von heute sehen sich ähnlich. Von der Geschichte mit der Vergewaltigung weiß Ali bei der Autofahrt nach Berlin bereits. Das sei Unsinn, sagt er.

Auch S. sagt, dass die Vergewaltigung erfunden ist, seine Mutter habe das inzwischen revidiert. Das erzählt er beim Gang durch den kalten Park im November. Sie sage, die Staatssicherheit habe sie zu dieser Lüge gezwungen. In der DDR ist die Stasi Geheimpolizei, Ermittlungsbehörde und Auslandsnachrichtendienst in einem, sie überwacht und diskreditiert Menschen. S. glaubt seiner Mutter, er glaubt ihr, dass sie Angst gehabt hat, ihr könnte der Sohn weggenommen werden. Warum die Staatssicherheit so handelt, dafür gibt es derzeit keine Erklärung, die sich mit Akten belegen ließe. Fest steht, dass viele Menschen in der DDR Beziehungen zwischen deutschen Frauen und Algeriern nicht guthießen.

Ali erzählt auf dem Beifahrersitz des VW Polo vom 10. August 1975. Er besucht damals mit anderen Algeriern und ihren deutschen Freundinnen ein Volksfest. Karussell, Würstchenbude, Bier, Schnaps. Er erinnert sich, wie deutsche Männer die Frauen beleidigt haben. Schlampen, Nutten. Wie ein Algerier einem Deutschen eine Ohrfeige verpasst. Er erinnert sich an das Wegrennen, weil so viele auf ihn und seine Freunde losgegangen sind. In der Nähe des Bahnhofs endet seine Erinnerung, er bekommt einen Schlag auf den Kopf, er glaubt, dass es ein Brett war. Ali nimmt seinen hellen Hut ab, zeigt die Narben. Vielleicht spürt er Fußtritte damals, er ist nicht ganz sicher. Er wacht nachts in einem Krankenhaus wieder auf.

An diesem Abend hetzen hunderte Deutsche algerische Arbeiter durch die Stadt – es ist die erste massenhafte rassistisch motivierte Menschenjagd nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Ein extremes Ereignis, das weit verbreitete Haltungen zeigt; die Ermittler der Staatssicherheit schreiben in ihren Akten zu der Hetzjagd von einer ,,Pogromstimmung". Ehemalige Arbeiter wie Ali erinnern sich gut, wie Deutsche in der ganzen DDR zu dieser Zeit ihren Hass begründen: Ihr Algerier habt es besser als wir, ihr nehmt uns die Frauen weg, ihr mordet und vergewaltigt. Dieser Hass wird an die Kinder weitergegeben.

,,Alles, wovor Du je Angst gehabt hast, waren wir und Deine Frau", singt der Erfurter Rapper Rashid Jadla in seinem Stück ,,Anger 75" [https://taz.de/Rapper-Sonne-Ra-ueber-Rassismus/!5934428/]. Jadla, selbst Sohn eines algerischen Arbeiters, erzählt 2023 in einem Interview mit der taz, Mitschüler hätten ihn schon in der ersten Klasse verprügelt. Ihre Begründung: Er sei ein Vergewaltiger.

S. spricht von rassistischen Beleidigungen in seiner Familie und in der Schule, er findet noch heute, dass sein französischer Vorname, den Ali 1976 für ihn ausgesucht hat, wie ein Frauenname klingt. S. sagt, er habe zugeschlagen, getreten, bei Schüler:innen und Lehrer:innen. Er kommt in ein Spezialkinderheim. In solchen Heimen lassen die Erzieher:innen die Kinder sich gegenseitig bestrafen, wenn eines aus der Reihe tanzt. ,,Blinde Kuh haben wir das genannt, da sind die anderen nachts in dein Zimmer gekommen und haben dir ein Handtuch über den Kopf gezogen. Die Decke haben sie festgehalten, dass du nicht abhauen kannst. Dann gab es Senge."

Laut und wütend wird S., wenn er darüber spricht, wie Erzieher:innen als Strafmaßnahme die Beziehung zwischen ihm und seiner Mutter manipulierten: ,,Die haben mir erzählt, meine Mutter will nicht zu Besuch kommen. Die stand vor der Tür. Und ist nicht reingelassen worden." Zwei Wissenschaftlerinnen, die zu Heimen und Jugendwerkhöfen in der DDR forschen, sagen, dass das, was er schildert, in solchen Häusern üblich gewesen sei [https://taz.de/Autorin-ueber-DDR-Umerziehungsheime/!5820243/].

Ali und die Mutter von S. trennen sich, da arbeitet er noch in Erfurt. Er lernt eine neue Frau kennen, seinen Sohn sieht er weiterhin. Die Großmutter von S. bringt ihn aus einem Vorort immer wieder zu Ali in die Stadt. Beim letzten Treffen, an das er sich erinnert, geht Ali mit S. an Blumenbeeten vorbei über das Gelände der Internationalen Gartenausstellung. 1979 läuft sein Vertrag aus und er muss gehen.

S. kommt mit der Revolution von 1989 aus dem Kinderheim raus, tut sich mit Punks in Neubrandenburg zusammen, prügelt sich mit Nazi-Skins. Baseballschlägerjahre. S. fängt eine Ausbildung zum Metallbauer an, die ist ihm zu stupide, ,,zu viel Feilerei". Er geht nach Berlin, S. sagt, er wollte sich nur die Loveparade angucken, damals läuft die noch über den Kurfürstendamm. Er bleibt, gehört irgendwann zu den Punks auf der Friedrichstraße, lebt in besetzten Häusern, verbringt einen tödlich kalten Winter in einer Bushaltestelle, sieht eines Morgens, dass einer neben ihm erfroren ist. So viel Zeit habe er aber gar nicht auf der Straße verbracht, sagt S. und erzählt einen alten Witz: ,,Was ist ein Punk ohne Freundin? Obdachlos."

,,Ich habe alles getan, um ihn wiederzusehen", sagt Ali bei einem Stopp an einer Tankstelle in der Nähe von Halle. Er trinkt einen Schluck Vita Cola, die gab es in der DDR auch. Er schüttelt sich, verzieht das Gesicht. Er sagt: ,,Drei Mal habe ich versucht, wiederzukommen." Immer wird ihm die Einreise in die DDR verweigert. Gründe dafür erfährt er nicht.

Viele algerische Väter versuchen, den Kontakt zu ihren Kindern nicht zu verlieren oder sie wiederzufinden. Die DDR machte es ihnen schwer, die vereinigte Bundesrepublik auch. Ali kann davon erzählen, Jan Schubert, der Historiker, der den Polo fährt, ebenfalls, aber mehr noch Karin Graieb. Sie sucht seit 2021 für algerische Männer nach ihren Söhnen und Töchtern, und umgekehrt.

Graieb leitet eine Facebook-Gruppe mit 1.500 Mitgliedern, sie führt zu Hause Akten über mehr als sechzig Suchen. Sie ist in der DDR aufgewachsen, hat dort einen algerischen Mann geheiratet und wohnt inzwischen in Worms. Am Telefon erzählt sie, dass algerische Männer oft monatelang auf einen Termin in der deutschen Botschaft in Algier warten müssen. Dass eine Frau über 4.000 Euro auf ihrem Konto hinterlegen sollte, damit ihr algerischer Ex-Partner sie und den gemeinsamen Sohn besuchen darf. ,,Es muss für die Männer aus Algerien einfacher werden, Visa zu erhalten", sagt Graieb. ,,Und diese Vereinfachung sollte schnell kommen, die Männer sind alt."

