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[Zur neuen Biedermeierlichkeit... ]

Started by Textaris(txt*bot), October 26, 2010, 11:59:03 AM

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Textaris(txt*bot)

Quote... zwischen Revolte und privatem Glück zeigt sich kaum einen gangbarer Mittelweg ...

Aus: "Das Private ist politisch" Björn Gauges (13.04.2023)
Quelle: https://www.giessener-anzeiger.de/stadt-giessen/das-private-ist-politisch-92206510.html

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Quote[...] [Als Biedermeier wird die Zeitspanne vom Ende des Wiener Kongresses 1815 bis zum Beginn der bürgerlichen Revolution 1848 in den Ländern des Deutschen Bundes bezeichnet.] ... Der Ausdruck Biedermeier bezieht sich zum einen auf die in dieser Zeit entstehende eigene Kultur und Kunst des Bürgertums (z. B. in der Hausmusik, der Innenarchitektur und auch in der Mode), zum anderen auf die Literatur der Zeit, die beide oft mit dem Etikett ,,hausbacken" und ,,konservativ" versehen werden. Als typisch gilt die Flucht ins Idyll und ins Private. Schon der Dichter Jean Paul hatte vom ,,Vollglück in der Beschränkung" gesprochen, Goethes Sekretär Johann Peter Eckermann ,,eine reine Wirklichkeit im Lichte milder Verklärung" zu erkennen geglaubt.

[...] Mit dem Begriff Biedermeier ist in erster Linie auch eine bürgerliche Kultur gemeint, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand. Das Bürgertum kultivierte das Privat- und Familienleben in ganz neuem Ausmaß. Nicht die Repräsentation stand im Vordergrund, sondern das häusliche Glück in den eigenen vier Wänden, die zum Rückzugsort wurden. Bürgerliche Tugenden wie Fleiß, Ehrlichkeit, Treue, Pflichtgefühl, Bescheidenheit wurden zu allgemeinen Prinzipien erhoben. Die Biedermeier-Wohnstube war die Urform des heutigen Wohnzimmers, und wahrscheinlich wurde damals der Ausdruck Gemütlichkeit eingeführt. Die Geselligkeit wurde in kleinem Rahmen gepflegt, beim Kaffeekränzchen, am Stammtisch, bei der Hausmusik, aber auch in den Wiener Kaffeehäusern. ...

[...] Die bürgerliche Familienstruktur war patriarchalisch, der Mann das Oberhaupt der Familie; der Wirkungskreis der Frau war der Haushalt. Das wohlhabendere Bürgertum beschäftigte Personal, darunter eine Köchin, einen Kutscher, eine Kinderfrau, für Säuglinge auch eine Amme, mitunter einen Hauslehrer. Die wichtigsten weiblichen Freizeitbeschäftigungen waren Handarbeiten und das Klavierspiel, das jede Bürgerstochter zu lernen hatte. Wesentlich mehr Aufmerksamkeit als vorher widmete man auch der Kindererziehung und dem Kinderzimmer, es erschien entsprechende Literatur mit Anleitungen zur Erziehung. Es entstand erstmals eine eigene Kindermode, die nicht nur eine Kopie der Erwachsenenmode war. Die Spielzeugindustrie erlebte ihre erste Blüte. 1840 gründete Friedrich Fröbel in Bad Blankenburg den ersten Kindergarten.

In der Biedermeierzeit wurde auch das häusliche Weihnachtsfest in der Form ausgebildet, die uns heute allen bekannt ist, mit Weihnachtsbaum, Weihnachtsliedern und Bescherung.

...


Aus: "Biedermeier" (16. Oktober 2010)
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Biedermeier

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Quote[...] Gemütlichkeit, abgeleitet von Gemüt, ist ein subjektiv empfundener Gemütszustand des Wohlbefindens, ausgelöst durch subjektiv determinierte materielle Verstärker und/oder Situationen. Das Wort Gemütlichkeit hat auch Eingang in den englischen Sprachgebrauch gefunden, da es dort keine richtige Entsprechung hat.

Gemütlichkeit kennzeichnet zugleich eine dem Menschen freundliche, warme Atmosphäre und Umgebung, in der man sich wohlfühlt. Sie ist gekennzeichnet von Ruhe, Ausgeglichenheit und Geborgenheit, Konfliktfreiheit und Sorglosigkeit. Sie bringt Ruhe in die Hektik. Gemütlichkeit verträgt keine Aufregung, keinen Streit, keine sich aufdrängenden Sorgen. Sie ist auch unvereinbar mit gleichzeitiger schwerer Arbeit, die zwar zu Gemütlichkeit führen kann, aber selbst keine darstellt. Durch die Konfliktfreiheit wirkt die Darstellung von Gemütlichkeit in der Kunst oft kitschig.

... Der Begriff Gemütlichkeit bedeutete zunächst nur soviel wie ,,voller Gemüt". Die Herrenhuter verwendeten den Ausdruck Anfang des 18. Jahrhunderts in ihren Schriften im Sinne von Herzlichkeit. Eine neue Bedeutung bekam er in der Biedermeierzeit; in dieser Phase wurde Gemütlichkeit zu einem Modebegriff im Sinne von Behaglichkeit, wurde von Kritikern wie Joseph Görres aber auch in Zusammenhang gebracht mit Nationalismus und Deutschtümelei. Gemütlichkeit bekam daher eine negative Konnotation im Sinne von Trägheit und fehlender Courage.

...


