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[Zur autoritären Persönlichkeit... ]

Started by Textaris(txt*bot), December 24, 2010, 01:21:21 PM

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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Liest man den Untertan 100 Jahre später, macht nicht nur die Prägnanz staunen, mit der Mann die Jahre unter dem Adlerhelm schildert. Verblüffend ist vor allem seine seherische Kraft. Zwischen 1906 und 1914 zu Papier gebracht, kündet der Roman bereits vom Zusammenbruch des Kaiserreichs im Krieg und sogar schon von den Mächten, die Weimar zerstören werden. Ja, selbst die Gegenwart des Jahres 2018 meint man zwischen den Zeilen aufblitzen zu sehen. Da bräuchte es nicht erst Zahlen wie diese: 40 Prozent der Deutschen, ergab eine pünktlich zum Jahrestag der Novemberrevolution präsentierte Studie der Universität Leipzig, wären bereit, ein autoritäres Regime zu unterstützen.

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Aus: ""Einer nur ist Herr"" Christian Staas (21. November 2018)
Quelle: https://www.zeit.de/2018/48/der-untertan-heinrich-mann-diederich-hessling-lebensgeschichte-kaiserreich/komplettansicht

https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Untertan

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Quote[...] "Man sollte einen starken Führer haben, der sich nicht um ein Parlament und Wahlen kümmern muss."

Einen solchen Zustand wünschen sich aktuell 22 Prozent der Österreicher (Umfrage des Sora-Instituts). Damit wir uns richtig verstehen: Das ist die klare, eindeutige Definition eines diktatorischen Herrschers ohne jede demokratische Kontrolle. Im Grunde ärger als die Putins, Erdogans und Orbáns, denn sogar die können nicht ganz ohne Rücksicht auf Wahlen regieren.

Das Sora-Institut stellt genau diese Frage schon länger, die Zustimmung zum "starken Führer" schwankt. Sie war schon höher, aber auch niedriger. 2007 waren es 14 Prozent, die einer solchen autoritären Figur zustimmten, heute eben 22 Prozent, dazwischen (2014) waren es schon einmal volle 29 Prozent). Wobei 2019 erstmals das ökonomische obere Drittel signifikant häufiger (von 15 auf 23 Prozent) der Meinung war, "a klaner Hitler" gehöre her. Zählt man die zusammen, die für einen Diktator sind, und die, die zwar die Demokratie wollen, aber mit Einschränkung von Grundrechten wie Meinungsfreiheit usw., kommt man auf 38 (in Worten: achtunddreißig) Prozent.

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Aus: "Autoritäres Potenzial" Hans Rauscher (11. Dezember 2019)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000112168429/autoritaeres-potenzial

QuoteTuring Oracle

Ich verstehe nicht was sich die, die das wünschen, erwarten. Das dieser Typ dann die Dinge tut, die ihnen zu gute kommen, ihre Interessen vertritt?


QuoteGiraffin

Der Wunsch nach dem Führer ist die logische Konsequenz einer haltungslosen Gesellschaft. Man braucht sich nicht mehr mit unterschiedlichen Meinungen auseinanderzusetzen, sondern sich nur mehr an die Seite des Führers zu stellen und wird dann schon etwas werden. Die Anderen, die Lästigen, werden dann schon irgendwohin verschwinden.


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Quote... überall nutzt Assange die Freiheiten, die demokratische Rechtsstaaten bieten. Seine Server stehen in Ländern mit einem großen Herz für Meinungsfreiheit. Dennoch klagt er diese Demokratien an, schimpft sie "autoritäre Konspirationen", die er durch – ja, man muss das Wort benutzen – totalitäre Transparenz zur Offenheit zwingen will. ...

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Aus: "Sein größter Feind" (07.12.2010)
Ein Kommentar von Stefan Kornelius
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/politik/wikileaks-julian-assange-verhaftet-sein-groesster-feind-1.1033329

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Quote... Über Wikileaks wird in diesen Tagen viel geschrieben, viel zu viel. ... Das globale Dorfwirtshaus braucht eine Sperrstunde.


Aus: "Sperrstunde im globalen Dorfwirtshaus" (die-tagespost.de, 08.12.2010)
Die Tagespost – Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur
Quelle: http://www.die-tagespost.de/art456,120487

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QuoteWas mir an vielen Kritikern von Wikileaks auffällt, ist, daß ihr Weltbild auf Vertrauen gegenüber intransparenten Autoritäten und Institutionen basiert, die Hörigkeit und Willfährigkeit fordern, statt die Zustimmung für ihr Handeln durch die Überprüfbarkeit des selbigen zu gewinnen.

Wenn die politischen Apparate der Welt ein stabiles, auf Grundsätzen der Ethik basierendes Gerüst für staatliches Handeln geschaffen hätten, welches Staaten hervorbringt, in die man Vertrauen legen kann, wäre Wikileaks in erster Linie gar nicht notwendig.

Die bloße Existenz von Wikileaks und besonders die Zahl der Unterstützer dokumentiert Wikileaks Daseinsberechtigung und ist ein Beleg dafür, daß die "unabhängige Presse" über Jahre hinweg dysfunktional war und ist.

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Aus: "Was viele Wikileaks-Kritiker gemein haben" Peter Piksa am  (10.12.2010)
Quelle: http://www.piksa.info/blog/2010/12/10/was-viele-wikileaks-kritiker-gemein-haben/

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Quote[...] Die Theorie der Autoritären Persönlichkeit bezeichnet ein typisches Muster von Einstellungen und Persönlichkeitseigenschaften, die ein Potential für antidemokratische und faschistische Einstellungen und Verhaltensweisen bilden sollen. Während die Facetten des autoritären Verhaltens bzw. der Autoritarismus von vielen Autoren ähnlich beschrieben werden, unterscheiden sich die theoretischen Erklärungen, wie diese autoritären Züge durch spezifische psychische Verarbeitungsmuster wichtiger emotionaler Erfahrungen während der Kindheit und Jugend (Pubertät und Adoleszenz) entstehen.

... Das heutige Verständnis der autoritären Persönlichkeit wurde hauptsächlich durch die 1950 von Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford veröffentlichte Studie The Authoritarian Personality geprägt. Die Studie war Teil eines großen Forschungsprojektes an der University of California, Berkeley über die psychologischen Grundlagen von Vorurteilen, insbesondere solchen antisemitischer Art.

Vorausgegangen war Wilhelm Reichs psychoanalytisch-gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit dem Faschismus bzw. dem Nationalsozialismus. Er behauptete einen fundamentalen Zusammenhang zwischen autoritärer Triebunterdrückung und faschistischer Ideologie. Die autoritär verfasste Familie sei die Keimzelle des autoritären Staates.


... Im Jahr 1943 begannen der Sozialpsychologe R. Nevitt Sanford zusammen mit dem Psychiater und Psychologen Daniel J. Levinson in Berkeley ein Forschungsprojekt über Antisemitismus (Berkeley Public Opinion Study, University of California). In dem gemeinsam mit dem emigrierten Frankfurter Institut für Sozialforschung begonnenen Studien über Vorurteile wurde Sanford 1944 gemeinsam mit dem Philosophen und Gesellschaftstheoretiker Theodor W. Adorno Forschungsdirektor. Die psychoanalytisch ausgebildete Psychologin Else Frenkel-Brunswik war eine maßgebliche Mitarbeiterin und Mitautorin. Studies in Prejudice entstand als wissenschaftlicher Beitrag des American Jewish Congress zur US-Kriegsanstrengung, dabei stand im Hintergrund die Frage nach dem in den USA latenten Antisemitismus, wie er sich zum Beispiel in dem Vorurteil kundtat: Die Juden drückten sich vor dem Kriegsdienst, seien aber die größten Nutznießer des Krieges.[1]

Das Buch über die Authoritarian Personality erschien verzögert erst im Jahr 1950, obwohl die meisten Manuskripte bereits Mitte 1947 fertig waren. Über die Gründe gibt es unterschiedliche Darstellungen und Hinweise: Auseinandersetzungen wegen finanzieller Schwierigkeiten, Diskussionen über eine faire Kennzeichnung ihrer Anteile, über Buchtitel und Vorwort. Adorno stellte, weil es zeitweilig keine Finanzierung mehr gab, die Arbeit an seinen Kapiteln ein und schloss diese erst 1949 vor der Rückkehr des emigrierten Instituts nach Frankfurt ab.[2] Ins Deutsche wurde das Buch, das ja nicht zuletzt mit Blick auf den Nationalsozialismus entstand, nie vollständig übersetzt.

Forschungskonzeption und Theorie

Die Autoren stellten sich die Frage, weshalb bestimmte Individuen antisemitische und ethnozentrische Ideen akzeptieren und andere nicht. Bei den ethnozentrischen und anderen Vorurteilen handele es sich nicht einfach um falsche und konformistische Meinungen, die einfach zu korrigieren wären, sondern diese hätten tieferliegende und weniger zugängliche Motive. Wer als Kleinkind von seinen Eltern autoritär behandelt werde, entwickle später selber einen autoritären Charakter, der kaum noch beeinflussbar sei und sich durch Feindseligkeit gegenüber Anderen oder Unterlegenen auszeichne.

In diesem Forschungsvorhaben ging es vorrangig um psychologische Variablen und im Kern um psychoanalytische Erklärungshypothesen mit der praktischen, wenn auch utopisch erscheinenden Absicht, zum demokratischen Prozess beitragen zu können. Im ersten Schritt sollten die Grundzüge der autoritären Persönlichkeit erfasst werden: starres Festhalten an Konventionen, Machtorientierung und Unterwürfigkeit, Destruktion und Zynismus. Über die bloße Beschreibung der Vorurteile hinaus sollte entwicklungspsychologisch erkundet werden, aus welchen grundlegenden Motiven, emotionalen Erfahrungen und Charaktereigenschaften solche Denkmuster entstehen. So wurde zwischen den geäußerten Meinungen und den zugrundeliegenden dynamisch miteinander verbundenen (und unbewussten) Strukturen des Individuums unterschieden. Die Autoren versuchten, Methoden der Sozialpsychologie und die psychoanalytisch orientierte dynamische Charakterlehre, interpretative und statistische Verfahren, miteinander zu verbinden.

Nach der Theorie der autoritären Persönlichkeit zeichnen sich Personen, die faschistischen Ideologien anhängen, durch eine unsachgemäße, vorurteilsvolle Betrachtung der sozialen und politischen Verhältnisse, u.a. durch Antisemitismus und Ethnozentrismus aus. Aus psychoanalytischer Sicht wird eine – weitgehend unbewusste – Feindseligkeit auf andere Menschen gerichtet. Diese Projektion bezieht sich vor allem auf ethnische, politische oder religiöse Minderheiten, zumal hier weniger gesellschaftliche Sanktionen zu befürchten sind bzw. bereits solche Vorurteile existieren. Da die faschistischen Gruppierungen im Wesentlichen aus dem rechten bzw. konservativen Lager Unterstützung erfuhren, wurden Teile der konservativen Einstellung ebenfalls als Ausdruck dieser Persönlichkeitsstruktur gewertet.
Als Untersuchungsmethoden dienten standardisierte Fragebogen: die AS-Skala ("Antisemitismus"), die E-Skala ("Ethnozentrismus") und die PEC-Skala ("politisch-ökonomischer Konservatismus"). Die zugrunde liegende autoritären Persönlichkeitsstruktur sollte mit der neuen California-F-Skala ("implizite antidemokratische Tendenzen u. Faschismuspotential") erfasst werden. Sie setzt sich aus folgenden Subskalen zusammen:

    * Conventionalism – Festhalten an Hergebrachtem
    * Authoritarian Submission – Autoritätshörigkeit/-unterwürfigkeit
    * Authoritarian Aggression – Tendenz, Verstöße gegen hergebrachte Werte ahnden zu wollen
    * Anti-Intraception – Ablehnung des Subjektiven, Imaginativen und Schöngeistigen
    * Superstition and Stereotype – Aberglaube, Klischee, Kategorisierung und Schicksalsdeterminismus
    * Power and Toughness – Identifikation mit Machthabern, Überbetonung der gesellschaftlich befürworteten Eigenschaften des Ich
    * Destructiveness and Cynicism – Allgemeine Feindseligkeit, Herabsetzung anderer Menschen
    * Projectivity – Veranlagung, an die Existenz des Bösen in der Welt zu glauben und unbewusste emotionale Impulse nach außen zu projizieren
    * Sex – Übertriebene Bedenken bezüglich sexueller Geschehnisse


... Rezeption und Kritik

In den USA fand The Authoritarian Personality großes Interesse und Anerkennung der Absichten. Die fachliche Kritik richtete sich teils gegen die psychoanalytischen Erklärungsversuche, teils gegen die fehlende Repräsentativität der Erhebung. Häufig wurde bemängelt, dass nicht hinreichend zwischen der autoritären Persönlichkeit und dem gewöhnlichen Konservativismus unterschieden wurde. Außerdem existiert Autoritarismus nicht nur im rechten, sondern auch im linken Extrem politischer Einstellungen – wie u.a. Hans Jürgen Eysenck und Milton Rokeach darlegten. Edward Shils wandte ein, der Studie liege eine überholte politische Rechts-Links-Einteilung zugrunde.[5]

Die kritische Auseinandersetzung über die Komponenten (Subskalen) der F-Skala dauern bis heute an. Diese wirken psychologisch heterogen und sind individuell verschieden ausgeprägt, erscheinen also nicht als eine Einheit. Der Begriff Syndrom drückt ja aus, dass es sich um ein Muster verwandter Merkmale handelt, die typisch sind, auch wenn u.U. einzelne Aspekte fehlen. Der sozioökonomische Status, Bildungsgrad, Schichtzugehörigkeit u.a. Merkmale könnten einige der beobachteten Zusammenhänge vielleicht einfacher erklären. Trotz methodischer Unzulänglichkeiten hat die Theorie der Autoritären Persönlichkeit großen Einfluss auf nachfolgende Forschungsarbeiten ausgeübt.