Als Ali klar wird, dass es kein Zurück nach Deutschland gibt, fällt er in ein Loch, trinkt viel. Weil er S. zurücklassen musste. Weil er sein Leben in Erfurt vermisst, seine Freundin, bis 1983 schreibt sie ihm Briefe. Für das staatliche Erdöl-Unternehmen Sonatrach fährt Ali durch die Sahara und bringt den Arbeitern auf den entlegenen Stationen ihr Essen.

,,Wir haben zu viel erlebt" – diesen Satz sagt Ali oft auf Deutsch. Manchmal sagt er auch: ,,Wir haben zu viel gelebt." Er lernt eine Frau in Algerien kennen, Ali sagt, sie hat ihn vom Trinken weg und ins Leben zurückgeholt. Sie bekommen drei Söhne und zwei Töchter.

S. hat ebenfalls Kinder, zwei Söhne und eine Tochter. ,,Ich bezeichne mich nicht als ihr Vater. Meine Kinder wurden von ihren Müttern großgezogen. Und das rechne ich denen hoch an." Er sagt, er wäre kein gutes Vorbild, er habe die Kinder von Bekannten ins Gefängnis gehen sehen, so wie ihre Väter. Mit seinem ältesten Sohn redet und schreibt er bisweilen auf Whatsapp.

Bedauern. Ali sagt, er frage sich, ob S. auch im Gefängnis gelandet wäre, wenn er Deutschland damals nicht hätte verlassen müssen. Wenn er geblieben wäre und er und S. darüber hätten reden können, dass auch Ali sich geprügelt hat, als er jung war. ,,Ich kann es nicht ertragen, wenn mir auf die Füße getreten wird." S. sagt im November im kalten Park, das sei Unsinn. ,,Nichts hätte sich geändert, wir wären nur beide dran gewesen."

Im Polo kurz vor Berlin. Bist Du nervös, Ali?

,,Bisschen Schiss", sagt er auf Deutsch.

Warum?

,,Vielleicht werde ich weinen."

Ali weint nicht. S. auch nicht. Sie gehen zusammen in ein Dönerrestaurant. Sie versuchen, sich von ihren Leben zu erzählen. S. spricht kein Französisch. Jan Schubert übersetzt erneut. Als Ali wieder in Algerien ist, schreiben er und S. sich Nachrichten per Signal. S. zeigt im November ein paar auf seinem Telefon. Ali schreibt mit einem Übersetzungsprogramm, manchmal redet er S. mit ,,Du" an, manchmal mit ,,Sie". Er entschuldigt sich, dass er den Geburtstag von S. vor ein paar Tagen vergessen hat, ,,weil ich zur regelmäßigen Untersuchung meines Herzens im Krankenhaus war". S. findet das nicht schlimm: ,,Ich bin genauso", sagt er. ,,Ich gratuliere niemandem zum Geburtstag. Für mich ist Geburtstag kein Tag, den man feiern muss. Was ist die Leistung? Wenn, dann müssen die Eltern feiern, oder?"

S. würde gern mal nach Algerien reisen. Er sagt, ihn interessieren Alis Kinder eigentlich mehr als Ali selbst. S. sagt: ,,meine neuen Geschwister."

Ali will im nächsten Jahr wieder nach Deutschland kommen.




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"Rassismus in der DDR: ,,Es gab immer wieder Angriffe"" (17.7.2024)
1975 jagten Hunderte Deutsche algerische Arbeiter durch Erfurt. Jan Daniel Schubert ist Mitinitiator des ersten Gedenkens an die rassistische Hetzjagd.
https://taz.de/Rassismus-in-der-DDR/!6021150/

QuoteAndreas_2020

18.07.2024, 11:33 Uhr

Die DDR hat das Ideal einer total friedlichen, geradezu langweiligen Ruhe im Inneren propagiert, weil ja die Arbeiterklasse schon an der Macht war, also Konflikte gar nicht stattfinden konnten, da es evtl. sonst als Klassenauseinandersetzung erkennbar gewesen wäre. Nach der Logik der SED musste es totenstill sein.

Ab den 1980ern gab es eine wachsende Hoolgian-, Punk- und Neonaziszene, mit der die SED nicht umgehen konnte.

Dass es davor immer wieder zu Gewalt kam, hat die DDR-Führung immer unter den Teppich kehren wollen, im Grenzgebiet zur CSSR und zu Polen gab es auch öfters extreme Hamsteinkäufe, die in Tumulten endeten, auch das wurde tot geschwiegen. Es durfte halt nicht sein.

Ansonsten wußte man in den Chefetagen natürlich schon, was los war und hatte einfach keine vernünftige Antwort darauf. Gerade die Vertragsarbeiter mit den Devisen waren so ein großes Problem. Die DDR dachte halt, dass deren Geheimdienste und die Stasi das ruhig halten können.

Es ist ein wenig absurd, dass schon damals ausländische Arbeitskräfte benötigt wurden, aber das ging mit der Bevölkerung nicht.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Es beginnt oft leise. Hier ein falsches Wort zu viel, dort ein richtiges zu wenig. Mit der Zeit schlagen diese kleinen Hagelkörner feine, unsichtbare Risse in Familien. Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis eine Kleinigkeit den fragilen Frieden zerbricht. Bei mir war es ein Video. Ein Verwandter hatte es mir geschickt, kurz nach Beginn der russischen Großinvasion im Februar 2022. Zu sehen war die Putin-Influencerin Alina Lipp, die von der "Befreiung" der Ostukraine sprach. Ich, die gerade Fluchthilfe für ukrainische Freunde organisierte, saß fassungslos vor dem Bildschirm. Zum ersten Mal in meinem Leben blockierte ich einen Verwandten auf WhatsApp. Es fühlte sich an, als wäre er plötzlich gestorben. Kurz darauf blockierte ich auch zwei Cousinen, die mich in Putinsprech von den brüdervolkfreundlichen Absichten des Kremls überzeugen wollten.

Vor drei Jahren glaubte ich, dass es allein Russlands Krieg war, der Streit in unsere Familien gebracht hatte. Heute weiß ich, dass das Problem viel tiefer lag und bei weitem nicht allein mich betraf. Den vermeintlich plötzlichen Bruch mit Familienangehörigen erlebten auch andere "Mitgebrachte", wie uns die Sozialforschung nennt. Uns, die als Kinder oder Jugendliche vor etwa 30 Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert sind. Die meisten gehören wie ich zu den rund 2,5 Millionen russlanddeutschen Aussiedlerinnen und Spätaussiedlern. Online sind wir mittlerweile gut vernetzt, das war in den Monaten nach dem russischen Großangriff von Vorteil. Damals schrieben wir uns in den sozialen Netzwerken viele Nachrichten und fühlten uns so weniger allein. Eine 16-Jährige berichtete damals, dass sie zu Hause ausziehen musste, weil die Schusslinie zwischen Russland und der Ukraine plötzlich quer durch die elterliche Wohnung verlief. Eine andere Russlanddeutsche war aus dem Familienchat geschmissen worden, weil sie es gewagt hatte, gegen Moskaus Krieg zu argumentieren. Zuerst war sie wütend, dann kam der Schmerz, wie er meist entsteht, wenn in Familien nicht mehr gesprochen wird. Er hinterlässt eine Wunde dort, wo eigentlich Wärme und Verbundenheit sein sollten.