Aus: "Gemütlichkeit" (4. Juli 2010)
http://de.wikipedia.org/wiki/Gem%C3%BCtlichkeit

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Quote[...]     Fabiana
   04.01.2014 19:04 Uhr

"Wahres Glück"

Adorno sagte über den Versuch, so etwas wie privates Lebensglück in Nazideutschland zu suchen, schlicht ,,es gibt kein richtiges Leben im Falschen" (Minima moralia). Ich denke, für jede Diktatur, also auch für die DDR, gilt dieser harte Satz. Das heißt nicht, dass es keine Glücksempfindungen gab, aber sie wurden durch ungeheure Verdrängungen erkauft – man war glücklich jeden Sommer an der Ostsee, auch wenn man gerne einmal als Mittelmeer gereist wäre, man war glücklich im Alltag, obwohl man weder den Arbeitskollegen noch den Freunden oder sogar Ehepartnern vertrauen konnte (ca. 1 Spitzel auf 180 DDR-Bürger/innen), man war glücklich, auch wenn Westfernsehen eine Straftat darstellte? Viele sagen das von sich und unter dem Aspekt, dass das Leben kurz ist, nicht jede(r) zum Helden/zur Heldin taugt ist diese biedermeierliche Auffassung auch verständlich. Aber ,,wahres Glück" ist das nicht, denn dazu würde eben auch Wahrheit gehören.



http://www.zeit.de/2014/02/ddr-kinderwissen?commentstart=1#cid-3269053


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Biedermeierlicher Alltag und kleinbürgerliche Geborgenheit machen sich halt nicht nur in Diktaturen breit - wie in der Metternich-Ära, im Hitler-Regime und im SED-Staat -, sondern auch in Demokratien, wenn sich allzu viele bedingungslos anpassen und jedes Infragestellen, jedes Umdenken und jede Veränderung für verwerflich halten. Erinnert sei nur an die späten fünfziger Jahren, als Adenauer mit der Losung regierte "Keine Experimente". Erinnert sei auch an die Stagnation in der langen Kohl-Ära. Die Gefahr, dass wir versuchen, uns biedermeierlich einzurichten, droht uns auch gegenwärtig, und das um so mehr, je komplizierter und undurchschaubarer die wirtschaftlichen und politischen Prozesse und Systeme um uns herum werden. Doch wie wir gesehen haben, Subversives und Zukunftsweisendes gedeiht immer und überall, und eben das lässt hoffen.


Aus: "Biedermeierlichkeit in der Bundesrepublik" (Ursula Homann, Datum ?)
Quelle: http://www.ursulahomann.de/Biedermeier/kap004.html


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Volkslieder? Sind jahrezehntelang im Stadel versumpft oder durch den Schlund grausiger Massenchöre gewandert. Gott hilf!, konnte man da nur flehen. Doch langsam scheint sich das Blatt zu wenden, die gute alte Volksweise erfährt eine zum Teil hochkarätige Renaissance. Ob nachhaltig, das wird sich noch zeigen.

In einer geradezu konzertierten Aktion schmettern Opernheroen und Kunstlied-Kapazitäten den ,,lieben Mai" an, sie beklagen ,,entzwei gesprungene Ringlein" und bitten uns, ,,immer Treu und Redlichkeit" zu üben. Sony hat dafür Stars wie Jonas Kaufmann, Annette Dasch oder den über alles erhabenen Christian Gerhaher zusammengetrommelt. Das Album ,,Wenn ich ein Vöglein wär" kam eben auf den Markt – versehen mit einem hübsch bebilderten Booklet, inklusive Liedtexten und Vogerln auf dem Titel.

Singer Pur, Echo-verwöhntes A-Cappella-Ensemble mit Regensburger Domspatz-Wurzeln, bot im Juni eine wohlklingende Steilvorlage unter dem Titel ,,Letztes Glück" (Oehms Classics). Die Lieder stammen aus der deutschen Romantik – und selbst mit der ausgeleierte Rheinsirene Loreley kann man hier Frieden schließen.

Wobei die ,,Wiegenlieder" aus dem Carus-Verlag quasi den Startschuss zur neue Liedliebe gaben: Schon seit einem Jahr dominiert der aufwändige Band die Bestsellerlisten, Teil 2 liegt seit März in den Buchhandlungen, im Herbst folgen die ,,Volkslieder". Natürlich auch mit fein besungener CD – mancher Knirps hat dergleichen noch nie vernommen. Und also wurde die Wiegenlied-Scheibe großzügig an über 8000 Kindergärten verteilt. Dass die Bundeskanzlerin daselbst den Schirm über so ein Zukunftsprojekt hält, versteht sich fast von selbst.

Eine gute Sache, finden die meisten, Lehrer wie Kinderärzte sowieso, und wir wollen mit Lob nicht zurückstehen. Nur kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass sich die ganze Chose famos in die neue-alte Bürgerlichkeit der Deutschen fügt: zum wieder entdeckten Schick von Eiche-rustikal-Küchenzeilen, karierten Wanderhemden (allerdings aus Higtech-Fasern) und tortensüßen Damenkränzchen mit Filterkaffee. Oder biedermeierlichen Schrebergartenfreuden, denen selbst das hippe Münchner Lounge- und Partyvolk auf langen Wartelisten entgegenfiebert.

Nichts desto trotz darf man sich die neuen Scheiben ruhig auflegen. Denn wenn der fabelhafte Helmut Deutsch am Flügel sitzt und Salzburgs neue Sopranentdeckung Christiane Karg den Mai endlich hersäußelt oder Wagner-Tenor Klaus Florian Vogt das holde Mädchen anhimmelt, dann geht einem doch grad das Herz auf.