In Deutschland war unter den Verhältnissen der Nachkriegsjahre vorauszusehen, dass empirische Sozialforschung über potentiell-faschistische Denkmuster bei vielen Personen Anstoß und Abwehr auslösen würde. Die zumindest in den ersten Jahren nur geringe Neigung deutscher Historiker, Soziologen und Psychologen, sich wissenschaftlich mit der deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen, wurde inzwischen verschiedentlich dargestellt. Die Rezensionen des Buchs waren zwiespältig, teils sogar polemisch.

... Es gibt weiterhin Einwände gegen den Begriff der autoritären Persönlichkeit und Kritik an den empirischen Untersuchungen, die sich in der Regel nur auf Fragebogen (siehe: F-Skala) oder Berichte stützen und nicht auf die Beobachtung des autoritären Verhaltens im Alltag. Wenn von einem typischen Muster von Einstellungen und Handlungsabsichten gesprochen wird, bedeutet dies, dass einzelne Komponenten durchaus fehlen können. Trotz solcher Vorbehalte handelt es sich um ein sehr wichtiges Konzept, und die besonders ausgeprägten Formen der autoritären Persönlichkeit sind überall zu erkennen: unübersehbar in Familien, in der Politik und Wirtschaft, in Institutionen und im Alltag. Die autoritäre Persönlichkeit ist konformistisch. Abweichungen vom ,,Normalen" werden abgelehnt, u. U. verfolgt. Individualismus und liberale Einstellung oder ein kultureller Pluralismus werden nicht toleriert.

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Einzelnachweise:

  1. ↑ Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule: Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung. C. Hanser, 1987. S. 390 ff.; Hans-Joachim Dahms: Positivismusstreit: die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus. Suhrkamp, 1994. ISBN 3518286587, 9783518286586. S. 254
  2. ↑ Quellenhinweise siehe Fahrenberg und Steiner, 2004, Wiggershaus 1996 u.a.
  3. ↑ Quellenhinweise siehe Fahrenberg und Steiner, 2004; Wiggershaus 1996
  4. ↑ Marie Jahoda: Ich habe die Welt nicht verändert. Lebenserinnerungen einer Pionierin der Sozialforschung. Beltz, Weinheim 2002, S. 126, S. 134
  5. ↑ Edward Shils: Authoritarianism 'Right' and 'Left'. In: Richard Christie, Marie Jahoda (Hrsg.): Studies in the Scope and Method of 'The Authoritarian Personality'. Glencoe, Ill. 1954
  6. ↑ Oesterreich, 1996, S. 176



Aus: "Autoritäre Persönlichkeit" (22. November 2010)
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Autorit%C3%A4re_Pers%C3%B6nlichkeit


Textaris(txt*bot)

#1
QuoteMünchen - Der Duisburger Historiker Andreas Kramer (49) sorgte mit einer spektakulären Aussage in einem Prozess in Luxemburg für Aufsehen. Das Oktoberfest-Attentat im September 1980, bei dem 13 Menschen ums Leben kamen und mehr als 200 verletzt wurden, sei von seinem Vater geplant worden. Er habe zusammen mit Gundolf Köhler (21) auch die Bombe gebaut. Der AZ gab er ein exklusives Interview.


AZ: Herr Kramer, Sie haben vor Gericht unter Eid ausgesagt, dass der Geheimdienst hinter dem Bombenanschlag auf das Münchner Oktoberfest steckt. Sind Sie sich da ganz sicher?
ANDREAS KRAMER: Natürlich bin ich mir sicher, sonst würde ich so einen schweren Vorwurf nicht erheben. Es war mein Vater, der maßgeblich daran beteiligt war. Er hat es mir selbst erzählt.


War ihr Vater ein Nazi?
Nein, ein Nazi war er nicht. Er war sicherlich politisch sehr rechts stehend, der NPD nahe. Und er ordnete sich den Befehlsstrukturen, die bei der Bundeswehr und den Geheimdiensten bestehen, vorbehaltlos unter.


Ihren Schilderungen zufolge muss er aber völlig skrupellos gewesen sein, wenn er an den Planungen des Oktoberfestanschlags und am Bau der Bombe in dieser Form beteiligt war.
Mein Vater war ein Mörder. Skrupellosigkeit ist da wahrscheinlich eine Voraussetzung. Ich weiß nur, dass ihn die schrecklichen Folgen des Attentats hinterher sehr bewusst geworden sind. ,,Das habe ich nicht gewollt", hat er mir gesagt. Eine Entschuldigung dafür gibt es aber natürlich letztendlich nicht.


Ihr Vater hat Sie über seine Tätigkeit, um es sehr neutral auszudrücken, ins Vertrauen gezogen. War das nicht sehr belastend für Sie?
Als die Bombe in München hoch ging, war ich 17 und habe das ganze Ausmaß und die Hintergründe sicherlich nicht erkannt. Aber dass er dadurch zum Mörder geworden ist, war mir klar. Das hat sich natürlich auch auf unser Verhältnis ausgewirkt – und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.


Haben Sie daran gedacht, sich an die Polizei oder die Staatsanwaltschaft zu wenden?
Daran gedacht habe ich schon. Aber wer hätte mir, einem Jugendlichen, unter diesen Umständen schon geglaubt?


Hat das Münchner Attentat ihren Vater letztendlich verändert?
Welche Auswirkungen in seiner Psyche dadurch ausgelöst wurden, kann ich nur sehr schwer beurteilen. Nach außen hin war nichts Gravierendes erkennbar. Er hat ja auch weitergemacht. In Luxemburg findet zur Zeit der Prozess gegen zwei ehemalige Elite-Polizisten statt, die für rund 20 Bombenanschläge Mitte der 80er Jahre verantwortlich gemacht werden. Auch in diesem Fall zog mein Vater im Hintergrund maßgeblich die Fäden. Ich bin dazu ja als Zeuge unter Eid ausführlich vernommen worden.


Haben Sie jetzt nach Ihrer Aussage und den schweren Vorwürfen gegen die Geheimdienste Angst? Angst um ihr Leben?
Es hat in Zusammenhang mit dem Oktoberfest-Attentat und Gladio merkwürdige Todesfälle gegeben. Daran denke ich natürlich. Aber das hält mich nicht davon ab, die Wahrheit zu sagen.



Aus: "Terrorismus Historiker: Darum plante mein Vater das Wiesn-Attentat" Helmut Reister (05.05.2013)
Quelle: http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.terrorismus-historiker-darum-plante-mein-vater-das-wiesn-attentat.ecdd3bfd-97f0-4f0d-92f8-578c01748cad.html


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Volker Koop hält sich mit psychologischen Spekulationen zurück – eine Stärke eines nüchtern argumentierenden Buches.

"Für ihn war das Töten kein Mord, sondern die Erfüllung eines Befehls. Das war, glaube ich, das Entscheidende, die Triebfeder für ihn überhaupt: Dass er einen Befehl von Himmler erhalten hatte, nämlich – insbesondere in der Endphase – Juden zu ermorden, auszurotten. Er hat in diesen Juden und den anderen, die dort in Auschwitz umgebracht wurden, nie Menschen gesehen, sondern eigentlich eher Objekte, die es zu vernichten galt. Und hätte er eine andere Aufgabe von Himmler bekommen, hätte er diese genauso – in Anführungsstrichen, auch wenn sich das schlimm anhört - gewissenhaft erfüllt wie die Ermordung von Menschen. Er war an diesen Platz gestellt worden und wollte seine Aufgabe so perfekt wie möglich erfüllen."

...

Volker Koop: "Rudolf Höß: Der Kommandant von Auschwitz. Eine Biografie"
Böhlau Verlag, 338 Seiten, ISBN: 978-3-412-22353-3


Aus: "Auschwitz-Kommandant Höß: Kaltblütig agierender Verwalter des Massenmordes" (26.01.2015)
Quelle: http://www.deutschlandfunk.de/auschwitz-kommandant-hoess-kaltbluetig-agierender-verwalter.1310.de.html?dram:article_id=309823

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Der Sozialpsychologe Sebastian Winter glaubt: Judenfeindlichkeit ist mehr als nur ein Sammelsurium an Vorurteilen. An der International Psychoanalytic University in Berlin forscht er zu den Ursachen.

ZEIT ONLINE: Sie bezeichnen den Antisemitismus als kollektive Wahnerkrankung. Was meinen Sie damit?

Sebastian Winter: Es ist augenfällig, dass antisemitische Weltbilder mit ihrer Idee einer jüdischen Weltverschwörung Ähnlichkeiten zum Verfolgungswahn aufweisen. Die psychischen Mechanismen sind die gleichen.

ZEIT ONLINE: Ein Antisemit würde aber niemals zur Psychoanalyse gehen, schreiben Sie. Warum nicht?

Winter: Um zur Psychoanalyse zu gehen, braucht es die Bereitschaft, sich selbst genauer zu betrachten. Dem autoritären Charakter, wie Theodor W. Adorno das nannte, fehlt diese Bereitschaft. Er projiziert stattdessen seine inneren Konflikte nach außen und nimmt sie so als Bestandteil eines Anderen wahr. Antisemitismus ist Teil dieser Persönlichkeitsstruktur.

ZEIT ONLINE: Der Antisemit sieht in Jüdinnen und Juden also das, was er an sich selbst nicht mag?

Winter: Genau. Das teilt der Antisemitismus mit allen anderen Formen des Syndroms gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit: die Projektion von eigenen unerwünschten Impulsen. Das findet sich auch im Rassismus wieder, in Bildern von "faulen Griechen" oder "sexistischen Nordafrikanern". Hier geht es jedoch um eine Legitimation eigener Herrschaft, während der Antisemitismus das Gegenteil ist: Der Antisemit rebelliert vermeintlich gegen eine herrschende Klasse. Das hat teils einen paranoiden Charakter. Der entscheidende Unterschied zum Wahn im eigentlichen Sinne ist, dass Antisemitinnen und Antisemiten erst einmal nicht klinisch auffällig sind. Diese Personen gelten als normal und psychisch gesund – vorausgesetzt, ihr Umfeld ist tendenziell antisemitisch.

ZEIT ONLINE: Antisemitismus funktioniert also nur im Kollektiv?

Winter: Ja. Um den Antisemitismus zu verstehen, muss man sich die Weltanschauung dahinter anschauen: Es gibt immer das Gute und das Böse. Das Gute ist immer eine Form von Kollektiv, das kann die Nation oder eine Gemeinschaft von Gläubigen sein. Aus diesem Kollektiv heraus wird alles Böse nach außen projiziert. So scheint die Gemeinschaft frei von Konflikten, wie ein heiler Innenraum.

ZEIT ONLINE: Jean-Paul Sartre schrieb 1946, der Antisemitismus sei keine Denkweise, sondern eine Leidenschaft. Und: "Wenn es keinen Juden gäbe, der Antisemit würde ihn erfinden." Woher kommt diese Sogwirkung des Antisemitismus?