Diesen Schmerz kennt auch Katja*. Sie habe ich ebenfalls online kennengelernt. Wie in vielen postsowjetischen Familien markierte der russische Großangriff in Katjas keinen plötzlichen Wendepunkt. Er setzte nur eine letzte Bruchlinie. Das Verhältnis zu ihren Eltern war schon in ihrer Kindheit in Russland angespannt gewesen. Der Vater war alkoholkrank und stets bereit, seine Wut auf Arbeitskollegen oder die Mutter an Katja auszulassen. Mit dem Umzug 1992 änderte sich vieles, doch innerhalb der Familie erschreckend wenig. "Wir wurden zu Gehorsam erzogen. Ich habe mich auch in Deutschland wie eine Sklavin gefühlt", erinnert sich Katja. Nach außen gaben sich die Eltern perfekt integriert: arbeitsam und dankbar für die Aufnahme in Deutschland – bis sie plötzlich begannen, sich in die russische Kultur zurückzuziehen.
"Wir sind Russen und stolz darauf, sagten sie, dabei ist mein Vater Russlanddeutscher. An Russland fand er plötzlich alles toll und in Deutschland würde alles falsch laufen", erinnert sich Katja. Vor etwa 15 Jahren sei das gewesen. Der Ton ihres Vaters sei aggressiver geworden und habe dem aus dem russischen Staatsfernsehen geähnelt, das die Eltern neuerdings empfingen. Obwohl ihre Eltern nie politisch waren, stritten sie immer häufiger über Katjas migrationsfreundliche Einstellung. "Plötzlich feierten sie sogar die Sowjetunion", sagt sie. Für Katja war diese Entwicklung unbegreiflich, waren ihre Eltern doch einst froh gewesen, der Sowjetdiktatur entkommen zu sein. Der Streit eskalierte, als Katjas Brüder ihren ukrainischen Ehemann vor einigen Jahren "Faschist" nannten. Es war das eine Wort zu viel. Danach herrschte Funkstille.

Wie konnte der Graben zwischen Katja und ihrer Familie so tief werden? Viktoria Bachmann, promovierte Psychologin und selbst Russlanddeutsche, hat eine Erklärung. Sie arbeitet seit Jahren mit Patientinnen und Patienten aus der ehemaligen UdSSR und beobachtet immer wieder, wie die unvereinbaren Einstellungen, die durch den Krieg zutage treten, Familien auseinanderreißen. Ein wesentlicher Faktor sei die Kreml-Propaganda, die seit Putins Machtübernahme im Jahr 2000 die Sowjetära verklärt. Doch diese Propaganda würde weniger Wirkung entfalten, wenn die Älteren nicht schon durch autoritäre Erziehung und die Sehnsucht nach einer starken Führung geprägt wären, erklärt Bachmann. Viele fühlen sich in Deutschland entwurzelt, ihre Berufsabschlüsse wurden nicht anerkannt, ihr Selbstwert habe gelitten.
In dieses Vakuum dringe die Propaganda des Kremls – über Fernsehen, TikTok, WhatsApp. Da sei man schnell in einer Blase und werde immer mehr von den immer gleichen Horrorgeschichten über "Gayropa" oder eine angebliche "Islamisierung" Deutschlands angefüttert. Ältere Russlanddeutsche suchen dann Trost in alten Sowjetfilmen, die sie an ihre Jugend erinnern, und landen schnell bei Politpropaganda. "Unsere Eltern sind in ihrer Entwicklung zurückgefallen. Sie leben in der Vergangenheit, weil sie keine Zukunft mehr sehen", sagt Bachmann.

Ein vollständiger Kontaktabbruch, wie er bei Katja stattfand, ist laut Bachmann eher selten. Häufiger schleiche sich eine Distanz zwischen die Generationen. "Die Älteren haben oft gelernt, dass es ein klares Richtig oder Falsch gibt. Sie tun sich schwer damit, zu akzeptieren, dass ihre erwachsenen Kinder eigene Lebensentwürfe und Ansichten entwickeln", sagt sie. Die jüngere Generation, die in Deutschland aufgewachsen ist, bewegt sich freier und kennt ein "breiteres Verhaltensrepertoire", wie Bachmann es nennt. Was für die Kinder Ausdruck von Freiheit und Individualität ist, empfinden die Eltern jedoch oft als Bedrohung ihrer eigenen, konservativen Werte. So wächst zwischen beiden Seiten eine "massive Sprachlosigkeit", die durch den Krieg noch lauter geworden ist.

Hinzu kommt eine weitere Herausforderung, die den Konflikt verschärft: das Altern der Eltern. Mit dem Ruhestand verändert sich ihre Rolle. "In den Herkunftsländern hatte die Familie den höchsten Wert", sagt Bachmann. Doch nicht immer aus Liebe oder Verbundenheit, sondern oft aus Notwendigkeit – sie war der letzte Rückzugsort gegen das sowjetische Regime und seine Überwachung. Die Eltern, die ihre Kinder einst intensiv unterstützten, oft allein ihretwegen nach Deutschland gegangen waren, erwarten im Alter nun eine Gegenleistung: Rat, Trost und Nähe. Besonders dann, wenn sie, wie Katjas Eltern, isoliert von der Mehrheitsgesellschaft leben.
Gleichzeitig sind viele Eltern noch in Mehrgenerationenhaushalten aufgewachsen, in denen es selbstverständlich war, dass die Großmutter den Job aufgab, um die Enkel zu betreuen, und die Tochter beruflich kürzertrat, um die Eltern zu pflegen. Doch die Kinder von heute stehen selbst mitten im Leben, leben oft weit entfernt und wollen sich nicht aufopfern. Für die Eltern, die ohnehin oft das Gefühl haben, in diesem Land unerwünscht zu sein, wird das zur schmerzhaften Kränkung. Die Familie, ein letztes Andenken an die zurückgelassene Heimat, beginnt zu zerfallen – erst in der Wahrnehmung der Eltern, dann in der Realität, verstärkt durch politische Konflikte. Beide Seiten fühlen sich dabei missverstanden und sind enttäuscht. Lässt sich diese Kluft überhaupt noch überbrücken?

Ist wie bei Katja Gewalt ein Thema, müssen sich die Betroffenen fragen: "Kann ich verzeihen, ohne ständig negative Emotionen zu haben?", rät Bachmann. Bestenfalls könne es ein Gespräch geben, über gegenseitige Erwartungen, über die Vergangenheit. Auch der Fokus auf die Gemeinsamkeiten könne helfen sowie das Ausklammern von Themen wie dem Krieg gegen die Ukraine. "Es müssen klare Grenzen her, deren Überschreitung nicht toleriert werden darf", sagt die Therapeutin. Keine Politik am Tisch, so könne eine Regel lauten.
Bei Katja griffen keine Regeln mehr. Zu viele Themen waren zu Minenfeldern geworden. Heute bietet ihr nur noch die Distanz einen sicheren Raum, um Frieden zu finden. Der Abstand tue ihr gut, sagt sie, der Schmerz aber bleibe, vor allem dann, wenn sie sich ihrer Nichtzugehörigkeit bewusst werde. Etwa, wenn ihre Tochter fragt, warum sie nie Oma und Opa besuchen. "Ich habe lange versucht, sie aus allem rauszuhalten. Schließlich habe ich es ihr erklärt. Sie versteht mich, aber grundsätzlich bleibt es für uns schwierig, so ohne Familie", sagt Katja. Ab und zu rufen Tanten an und werfen Katja vor, eine schlechte Tochter zu sein. In einer Psychotherapie hat Katja ihre Erfahrungen verarbeitet. "Ich wollte heilen, weil ich sonst mein Leben nicht leben und auch kein Kind großziehen kann." Sie fühle keinen Groll mehr. "Ich denke, meine Eltern waren auch mal Kinder und selbst Opfer. Sie tun mir leid", sagt sie.