Aus: "Biedermeierliche Schrebergartenfreuden" (13. Aug 2010)
Quelle: http://www.abendzeitung.de/kultur/205628


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Das Massenphänomen der gelebten Zerstreuung und Sinn-losigkeit beeinflusst unsere Gesellschaft wie kaum eine andere Erscheinung. Im privaten Raum, eine Errungenschaft des Liberalismus, ist der Spaß eine Erholung für viele. Er versorgt sie mit Kraft im Vergnügungshafen der stürmischen Leistungsgesellschaft. Gerade in Zeiten, die zu defätistischem Kulturpessimismus einladen, ist Ablenkung eine willkommene Gefährtin. Das Privatfernsehen ist hier der Vorreiter für seichte Unterhaltung am Abend des gestressten Großstädters oder der abgehängten – meist männlichen – Landpomeranze. ...

Eine andere seichte Unterhaltungsform, die gleichsam mit Tabus belegt ist und mindestens ebenso gefährlich ist für ein verantwortungsvolles Miteinander ist die Spaßgesellschaft. Als Ansammlung von Menschen, die nach Grenzerfahrungen suchen ist der Club meist ein Ort des Exzesses. Entweder wird mit Stimulanzien nachgeholfen oder der Körper natürlicher Weise gemartert, bis man nicht mehr kann. In dieser jugendfixierten Verklärung des Sich-Auslebens schwingt oft ein Hang zur Verantwortungslosigkeit mit. Der kritisch-reflektierte Geist wird abgetötet oder klein gehalten, das wertfrei Triebhafte voll nach außen gekehrt. Allerdings kann eine freiheitliche Gesellschaft, die sich als Solidargemeinschaft versteht, überhaupt nur überleben, wenn ihre citoyens kritische Bürger sind. Die Reflexion, gerade auch die Selbstreflexion gehört zwingend zum zoon politicon dazu.
Der Spaß, als apolitische Zerstreuung und reflexartige Instinkthandlung und Bedürfnisbefriedigung lässt jedoch das kritische Reflektieren meist nicht zu.

Dabei geht es nicht um eine bierernste und lachfeindliche Gesellschaft, sondern um eine, die den profunden Humor und das Vergnügen an Herausforderungen geistiger Art vor die doch recht trivialen und überaus kurzweiligen und somit doch auch persönlich unergiebigen Bedürfnisbefriedigungen setzt. Die Spaßgesellschaft ist biologistischer Konsumterror.

Zur Lösung sieht man momentan in Prenzlauer Berg viel: Die Biedermeierlichkeit. Wenn man bemerkt, dass die ganze Feierei und Fickerei einem doch nicht so das gegeben hat, was man dachte, bekommt man eben ein Kind!
Für alle bambinophoben Zeitgenossen bleibt da leider nur eins: Geht ernster mit euch um!


Aus: "Therapiestunde Spaßgesellschaft" Von Jan Mollenhauer (Montag, Oktober 25th, 2010)
Quelle: http://le-bohemien.net/2010/10/25/therapiestunde-spasgesellschaft/


Textaris(txt*bot)

#4
Quote[...] Die Lebensentwürfe der interviewten Jugendlichen lassen eine Biedermeierwelt durchscheinen, in der das zentrale Lebensziel darin besteht, ein kleines Haus, mit Garten oder eine Eigentumswohnung zu besitzen. Das Lied von Peter Fox über das "Haus am See" wird daher als Hymne an diesen Lebensentwurf von Jugendlichen beispielhaft genannt. Psychologisch verständlich wird diese Anknüpfung die an Ideale des Biedermeier erinnernde Lebenshaltung vor dem Hintergrund, dass alles als brüchig empfunden und die Lebenswirklichkeit ständig erschüttert wird. Das Lebensgefühl der Jugendlichen ist von Krisen geprägt, sowohl im gesellschaftlichen (Wirtschafts- und Finanzkrise) wie im familiären Rahmen. Diese ständige Unsicherheit und Zerrissenheit führt bei leistungsbereiten Jugendlichen zu einer "schwelenden Absturz-Panik". Die Jugendlichen sind daher sehr emsig und leistungsbereit. Sie investieren viel Zeit in ihre Ausbildung. Bereits in der Schulzeit beginnen sie sich ein ganzes Arsenal von (zertifizierten) Fertigkeiten, Ausbildungen und Kompetenzen zu beschaffen: Praktika, Fremdsprachen-Kenntnisse, Auslands-Aufenthalte, Zusatz-Qualifikationen gelten als unerlässliche Fahrkarten in eine erfolgreiche Zukunft. Die Studie spricht von "Kompetenz-Hamstern" - allerdings werden diese Kompetenzen häufig sehr wahllos, maßlos oder schematisch gehamstert. Immer bleibt die Sorge, es könnte noch eine Qualifikation fehlen.

Die entstehende Wut auf das gesellschaftliche Chaos kann jedoch oft nicht kanalisiert werden. Ihre ständigen Absturz-Ängste versuchen die Jugendlichen aber auch zu bannen, indem sie sich strikt von allen Menschen abgrenzen, die bereits abgestürzt sind. Den Opfern und Verlierern der Gesellschaft wird nicht Mitleid oder Solidarität entgegengebracht, sondern Verachtung und Schmähung. Hartz IV ist für die Jugendlichen zum Sinnbild eines Loser-Schicksals geworden, das jedem jederzeit drohen kann.

Der Leiter des Institutes, Stephan Grünewald erklärte gegenüber der FR, dass ihn die Ergebnisse der Studie an die Sarrazin-Kontroverse erinnern. Sie biete "Erklärungshilfen" dafür, warum Sarrazin so viel Zuspruch erhalte, obwohl er Migranten für ihre Integrationsprobleme selbst verantwortlich mache, Sozialdarwinismus betreibe.

...