Winter: Der Antisemitismus ist nicht einfach nur ein Konglomerat von Vorurteilen. Es handelt sich tatsächlich um eine Leidenschaft. Sigmund Freud hat das Massenpsychologie genannt: Alle Beteiligten des Kollektivs können sich mit einem gemeinsamen Ideal identifizieren. Es herrscht ein Gefühl von Einheit, das nur dadurch funktioniert, dass alles Störende außen ist. Deswegen sagt Sartre auch, der Antisemit habe vor allem Angst, vor sich selbst, vor seiner Willensfreiheit, seiner Verantwortung, seiner Einsamkeit, vor allem – außer vor den Juden. Er braucht sie aber als Feindbild.

ZEIT ONLINE: Funktioniert dieser Mechanismus überall gleich – im islamistischen, im rechten, im linken Antisemitismus?

Winter: Die Grundmuster sind dieselben. Auf der konkreten Ebene gibt es natürlich Unterschiede und verschiedenste historische Ausprägungen. Aber auf der Diskursebene finden wir in allen antisemitischen Lagern die Vorstellung von den Juden als Strippenzieher hinter den Kulissen, als heimliche Herrscher. Nur so kann es zu irritierenden Bündnissen kommen wie beispielsweise auf den antiisraelischen Demonstrationen 2014. Da haben Islamisten, Rechtsextreme und Angehörige eines bestimmten Spektrums der deutschen Linken gemeinsam protestiert. Das wäre bei jedem anderen Thema undenkbar.

ZEIT ONLINE: Worin unterscheiden sich die verschiedenen antisemitischen Strömungen?

Winter: Die mörderischste Variante des Antisemitismus, die am ehesten in Waffengewalt umschlägt, ist immer noch der islamistische Antisemitismus, was man zum Beispiel sieht an den Anschlägen auf eine jüdische Schule in Toulouse 2012, den koscheren Supermarkt in Paris 2015, das jüdische Museum in Brüssel 2014 und die jüdische Rentnerin vor wenigen Wochen. In der Bevölkerung am verbreitetsten ist derzeit aber sicherlich der israelbezogene und verschwörungstheoretische Antisemitismus.Im neonazistischen Spektrum finden sich auch noch Versatzstücke eines biologischen, rassentheoretischen Antisemitismus.

ZEIT ONLINE: Und wie verhält es sich mit einem spezifisch deutschen Antisemitismus? Der israelische Psychoanalytiker Zvi Rix sagte einst, die Deutschen würden den Juden Auschwitz nie verzeihen. Einer repräsentativen Studie zufolge stimmt jede zweite deutsche Bürgerin der Aussage zu, Juden würden heute versuchen, aus der NS-Vergangenheit einen Vorteil zu ziehen.

Winter: Auschwitz sprengt jede deutsche Identität. Der Holocaust kann niemals Bestandteil eines nationalen Selbstverständnisses werden, auch wenn das in den 2000ern versucht wurde, als die gelungene Erinnerungskultur beinahe zur Grundlage des demokratischen Gemeinwesens erhoben wurde. Aber Auschwitz bleibt, das lässt sich nirgendwo integrieren. Allein die Existenz von Juden wird immer daran erinnern. Deswegen trifft sie eine antisemitische Aggression.

ZEIT ONLINE: In den Sozialwissenschaften spricht man von einem sekundären Antisemitismus.

Winter: Das bedeutet: Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Das ist ein antisemitisches Phänomen, das nach 1945 entsteht und ein neues Moment bekommt, nämlich das der Schuldabwehr. Diese Abwehr ist notwendig, weil die deutsche Identität sonst zu fragil wäre. In einer Variante dieser antisemitischen Ausdrucksform wird der Jude zum Moralapostel stilisiert, der immer wieder an die Verbrechen der NS-Vergangenheit erinnern muss. Hier zeigt sich: Der Antisemitismus wandelt sich, aber er ist eine erstaunlich hartnäckige Leidenschaft.

ZEIT ONLINE: Gibt es denn auch jüngere Erscheinungsformen von Antisemitismus?

Winter: Im Umfeld von AfD und Pegida ist momentan eine relativ neue Konstellation von Antisemitismus und Muslimenfeindlichkeit zu beobachten. Die These hierbei ist: In Deutschland gibt es gar keinen Antisemitismus mehr, die Geschichte ist gut aufgearbeitet, das ist ein abgeschlossenes Kapitel. Antisemitismus käme nur noch von außen rein, die Muslime seien heute die wahren Antisemiten. Da spricht ein rassistisches, muslimenfeindliches Ressentiment, das sich zwar an das reale Problem des islamistischen Antisemitismus anlehnen kann. Dass es aber keine ernsthafte Auseinandersetzung mit Antisemitismus darstellt, zeigen die antisemitischen Vorfälle in den eigenen Reihen – etwa die Höcke-Rede vom "Denkaml der Schande". Der eigene Antisemitismus wird projiziert, denn er gehört nicht zum Selbstbild heutiger Rechtspopulisten. Niemand möchte heute mehr als Antisemit bezeichnet werden, kein AfD-Anhänger, kein Kollegah.

ZEIT ONLINE: Dient im Fall der Antisemitismus nicht auch einer Inszenierung von Männlichkeit? Der Rapper Kollegah ruft ja unter anderem zur "Boss-Transformation" auf, die zu einer "Boss-Aura" führen soll.

Winter: Bei Kollegah findet man das anfangs erwähnte Syndrom wieder: Antisemitismus geht mit Sexismus und Homophobie einher. Der Fokus liegt hier auf einer stereotyp männlichen Körperlichkeit, die durchaus mit einer antisemitischen Einstellung korrespondiert. Es geht um das alte, aber noch immer präsente Bild des "lüsternen, verweiblichten Juden". Die Gegenfiguren sind muskulöse Männer. "Der Jude" ist kein richtiger Mann – sondern das, was aus dem Männlichkeitsbild abgespalten wird.

ZEIT ONLINE: Ist der "Pop-Antisemitismus" im Rap, wie ihn die Süddeutsche Zeitung vor Kurzem nannte, deswegen so attraktiv für heranwachsende Jungs?

Winter: Vielleicht. Ich denke aber nicht, dass Jungs anfälliger sind für Antisemitismus. Vielmehr würde ich sagen, dass es unterschiedliche Aspekte gibt, die Antisemitismus für die jeweilige Geschlechtsidentität attraktiv machen. Ein männlicher Antisemit kann so zum Beispiel Weiblichkeitsvorstellungen projizieren, während weibliche Antisemitinnen ihre Geschlechtsidentität in Abgrenzung  zu den "verkopften, herzlosen Juden" konturieren können. Im Antisemitismus ist für jeden und jede was dabei.

ZEIT ONLINE: Wenn Antisemitismus so allgegenwärtig ist, sollte sich die momentane Debatte dann gar nicht allzu sehr auf Kollegah, Farid Bang und den Echo-Skandal konzentrieren?

Winter: Derzeit werden lediglich Fragmente der Texte kritisiert. Die sind zwar oftmals offensichtlich antisemitisch – aber viel wichtiger und interessanter ist doch das Weltbild, das Kollegah mit einem Song wie Apokalypse transportiert. Im dazugehörigen Video tritt das Böse in Gestalt der Banken als eine geradezu dämonische Kraft auf, gegen die eine heile Gemeinschaft Widerstand leisten muss. Das ist wie bei Herr der Ringe, nur dass das Böse hier als explizit jüdisch gezeichnet ist. Die pädagogische und öffentliche Auseinandersetzung sollte sich aber nicht einzelnen Sätzen widmen, sondern genau dieser politischen Fantasie. Kollegahs Stellungnahmen richten sich ja auch gegen die "Mainstream-Medien", gegen die man sich auflehnen müsste. Lines wie "Körper definierter als Auschwitz-Insassen" sind da nur die Spitze des Eisbergs.

ZEIT ONLINE: Wie weit ist der Weg von so einem impliziten Antisemitismus hin zu Gewalt?

Winter: Diese Weltanschauung ist ja schon eine Form von Gewalt gegenüber den Stigmatisierten, die damit konfrontiert sind. Zu körperlicher Gewalt muss so eine Weltanschauung nicht zwangsläufig führen: Die wenigsten Menschen mit entsprechenden Einstellungsmustern werden gewalttätig. Aber wenn so ein Weltbild gesellschaftsfähig wird, können sich natürlich plötzlich mehr Leute in einem Wunsch nach Gewalt legitimiert sehen, weil das Kollektiv, dem sie sich zugehörig fühlen, mächtiger wird. Antisemitismus ist mehr als ein einzelner Satz. Antisemitismus ist eine leidenschaftliche Welterklärung.


Aus: "Psychologie: "Antisemitismus ist eine leidenschaftliche Welterklärung"" Interview: Ann-Kristin Tlusty (29. April 2018)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/2018-04/psychologie-antisemitismus-welterklaerung-wahn-aehnlichkeit/komplettansicht


Textaris(txt*bot)

Quote[...]  Ich erinnere mich an Schläge mit der offenen Hand, mit Kabeln, mit Stöcken, mit der Faust in den Magen und daran, wie er mich an den Haaren zog. Er schickte mich hinaus, um mir den Stock für seine Schläge selbst auszusuchen. Er schlug nie im Affekt. Die Gewalt war kalkuliert. Ich sehe mich in der Erinnerung stets von oben, als wäre ich unbeteiligter Dritter und nur Zeuge der Gewalt, die mir widerfuhr.

Lange trug ich die Folgen dieser Erziehung in mir. Die Ohnmacht, die ich fühlte, machte mich wütend. Draußen löste ich meine Probleme bald selbst mit Gewalt. Ich verlor die Kontrolle bei kleinen Streitigkeiten und ich genoss es, endlich selbst der Stärkere zu sein. Gewalt schien mir doch eine Lösung zu sein. Denn als Täter fühlte ich mich erst einmal besser. Aber der vermeintliche Respekt meiner Mitschüler basierte auf Angst und Abneigung.

Geschlagene Söhne entkommen dem System der Gewalt selten. Sie wollen kein Opfer mehr sein und wechseln deshalb die Rollen. Sie sind auch besonders empfänglich für Prophetennachahmer und nationalistische Führer. Diese Vaterersatzfiguren versprechen den geschlagenen Söhnen, dass ihr geschundenes Ich in einem starken imaginierten Kollektiv aufgeht, wahlweise im Volk oder der Ummah. Auf diesem Acker gedeihen Nationalismus und Islamismus.

...  Ein großes Problem meiner männlichen Schüler ist [ ], dass sie die Gewalt für richtig halten. Nur wer von seinem Vater Schläge kassiert, wird hart und ein "echter Mann". Wenn ich aber frage, ob sie selbst ihre Kinder schlagen würden, lehnen das fast alle kategorisch ab. Im Grunde wissen sie, dass Gewalt falsch ist, aber sie brauchen jemanden, der ihnen hilft, diese Wahrheit auszusprechen. Lehrer müssen sich viel Zeit nehmen, um ins Gespräch zu kommen. Das Vertrauen lässt sich nicht innerhalb weniger Wochen aufbauen, manchmal braucht es Jahre, bis Schüler sich stark genug fühlen, selbst aufzustehen. Erst unter grelles Licht gezerrt, zeigt sich für sie, dass diese vermeintlich normale Erziehungsmethode in Wirklichkeit verbrecherisch ist.

Ich habe selbst sehr lange gebraucht, um die Strukturen zu verstehen, die mich so wütend gemacht haben. Über viele Jahre führte ich intensive Gespräche mit den Frauen in meiner Umgebung: mit meiner Mutter, meiner Frau, meinen Schwestern. Für mich setzte das einen Selbstheilungsprozess in Gang – allerdings erst, nachdem ich die Schule verlassen hatte. Dabei wäre genau die Schule der Ort, an dem wir erkennen sollten, dass "Problemkinder" in Wirklichkeit nur Kinder mit einem großen Problem sind. Und dieses Problem heißt Gewalt und das darf man nicht ignorieren.


Aus: "Die Kinder halten die Schläge selbst für richtig" Mansur Seddiqzai (30. September 2018)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2018-09/gewalt-familie-kinder-schlaege-schule-teufelskreis/komplettansicht

QuoteJula77 #1

Ein weiteres Problem, das sich in der Schule ergibt, ist, dass Kinder gewalttätiger Eltern Freundlichkeit und Nachsicht mit Schwäche verwechseln. Sie haben Respekt nur vor Menschen, die ihnen Gewalt androhen. Sie können nichts dafür, sie kennen es nicht anders.


QuoteNeela75 #3

Es gab vor gar nicht langer Zeit einen Artikel zu dem Thema, und es war erschreckend, wie viele Leser sich im Kommentarbereich für körperliche Gewalt an Kindern ausgesprochen haben. Beliebtes Argument: ,,Mir hat es nicht geschadet."