Auch ich habe meinen Frieden geschlossen. Nach einigen Tagen des Schweigens entschuldigte sich vor drei Jahren der Verwandte: Er sei sehr emotional gewesen, habe Dinge nicht richtig eingeordnet. Wir sprachen wieder miteinander. Selbst mit den Cousinen habe ich wieder Kontakt. Doch es bleibt ein zerbrechlicher Frieden, wie Eis, das unter unseren Füßen knirscht. Ein falsches Wort könnte alles zum Einsturz bringen. Also halten wir uns von den dünnen Stellen fern, lenken Gespräche meist auf unsere Kinder. In Zeiten wie diesen sind sie es, die uns kleine Inseln der Verbundenheit schenken – Augenblicke, die uns Hoffnung geben. Denn tief in uns, das spüre ich, will niemand in dieser Kälte verharren – in ihr gefangen fühlen wir uns aber weiterhin.

* Name zum Schutz der Person geändert, der richtige Name ist der Autorin bekannt.


Aus: "Eine Wunde dort, wo eigentlich Wärme sein soll" (23. Januar 2025)
Quelle: https://www.zeit.de/familie/2025-01/post-sowjetunion-familien-entfremdung-konflikt

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QuoteL.v.T.

    Sind Sie von Ihren Eltern bevorzugt worden? Oder benachteiligt? Wie sehr leiden Sie heute noch? Und wie ging es Ihren Geschwistern? | Quelle: https://www.zeit.de/familie/2025-01/beziehung-eltern-lieblingskind-geschwister-aufruf

Meine Mama hat mich geliebt, mein Alter hat meine Mutter und mich geschlagen. Meine Zwillingsschwester ist im Alter von vier Monaten gestorben. Ich habe es durch Zufall erfahren, da war ich dreizehn.

Ich leide heute nicht mehr.

Meine Mama und ich lieben uns, meinen Erzeuger haben wir beide vor sechs Jahren das letzte mal gesehen.

Seitdem geht es mir gut.


QuoteBrünette

Sind Sie ein Lieblingskind? - Sind Sie von Ihren Eltern bevorzugt worden? Oder benachteiligt? Wie sehr leiden Sie heute noch? Und wie ging es Ihren Geschwistern? Erzählen Sie uns Ihre Geschichte! - 6. Februar 2025, 18:05 Uhr


Ich war Lieblingskind und es ist genau das passiert, was auch im Artikel beschrieben ist. Mein Leben lang habe ich versucht, alles zu tun, um diese Gunst zu rechtfertigen. Als Kind wollte ich perfekt und pflegeleicht sein, habe jedes Problem mit mir alleine ausgemacht, die Eltern nicht um Hilfe gebeten. Später im Berufsleben habe ich (freiwillig) viel zu viel gearbeitet und mir keine Ruhe und Pausen gegönnt - bis ich krank wurde. Den Schwestern gegenüber hatte ich jahrzehntelang schwere Schuldgefühle und dachte, ich müsse diese Schuld irgendwie abtragen.

Immerhin bin ich mir dessen seit ein paar Jahren bewusst und arbeite daran.


QuoteOtono67

Ich war das Lieblingskind meines Vaters, meinen Bruder dagegen mochte er nicht, und ließ ihn das auch spüren. ...


QuoteAkari27

Bei meinem Vater hieß es immer: "Du bist die Ältere. du musst vernünftig sein." Er hatte keinen Bock dem Kleinkind (meine jüngere Schwester) ein "Nein" zu geben, wenn sie Mal wieder auf dem Supermarktboden lag und schrie oder wenn sie zu Hause versuchte ihren Willen durchzusetzen. Diese Ungerechtigkeit hat zu ziemlich viel Streit geführt. Auch später hat meine Schwester es verstanden Papa um den Finger zu wockeln. Heute ist allen drei Geschwistern klar, dass unser Vater nur um sich selbst kreist und ihm die Wünsche Anderer völlig egal sind. Mir hat's nach dem letzten Weihnachten gereicht. Ich hab jetzt What's App blockiert. Weihnachten 2023 hat er mir und meinem Sohn eine Reise versprochen, die er nie eingelöst hat. Dieses Jahr gab's ne Karte mit dem Spruch: "Es ist nicht das Geschenk das zählt, es ist der Gedanke." Ich bin nicht länger der Statist in seinem Leben oder warte darauf, dass er Interesse an meinem Leben zeigt. Das einzige was ich noch nicht geschafft habe, ist die Wut auf ihn hinter mir zu lassen.

Immerhin hat sich das Verhältnis zu meiner Mutter über die Jahre verbessert und auch das zu meiner Schwester.


QuoteSpeXter

    Du bist die Ältere. du musst vernünftig sein.

Oh ja, den Satz kenne ich nur zu gut. ...


QuoteChristophPohl

Ich bin der Ältere, der für seine Eltern eine einzige Enttäuschung war. Der jüngere Bruder hat in allem den Vorstellungen und Erwartungen des despotischen Vaters entsprochen und wurde entsprechend bevorzugt. Ich habe nicht nur ein Abendessen allein im Treppenhaus einnehmen dürfen, weil mein Bruder dem lieben Vater bei der Tischkonversation genehmer war.

Ich habe Jahrzehnte unter Minderwertigkeitsgefühlen gelitten und bin eigentlich erst jetzt mit 55 richtig in der Lage, dieses Thema aufzuarbeiten.


QuoteIch sag Leuten an der Ampel gern Bescheid wenn ein Bremslicht defekt ist

Wer sowas einem Kind antut, ist kein Maßstab für irgendwas.

Ein freund bei der Polizei erzählte mir mal, dass bei einer zufälligen Wohnungsbegehung - es ging eigentlich um Rauchentwicklung in einer anderen Wohnung oder so ähnlich - eine Familie mit zwei Kindern wie in der Nutella-Werbung glücklich am gedeckten Tisch saß, fast schon zu kitschig.

Im Nebenraum kauerte - an die Heizung angekettet - ein unterernährtes drittes Kind.

Wir können und gar nicht vorstellen, oder manchmal eben leider doch, was hinter all diesen Wohnungswänden passiert.

Alles Gute weiterhin.


Quoteerwachsen

Ich bin das Hass-Kind. Erstens Tochter, dann auch noch intelligent. Scheiße, wenn der Grundschulleiter sagt, die muß auf das Gymnasium. Die heiratet ja doch!

Das der Vater, der in der Kneipe wohnte!

Dann die Putze ab dem 11-12ten Geburtstag für meine Mutter. Das mußt Du lernen. Daß sie einfach zu faul war und lieber vor dem Fernseher klebte, egal. Habe sie da sitzen gelassen. Ausziehen mit neunzehn, selbst finanzieren, Studienabschluß, Arbeit.

Und Tschüß!


QuoteAbbeFaria

Hut ab vor Ihrer Leistung und Ihrem Willen!! Ich darf das sagen, denn bei mir war es, wenn auch als Zweitgeborene, exakt derselbe Rotz; sogar die Formulierung "Du heiratest ja sowieso" wurde als "Begründung" angeführt.

Ich denke, wir dürfen stolz auf uns sein!