Aus: "Wie die Jugend von heute drauf ist" von Susanne Bauermann  (Montag, 25. oktober 2010)
Quelle: http://kritische-massen.over-blog.de/article-wie-die-jugend-von-heute-drauf-ist-59646120.html


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Berlin –  Der Namensgeber der ,,Generation Golf" Florian Illies wechsele vom Gipfel des Journalismus in den Kunsthandel. Seine Mission: junge Sammler für die Naturmalerei des 19. Jahrhunderts zu begeistern - und Schönheit in Geldwert zu verwandeln.

Cool und jungdynamisch wirkt dieses Zimmer nicht. Schon gar nicht wie das Arbeitsdomizil des vor Kurzem noch prominentesten Vertreter des jungen Feuilletons. Die Wände sind gedämpft gestrichen, die Möbel: Biedermeier. Mitten im Raum steht eine Récamière, eine dieser exzentrischen Liegen ohne Rückenlehne, auf denen sich die Damen um 1800 so effektvoll niederlegten. In dieser gediegenen Retro-Atmosphäre also, und nicht in Corbusier-Stahlrohrsesseln oder in Sixties-Klassikern, soll die erwachsen gewordene ,,Generation Golf" zu Hause sein? Die hatte Florian Illies vor elf Jahren als unpolitische, an den Wohlstand der alten Bundesrepublik gewöhnte Jugend beschrieben.

Irgendwo im Regal liegt ein dicker Band mit Kate-Moss-Fotografien – das passt schon eher zum Klischeebild des Trend-Seismographen. Aber die Bilderwelt, um die es Illies hier geht, ist eine ganz andere, keine gegenwärtige. An der Wand hängen dicht an dicht Bilder aus dem 19. Jahrhundert: romantische Landschaften, religiös gestimmte Dämmerungen, traute Familienszenen, viel Natur und noch mehr Italien-Sehnsüchte, dazwischen preußische Offiziere und sächsische Melancholiker.

Constable, Carus, Blechen, Rottmann, Menzel, Achenbach, Piloty – es ist alles dabei, ein Querschnitt durch das, was zwischen 1800 und 1900 vor allem in Deutschland entstand. Morgen kommen die 84 Werke in einer eigenen Versteigerung in der Villa Grisebach zum Aufruf. Das Berliner Auktionshaus, deutscher Marktführer für die klassische Moderne, eröffnet sich damit zu seinem 25-jährigen Jubiläum ein neues Geschäftsfeld. Dann muss sich die Kollektion, die Illies zusammengestellt hat, am Markt bewähren. In nur vier Monaten hat er alle diese Bilder ausfindig gemacht, untersucht und mit Experten diskutiert. ,,Ich habe mit sehr vielen alten Männern gesprochen – aber auch mit vielen Kunsthistorikern meiner Generation", erzählt der 40-Jährige. Von deren Erfahrung zu profitieren, das habe Spaß gemacht.

Bei meinem Besuch liegen gerade die Katalogfahnen auf dem Tisch; noch fehlen einige Texte. Illies gesteht, dass er selbst im Journalismus noch nicht so viel habe arbeiten müssen wie in den vergangenen Wochen. Viele der Kurzanalysen, in denen für den Kunden alles Wissenswerte über die Geschichte und die Zuschreibung des Bildes stehen muss, hat er selbst verfasst. Das ist neu im Auktionshandel: dass der Chef selbst elegante, anschauliche Kurzminiaturen über ,,seine" Bilder verfasst. ,,Ich versuche, mit den Katalogtexten den Menschen etwas von meiner Begeisterung mitzugeben", sagt Illies dazu. Hier ist einer angekommen und so heimisch, als habe er nie woanders hin gewollt.

Und während sich Illies in der neuen Umgebung pudelwohl fühlt und jeden Besucher an seiner Freude teilhaben lässt, kann es die Feuilletonistenbranche immer noch nicht fassen. Im letzten Winter erschütterte Illies seine Kollegen im ganzen Land mit der Nachricht, dass er als Kulturchef der Zeit zurücktreten und als Teilhaber in das Berliner Auktionshaus Villa Grisebach eintreten wolle. Wie kann man nur freiwillig den Gipfel des Journalismus verlassen und in die hysterische Branche des Kunsthandels wechseln, fragten sich viele. Doch Illies, gut gelaunt wie eh und je, fühlt sich nicht als Oberratte, die noch rechtzeitig ein Feuilleton in der Identitätskrise verlassen hat. Es sei keine Entscheidung gegen die Presse gewesen, sondern eine für die neue Aufgabe.

Dabei war Illies Journalist voller Leidenschaft. Er ist es wohl geblieben, denn als erstes gründete er für die Villa Grisebach ein Kundenmagazin, in dem Uwe Tellkamp, Wolfgang Büscher oder Gustav Seibt über Bilder der Auktion schreiben. Das ist der Illies, den wir kennen. Gleich nach dem Abitur, machte er in der Fuldaer Lokalzeitung ein Volontariat. Mit Mitte zwanzig war er schon FAZ-Redakteur, gründete für die Zeitung die ,,Berliner Seiten" und half beim Aufbau der neuen Sonntagszeitung. Dazwischen schrieb er die Bestseller ,,Generation Golf" und ,,Generation Golf 2" und veränderte mit dem Magazin Monopol die deutsche Kunstszene. Der Ruf auf den Feuilleton-Chefsessel der Zeit erschien dann als die vorläufige Krönung einer außergewöhnlichen Journalistenkarriere. Bis Bernd Schultz, der Chef der Villa Grisebach, ihn fragte, ob er als Teilhaber einsteigen wolle.