Quotesyn4pt1c #3.2

Ich möchte aber diesbezüglich auch einwerfen, dass es regelmäßig ebenso viele gibt, die jedwede Disziplin in der Erziehung vermissen lassen. Das kann dann so weit gehen, dass Eltern vor sich selbst verleugnen, dass ihr Kind auch mal etwas Falsches macht - das berühmte ,,Engelchen" eben. Die sehen vor lauter Zuneigung zum Kind nämlich überhaupt nichts mehr in einem realen Maßstab. Habe ich schon live erlebt. Nicht lustig, wenn man da dann ernsthaft ein Gespräch mit solchen Eltern suchen muss.

Nur um es gleich klar zu stellen: Ich rede hier jetzt nicht davon, das man seine Kinder schlagen oder gar verprügeln sollte. Das ist falsch. Die Kids müssen aber auch Grenzen kennen und die Eltern müssen diese auch aufzeigen.

Als mein Filius sich in seiner Trotzphase meinte sich im Supermarkt auf dem Boden werfen zu müssen, sind wir eben mit schreiendem Kind weiter einkaufen gegangen. Das mag vielen vielleicht hart erscheinen (die Blicke hättet Ihr mal sehen müssen), aber das hat es danach nur noch ein Dutzend mal gegeben. Nachdem der Kleine festgestellt hat, das Verhalten bringt auch nichts, war das auch wieder vorbei. Ich sehe aber viele Eltern dabei z. B. schon einknicken. ,,Ooooh, was hast du denn? Was willst Du denn?" und dann wird oft gekauft weswegen das Kind damit angefangen hat. Deren Kids machen heute noch Zinober beim Einkaufen. Das ist nicht repräsentativ zugegeben, nur meine persönliche Beobachtung im lokalen Supermarkt.


QuoteU. Hermes #3.4

Eine gewaltfreie Erziehung ist aber nicht notwendig wischi-waschi. Kinder müssen selbstverständlich lernen , ihre Bedürfnisse mit denen anderer Menschen zu vermitteln. Durch überzogene Disziplin und Gewalt lernen sie das aber auch nicht, sondern sie lernen nur, dem Recht des Stärkeren zu gehorchen. ...


QuoteU. Hermes #8

Wir, die "Bio-Deutschen", die in dieser Gesellschaft aufgewachsen sind, und zwar West wie Ost, sind nicht so weit entfernt von der geschilderten Gewaltförmigkeit der Erziehung, die erst ab 2000 gesetzlich geächtet wurde - aber ohne eigene Sanktionsmöglichkeit.
Viele "Bio-Deutsche", die in der Nachkriegszeit, d.h. in den 1950er und 1960er Jahren, aufgewachsen sind, sind noch selbst mit massiver Gewalt in den Familien, aber auch in den Schulen aufgewachsen. Nach außen zeigten die Familien die glatte Oberfläche des Wirtschaftswunderlandes, dahinter tobte oft Gewalt, gespeist aus den Problemen der Kriegszeiten, die die Eltern erlebt hatten. Nicht zu vergessen die Nazizeit, in der Gewalt als DIE Form sozialen Umgangs galt. Richtige Herrenmenschen werden durch Gewalt geformt und dürfen nicht verzärtelt werden.
Eltern, die von diesen Zeiten geprägt waren, lebten diese Haltung weiter, auch als der Krieg vorbei war. Wie Erziehungsratgeber nach dem zweiten Weltkrieg zeigen: Erziehung bestand darin, Kinder zur Anpassung zu zwingen. Veränderung brachte erst die Kritik der 1968er.
In der Schule war es ebenfalls bis in die 1950er Jahre hinein üblich, zu schlagen. D.h.: Viele "bio-deutsche" Erwachsene heute sind noch mit massiver Gewalt aufgewachsen, was auch heißt, nur schwer einen reflektierten und humanen Standpunkt dazu einnehmen zu können. Die Attraktivität rechtsextremer Positionen mit ihrer Gewaltaffinität scheint mir auch dadurch begründet.


Quote
arseno #8.2

In der Schule war es ebenfalls bis in die 1950er Jahre hinein üblich, zu schlagen.
Üblich bis in die siebziger verboten erst ab 1980!


QuoteFrank_G #9

"Ein großes Problem meiner männlichen Schüler ist außerdem, dass sie die Gewalt für richtig halten. Nur wer von seinem Vater Schläge kassiert, wird hart und ein "echter Mann"." (Aus dem Artikel, S. 2)

Auch ich kann mich noch daran erinnern, die Schläge und Tritte meiner Mutter akzeptiert und für notwendig gehalten zu haben (als Kind, später nicht mehr, und heute habe ich als über 60jähriger viele der Symptome des "geschlagenes Kind-Syndroms").

Wenn wir Sportunterricht hatten, musste ich im Alter von etwa sieben Strumpfhosen unter der Turnhose tragen (so etwas, engmaschig maschinengestrickt, gab es seinerzeit auch für Jungen). Der Grund dafür war, so meine Mutter auf Nachfrage, dass der Lehrer meine blauen Flecke nicht sehen dürfe. "Aber warum denn nicht, du musstest mich doch schlagen", war meine Antwort an meine Mutter. Etwa zu dieser Zeit begann ich auch zu ahnen, dass mir mit den Schlägen und Tritten meiner Mutter etwas wiederfuhr, das nicht als "normal" angesehen werden konnte.

NB: Das war durchaus zu der Zeit, als Eltern, aber auch Lehrer, ein "Züchtigungsrecht" hatten und ausübten, Ohrfeigen und (vergleichsweise "milde") Schläge als "normal" und akzeptiert galten). Ich selbst wurde nicht zum Schläger, war auch in der Schulde gut (die ich mochte, weil ich in dieser Zeit meiner Mutter entzogen war), kann aber die Akzeptanz von Schlägen durch ein Kind nachvollziehen, auch eines Kindes, das darunter leidet und in einen Loyalitätskonflikt zum schlagenden Elternteil gerät.


QuoteSteffi_83 #11

Eine Kindheit mit Gewalt und/oder keiner liebevollen Berührungen und Worte prägen, ich glaube besonders dann wenn man ein reflektierter, besonders empathischer Mensch ist. Ich habe 2-3 mal körperliche Gewalt selbst erlebt oder durch den Vater an der Mutter, leider wurden wir nach schlimmen Situationen nicht mal von der Mutter in den Arm genommen oder so.

Gott was beneide ich Kinder und Jugendliche heute noch, selbst wenn es nur kleine Dinge sind, wie sich etwas an die Eltern anzulehnen, sowas fehlt dermaßen und ich glaube meine berufliche und auch persönliche Entwicklung wäre in einem liebevollen Elternhaus, in dem man auch mehr auf die Bildung geachtet hätte, ganz anders gewesen.


QuoteUlenspiegel Berlin #12

Herr Seddiqzai verdient für seine Offenheit und seine Reflexion meine Bewunderung. Ich weiß, wie schwer sein Weg war und ist.
Richtig bleibt genauso, dass man(n) sich entscheidet, ob erlebte Gewalt weitergegeben wird.


QuoteEs ist was es ist sagt #16

Ich habe vielleicht 2 oder 3 schallende Ohrfeigen in der gesamten Kindheit bekommen. Und irgendwie waren die auch berechtigt.

Eine strenge Erziehung ist zweifelsfrei gut für die spätere Entwicklung, Prügel halte ich jedoch für Misshandlung und pure Unfähigkeit, vielleicht steckt sogar eine sadistische Ader dahinter.


Quote
SeppD #16.1

Eine schallende Ohrfeige ist nie berechtigt, insbesondere nicht wenn sie von einem physisch stärkeren und altersbedingt reiferen verteilt wird.
Sie mag als Kurzschlussreaktion eines Erwachsenen verständlich sein, wird aber dadurch nicht akzeptabel, im Prinzip ist dies auch ein Versagen des Erwachsenen.
Nicht ohne Grund kennen zivilisierte Staaten keine Leibesstrafen mehr.
Dass eine strenge Erziehung per se vorteilhaft ist ist auch zu kurz gedacht.


QuoteMissMisty #16.10

Ich kenne keine situation, die als maßnahme eine ohrfeige benötigen würde.


Quoteminos_m #18

Ich finde es richtig in "Problemkindern", Kinder mit Problemen zu sehen. Allerdings darf das nicht den Blick auf die Problem verschleiern, die sie Verursachen.

In der ehemaligen Schule meines ältesten Sohnes (8J) gab es viele dieser "Problemkinder". Sie haben geschlagen, gespuckt, verbal gedemütigt, geklaut und waren sexuell übergriffig (mit 8 Jahren!!!). Die zwei Sozialpädagogen der Sozialstation haben in diesen Problemkindern, Kinder mit Problemen gesehen und immer mit sehr viel Verständnis, Zuhören und Ausgleich reagiert.
Ich schrieb es oben: Mittlerweile ist es die ehemalige Schule meines Sohnes. Die "Problemkinder" haben das Verständnis, etc. als implizite Bestätigung für ihr Verhalten fehlgedeutet. Ihre Opfer wurden nur noch mehr drangsaliert. Die Sozialpädagogen hatten den Blick für die anderen Kinder mit Problemen verloren. Im Gegenteil, sie haben die Opfer vermehrt als Ursache oder Verstärker der Probleme der Problemkinder ausgemacht. Damit haben sie diese weiter in ihrem Verhalten bestärkt.
Verständnis sollte immer ein zentrales Handwerkszeug eines Pädagogen sein. Es kann aber niemals die einzige sein. Opferschutz sollte immer klar und eindeutig an erster Stelle kommen. Im schuluschen Kontext müssen Lehrer und Sozialpädagogen primär die dortigen Opfer schützen. Für die häusliche Gewalt ist das Jugendamt primär zuständig!


Quote
SeppD #18.2

Lehrer und Sozialpädagogen müssen sich um BEIDE kümmern.


QuoteManfred Horst Zwo #19

Eine Reduktion respektlosen und verrohten Verhaltens in der Schule auf erfahrene häusliche Gewalt ist meines Erachtens zu kurz gedacht. Auch in deutschen Familien gehörte in nicht allzu ferner Vergangenheit Gewalt gegen Kinder zum Alltag. Dennoch herrschten in den Schulen geordnete Verhältnisse und Kinder legten in der Öffentlichkeit ein zivilisiertes Verhalten an den Tag und fügten sich in die Gesellschaft ein.

Meines Erachtens ist die Problemursache eher die fehlende Empathie der Gewalttätigen gegenüber ihren Mitmenschen. Diese Empathielosigkeit manifestiert sich nicht exklusiv bei Menschen, die in ihrer Kindheit Gewalt erlebt haben. So erleben wir beispielsweise auch, wie Kinder aus gut situierten, liebevollen Verhältnissen am Wochenende auf der Demo mit Glasflaschen und Steinen auf Polizisten werfen oder mutwillig öffentliches Eigentum oder das Eigentum ihrer Mitbürger beschädigen. Während viele Kinder, die Gewalt erfahren, für sich daraus die Konsequenzen ziehen und diese eben nicht an andere Menschen weitergeben. Nur ist das wahrscheinlich eine schweigende Mehrheit. Wer geht schon gerne bei Fremden mit dererlei Erfahrungen hausieren?

Der Kern der aktuellen Zustände liegt meines Erachtens eher darin, daß Fehlverhalten in unserem Land in der Regel zu geringe Konsequenzen mit sich zieht. Warum konnte der Autor beispielsweise in seinem Umfeld zur gefürchteten Person werden? Doch nur, weil niemand frühzeitig eingegriffen und ihm Grenzen aufgezeigt hat.


Quoterecht und gerechtigkeit #19.2

"So erleben wir beispielsweise auch, wie Kinder aus gut situierten, liebevollen Verhältnissen... "

Ob das, was diese Kinder zuhause erleben, wirklich liebevoll ist, weiß man auch nicht. Nur weil man nicht verprügelt wird (was man auch nicht weiß), ist es nicht so, dass alles bestens ist.

Es gibt Dinge wie emotionelle Vernachlässigung, Leistungsdruck ohne Rücksicht, Erpressung usw.


Quoteanderfoerde #19.3

"Auch in deutschen Familien gehörte in nicht allzu ferner Vergangenheit Gewalt gegen Kinder zum Alltag."

Das sind keine Delikte aus der Vergangenheit:

Aus einem im Juni 2018 vorgestellter Bericht des Vereins Deutsche Kinderhilfe und des BKA geht hervor, das 2017 143 Kinder in Deutschland an den Folgen von Gewalt starben. Fas 78% von ihnen waren zum Zeitpunkt des Todes jünger als sechs Jahre. In 77 Fällen blieb es bei einem Tötungsversuch. Insgesamt waren 4.208 Kinder von Gewalttaten betroffen.