QuoteKruppke

Finstere Zeiten. Ich glaube, solche Eltern sterben langsam aus, aber das hilft natürlich auch nicht, wenn man noch davon betroffen war.


Quotenordyne

Lieblingskind? Jein. Wunschkind? Nein. Meine Mutter betonte immer wieder mal, dass mein Bruder und ich keine Wunschkinder waren.

Mich hat sie nach meinem Empfinden des Öfteren bevorzugt, weil ich die Kleinere und eben ein Mädchen war. Der Männerwelt gegenüber war sie kritisch eingestellt. Ihr Verhalten gegenüber meinem Bruder fand ich schon als Kind manchmal als ungerecht, später fühlte ich mich von ihr eingeengt, sie klammerte.

Als ich 3 Monate vor der Volljährigkeit ohne Vorankündigung auszog, wollte sie mich noch durch das Jugendamt zurückholen lassen.


QuoteIchmir

Alle seine Kinder gleich lieb zu haben, ist unmöglich. Eigentlich weiß das auch jeder insgeheim, der Kinder hat. Aber zugeben kann das niemand.


QuoteAtlantique

Ich widerspreche dem aus Erfahrung. Meine Schwester und ich wurden, obwohl völlig unterschiedlich, gleich geliebt, und ich liebe tatsächlich meine Kinder auch gleich. Eines hat einen explosiveren Charakter, was manchmal zu Reibungen führt, aber auch zu beeindruckenden Abenteuern. Das andere ist ausgeglichener, mehr in sich selbst ruhend und zu außerordentlicher Konzentration, aber auch Kommunikation fähig. An der Liebe ändert das alles nichts.

Mit meiner Schwester gab es nicht einmal Streit ums Erbe - nebenbei. Das ist dann wohl auch eine positive Folge vom gleich geliebt werden in jeder Hinsicht.


QuoteVes

Doch das geht. Habe 2 Jungs, beide sind sehr unterschiedlich. Man muss mit ihnen dadurch jeweils anders umgehen, aber die grundvorhandene Liebe zu beiden ist gänzlich gleich stark.


QuoteTrice

Ich denke, was Sie evtl.ausdrücken wollten, dass einem der eine oder andere Charakter eines Kindes näher liegt oder sogar provoziert, weil es einem in den selber unangenehmen Seiten zu ähnlich ist. Aber Kinder brauchen unsere Liebe uneingeschränkt und man kann sich auch zu dieser Liebe entscheiden und immer für gerechten Ausgleich sorgen! Wer ehrliche, bedingungslose "Liebe" sät wird auch Liebe zurück erhalten, wenn auch nicht so, wie man es selber vielleicht erwartet!


QuoteHeikoko

Als Tochter und angepasstes Kind wurde ich von meinen Eltern bevorzugt behandelt, bzw. war meist in der Lage, mir eine Vorzugsbehandlung zu sichern. Ich habe es gehasst, wie sehr wir vier Geschwister uns Liebe und Anerkennung verdienen mussten, durch Leistung und Wohlverhalten. "Sei lieb!" Bzw. "Du bist nicht lieb!" Das waren die Forderungen, bzw. Urteile. Fehler und Misserfolge wurden wie Vorsatz behandelt. Zwangsläufig war Scham die Folge davon, dass man zu dumm oder "unartig" gewesen war. Meinen eigenen Kindern habe ich versucht, eine gesunde Selbstachtung und das Vertrauen auf die eigene Meinung mit auf den Weg zu geben.


Quotecmi2012

Kein Lieblingskind, sondern Grund für eine unglückliche Ehe. Meine Mutter hatte nie den Mut, sich zu trennen und hat mich für ihr Unglücklichsein verantwortlich gemacht. Schließlich habe ich ihr angetan, einen illegalen Abtreibungsversuch zu überleben. Das Wunschkind und der Liebling war dann 8 Jahre später meine Schwester. Sie wurde mir immer vorgezogen, bekam die Liebe und Aufmerksamkeit, der ich jahrzehntelang hinterhergerannt bin. Ich war über 40 Jahre alt, hatte 2 kinderlose gescheiterte Ehen hinter mir und hatte plötzlich verstanden, dass es sinnlos war. Meine Eltern liebten mich nicht und würden es auch nie tun. Von da an ging es mir besser. Ich kämpfte nicht mehr gegen Windmühlen. Meine Eltern sind mittlerweile gestorben - natürlich ohne dass wir jemals ein herzliches Verhältnis zueinander gehabt hätten. Mit meiner Schwester, die nie eine dauerhafte engere Beziehung gehabt hat, verstehe ich mich gut. Sie sagte mir mal vor ein paar Jahren, dass sie sich schuldig gefühlt habe, weil sie ihre Position bei den Eltern früher ziemlich ausgenutzt hat und mir dadurch noch mehr Probleme bereitet hat. Wir haben lange darüber gesprochen und sind damit und mit uns im Reinen. Wir fühlen uns beide wohler, wenn wir alleine leben, wenn auch unsere Gründe dafür ziemlich unterschiedlich sind.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Wenn ein Elternteil stirbt, ist das nicht nur schmerzhaft, sondern fundamental erschütternd. Ein Mensch, der immer da war, geht. Wie gelingt das Loslassen und wie lebt es sich als "Sohn ohne Vater"?

... "Sohn ohne Vater" ist Zaimoglus persönlichstes Buch. Der Autor hat tatsächlich seinen Vater verloren. Der Roman ist seine Auseinandersetzung mit der Trauer. Der Ich-Erzähler ist Feridun Zaimoglu auffallend ähnlich: Ein Schriftsteller aus Kiel mit Medizinstudium, der mit seiner Schwester eine Kindheit im Deutschland der 60er und 70er Jahre verbringt, als Kind türkischer Einwanderer. Wie viele der Erinnerungen, Anekdoten und der skurrilen Begegnungen auf dem Raodtrip aber aus dem echten Leben gegriffen sind, ist unwichtig.

Ein Sohn weint um seinen Vater und an diesem Ausnahmezustand der Psyche lässt uns Feridun Zaimoglu mit großer Wahrhaftigkeit teilhaben. Dazu gehören Erinnerungsströme, die den Erzähler unkontrolliert erfassen und zurück in die Vergangenheit tragen. In den Kinderhort, den Familienurlaub in Spanien, ins Medizinstudium, zu missionierenden Evangelikalen, oder einem Spaziergang mit dem Vater durch Hamburg.

Diese Erinnerungsströme wechseln sich ab mit den Stationen der Reise, die voller skurriler Situationen und Begegnungen steckt. Das Buch bewegt sich gleichzeitig vor und zurück. Während der Ich-Erzähler äußerlich und körperlich im Wohnmobil auf den Autobahnen über die Grenzen bis in die Türkei fahren lässt, sich also immer weiter vorwärts bewegt, reist sein Innerstes, zurück in die Vergangenheit.

 Immer wieder spielen Glaube und Aberglaube und das ambivalente Verhältnis des Trauernden dazu eine Rolle. Zaimoglu spielt außerdem mit vermeintlich orientalischen Erzählgewohnheiten und Klischees. Auf diese Weise nähert sich sein Erzähler der Fremde an, die die Türkei für ihn ist. Es ist die Heimat seiner Eltern, nicht aber seine eigene. Der Blick auf das Land ist ein kritisch-distanziert beobachtender, manchmal auch schamvoller, durchzogen von Fragen, die sich ihm selbst stellen nach der eigenen Identität und nach vermeintlichen Gewissheiten:

Das alles ist mir zu südlich. Das alles ist mir fremd. Es stimmt nicht. Die Hitze setzt den Türken zu – stimmt das? Ich bin geblendet von dem Licht, das die Umrisse zerstrahlt. Es wäre mir sehr recht, wenn man mich hier als unzugehörig und außenstehend betrachtete. Ich bin gerne der Degenerierte aus dem Westen. Dumme Gedanken.