Wer Illies vor zwanzig Jahren als blutjungen Kunstgeschichtsstudenten in Bonn erlebt hat, der wundert sich nicht, wie er jetzt in seinem Bilderzimmer sitzt und von der Malerei des 19. Jahrhundert schwärmt. Einzeln hängt er die kleinen Ölstudien ab, die es ihm besonders angetan haben, zeigt einen expressiven Windstoß hier, eine luftige Wolke dort oder einen flirrenden Baum des Dresdner Postromantikers Gille, den er für ein verkanntes Genie hält. Illies, der selbst seit Studententagen kleine Ölstudien sammelt, ist überzeugt, dass gerade diese spontane, oft schon abstrahiert wirkende Naturmalerei heute junge Sammler begeistern könnte. ,,Das 19. Jahrhundert ist unterbewertet." Für einige tausend Euro bekommt man hier schon hochrangige Kunst, was bei den Zeitgenossen kaum noch möglich ist.

Aus Illies' Mund klingt es wie eine Mission: ,,Das 19. Jahrhundert braucht leidenschaftliche Anwälte." Es kümmerten sich heute ja ,,so viele um Kate Moss, aber viel zu wenige um Blechen und Gille." Die Aufgabe des Auktionshaus-Mitbesitzers ist es nun, die Schönheit in Geldwert zu verwandeln, und Illies beteuert: ,,Ich bin gerne Unternehmer." In einem sei es ohnehin wie im Journalismus: ,,Man muss erkennen, wenn es einen Geschmackswechsel gibt."


Aus: "Florian Illies - Vom Top-Journalisten zum Kunsthändler" Von Sebastian Preuss (22.11.2011)
Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/kultur/florian-illies-vom-top-journalisten-zum-kunsthaendler,10809150,11179138.html


Textaris(txt*bot)

Quote[...]     christygoe
    26.01.2012 um 8:33 Uhr

Gentrifizierungsgegner, wenden ihren Blick, sobald sie ihre persönliche Situation ändern, Kinder bekommen, die spritzenfreie Spielplätze nutzen sollen, von Gewalt fern gehalten und gern durch nicht ganz so abgewrackte Szeneviertel geschoben werden sollen.

Dann will man weg von der billigen Ofenheizung, hätte es gern renoviert und mit bequemem Bad und die nachtaktiven Szeneleute beginnen wie auch der Müll, den sie zu hinerlassen pflegen, zu nerven.

Und dann kommt die Frage, tut man etwas zur Verbesserung der eigenen Lebensqualität, die unter anderem eine Aufwertung der eigenen Wohnung und auch deren Umgebung bedeutet oder zieht man ins Kleinfamilien-Idyll vor die Städte ... ?

http://www.zeit.de/2012/05/Gentrifizierung?commentstart=1#cid-1831717



Textaris(txt*bot)

#7
Quote[...] Die kleinbürgerliche Mittelklassefamilie erinnert im Kino immer ein wenig an einen Horrorfilm. Vielleicht liegt es an der Inneneinrichtung: den Ledergarnituren, seelenlosen Zimmerpflanzen und dem biederen Kunsthandwerk an den Wänden. Wo bereits das Leben wie ein Transitraum ausgestattet ist, Lebenskonzepte sich in behaglicher Durchschnittlichkeit eingenistet haben, da stellt sich unwillkürlich Unbehagen ein.

... Dieser kleinbürgerliche Habitus ist per se ahistorisch, in seiner Verblendung existiert für ihn nichts außer der Lüge des absoluten Jetzt. Der Horror des kleinbürgerlichen Milieus besteht weniger in seinen geschmacklichen Verirrungen, als in der tristen Zeitlosigkeit seines Entwurfs.

...


Aus: "Der Horror liegt im Kleinbürgerlichen" Von Andreas Busche (23.04.2012)
Quelle: http://www.zeit.de/kultur/film/2012-04/film-krummacher-totem

Quotegorgo
    24.04.2012 um 8:34 Uhr

Identitätsbildung, wie gehabt "Die Familie", "das" Kleinbürgertum", "das" "deutsche" "Kleinbürgertum" [ ] - wie verbohrt in seinen eigenen Überlegenheitsanspruch ist wohl jemand, der wie hier derartig platte Verallgemeinerungen an einen Film wie diesen hängen muss - um sich selbst dann ganz un-kleinbürgerlich findend in die Prenzlauer oder Kölner oder Münchner Altbauwohnung (am besten, indem er sein Fahrrad demonstrativ an die Wand hängt und abends ein wenig "chilled"...)? OmG...

Mich würde mal eine echte Analyse dieser seit 19hunderts bewährten Endlosschleife interessieren, in denen der Begriff und das Klischee des "Spießers" oder der des "Kleinbürgers" zur wohlig-problemlosen Identitätsbildung des sich intellektuell dünkenden - ja was - Kleinbürgers? Großbürgers? Anti-Bürgers? immer wieder gerne gebraucht wird...


Quotechristygoe
    24.04.2012 um 8:38 Uhr

Ich halte das nicht für ausgelutscht...

Gerade fährt eine Generation ihr Leben in diese Tristesse und Sprachlosigkeit, die davon ausgingen, dass ihnen das nicht passieren könnte, die sich dumm und dusselig kommunizieren in alle Welt und dabei sprachlos im Nahbereich sind bis zum Verstummen in der Partnerschaft.