QuoteOmnipotenz #21

Ich habe mal einen Film über ein englisches Kriegsschiff gesehen, der brachte es ziemlich auf den Punkt. Der kapitän musste einen Mann auspeitschen lassen, war aber nicht sehr glücklich darüber.

Deshalb sagte er zu seinem 1. Offizier: Die Peitsche macht aus einem schlechten Mann einen noch schlechteren Mann.


Quoteredshrink #24

Mir blutet jedesmal das Herz, wenn ich solche Geschichten lese oder höre. Ich bin Psychiater; ein nicht geringer Teil meiner drogenabhängigen Patienten oder Patienten mit Borderline-Syndrom wurden als Kinder misshandelt und erfuhren Gewalt, gerade von jenen Menschen, welche sie schützen und versorgen sollten. Als Erwachsene tragen sie dieses Trauma mit sich, welches in jeden Winkel ihrer Seele dringt.

Nicht alle Kinder, die in der Kindheit Gewalt erfahren haben, werden später aggressiv. Meine Mutter war eine persönlichkeitsgestörte Frau in einer deutschen Gesellschaft, wo Frauen ohne Erlaubnis ihres Mannes weder ein Konto eröffnen oder arbeiten durften. Sie war eingesperrt in eine Wohnung, in welcher sie Tag für Tag dieselben langweiligen Haushaltsarbeiten ausführen musste. Ich war der Sohn, der als Blitzableiter für ihre ganze Wut und ihren Frust herhalten musste. Sie hat wie eine Rasende ohne Ankündigung oder aus Nichtigkeiten in blindem Zorn auf mich eingeprügelt. Es konnte jederzeit passieren.

Ich wurde nicht aggressiver, sondern vorsichtig. Ich versuchte ständig, ihre Stimmungslage zu erahnen und mich so zu verhalten, dass ich keinen Anlass bot. Ich verlor als Kind jegliche Spontaneität und jedes Selbstwertgefühl, da ich glaubte, dass ich es irgendwie verdiente, wenn meine Mutter mich so behandelte.

Aus meiner beruflichen Tätigkeit weiß ich ebenfalls, dass es ein Fehler wäre, Gewalterfahrungen nur bei aggressiven und nicht bei stillen Kindern zu vermuten.


QuoteJ. Wedler #26

Gewalt wird von einer Generation an die nächste weitergegeben. Und offensichtlich arbeiten die Generationen bereits daran, dieses Muster zu durchbrechen.

Sicher muss Gewalt geächtet sein. Aber wichtiger ist es, Eltern darin zu unterstützen, ihre eigenen Gewalterfahrungen zu reflektieren und zu durchbrechen.
Dies gilt übrigens auch für sexuelle Gewalt.
Also Ächtung der Gewalt, aber Hilfe für Gewalttäter. Niemand (fast niemand) steht morgens auf und plant eine Gewalthandlung. Das sind tief verinnerlichte Muster.


...

Textaris(txt*bot)

#5
QuoteHansifritz #17

Die französische Regierung muß hier rechtsstaatlich eingreifen und den Protest im Keim ersticken. Die Gefahr eines Flächenbrandes wird hier m.E. unterschätzt.


Kommentar zu: https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-01/demonstration-frankreich-gelbwesten-sozialpolitik-steuerpolitik-paris

Textaris(txt*bot)

#6
Quote" ... Treu und Gehorsam, haben dieselben Wurzeln in einem Beitreten zur Autorität, wodurch die resultierende freiwillige Knechtschaft als moralischer Wert und bewundernswerte Qualität eines Menschen vor Augen gehalten wird. Solches Verhalten ist das Resultat eines destruktiven Vorgangs, indem eigener Wert zum Unwert und Unwert zum Wert umgewandelt wurde.
Es ist schon etwas eigenartiges, dass der Mensch, wenn er mit Terror und Nichtexistenz bedroht ist, sich mit der ihn bedrohenden Instanz identifiziert, sich mit ihr verschmelzt, seine Identität aufgibt, um vermeintliche Rettung zu erlangen.
... Silverberg (1947) beschreibt diesen Mechanismus der Identifizierung mit dem Aggressor als eine bereits in frühester Kindheit auftretende Reaktion auf äußerste Hilflosigkeit. Was hier zu passieren scheint, ist eine Verneinung der Differenzierung, der Trennung vom bemutternden Objekt, weil das in diesem Entwicklungsstadium zu bedrohlich wäre. Diese Trennung darf nicht, kann nicht wahrgenommen werden, sonst wäre das Überleben gefährdet. Damit dies ermöglicht wird, bedarf es eines Manövers, vergleichbar mit einer Halluzination, einer Phantasie oder einem Traum. Es besteht darin, dass die Wirklichkeit zwischen sich selbst und dem anderen verdreht wird. Es ist, als ob das frühkindliche Ich doch einmal etwas besseres erlebt hat und nun versucht, diesen Zustand zurückzuholen (Silverberg, 1952), indem es eine phantasierte Homöostasis aufrechterhält, um sein Weiterleben zu ermöglichen – Terror kippt in Geborgenheit um. "

Aus: ,,Die Konsequenzen des Gehorsams für die Entwicklung von Identität und Kreativität" von Prof.Dr. Arno Gruen – Psychoanalytiker in eigener Praxis in Zürich, Schweiz (Vortrag bei den 53. Lindauer Psychotherapiewochen am 12. April 2003) | Quelle: http://www.susannealbers.de/04psycho-gruen-werk01.html

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Quote[...] Ohne Möglichkeit oder Fähigkeit zur Sublimierung driftet folglich das stark unterdrückte Triebleben - in Wechselwirkung mit einem nur oberflächlich verinnerlichten Über-Ich - ins Sadistische ab. Der aus Triebverzicht resultierende Hass sucht sich Sündenböcke unter Zuhilfenahme von Projektionen. Gerade in den vielfachen Projektionsleistungen der Neuen Rechten findet eine unbewusste Wiederkehr des Verdrängten und eines sadistisch deformierten Trieblebens statt.

Schon die berühmten Studien zum autoritären Charakter, an denen unter anderen Adorno mitarbeitete, stellten fest, dass der autoritäre Charakter dazu tendiere, "seine unterdrückten Impulse auf andere Menschen zu projizieren", die dann umgehend angeklagt, beschuldigt würden. Die Projektion sei demnach ein Mittel, "Es-Treibe ich-fremd zu halten", sie deute auf die "Unzulänglichkeit des Ichs ... seine Funktionen zu erfüllen".

... Entscheidend bei dieser neurotischen Dynamik sei die "großartige Verschiebbarkeit" der unterdrückten Trieblust, so Freud in "Totem und Tabu". Das neurotische Verbot oder Gebot verdanke seinen Zwangscharakter gerade seinem "unbewussten Gegenpart", der im Verborgenen ungedämpften Lust, einer "inneren Notwendigkeit", in welche die "bewusste Einsicht fehlt". Hierbei handele es sich nicht um einen Zustand, sondern um eine Dynamik, da die Treiblust sich beständig verschiebe, nach "Surrogaten für das Verbotene", nach Ersatzobjekten und Ersatzhandlungen suche, um der Absperrung zu entgehen.

... Nichts scheint die Neue Rechte in bessere Stimmung zu versetzen, als wenn es tatsächlich zur sexuellen Gewalt von Migranten oder Flüchtlingen gegen Frauen kommt. Die Rechte würde die Gruppenvergewaltigung einer Freiburgerin im vergangenen Oktober feiern, wurde etwa beobachtet

Mehrere Demonstrationen wurden in Freiburg von der AfD durchgeführt, um die brutale Vergewaltigung politisch auszuschlachten. Frauen, die sexuelle Übergriffe durch Migranten vereiteln, werden von den rechten Rattenfängern mitunter gegen ihren Willen instrumentalisiert.

Die zur rassistischen Hetze transformierte Empörung über sexuelle Gewalt von "Ausländern" an deutschen Frauen, die in der Neuen Rechten in den hysterischen Vorwurf des sexuellen Genozids gesteigert wird, schlägt in diesem Milieu aber sehr schnell in ihr Gegenteil um, sobald die Feindbilder wechseln: Dann wandelt sich die scheinbare Empörung über sexuelle Gewalt zur sadistischen Vergewaltigungsphantasie, die der neurechte Mann allen Frauen androht, die nicht bereit sind, den faschistischen Ausländer- und Rassenhass der Neuen Rechten zu teilen. Frauen, die Flüchtlinge unterstützten, wird dann von rechten Trolls im Netz schon mal gewünscht, sie sollten "zu Tode vergewaltigt" werden.

Mit massenhaften Vergewaltigungsdrohungen müssen vor allem Politikerinnen leben, die sich öffentlich für Flüchtlinge einsetzen. Eine Politikerin der Grünen ist mit Vergewaltigungsphantasien rechter Trolle überschwemmt worden, nachdem sie im vergangenen August vorschlug, künftig Klimaflüchtlinge auszunehmen.

Ähnlich erging es Hamburger Bürgschaftsabgeordneten und Politikerinnen der Partei Die Linke, die sich mit detaillierten "Beschreibungen der geplanten Ermordung", oftmals "kombiniert mit sexualisierten Inhalten", mit Vergewaltigungsdrohungen und Folterfantasien rechter Sadisten konfrontiert sehen. Ein simples "Nazis Raus" einer ZDF-Jounralistin, gepostet auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, reichte aus, eine Welle von Mord- und Vergewaltigungsdrohungen auszulösen.

Die Zwangsneurose der Neuen Rechten ist hier mit Händen zu greifen: In Reaktion auf sexuelle Übergriffe von Migranten auf Frauen, wird jenen Frauen sexuelle, sadistische Gewalt angedroht, die sich weiterhin für Flüchtlinge einsetzen. Im Unbewussten wirkender, sadistischer Neid ist es, der diese irrationale Dynamik der Neuen Rechten anzutreiben scheint.

Es bleibt nicht nur bei Drohungen: Die sexuelle Gewalt gegen Frauen, die durch rechte Triebtäter begangen wird, wird aber kaum thematisiert. Etwa der Fall eines 21-Jährigen Nazischlägers, der ein 14-jähriges Mädchen vergewaltigte. Eine Lokalzeitung berichtete über den Vorfall im November 2018.

Ermittlungen wegen Vergewaltigung wurden auch gegen einen AfD-Politiker geführt. Mitglieder der "Nationalen Sozialisten Rhein-Mein" stehen hingegen inzwischen wegen einer Vergewaltigungsserie vor Gericht - ohne dass dies zu breiter Empörung innerhalb der Neuen Rechten führte.

Deutsche Frauen werden in diesem neurechten Milieu offensichtlich immer noch (oder schon wieder?) als "Besitz" begriffen. Nicht nur als ein Objekt, über das der deutsche Mann zu verfügen hat, sondern auch als Teil der deutschen Volksgemeinschaft, die offenbar immer noch rassisch definiert wird. Deswegen triggern vor allem Frauen, die sich für Flüchtlinge engagieren oder bloß aussprechen, die beschriebenen sadistischen Vergewaltigungsphantasien, da hier schon wieder in der Neuen Rechten das altrechte Motiv der "Rassenschande" mitzuschwingen scheint. Missbrauch von Frauen durch deutsche Männer wird hingegen kaum wahrgenommen, eventuell sogar geduldet ("stell dich nicht so an").

Dieses archaische Frauenbild insbesondere in den ostdeutschen Stammländern der Neuen Rechten, das sich auch in entsprechenden sexistischen öffentlichen Äußerungen manifestiert, scheint mit einem simplen empirischen Befund in Zusammenhang zu stehen. In den ostdeutschen "failed States" herrscht extremer "Frauenmangel", wie die New York Times in einem Hintergrundbericht ausführte [https://www.nytimes.com/2018/11/05/world/europe/merkel-east-germany-nationalists-populism.html] (One Legacy of Merkel? Angry East German Men Fueling the Far Right, By Katrin Bennhold - Nov. 5, 2018)...

... Mit Fakten lässt sich innerhalb dieser irrationalen faschistischen Dynamik aus masochistischen Triebverzicht samt autoritärer Zwangshandlung, der Projektion des Verdrängten auf "Sündenböcke" und der Wiederkehr des sadistisch deformierten Triebimpulses in der barbarischen Praxis kaum etwas ausrichten. Es ist müßig, etwa darauf hinzuweisen, dass mehr als zwei Drittel der Täter, die Frauen schwere Gewalt antun, Deutsche sind, oder dass die Kriminalitätsrate unter den Asylbewerbern niedriger ist als im Bevölkerungsdurchschnitt.