Nicht selten stellt sich der Erzähler die Frage: Was denke ich da?

Man folgt beim Lesen einem Menschen, der sich durch die Trauer und die Reise in einem Zustand der Unsicherheit, Zerrissenheit und Unzurechnungsfähigkeit befindet. Inwieweit kann er sich selbst, seinen Wahrnehmungen und Erinnerungen trauen?

Feridun Zaimoglu ist ein zutiefst wahrhaftiger Roman über Trauer, Verlust und Loslassen gelungen.



Aus: "Feridun Zaimoglu: "Sohn ohne Vater"" Nadine Kreuzahler (13.02.2025)
Quelle: https://www.radiodrei.de/themen/literatur/rezensionen/buch/2025/02/ismail-kadare-der-anruf1.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Wer Terry trifft, könnte denken, dieses Gesicht müsse im Duden neben dem Begriff ,,Selbstbewusstsein" abgedruckt sein. Wache Augen, die freundlich, aber bestimmt den Kontakt zum Gegenüber halten, lautes Lachen und Worte sprudeln nur so aus dem Mund, ohne Zögern und Stottern.

Wer denkt, das bedeute, dass es in diesem Leben keinen Struggle gegeben hätte, irrt sich. Mit 34 Jahren hat Terry inzwischen drei Therapien hinter sich und es brauchte viel innere Arbeit, um an den Punkt zu gelangen, an dem Terry heute ist: ganz gut okay mit sich und der Welt zu sein. Warum das alles so schwer war, hatte vor allem mit der Beziehung zum Vater zu tun. Heute hat Terry keinerlei Kontakt mehr zu ihm.

,,Die Beziehung zu meinem Vater war jahrelang in einer Art On-off-Zustand, bis ich vor fünf Jahren zum allerletzten Mal Kontakt mit ihm hatte." Bis Terry etwa 13 Jahre alt war, sei Papa der große Held gewesen. Sehr charismatisch, gut aussehend, es hatte Wirkung, wenn er einen Raum betrat." Wenn Terry über dieses Früher spricht, liegt keine Bitterkeit in der Stimme.

,,Meine Kindheit war schön, bis er irgendwann angefangen hat, im Zuge seiner sportlichen Hobbys Steroide zu nehmen. Er wurde hart gewalttätig. Meist meiner Mutter gegenüber, aber irgendwann auch einmal mir gegenüber. Darüber hinaus ging er immer fremd. Nachts kam es öfters zu Verfolgungsjagden zwischen meiner Mutter, mir im Gepäck, und ihm. Da haben sich Szenen abgespielt wie im Film. Drama ohne Ende."

Während die vermeintliche Stärke und das Selbstbewusstsein des Vaters als Kind noch Sicherheit und Vertrauen in Terry auslösten, begann sich der Schleier der Verklärung mit der Pubertät zu lüften. ,,Mein Vater log bei allem, selbst wenn die Wahrheit unleugbar war. Als Kind checkt man das natürlich nicht. Mein Vater war jemand, der per se dachte, dass der Mann das Sagen im Haus hat. Frauen können zwar eine Meinung haben, aber eigentlich weiß er eh alles besser. Mein Vater war ein extremer Narzisst, der nur an sich dachte. Ich konnte ihm nicht mehr vertrauen."

Mit 15 zog Terry von zu Hause aus, brach den Kontakt zum Vater ab. Die Mutter blieb bei dem Mann, der sie misshandelte, körperlich wie emotional.

,,Going no contact" ist ein Phänomen, das online seit einiger Zeit auffällig oft besprochen wird. Man findet Tausende Erlebnisberichte, auch in Videoform auf Tiktok, Youtube und Instagram. Für das eigene Wohl harte Grenzen gegenüber den Eltern zu ziehen, auch wenn es in der radikalsten Konsequenz bedeutet, einen totalen Kontaktabbruch zu ihnen vorzunehmen, scheint normal geworden zu sein.

Es gibt allerdings wenig wissenschaftliche Daten darüber, ob totale Kontaktabbrüche zwischen Kindern und Eltern heute häufiger stattfinden als früher. Ein Bericht des New Yorker legt dies anhand anekdotischer Beweise nahe. Es gibt aber auch Stimmen, die meinen, die jüngeren Generationen gingen einfach nur transparenter mit ihren Erfahrungen um. Ob junge Menschen nun häufiger mit ihren Eltern ,,Schluss machen" als früher oder nicht – es stellt sich die Frage, ob ,,Going no contact" ein wichtiges Werkzeug zur Heilung seelischer Wunden ist oder vielmehr eine Besorgnis erregende Veränderung in unseren Familienbeziehungen.

,,In unserer Natur als Menschen tragen wir alle die Sehnsucht in uns, mit anderen Menschen, vor allem unserer Familie, guten Kontakt zu haben, uns mit ihnen verbunden zu fühlen," erzählt Michael Kuhn, psychologischer Psychotherapeut in Berlin-Kreuzberg. Er arbeitet häufig mit Menschen zusammen, die problematische Beziehungen zu einem oder beiden Elternteilen aufarbeiten wollen.

Kuhn erstellt unter anderem Gutachten, die benötigt werden, wenn eine Person ihren Nachnamen ändern möchte, meist aufgrund problematischer Beziehungen zu der Person, der sie diesen Namen verdanken. ,,Wenn wir bewusst diese Verbindung kappen, gibt es meist gute Gründe dafür", sagt Kuhn.

Aber kann ein Konflikt gelöst werden, indem man den Kontakt abbricht? ,,Wenn ein Kind den Kontakt zu seinen Eltern abbricht, dann ist das immer ein Versuch des Kindes, sich zu retten. Wenn die Eltern bereit sind, sich infrage zu stellen und ihre Position in dem Konflikt zu hinterfragen, dann kann es eine Lösung geben", so der Psychotherapeut.

Als Terrys erste Therapeutin diese Möglichkeit in den Raum stellte, reagierte Terry ablehnend. ,,Was denkt die, was sie da sagt, dachte ich mir. Was soll das für ein Rat sein? Ich bin doch hier, um rauszufinden, wie ich diese Beziehung richten kann, nicht wie ich sie beende!" Doch dann habe die Therapeutin einen Satz gesagt, der Terry innehalten ließ: ,,Sie versuchen seit 15 Jahren, die Beziehung zu Ihrem Vater zu kitten. Das ist aber nicht Ihre Aufgabe. Sie schaffen das auch nicht, wenn Sie die einzige Person sind, die was dafür tut."

Irgendwann, Jahre später, begann Terry eine neue Therapie. Als auch diese den Punkt erreichte, an dem der Therapeut vorsichtig zu verstehen gab, ein Kontaktabbruch könne sinnvoll sein, begann sich eine Erkenntnis in Terrys Kopf herauszukristallisieren: ,,Ich muss das für mich machen, um nicht noch mehr Energie, Nerven, Tränen und Geld für die Therapie zu verlieren, als ich es eh schon habe. Das muss aufhören!"