Quotemaristra
    24.04.2012 um 9:56 Uhr

Ich finde Normalo-Familie super

Wann ist eigentlich der Traum vom Normalen zum Horror geworden?
Ich finde das sogenannte Kleinbürgerliche der Mittelklassefamilie toll.
Ich finde es wunderschön, einen Mann, zwei gesunde Kinder, einen sicheren Arbeitsplatz und ein nettes Zuhause zu haben. Und wenn da Standardmöbel drinstehen und keine italienischen Designerstücke, sondern auch mal ein Regal aus dem schwedischen Möbelhaus und ein Teppich aus dem Online-Versandhandel, dann bedeutet das nicht, dass es nicht auch trotzdem schön aussehen kann.
Ich verstehe echt nicht, warum eine "normale" Familie und ein "normales" Zuhause plötzlich zur grässlichen Horrorvorstellung werden.
Klar, eine Kleinfamilie kann zur Falle werden.
Aber sollen wir uns denn jetzt alle trennen, in Luxus-Lofts ziehen, um die hlabe Welt jetten und nur noch coole, unverbindliche Freunde haben anstatt richtiger Beziehungen, und schwupps geht es uns besser?

... Man darf eben nicht immer jammern. Man kann sich auch mal freuen, dass es einem gesundheitlich, wohnungstechnisch und finanziell relativ gut oder zumindest abgesichert geht, und dann das aus Ausgangspunkt dafür nehmen, eine schöne Zeit mit den Seinen zu verbringen und etwas Sinnvolles mit seinem Leben anzufangen, was auch immer das für jeden Einzelnen sein soll.

Für einen bindungsscheuen, neurotischen Künstler mag dieses Leben vielleicht ein Alptraum sein, aber wir können und wollen nicht alle neurotische Künstler sein, oder?


...

Textaris(txt*bot)

#8
Quote[...] Heute gibt es inzwischen zahlreiche Zeitschriften, in denen es um den rustikalen Lifestyle geht.

Eine dieser Zeitschriften heißt Landlust. Im ersten Quartal 2012 hat sie es geschafft, über eine Million Exemplare zu verkaufen. Damit gehört sie zu den zehn erfolgreichsten Publikumszeitschriften, die momentan in Deutschland verlegt werden. Wie der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger mitteilte, wurden pro Ausgabe durchschnittlich 1.010.873 Hefte verkauft. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum entspricht das einem Zuwachs von mehr als 25 Prozent.

... Scheinbar haben es solche Zeitschriften geschafft, gerade in der urbanisierten Gesellschaft das Bedürfnis des Publikums nach Heimeligkeit zu befriedigen. Viele suchen hier nach Einrichtungsideen. Andere wiederum suchen konsequent nach einem günstigen, altem Bauernhaus für die Familie. Weitläufige Gartenfläche inklusive. Natürlich finden sich in den Zeitschriften auch viele Tipps, wie man seinen Bauernhof gut und günstig umgestalten kann.


Aus: "Der Erfolg der Zeitschrift "Landlust"" von Clement (25/04/2012)
Quelle: http://www.tease-online.de/der-erfolg-der-zeitschrift-landlust

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Quote...

Alte Sessel neu bezogen 6 (104)
Ein Anbau umgebaut 3 (94)
Historische Bettwäsche 4 (72)
Küche mit Kanapee 5 (94)
Landhausküche aus Altholz 3 (106)
Leserideen - Betten 2 (106)
Schrankpapier 2 (80)
Windfänge und Fensterkleider 1 (70)
Wohnen unterm Dach 1 (100)
Handarbeiten und Anleitungen
Bettschuhe 6 (110)
Bunte Bordüren häkeln 5 (88)
Gestickte Grußkarten 4 (82)
Gestrickte Dreiecktücher 1 (89)
Handgewebte Trachtenjacke 2 (86)
Häkelschmuck 3 (86)
Häkeltop 4 (102)
Landlust - Strickjacke 2 (104)
Landlust - Mohair Tweedjacke 5 (93)
Luftig Leinen-Garderobe 4 (89)
Pulswärmer und Schal 2 (94)
Raffinierte Stricktücher 5 (105)
Rosen häkeln 4 (80)
Schalkragen 6 (114)
Socken stricken 1 (96)
Stickvorlage ,,Wildes Treiben" 2 (98)

...


Aus: "Landlust 2011 - Inhaltsverzeichnis 2011"
http://www.landlust.de/index.php/2011/View-category.html

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Quote[...] Di Lorenzo: ... Natürlich herrscht angesichts fallender Auflagen und sinkender Werbeeinnahmen große Verunsicherung. Die entscheidende Frage ist, ob wir einen Journalismus machen, mit dem wir noch genug Menschen erreichen können, und ob die Verluste, die viele von uns erleiden, hausgemacht oder strukturell bedingt sind.

Göring-Eckardt: Eine Zeitschrift, die 2005 gegründet wurde, hat heute eine verkaufte Auflage von rund einer Million.

Schirrmacher: Landlust.

Göring-Eckardt: Das ist Biedermeier, das passt nicht zu Ihrer Krisendiagnose.

Schirrmacher: Doch, das passt total. Die erste Generation, die in ihrer Jugend die gesamte Welt gesehen hat, ist erwachsen geworden. Jetzt geht sie zurück in den Garten. ...


Aus: "Am Medienpranger" (24.05.2012)
Quelle: http://www.zeit.de/2012/22/DOS-Interview-Schirrmacher/seite-2


Textaris(txt*bot)

Quote[...] ,,Heirat war ein Rechtsgeschäft", sagt die Volkskundlerin Christel Köhle-Hezinger. Es ging darum, Familien und Besitz zusammenzufügen, und die entscheidenden Verhandlungen wurden während der Anbahnung des Eheversprechens geführt. Der Rest war Vollzug.