Es sind aber nicht nur die eingangs geschilderten, evidenten Lügenmärchen und Fantasiegebilde, die den Treibstoff der rechten Hetzmaschine bilden. Es ist eher ein der Ideologie eng verwandter Wahn, der auf einer extrem selektiven Wahrnehmung der Realität aufbaut, nur die passenden Bruchstücke des Realen zum Bau des Wahngebäudes verwendet, während alles andere verbissen ausgeblendet wird.

...



    Die Neurotiker leben in einer besonderen Welt, in welcher ... nur die "neurotische Währung" gilt, das heißt nur das intensiv Gedachte, mit Affekt Vorgestellte ist bei ihnen wirksam, dessen Übereinstimmung mit der Realität ist aber nebensächlich.

    Sigmund Freud

... Da ist der Wahn von dem sexuell zügellosen Ausländer als Projektion der eigenen, ins Sadistische verdrängten Triebe, der nicht nur Lügenmärchen fabriziert, sondern auch händeringend nach Bruchstücken von Realität greift, die er instrumentalisieren kann.

Dies gilt nicht nur bei dem oben geschilderten Komplex der neurechten, sadistisch deformierten Sexualität mit ihren Vergewaltigungsfantasien und dem Hang zur Pädophilie. Generell scheinen Rechtsextremismus wie Rechtspopulismus letztendlich all das zu realisieren zu wollen, was sie im Rahmen ihrer Hetze an Angstbildern aufbauen.

... Der faschistische "Wille zur Macht" ist das schwache, masochistische, oftmals autoritär gebrochene Ich, das die verdrängten, ins Sadistische abdriftenden Triebregungen des Es reflektionslos auszuleben trachtet - unter extremer Zuspitzung eben der herrschenden ideologischen Gebote und Verbote. Diese von neurotischen Zwangshandlungen und Projektionen geprägte Psychopathologie bildet die charakterliche Basis, auf deren Massengrundlage der Faschismus als Extremismus der Mitte in Krisenzeiten seine Dynamik gewinnt.

...


Aus: "Ich will, wo Es ist" Tomasz Konicz (10. Februar 2019)
Quelle: https://www.heise.de/tp/features/Ich-will-wo-Es-ist-4291253.html?seite=all

Quotemind.dispersal, 10.02.2019 17:52

Echokammerkriege

Nachdem in den letzten 3 Jahren immer wieder die Titelseiten der Medien mit sexuellen Übergriffen durch Flüchtlinge in ganz Deutschland gefüllt waren, ob in Großstädten zu Silvester und bei Stadtfesten, in Schwimmbädern oder in Parks, gefolgt von spektakulären Vergewaltigungsfällen von jugendlichen Migrantengruppen und Sexualmorden, ganz abgesehen von Rotherham und Telford in England, kann man nicht hingehen und behaupten, das Gerücht es habe sich in Chemnitz um ein Fall von sexuellen Übergriffen durch Flüchtlinge gehandelt, sei nicht mehr, als Lieblingsfantasie von einschlägigen Bekloppten, die seit 1945 immer wieder zu spontanen Selbstradikalisierungen führt. Was man aber auf gar keinen fall mehr macht, wenn man dies außer Acht lässt, ist "analysieren".

Ich weiß nicht, was diese Echokammer-Kriege auf TP zu suchen haben, aber das unseriöse Mystifizierungspalaver, welches zuweilen auch mit der Möglichkeit kokettiert, die Vorfälle des Kölner Silvesters seien schon eine reine rechte Beschwörung der Rassenschandefantasie gewesen, ist mir hier auch schon in Artikeln aufgefallen, die nicht von Konicz stammen.

Es fällt mir jedenfalls enorm schwer, mir vorzustellen, dass der Autor Konicz nach Vernehmen des Gerüchts von Chemnitz da gesessen hat und sich gefragt: "Wie kommen die bloß auf diese Idee!?"

Disclaimer: Ich setze beim Lesen voraus, dass man Kenntnis davon hat, das die Welt keine polarisierte Schwarz-Weiß-Dichotomie ist und deswegen selbstverständlich Migranten nicht automatisch sexuell übergriffig sind, aber eine derartige Assoziation, gerade in Verbindung mit einem Mordfall, eben auch kein spontanes Hirngespinst, das jeder Grundlage entbehrt. Ein bisschen komplizierter ist es dann doch schon.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (10.02.2019 17:57).


QuotePeter Maier, 10.02.2019 18:31

Wie krank sind Linkspopulisten und Linkssextremisten?
Und wann dürfen wir einen Artikel zu: "Versuch einer kleinen Psychopathologie der Neuen Deutschen Linken" lesen?
Im Sinne der objektiven Ausgewogenheit in der Darstellung wäre eine Beleuchtung der Linkspopulisten und Linkssextremisten geboten.


Quotezadok, 11.02.2019 06:09

Konicz in furchtbarer Tradition. Schon Faschisten haben versucht, ihre Gegner als krank darzustellen. Was kommt als nächstes von Konicz? Tiervergleiche? Ratten, Ungeziefer? Unwertes Leben?



QuoteMiMoses, 10.02.2019 23:18

Sozialpsychologie at its worst...

So sehr ich Herrn Koniczs Texte schätze, solange sie sich mit politischer Ökonomie befassen (die Reihe zur griechischen Krise fand ich einen Lichtblick im Nebelmeer), so sehr möchte ich ihm doch raten, als Schuster bei seinen Leisten zu bleiben und sich nicht weiter an der Sozialpsychologie zu versuchen. Denn diese Versuche - und dieser ist dabei die bisherige Spitze des Eisbergs - sind gelinde gesagt schrecklich unfundiert.


QuoteHeliosMaximus, 10.02.2019 19:38

Es reicht ein paar Zeilen zu lesen, um zu erkennen, dass hier ein wie ich finde mittelmäßiger Journalist und eingefleischter Ideologe versucht, sich als Psychologe zu gerieren.


   
Quotefade to grey, 11.02.2019 16:07

Treffer.

Interessanter Artikel, der die entwicklungspsychologischen Aspekte der Entstehung von Faschismus erläutert.
Hat mich überzeugt, und das lautstarke Bellen der "getroffenen Hunde" bestätigt den gewonnenen Eindruck.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Sein pathologisches Familiensystem würde einfach noch mehr Lügen und Schweigen erzeugen, und mich aufgrund meines »Aufstandes« weiter für verrückt erklären.  ... »Freiheit ist, was du mit dem machst, was man mit dir getan hat«, schrieb Sartre. Der Satz hängt über meiner Eingangstür. Mein Vater, der KFZ-Mechaniker, las nie Sartre. ... Autoritäre Väter reagieren auf die Autonomie ihrer Töchter mit panischer Angst vor der übertragenen »Entmannung«. Mein »Aufstand« versetzte meinen Vater in solche Aufregung, dass er nach 20 Jahren zum ersten Mal meine Mutter anrief. Sie nahm nicht ab. ...


Aus: "Die Lügen meines Vaters oder: Freiheit ist ein Inside-Job" Mira Sigel ( 4. Februar 2019)
Quelle: https://diestoerenfriedas.de/die-luegen-meines-vaters-oder-freiheit-ist-ein-inside-job/

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Quote[...] Falk Richter - geboren 1969 in Hamburg, ist Regisseur und Dramatiker. 1999 gelingt ihm der Durchbruch mit ,,Gott ist ein DJ" und ,,Nothing Hurts".Mittlerweile zählt Richter zu den international erfolgreichsten deutschen Dramatikern mit über 35 Theaterstücken, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden. 2018 wurde seine Inszenierung von Elfriede Jelineks ,,Am Königsweg", die er am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg inszeniert hatte, zum Berliner Theatertreffen eingeladen und er zum ,,Regisseur des Jahres" von Theater heute gekürt.
Am 15. Januar 2020 wird am Maxim Gorki Theater in Berlin ,,In My Room" uraufgeführt. ...  In Berlin bringt er sein Stück ,,In my room" heraus, eine Auseinandersetzung mit Vätern und Männern in der Krise.


Nicholas Potter: Herr Richter, Ihr neues Stück geht der Frage nach, welche Spuren unsere Väter in unserem Leben hinterlassen haben und was das für Kons­truktionen der Männlichkeit bedeutet. Diese Frage ist nicht gerade neu und wird zurzeit viel diskutiert von Autoren wie Didier Eribon, Édouard Louis und Jack Urwin. Fehlt Ihnen etwas in der Diskussion bisher?

Falk Richter: Ja, wahrscheinlich mein sehr eigener Blick dar­auf. Es ist ein sehr persönliches Stück geworden, so wie ich das sonst nicht unbedingt mache. Während der Schreibphase ist mein Vater auch gestorben, was sehr viel in mir aufgewühlt hat. Zusammen mit dem Ensemble wollte ich mich mit der Frage auseinandersetzen, was mein Vater eigentlich mit mir gemacht hat, wie er mich zugerichtet hat und welche Zurichtungen er selbst erfahren hat. Die Personen, die Sie erwähnen, sind keine Theatermacher, sondern Soziologen und Romanautoren. Ich wollte mich nicht allein, sondern zusammen mit den Schauspielern mit diesen Fragen beschäftigen.

Wie biografisch ist das Stück für Sie?

Das Stück beginnt mit einem Monolog, der meine Beziehung zu meinem Vater beschreibt, der als Soldat noch im letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges gekämpft hat. Er wurde für den Krieg erzogen: Als Achtzehnjähriger wurde er aus der Schule noch eingezogen. Später war mein Vater Teil des Wirtschaftswunders und hat mehrere Hamburger Unternehmen geleitet. Er ist eben aus dieser Phase eines jungen Menschen, der durch den Krieg traumatisiert wurde, in ein Leben reingegangen, das komplett der Leistung des Geld­erwirtschaftens gewidmet war. Es hatte erst sehr spät in seinem Leben eine Reflexion gegeben über das, was stattgefunden hat. In seiner Vorstellungswelt war es jahrelang gar nicht denkbar, dass er über seine Gefühle reden kann, dass er Nähe zu einem anderen Mann haben und ihn nicht nur als Konkurrenten ansehen kann.

Welche Spuren hat das in Ihnen hinterlassen?

Mein Vater war bis kurz vor seinem Tod nicht in der Lage, eine nicht hierarchische Kommunikation zu führen oder sich überhaupt auf meine emotionale Welt, auf mein Schwulsein einzulassen. Das war für ihn ein großes Problem. Dieses Männlichkeitsbild erfährt gerade eine Renaissance in Deutschland durch die AfD, die Identitäre Bewegung und neue faschistische Gruppierungen, die wirklich sagen, wir müssen unsere Männlichkeit wieder erobern und entdecken. Das ist genau die Art von Männlichkeitskonstruktion, die meinen Vater total unglücklich gemacht. Er war ein seelisch und emotional zerstörter Mensch durch das gewesen, was er damals erfahren hat.

Ist die Krise der Gegenwart eine Krise der Männlichkeit?

Es ist eine Krise bestimmter autoritärer Handlungsweisen, die meistens Männern zugeschrieben werden. Es gibt aber auch eine toxische Männlichkeit, die Frauen praktizieren. Alle Frauen der AfD sind eigentlich Patriarchinnen in ihrem Verhalten: Sie sind homophob, rassistisch und fordern ein soldatisches Männerbild. Diese Männlichkeitskonstruktion enthält aber einen Widerspruch: Kein Mann, der diese Härte performt, ist ja so hart. Die Zusammenbrüche, die Burn-outs haben sie dann zu Hause.

Das Toxische daran ist, dass wir eigentlich erkennen, dass gerade wahnsinnig viel falsch läuft, dass wir zum Beispiel den Planeten weiter zerstören und es dennoch weiterhin machen. Es ist eine egoistische Haltung, die sagt, ich ändere mich nicht, stelle mich nicht infrage und alles, was ich bislang in meinem Leben gemacht habe, war richtig. Dass man sich nicht reflektiert und Fehler eingesteht. Man setzt sich selbst ins Recht, dass man anderen Unrecht zufügen darf. Und das haben in der Hauptsache Männer beigebracht bekommen.

Trump ist ein Paradebeispiel für diesen Widerspruch: Er spielt gern den autoritären Vater, ist aber in Wirklichkeit sehr dünnhäutig.