Und es hörte auf. Dadurch wurde vieles besser. Terry ist eine Person, die weiß, wer sie ist und vielleicht genauso wichtig: wer nicht. ,,Natürlich habe ich immer noch meine Kopfficks, aber die sind heute ganz andere, als damals, als ich noch Kontakt zu ihm hatte und mich die ganze Zeit ärgern musste, welche Kommentare oder Lügen wohl als Nächstes um die Ecken kommen." Trotzdem überkommt Terry manchmal plötzlich eine Traurigkeit darüber, dass es so sein muss, wie es ist. ,,Weihnachten war richtig schlimm dieses Jahr. Da hat's mich mal wieder richtig getroffen, wie allein sich diese Erfahrung manchmal anfühlt. Aber grundsätzlich geht's mir viel besser damit, wie es ist. Ohne ihn."

Dass es uns so schwerfalle, gewisse Wahrheiten über unsere Eltern zu akzeptieren und daraus Konsequenzen zu ziehen, hänge unter anderem mit Scham zusammen, sagt Michael Kuhn. ,,In uns ist eine tiefe Dankbarkeit gegenüber unseren Eltern verankert. Wir können nicht anders, als sie zu lieben. Dennoch werfen emotional unreife Eltern jenen Kindern, die Grenzen ziehen, oft vor, undankbar zu sein. Allein der Status des Kindes verpflichtet in ihren Augen zu Gehorsam, zu Unterwerfung."

Diese Eltern würden jedoch etwas übersehen, meint Kuhn. Wer alles auf die vermeintliche Undankbarkeit des Kindes schiebe, wolle gewisse Dinge im eigenen Verhalten nicht sehen und richte damit schlussendlich noch mehr Zerstörung an. ,,Die Kinder denken sich dann: Aber das stimmt doch nicht! Ich bin dankbar! Aber ich akzeptiere dieses und jenes Verhalten nicht. Der Kern des Dilemmas solcher Eltern-Kind-Beziehungen ist: Wir lieben unsere Eltern. Aber wir hassen das Verhalten", so Kuhn. Die Macht, das zu ändern, hätten Kinder leider nicht. Das könnten nur die Eltern.

Auch Terry ist im Laufe der Jahre immer wieder auf Unverständnis gestoßen, wenn der Kontaktabbruch zum Vater Thema wurde. ,,Die haben große Augen gemacht und dann folgte meistens ein Satz wie: 'Häää, das ist doch dein Vater! Der meint das nicht so!" oder ,,Ja, aber damit muss man halt lernen zu leben. Das ist eine andere Generation." Terry erzählt das lachend und schüttelt den Kopf. ,,Aber der ist doch nicht 120 Jahre alt! Man kann immer versuchen, kein Arschloch mehr zu sein. Eltern tragen die Verantwortung dafür, kein Arschloch zu sein. Und wenn man eins ist, kann man nicht erwarten, dass dein Kind einfach okay damit ist."

Auf die Frage, ob es eine Möglichkeit gäbe, wieder Kontakt zum Vater, dem einstigen Kindheitshelden, zulassen zu können, antwortet Terry nach kurzem Innehalten und Schmunzeln: ,,Da müsste schon ein krasser charakterlicher Relaunch her!" Und fährt wieder ernster fort: ,,Er ist der Archetyp eines Mannes, den ich komplett ablehne, angefangen bei seinen politischen Ansichten bis hin zu seinen gelebten Werten. Er war gewalttätig, er ist ein heftiger Lügner, ohne Empathie für den Schmerz anderer. Ich weiß nicht, wie wir an einen Punkt kommen sollten, wo ich das alles irgendwie okay finden könnte, nur weil er mein Vater ist."

Auch wenn es keine verlässlichen wissenschaftlichen Daten gibt, lässt sich eines beim Thema ,,Going no contact" feststellen: Es sind vor allem Töchter, die öffentlich über ihre Erfahrungen sprechen und meistens einen Kontaktabbruch zum Vater vorgenommen haben. Ein viel verbreiteter Post dazu lautet folgendermaßen: ,,Ich glaube, Väter verlieren ein wenig den Verstand, wenn ihnen klar wird, dass ihre Töchter ihnen nicht alles so leicht verzeihen wie ihre Ehefrauen."


Aus: "Kontaktabbruch zur Familie: Wenn Eltern verkacken" Nina Sternburg (24.2.2025)
Quelle: https://taz.de/Kontaktabbruch-zur-Familie/!6068525/

QuoteDemokratischeZelleEins

Ich kenne in meinem Bekanntenkreis viele Fälle von Kindern, die den Kontakt zu einem Elternteil abgebrochen haben. In manchen Fällen gibt es scheinbar einfache Erklärungen, wie z.B. Scheidung, Alkoholismus und Gewalt. In vielen der mir bekannten Fälle haben die Kinder aber auch Geschwister, die sich nicht vom Elternteil trennen. Da machen ganz individuelle Erfahrungen und individuelle Wahrnehmungen den Unterschied. Bei Scheidungen scheint manches Kind, die Trennung der Eltern als Zwang zu einer Entscheidung zwischen beiden Elternteilen zu sehen. Die Vorstellung, Familie sei ein harmonisches Vieleck gleicher starker, Beziehungen ist eine Illusion. Unbewusst machen Eltern Unterschiede und Kindern entwickeln früh Präferenzen. Ich kenne übrigens keinen Fall, indem es zu einer späteren Aussöhnung gekommen wäre. Wenn Kinder den Kontakt einmal abgebrochen haben, scheint der Bruch meistens endgültig. Kinder und Eltern kann es dann gut tun, sich mit der Situation abzufinden. Aber der Bruch ist nie wirklich endgültig. Spätestens im Todesfall kann die Verwandtschaft wieder zur Herausforderung werden, weil man sich um die Bestattung kümmern und die Frage nach der Erbschaft beantworten muss.


QuoteSonntagssegler @DemokratischeZelleEins:

In nicht ganz so toxischen Fällen reicht es auch aus, einfach nur (vorzeitig) auszuziehen.
Das gibt es sicher auch viel häufiger. Aber ein gewalttätiger Narzisst ist schon am oberen Ende.


QuoteStinepizza

Vielen Dank für diesen Bericht! Ich bin 71 Jahre alt und habe noch nie gehört, dass eine Tochter den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen hat - außer mir. Er war ein sehr ähnlicher Typ wie der in dem Artikel dargestellte "Vater". Ich habe den Kontakt widerwillig aufrecht erhalten, solange meine Mutter noch lebte, denn die brauchte mich und war völlig von ihm abhängig. Danach war Schluss mit der Schauspielerei. Er hat mich (und meinen Bruder gleich mit) dann aus seinem Testament gestrichen, aber das war mir völlig egal. Ich bin Christin und habe Probleme gehabt, weil ich meine Eltern ja ehren sollte, und an meinem Vater war nichts ehrenhaftes. Mir ist das übrigens so ungefähr mit drei Jahren klar geworden, dass der Held meiner Kindheit ein mieses Dreckstück war.


QuoteEdgar Schmauch

Ich habe mich mit 18 (inzwischen bin ich 72) von meinen Eltern komplett getrennt, die beste Entscheidung meines Lebens. Inzwischen habe ich wieder kontakt zu meinen Geschwistern. Dieser Beziehung hat die 45 jährige Pause nicht geschadet.


QuoteSchytomyr Shiba

Das kann auch schief gehen. Ich wurde als Kind von meiner psychisch kranken Mutter dahin manipuliert, jeden Kontakt zu meinem Vater abzubrechen. Und dabei wäre es auch geblieben, hätte mein Vater nicht über Jahrzehnte stur an mir festgehalten! Ich hätte niemals die Chance bekommen, hinter die Kulissen meiner Mutter zu schauen, die Dinge richtig einzuordnen, die ich als Kind einfach nicht verstehen konnte. Aber die Jahre, die meinem Vater und mir genommen wurden, bekomme ich niemals zurück.