... Eines Abends saßen sie auf dem Sofa, er mit einem Eisbeutel auf einem schmerzenden Knie, und stritten, mal wieder. Um den Einfluss seiner Ex auf das gemeinsame neue Leben und ihr Gefühl, dass er ihr den angemessenen Status verweigerte. Er ist ein spontaner Typ, mehr Rock'n'Roll als Schnulze, und plötzlich fragt er, wie im Scherz: Wollen wir heiraten? Und weil sie nicht reagiert, lässt er den Eisbeutel los, hinkt zu ihr hinüber, kniet sich vor sie und legt ihr die Hand auf die Schulter: Willst du mich heiraten? Ein Schauer durchzuckt sie. Er meint es ernst. Er spürt den Ernst. Die Tragweite einer Entscheidung, die ihr gemeinsames Leben auf eine neue Grundlage stellt. Später wird er bei ihren Eltern um ihre Hand anhalten, eine ernste Sache verlange nach einer ernsthaften Form, sagt er. Sie streiten sich heute weniger.


Aus: "Es fühlt sich richtig an und schön und perfekt " Von Julia Schaaf (02.06.2012)
Quelle: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/die-ewige-frage-es-fuehlt-sich-richtig-an-und-schoen-und-perfekt-11772511.html


Textaris(txt*bot)

#10
Quote[...] Auf Mitgefühl und Solidarität von den bessergestellten Angehörigen der ,,Generation Golf" können [ ] Systemverlierer und ihre Kinder nicht unbedingt setzen. Solidarität und Einfühlungsvermögen gehören nicht zu deren Kernkompetenzen. Seit ein paar Jahren realisieren sie: Der lange sicher geglaubte (ererbte) Lebensstandard der westdeutschen Mittelschichten ist bedroht.

Aggressiv grenzt sich dieses Milieu heute nach unten ab. Statt einer solidarischen, gemeinsamen Perspektive beschwört es eine Renaissance konservativ-bürgerlicher und bisweilen auch religiös-fundamentaler Werte. Es achtet auf Distinktion, häufig in Form kulturalistischer Islamdebatten. Es schickt seine Kinder auf (christliche) Privatschulen und strebt nach Homogenität – frei von sozialer und ethnischer Durchmischung. Ein solches Ausmaß an gewollter sozialer Segregation wie heute hat es seit Gründung der Republik noch nicht gegeben.

...


Aus: "Im Windschatten der Generation Golf" Kommentar von Eberhard Seidel (03.04.2012)
Quelle: http://www.taz.de/Debatte-Milieus/!90854/


Textaris(txt*bot)

#11
Quote[...] Die Damen üppig, devot, angepasst, die Kerle lässig, arrogant, triebgesteuert. Die US-Serie "Mad Men" strotzt vor längst überholten Klischees. 

... die Gründe für den Erfolg von "Mad Men" liegen auf der Hand. Die Ausstattung sieht aus, als hätten sich Depot und Manufactum zusammengetan und eine Deluxe-Nostalgie-Interieur-Design-Serie herausgegeben. Diese stoffbezogene Nachttischlampe! Diese cremebraunen Sofakissen! Und diese verzierten Griffe an der Schublade über dem Herd!

... Vielleicht ist der Erfolg der Serie auch ein Indiz für das langsam um sich greifende Kristina-Schröder-Syndrom. Dieses Gefühl von Frauen um die 30, sich sofort schwer emanzipiert zu fühlen, wenn sie Kinder kriegen und zudem nicht nur "Hausfrau" in ihrer Vita stehen haben, sondern irgendwas, was nach Karriere aussieht. Und sich insgeheim doch an Heim und Herd (am besten mit Prämie) zurücksehnen und sei es nur, indem man "Mad Men" schaut und denkt, wie toll es doch wäre, einen erfolgreichen Mann zu haben, etwas mehr Zeit für die Kinder und den Klatsch und Tratsch mit der besten Freundin.

...


Aus: "Geschlechterklischees - Mad Women" Von Peter Petschek (28.08.2012)
Quelle: http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/mad-men-warum-frauen-die-serie-so-lieben-a-852249.html

QuoteEpimetheu$ heute, 11:11 Uhr
Ich kann den Artikel bestätigen. Meine Frau steht auch total auf den 60er Jahre Flair. Genauso wie auf die Filme, die vor 1900 spielen und in denen es schöne Kleider zu sehen gibt. Und das trotz der guten Bildung die sie genossen hat :-) Aber manchmal setzt das Gehirn halt aus. Ich steh auch quasi auf jede Serie in der ein Raumschiff durch die Gegend fliegt. Kann man nichts machen.

http://forum.spiegel.de/f22/geschlechterklischees-mad-women-69309-2.html#post10839292


QuoteGrob missverstanden
zeitreisende heute, 11:32 Uhr
Mir scheint ebenfalls, dass Herr Petschek die Serie Mad Men und auch ihre weibliche Anhängerschaft grob missverstanden hat. Die Tatsache, dass Frau von einer gut gemachten TV-Produktion angetan ist, die ein hervorragendes satirisches Abbild einer vergangenen Epoche bietet und dabei noch unterhaltsam ist, gleichzusetzen mit einer geheimen Sehnsucht nach dieser Vergangenheit und ihren männlichen Vertretern, ist geradezu absurd. Ich selbst (weibliche Führungskraft in einem internationalen Wirtschaftsunternehmen des 21. Jahrhunderts) lache mitunter schallend, wenn die männlichen Kollegen Peggy Olson zum Kaffeekochen schicken möchten oder Betty Daper ihren Gatten Don bei dessen abendlicher Heimkehr befragt, ob er lieber Geflügensalat oder schwedische Hackbällchen zum Dinner möchte. Wer darüber nicht lacht und sogar vermutet, hier würden tief verborgene weibliche Sehnsüchte angesprochen, hat die Serie nicht verstanden. Derartige Thesen beleidigen meine Intelligenz.

http://forum.spiegel.de/f22/geschlechterklischees-mad-women-69309-3.html#post10839524