Es geht um ein Bild von Stärke. Wenn dieses Bild gekränkt wird, setzt man Aggression ein, um es zu verteidigen. Interessanterweise verkörpert jemand wie Trump all das, was in diesen restaurativen Kons­truktionen häufig Frauen zugeschrieben wird: Irrationalität, Impulsivität, Gemütsschwankungen. Aber genau das ist das Gefährliche an dieser Renaissance des starken Mannes, wie es jetzt auch mit Orbán und Erdoğan daherkommt. Das sind eigentlich komplett wankelmütige, überemotionale, irrationale Herrscher. Sie können weder Stress noch Kritik ertragen.

Ihre Stücke entwickeln Sie meistens mit dem Ensemble während der Proben, Sie fangen aber oft mit Textfragmenten an. Was war hier Ihr Ausgangspunkt?

Der kreative Impuls dafür war eine Männlichkeitskonferenz, ,,Mann sein 2019", die ich vor einem knappen Jahr mit dem Dramaturgen Daniel Richter besucht habe. Es interessierte mich, dass es plötzlich immer mehr Angebote für Männer gibt, die ihre Männlichkeit kritisch hinterfragen wollen oder einfach verwirrt sind. Viele heterosexuelle Männer wissen nicht genau, wie sie sich jetzt verhalten sollen. Auf der Konferenz gab es ein großes Angebot: von Haka-Workshops, wo man den neuseeländischen Maori-Tanz lernt, bis hin zu Vorträgen über Vater-Sohn-Beziehungen. Es war sehr diffus.

Sind Sie dort zu irgendwelchen bereichernden Erkenntnissen gekommen?

Dass es eine große Verwirrung bei vielen Männern gibt, die sich bedroht fühlen durch die Frauen, durch #MeToo. Sie haben das Gefühl, nichts mehr machen oder sagen zu dürfen. Auf der Konferenz gab es zwei Lager: die, die absolut bereit sind, sich zu ändern, die aber nicht genau wissen, wie ein neues Männerbild eigentlich aussehen könnte. Da haben sie auch nicht unrecht, denn es gibt so wenige positive Vorbilder. Wir befinden uns noch in der Dekonstruktion, wissen aber nicht so richtig, wo es hingehen soll. Und dann gibt es einen Teil, der oftmals politisch den neuen Rechten zuzuordnen ist, die sagen, dass Frauen zu mächtig werden und daher zurückgedrängt werden müssen.

In ebendiesen neurechten Kreisen scheinen Sie einen Nerv getroffen zu haben. Wegen Ihres Stücks ,,Fear" wurden Sie angeklagt und erhielten Hassmails und Morddrohungen. Hat Sie das als Künstler eingeschüchtert?

Es war ein Realitätsschock. Es war eine Reise in die Finsternis, zu sehen, wie radikal diese neurechten Gruppierungen um die AfD herum agieren. Ich übe eine Kritik an den Neurechten, und ihre Antwort ist: Wir bringen dich um. Eingeschüchtert bin ich aber nicht. Es hat nicht dazu geführt, dass ich mich nicht mit ihnen auseinandersetze oder jetzt harmloser geworden bin. Im Gegenteil: Ich beschäftige mich umso intensiver mit Rechtsextremismus.

Die tatsächliche Wirkungsmacht des Theaters wird oft infrage gestellt, aber die Angst der Neurechten weltweit vor kulturellen Institutionen ist vielsagend. Das haben wir zuletzt in Ungarn gesehen, wie Orbán gegen das Theater vorgeht. Theater scheint doch eine reale Bedrohung für die Rechten darzustellen. Das gibt einem Hoffnung.

Die reine Existenz von einem Raum, der wirklich frei ist, in dem man wirklich seine Meinung sagen und freie Kunst machen kann, ist so eine Irritation im Weltbild von diesen autoritär strukturierten Menschen. Das halten sie einfach nicht aus. Deshalb ist eigentlich der Wunsch da, das Theater und die freie Kunst zu vernichten, was in allen Diktaturen passiert: weil es diese Gegenstimme nicht geben soll. Wir haben jetzt hier einen Raum, in dem wir sie satirisch überhöhen, kritisieren, dekons­truieren – und das soll eben nicht mehr existieren. Deshalb ist das auch eine reale Gefahr.


Aus: "Falk Richter über toxische Männlichkeit: ,,Er wurde für den Krieg erzogen"" Das Interview führte: Nicholas Potter (15.1.2020)
Quelle: https://taz.de/Falk-Richter-ueber-toxische-Maennlichkeit/!5652457/


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Katrin Henkelmann, geboren 1995, studierte Philosophie und Psychologie in Trier. Der Band Konformistische Rebellen. Zur Aktualität des autoritären Charakters (Verbrecher Verlag 2020, 424 S.) geht auf eine Tagung an der Universität Trier im Herbst 2018 zurück

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Leander F. Badura: Frau Henkelmann, ... Was soll das sein, ein ,,konformistischer Rebell"?

Katrin Henkelmann: Der ,,konformistische Rebell" ist eine Erscheinungsform des autoritären Charakters. Damit ist ein Personentyp gemeint, der unzufrieden ist mit der gesellschaftlichen Situation, in der er lebt, und deswegen rebelliert. Konformistisch ist die Rebellion deshalb, weil sie sich nicht gegen die eigentlichen Ursachen der Unzufriedenheit richtet, sondern beispielsweise gegen ,,die da oben", Ausländer oder Bill Gates. Gleichzeitig geht es nicht darum, Unterdrückung oder irrationale Herrschaft an sich abzuschaffen, sondern darum, dass die falschen gegen die vermeintlich richtigen Eliten ausgetauscht werden sollen. Mit den Autoritäten der eigenen Gruppe und auch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, die ja tatsächlich Unfreiheit und Ungleichheit produzieren, geht der konformistische Rebell nämlich weiterhin konform.

Leander F. Badura: Der Begriff ,,autoritärer Charakter" geht auf eine 70 Jahre alte Studie zurück. Wie kommt man darauf, sich heute noch damit zu befassen?

Katrin Henkelmann: Zunächst ist die damalige Fragestellung ja immer noch relevant: Wie kommt antidemokratisches und irrationales Denken zustande, gerade in einer scheinbar aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft? Antisemitismus und Rassismus sind auch heute noch virulente Ideologien, die zwar von verschiedenen Seiten thematisiert und bekämpft, aber nur selten auf ihre affektive Basis hin untersucht werden. Um sie aber gezielt bekämpfen zu können, muss man zunächst einmal verstehen, weshalb sie überhaupt attraktiv sind. Mit dem Konzept des autoritären Charakters, das schon 1936 von Erich Fromm theoretisch ausgearbeitet wurde, haben wir uns deshalb befasst, weil es nicht nur die psychischen Strukturen untersucht, die den Einzelnen anfällig für autoritäre Ideen machen, sondern auch die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen der Entstehung solcher Strukturen analysiert.

Leander F. Badura: Und wie genau wurde das untersucht?

Katrin Henkelmann: Die Studien über die autoritäre Persönlichkeit, die nur einen von fünf Teilen der sogenannten ,,Studies in Prejudice" darstellten, waren eine Auftragsarbeit des American Jewish Committee und sind aus einem konkreten politischen Interesse heraus entstanden: Die Forscherinnen und Forscher sollten angesichts des europäischen und vor allem deutschen Faschismus und Antisemitismus herausfinden, ob so etwas auch in den USA möglich wäre. Wie groß also war das antisemitische und faschistische Potenzial in den demokratischen USA? Die theoretische Grundlage wurde im Vorfeld schon mit den ,,Studien über Autorität und Familie" gelegt und sollte dann in den sehr umfangreichen Erhebungen der ,,Studien zum autoritären Charakter", vor allem mit Blick auf den Antisemitismus, empirisch überprüft werden. Dazu arbeiteten die ForscherInnen sowohl mit qualitativen als auch mit quantitativen Methoden, also mit Fragebögen, aber auch mit Einzelinterviews. Die Ergebnisse wurden dann in Variablen zusammengefasst, wie zum Beispiel ,,Autoritäre Aggression", ,,

Leander F. Badura: Heraus kam, dass auch in einer demokratischen Gesellschaft wie der US-amerikanischen autoritäre und antisemitische Einstellungen weit verbreitet sein können.

Katrin Henkelmann: Ja, das stimmt. Zudem zeigte sich, dass antisemitische Einstellungen oft mit einer tiefer liegenden autoritären Persönlichkeitsstruktur zusammenhängen. Und dass sich diese Struktur durch verschiedene Bevölkerungsschichten und -gruppen sowie politische Lager hindurchzieht – sie also nicht nur unter ,,Rechten", sondern ebenfalls unter den sogenannten Progressiven und mitten in der Gesellschaft zu finden ist. Denn es ging ja nicht um die Untersuchung offen agierender Faschisten und Antisemiten, sondern um die latente, aber potenziell vorhandene Empfänglichkeit für antidemokratische und antisemitische Propaganda.

Leander F. Badura: Welche Rolle spielten die Mitglieder des exilierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung?

Katrin Henkelmann: Ein entsprechendes Forschungsprogramm wurde schon Anfang der 1930er von Max Horkheimer formuliert, der damals Leiter des Instituts war. Im Vorfeld der ,,Studien zum autoritären Charakter" gab es zudem schon zwei Untersuchungen: die ,,Berliner Arbeiter- und Angestelltenerhebung" von 1929/30 und die ,,Studien über Autorität und Familie" von 1936, an denen neben Horkheimer auch Erich Fromm und Herbert Marcuse beteiligt waren. Bei den ,,Studien zum autoritären Charakter" war dann Theodor W. Adorno vor allem für die Interviewauswertung und die soziologische Interpretation der Ergebnisse zuständig. Außerdem gab es noch die Untersuchung ,,Falsche Propheten" von Leo Löwenthal und Norbert Guterman. Tatsächlich war Löwenthals Rolle innerhalb des Instituts bedeutsamer als heute oft angenommen, weshalb wir mit Lars Rensmanns Aufsatz auch einen Text speziell zu seinem theoretischen Beitrag zur Faschismusforschung in den Band aufgenommen haben.

Leander F. Badura: Als eine Ursache für autoritäre Persönlichkeitsstrukturen wurden die Familienstrukturen in Gesellschaften wie beispielsweise dem Deutschen Kaiserreich ausgemacht. Doch Kindererziehung hat sich seitdem glücklicherweise drastisch verändert. Worin liegt denn nun die Aktualität?

Katrin Henkelmann: Das stimmt, die Familienstrukturen haben sich stark verändert, gerade auch, was Gewalt in der Kindererziehung angeht. Was jedoch in den Grundzügen gleich geblieben ist, sind die kapitalistische Vergesellschaftung und die damit verbundene Ohnmacht, die zentraler Auslöser für die Flucht in die Autorität oder das Kollektiv ist: Man ist im Kapitalismus auf der einen Seite allein für sich und sein Glück verantwortlich, gleichzeitig hat man aber keine Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen. Das ist eine enorme narzisstische Kränkung: Ich müsste eigentlich mein Leben selbst in der Hand haben, habe es aber nicht. Und tatsächlich wird das Kind immer noch zur Triebunterdrückung angehalten, damit es sich im Kapitalismus behaupten kann.

Leander F. Badura: Das findet nur anders statt?

Katrin Henkelmann: Ja, diese Triebunterdrückung wird seltener durch Schläge oder autoritäre Gewalt herbeigeführt, häufiger beispielsweise durch emotionalen Druck, durch einen enttäuschten Blick oder einfach durch die Beteuerung, dass es eben notwendig sei, sich anzupassen und Leistung zu bringen, um später einmal klarzukommen, was hinsichtlich der Selbsterhaltung ja auch erst einmal rational ist. Das macht es aber gleichzeitig auch sehr schwer, der Herausbildung autoritätsgebundener Persönlichkeitsstrukturen auf der individuellen Ebene beizukommen.

Leander F. Badura: Sowohl in den ursprünglichen Studien als auch in vielen Aufsätzen in Ihrem Buch wimmelt es mitunter von psychoanalytischen Begriffen. Welchen Beitrag kann dieses heute ansonsten eher marginalisierte Denken in dem Fall leisten?

Katrin Henkelmann: Mit der Psychoanalyse lässt sich vor allem das verstehen, was zunächst irrational erscheint. Also: Warum schließen sich Menschen autoritären Bewegungen an, die eigentlich gar nicht ihre Interessen vertreten, ja sogar aktiv gegen ihre Interessen handeln? Warum bringt reine Aufklärung über Rassismus, Antisemitismus nichts oder nicht so viel? Welche emotionalen Bedürfnisse werden dadurch befriedigt, was es so schwer macht, mit Argumenten dagegen vorzugehen? Diese Fragen der Psychoanalyse werden in der Theorie dann mit einer Kritik der politisch-ökonomischen Grundlagen verbunden, also in einen gesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet.