QuoteDr. McSchreck

... Übrigens finde ich den Artikel gut auch für Eltern, die vielleicht gar nicht verstehen, was er Grund für den Kontaktabbruch ist (liest man häufiger). ...



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Textaris(txt*bot)

Quote[...] ,,Lange fürchtete ich, nach ihrem (der Mutter, Götz Eisenberg) Tod in Panik darüber aufzuwachen, dass sie nicht mehr in der Welt war, und wenn das nicht geschehen ist, dann wohl, weil sie mir genug Liebe gab, um auch ohne sie leben zu können." Hier benennt der dänische Schriftsteller Søren Ulrik Thomsen in seinem Buch ,,Store Kongensgade 23" das Paradox der Mutterliebe, das darin besteht, dass sie uns, wenn wir ,,gut genug" geliebt worden sind, instand setzt, uns von der Mutter trennen und unser eigenes Leben führen zu können. Wir dürfen uns dann ohne Schuldgefühl von ihr entfernen, um uns der Welt und anderen Liebesobjekten zuzuwenden. Richtig dosierte Mutterliebe ist so gesehen eine ,,Einladung ins Leben". Winnicotts Formulierung der ,,good enough mother", also der Mutter, die zwar nicht ideal, aber doch ,,gut genug" ist, um ihrem Kind eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen, ist in ihrem nüchternen Klang gerade in unseren von einem Optimierungswahn gekennzeichneten Zeiten ein probates Gegengift gegen Überforderung. Umgekehrt ist es so: Wenn uns die Mutterliebe fehlt oder zur Unzeit entzogen wird, bekommt unser Weltverhältnis einen oft irreparablen Knacks. Die andere Seite besteht darin: Ich habe etwas verloren und dadurch trage ich eine Sehnsucht in mir. Der Verlust treibt einen lebendigen Menschen an, nach dem Verlorenen zu suchen und es womöglich wiederzufinden. Ich bin allerdings durch die durch den frühen Verlust freigesetzte Angst derart gehandicapt und in meinen Möglichkeiten eingeschränkt, dass ich noch nicht einmal ungehindert suchen kann. Ich suche nur in meinem Kopf, und der ist für eine solche Suche eigentlich zu eng. Das ist mein Dilemma und Lebensthema.

...


Aus: "114 | Das Schreckgespenst des ,,kriminellen Ausländers"" Götz Eisenberg (25. Februar 2025)
Quelle: https://durchhalteprosa.de/2025/02/25/114-das-schreckgespenst-des-kriminellen-auslaenders/

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt, wie lange wir noch miteinander sprechen können. Lesen kann er schon seit einiger Zeit nicht mehr. Es interessiert ihn auch nicht mehr. Ich frage ihn, was ich ihm mitbringen kann. Er will nichts mehr. Er möchte nur, dass ich mich um seine Bücher kümmere, später. Und um seine Ferngläser.

Die Ferngläser, sie sind mit meinen frühesten Erinnerungen an meinen Vater und unsere Spaziergänge verbunden. Nie durften sie fehlen. Immer hing ein großes, schweres um seinen Hals. Bei langen Spaziergängen immer wieder sein ,,Halt, Moment mal, bitte!", Fernglas an die Augen geführt und geschaut. Immer gab es etwas zu sehen. Immer wusste er genau, was für ein Vogel da gerade sang, saß oder flog, nannte uns den Namen, schätzte bei Vogelscharen ihre Anzahl. Manche Vogellaute konnte er verblüffend gut nachahmen, sodass er Antwort erhielt, als  würden die Vögel mit ihm ein kleines Schwätzchen halten ... Auf seinen Reisen hatte er immer mehrere Ferngläser dabei.

In die Ferne sehen, entdecken, was andere übersehen, auch in die Ferne schweifen, reisen, das liebte er. Und jeden Abend schrieb er seine ornithologischen Beobachtungen in sein Notizbuch. Ich habe nie in seinen Notizbüchern gelesen, ich weiß nicht, ob er auch andere Dinge festhielt, so wie ich in meinen Tagebüchern. Seine Notizbücher füllen mehrere Fächer eines Schranks.

Seine Bibliothek besteht hauptsächlich aus ornithologischen Büchern. So viele wunderschöne Bücher über Vögel aus allen Teilen der Welt. Ein paar davon hat er mit eigenen Augen gesehen (mithilfe seiner Ferngläser). Einige sah er sich immer wieder in den Büchern an. Er kannte von fast allen nicht nur ihren deutschen Namen, sondern auch ihren lateinischen. Was mich immer tief beeindruckte und mit ein Grund dafür war, dass ich gern Latein lernen wollte als junges Mädchen. Viele Bücher wollte ich auch haben, wenn ich mal erwachsen wäre. Und viel reisen wollte ich.

Ich kann nicht alle seine Ferngläser aufheben, eines für mich, eines für meinen Liebsten. Ich kann auch nicht alle seine Bücher aufbewahren, so gern ich es würde. Aber unsere Wohnung bietet nicht genug Platz für eine weitere umfangreiche Bibliothek.

Einige Bücher meines Vaters werde ich auf jeden Fall behalten, zum Beispiel das, mit dem ich lesen lernte, Die Vögel Europas von R. Peterson et al. Das mit dem Lesenlernen kam so: Als ich klein war, winkte mich mein Vater jeden Sonntag nach dem Essen zu sich aufs Sofa, wo er mir ein Vogelbestimmungsbuch unter die Nase hielt. Er deutete auf die Abbildungen der verschiedenen Vögel und nannte mir ihre Namen, die darunter standen. Als er den Eindruck hatte, dass ich mir die Bilder und die jeweiligen Namen eingeprägt hatte, hat er mich abgehört. Er deutete auf die Abbildung und ich nannte den Namen. Von Sonntag zu Sonntag verbesserte sich meine Kenntnis von Eulen, Krähenvögeln, Sperlingsvögeln, Spechten und so weiter. An einem dieser Sonntage hat es dann wohl ,,Klick" gemacht: Ich erkannte die Buchstaben wieder, setzte sie zusammen und konnte sie lesen. Das erleichterte das ,,Merken" natürlich enorm, da ich zur Sicherheit einen Blick auf den Namen warf, ehe ich ihn nannte. Als mein Vater dahinterkam, war er hin- und hergerissen zwischen der Freude darüber, dass ich lesen konnte und der Enttäuschung, dass unser sonntägliches Ritual damit beendet war.

So viele Bücher, so viele Geschichten, die mit ihnen verbunden sind. Bücher, die mit ihm auf Reisen gingen. Bücher, in denen er mir seltene, wundersame Vögel zeigte. Bücher über Vögel, die er vermutlich nie außerhalb der Bücher gesehen hat. So viele Bücher.

Im November begleitete ich meine Mutter bis zum endgültigen Abschied. Nun bereite ich mich auf die letzte Reise meines Vaters vor. Früher hat er immer angerufen, wenn er auf Reisen gut angekommen war. Das werde ich vermissen. Ganz fürchterlich werde ich ihn vermissen.


Aus: "Meines Vaters Bücher" Petra Gust-Kazakos (4. März 2020)
Quelle: https://phileablog.wordpress.com/2020/03/04/meines-vaters-buecher/