Leander F. Badura: Der Band versammelt eher akademische Texte, ist aber bereits in einer zweiten Auflage erschienen. Wie erklären Sie sich das?

Katrin Henkelmann: Es besteht wohl großes Interesse an dem Phänomen ,,Faschismus" – oder an dem, was man dafür hält. Existierende Erklärungen für die Anziehungskraft des Populismus scheinen vielen nicht auszureichen. Hinzu kommt die fehlende oder unzureichende Thematisierung des Zusammenhangs von Individuum und Gesellschaft, von Psychologie auf der einen und Ökonomie, Politik und Gesellschaft auf der anderen Seite, an Universitäten. Darüber hinaus mögen viele denken, dass ein Sammelband einen leichteren Einstieg in das Thema bietet.

Leander F. Badura: Kann man von dem Buch etwas über die aktuelle politische Lage lernen?

Katrin Henkelmann: Unser Anspruch war es zunächst einmal, die Theorie des autoritären Charakters auf ihren Gehalt hin zu überprüfen und die Diskussion darüber zu erneuern. Dies kann nicht losgelöst von der tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung geschehen. Und natürlich sollen die Beiträge letztlich auch helfen, aktuelle politische Phänomene besser zu verstehen. Insofern hängen das theoretische Verständnis der Phänomene und die treffende Beurteilung der politischen Lage stets zusammen.



Aus: ",,Falsche Propheten" Katrin Henkelmann im  Interview (Leander F. Badura | Ausgabe 37/2020)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/lfb/falsche-propheten

Quote
Jens C | Community

Ein paar "Kalendersprüche" von mir, die aber auch einer Einordnung zuträglich sein könnten."Wenn man weiß, wer der Feind ist, hat der Tag Struktur" - Volker Pispers.

"Gott, wie ich den Kalten Krieg vermisse...!" M, James Bond Movie.

Demokratie und Freiheit gehen auch mit unendlich vielen Möglichkeiten zusammen. Unendlich viele Möglichkeiten schaffen eher nicht Strukturen oder Bahnen, an denen man sich orientieren könnte. Wenn man/frau/divers sich unter vielen Optionen entscheiden darf - kann oder möchte sich eben nicht jede(r) entscheiden. Wenn die Entscheidung (durch Vorgabe) abgenommen wird - trage ich persönlich auch nicht die Verantwortung oder bin für Konsequenzen verantwortlich...

Naturgemäß benötigt der Mensch Strukturen und Orientierung. "Starke" Autoritäten bieten dies an. Daran kann man sich AUCH festhalten. Oder daran glauben.

Die Welt ist für jeden zu komplex, als das man Experte in jedem Teilbereich sein könnte. In Teilen geben wir alle immer wieder Verantwortung, Prüfung oder Entscheidungen ab. Starke Angebote, dies noch weitergehender zu tun, haben da durchaus ihren Reiz.

EIN weiterer Erklärungsansatz, nicht der alleinige, nicht der maßgebende. Aber einer von vielleicht 5 oder 10 Gründen.


Quote
Gerd-Christian K. | Community

@ Jens C

Die Komplexität im Privaten und in der Welt erschwert die Orientierung. Deshalb folgt man gern Autoritäten. Aber man ist doch durch Lebenserfahrung, durch eigenes Tun, durch eigenem Geist auch eine Autorität. ...


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Textaris(txt*bot)

Quote[...] ,,Ich liebe ihn heute noch!", sagt meine Friseurin – und ich liebe sie für diese Liebeserklärung an Wladimir Putin am zehnten Kriegstag nicht. Ich liebe sie noch weniger für die Ansage, dass sie den Medien ohnehin nie traue und jetzt erst recht nicht.

Meine Friseurin liebe ich sonst sehr, sie stammt noch aus dem Laden, der früher in der SED-Bezirksleitung, später sächsischer Landtag, die Bonzen beschnitt. Normalerweise reden wir zwei entspannt über meinen Beruf.

Sie ist nicht die einzige Putinversteherin in Dresden und im Osten des mir plötzlich seltsam näher gerückten Deutschlands. Überhaupt nicht entspannt geht es seit dem Überfall auf die Ukraine in Mailverteilern, Whatsapp-Gruppen oder bei persönlichen Begegnungen zu. Der Tenor: Ist ja schlimm, was der unberechenbare Putin da macht.

Aber hat nicht der Westen, voran die US-Amerikaner, das arme, kuschelbedürftige und gen Westen lächelnde Russland seit 30 Jahren so in die Enge getrieben, dass sein Zar jetzt gar nicht anders konnte? Die Notwehrthese der früheren ARD-Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz nach der Krim-Annexion 2014 steht Pate.

... Haben wir besonders im Osten nicht genug mit einer zerklüfteten Landschaft zu kämpfen nach Pegida, Flüchtlingshassern, querdenkenden Totalverweigerern und Impfkriegern? Wieder dringt ein neuer Spaltpilz in Geburtstagsfeiern oder Skatrunden vor, auch in akademische.

Woher rührt ausgerechnet in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone die hartnäckige Parteinahme für die Erben der Sowjetunion, eine latente Sympathie, die sich auch durch die Gräuel eines totalen Krieges nicht beirren lässt? Wir müssten die Sowjets doch am besten kennen! Bei Erklärungsversuchen fühle ich mich von Empirie, Sozial- oder Politikwissenschaften weitgehend allein gelassen und auf eigene Erfahrungen und Beobachtungen verwiesen.

Zuerst kommt mir eine Variante des Stockholm-Syndroms in den Sinn. Also paradoxe Sympathie gegenüber denen, die einem Gewalt antun. Das klappt für meine Generation nur noch bedingt, die Schulkinder der 1960er und 70er Jahre in der DDR, die bloß noch Ausläufer des harten Stalinismus und des 17. Juni 1953 erfuhren. Mit dem Atavismus der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 freilich.

Aber sonst spürten wir die Knute der einheimischen Kremlstatthalter, weniger die der Führer des Sowjetreiches. Wobei das immer in Zusammenhang mit der historischen Schuld des deutschen Überfalls 1941 gefühlt und relativiert wurde.

Und: Wer kannte schon einen Russen persönlich? Berufliche Reisen in die Sowjetunion gab es, Ausgewählte durften dort studieren, aber touristisch war nicht viel los. Die Soldaten, die armen Schweine, wurden abgeschirmt. ,,Es ist ein Russ entsprungen", sangen wir unverzeihlich zynisch auf dem Zeltplatz, wenn wieder eine bewaffnete Postenkette nach einem verzweifelten Deserteur suchte – bis wir die Schüsse im Wald krachen hörten.

Der koloniale Status wurde in der DDR mit Ironie sublimiert. Sowjetische Freunde oder Brüder? Freunde nicht, denn die kann man sich aussuchen. Aus einem sowjetischen Arbeiterlied wurde ,,Machorka her", aus ,,Tom Dooley" die Grigorij-Parodie, aus den Ghost Ridern die ,,30 Russen am Fuße des Ural". Das war nicht mehr feindselig, und auch ich trug 1989 eine Gorbatschow-Plakette.

Zweite, nicht wissenschaftlich belegbare These: Der Osttrotz ist im Spiel! Bei der jungen Nachwendegeneration trifft man nämlich keine Putinversteher mehr, nur noch Kriegsgegner. Naiv stolperten die Ossis in die Einheit, im Glauben an den schnellen Wohlstand und an eine individuell narzisstische, nicht verantwortlich empfundene Freiheit. Dieser Glaube musste enttäuscht werden. Reaktion gegenüber den Wessi­okkupanten: Ätsch, dafür halten wir weiter zu den Russen!

Das nüchterne Argument fortgesetzter Wirtschaftsbeziehungen zieht kaum. Nur drei Prozent der sächsischen Wirtschaft sollen davon profitieren. Maßgeblich erscheint mir vielmehr die massenhaft gestützte Beobachtung, dass die ,,Ossis" 89 zwar demonstrierten, aber von einer solidarisch-gemeinschaftsorientierten Demokratie nichts begriffen hatten.

Bei den Rechten, die am lautesten nach Basisdemokratie schreien, wie bei einer erschreckend hohen Zahl ehemaliger DDR-Bürger ist die Sehnsucht nach autoritärer Führung, mithin nach Entlastung von der eigenen Mitverantwortung latent.

Bei Pegida und deren Derivaten, bei der AfD wird Putin geradezu als Messias verklärt. Als MDR-Reporter hätte man sich dort mit einem Mikrofon von Russia Today tarnen müssen. In der Oberlausitz fordern Inschriften und Banderolen ,,Schluss mit der Hetze gegen Russland!".

Es ist dieselbe Region, in der die gegen alles irgendwie Staatliche demonstrierenden Gutbürger sonntags an der B96 schwarzweißrote Fahnen schwenken und die Sozialpolitik des Kaisers loben. Im Kollektiv-Unterbewussten wirkt die autoritäre Prägung der DDR fort, bis hinein in äußerlich demokratische Regierungskreise von Meck-Pomm oder Sachsen.

In Dresden sind die frühere Hofierung des Zaren und die Besuchseinladung an Putin bis heute nicht zurückgenommen worden. Wir befinden uns im adoleszenten Stadium Ostdeutschlands auf dem Weg zu demokratischer Emanzipation, die freilich auch im Westen keineswegs gefestigt erscheint. Ich werde Geduld und Nerven in teils unsäglichen Debatten bewahren, beim Krieg an der Heimatfront nicht mitmachen und meiner Friseurin weiterhin dankbar sein für die Übermittlung von Volkes Stimme.



Aus: "Putin-Fans in Ostdeutschland: Paradoxe Sympathien" Michael Bartsch (10.3.2022)
Quelle: https://taz.de/Putin-Fans-in-Ostdeutschland/!5836638/

QuoteTom Farmer

An eine unlogisch Sache mit Logik ranzugehen ist schwerlich möglich, daher vielleicht so:
Der Menschen Gefühlslage ist grenzenlos, Wissen aber oft sehr begrenzt.


QuoteWard Ed

Man darf natürlich nicht vergessen, dass der Osten mit der Wieder Wiedervereinigung die Kälte des Kapitalismus gespürt hat, wenngleich es ihm heute gegenüber früher und insbesondere im Vergleich zu den anderen Ostblockstaaten viiiiiiiel besser geht.


QuoteJim Hawkins

Steile These: Im Osten sind sie historisch bedingt, autoritätsfixierter.
Da passt ein Politiker, der ziemlich totalitär regiert und das macho-mäßig ziemlich gut in Szene setzt, ins Bild.
Dazu hört man aus seinem großen Reich nichts von dem ganzen "Schwuchtelkram".
Es wird nicht gegendert, Männer sind Männer, Frauen sind Frauen.
Für schlichtere Gemüter, die auf klare Kante stehen, ist das vielleicht verlockend.


Quotenutzer

@Jim Hawkins eben, für schlichte Gemüter. und die gibt es im Osten, wie im Westen, wie überall auf der Welt.
Aber niemand ist aufgrund seiner Herkunft ein schlichtes Gemüt.


QuoteJim Hawkins

@nutzer Na gut, woher kommt dann die Putin-Philie ...


QuoteKaboom

Könnte es sein, dass dabei ganz schlicht die Sehnsucht nach einem "Führer" eine Rolle spielt? Jemand dem man "folgen" kann, ganz ohne die Notwendigkeit der Benutzung des eigenen Kopfes? Der sagt, was richtig und falsch ist, und "immer das Richtige tut"?


Quotewirklich?

Naja, ich stimme fast allem zu in diesem Artikel, aber was hat der Westen denn von einer solidarisch-gemeinschaftsorientierten Demokratie verstanden. Das ist jedenfalls nicht die Beschreibung die ich diesem Staat geben würde, auch wenn ich positive Ansätze in diese Richtung zu erkennen bereit bin.


QuoteGünter Picart

Zitat:

"Maßgeblich erscheint mir vielmehr die massenhaft gestützte Beobachtung, dass die 'Ossis' 89 zwar demonstrierten, aber von einer solidarisch-gemeinschaftsorientierten Demokratie nichts begriffen hatten."

Anregende Erkenntnis.

Die deutsche Wiedervereinigung war fragwürdig, ganz ähnlich wie die Nato-Osterweiterung. Der gesamte Osten hätte sich zunächst intern mit seiner Sowjetvergangenheit aussöhnen müssen, bevor er sich dem Westen "anschließt" und uns damit in seine unaufgearbeiteten inneren Konflikte hineinzieht. Das gilt für die DDR genau wie für die Ukraine, meine ich. ...


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