Quotenayiim heute, 12:51 Uhr
Vielen Dank an den Autor! Gut erfasst! Diese ewige Rückbesinnung an die vermeintlich gute alte Zeit, wo alles noch hübsch war, weil Frauen scharfe Kleider tragen konnten...nervt unglaublich! Weder die 50er noch die 60er waren eine gute Zeit für Frauen und auch heute noch ist es alles andere als ausgelebt. Und ich darf das sagen...ich habe in den 60ern schon gelebt und nein...ich persönlich möchte nicht zurück. Wenn das jemand sehen möchte, ist das ja okay...mir persönlich kräuseln sich die Haare :-)

http://forum.spiegel.de/f22/geschlechterklischees-mad-women-69309-5.html#post10840322


QuoteInformativer Beitrag
hermeneuticus heute, 11:42 Uhr
Mich faszinieren die Mad Men eigentlich wegen ihrer subtilen Angründigkeit, Vielschichtigkeit und stillen Dramatik. Der Beitrag von Herrn Petschek erinnert mich daran, dass der große Erfolg der Serie wohl nur möglich ist, weil sie schlichten Gemütern, die nur ein Rezeptionsmuster kennen - Selbstbestätigung durch Identifikation mit dem Personal - noch genug zu bieten hat. Danke für diese Erinnerung! :-)

http://forum.spiegel.de/f22/geschlechterklischees-mad-women-69309-3.html#post10839640


...

Textaris(txt*bot)

#12
Quote[...]  Die Antike entwickelte eine ausgeprägte Tradition angenehmer Naturvorstellungen in Alternative zum Leben der Stadt und des Staatswesens. Wer es konnte, leistete sich Landhäuser. In der Dichtung besang man das glückliche Leben der Hirten. Mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts sollte diese Kulturtradition mit einer breiten Mode der Schäfereien neu aufleben, die ihren Ort vor allem an den Höfen und in geschlossenen Gesellschaften fand. Man inszenierte Idyllen, feierte sommerliche Tage bei weniger strenger Etikette unter freiem Himmel. Schäferspiele, die Oper, galante Lyrik und eine eigene Romanproduktion trugen die Mode, und nährten das Gefühl, ein weit glücklicheres Leben könnte außerhalb des streng reglementierten Zusammenlebens in Stadt und Hof bestehen oder zumindest in der fernen Antike bestanden haben. ....

... 20. Jahrhundert und Gegenwart: Der Naturzustand als problematischer Debattengegenstand: Was als philosophisches Argument begann und von der Forschung des 19. Jahrhunderts am Ende eingeholt wurde, entfaltete im 20. Jahrhundert Massenbewegungen – von denen des trivial-darwinistisch ausgerichteten Nationalsozialismus, der über die Rolle der menschlichen Rassen philosophierend den Staat zum verlängerten Arm der weiteren ,,natürlichen" Selektion machen wollte, bis zu den vielfältigen Bewegungen der ,,Aussteiger", die ein ,,Zurück zur Natur!" als Absage an die westliche Konsumkultur propagierten.

Ein Nachdenken über den Naturzustand, für den der Mensch geschaffen ist, wurde selbstverständlich. ...
Grundlegend erhalten blieb die Argumentation mit Differenzen zwischen einem Zustand, für den wir geschaffen sind, und einem Zustand, in dem wir demgegenüber leben. ...


Aus: "Naturzustand"
Datum der letzten Bearbeitung: 11. August 2012, 13:14 UTC
Versions-ID der Seite: 106674373
Permanentlink: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Naturzustand&oldid=106674373
Datum des Abrufs: 12. September 2012, 10:13 UTC

-.-

Quote[.... Der Rammstein-Sänger Till Lindemann hat vor ein paar Wochen in einem Interview gesagt: "Alles Gute in meinem Kopf entsteht auf dem Land". Als ich es gelesen habe, hat mein Herz sofort einen Sprung gemacht. Nicht, weil ich Rammstein-Fan bin. Sondern weil wieder einer das Leben auf dem Land lobt. Ich sammele "Promis-sprechen-übers-Landleben"-Zitate, weil ich nicht jeden Tag gleich sicher bin, wie gut ich es hier oben auf dem Berg finde. Eine seltsame Variante der Absolutionssuche.

... Ich weiß schon auch, dass das echte Leben, und auch das in der Stadt, viel härter sein kann als unser Alltag. Meine Kinder haben zum Beispiel noch nie einen Junkie oder einen Obdachlosen gesehen.

Wir nähern uns der Härte des Lebens in kindgerechten Dosen: Alle paar Wochen haben wir Beerdigungen, von den einzelnen Teilen der Blindschleiche, die in den Rasenmäher gekommen ist, vom Rotkehlchen, das die Katze erwischt hat oder von den Meisenküken, denen die Mutter kein Fressen mehr gebracht hat. Oder wir feiern den Abschied vom Pferd, das plötzlich nicht mehr beim Nachbarn stand, weil es einen schlimmen Husten hatte, und keiner einen Arzt geholt hat.

... Es klingt ja alles immer so kitschig, so nach Klischee: Aber schon die Luft oder der spezielle Geruch dort, wo wir wohnen, der macht mich glücklich. Diese Waldluft, der Duft der Wiese.

... Ich sehe die Jahreszeiten mit ihren verschieden farbigen Wolken über das Tal heraufziehen, kein Haus versperrt den Blick. Ich finde es wunderbar, wenn eine warme Böe den Frühling ankündigt oder ein Sturm den Herbst. Mir ist der Wechsel der Jahreszeiten viel bewusster. Das merke ich auch am Essen, das es bei uns gibt. Wenn zum Beispiel bei uns im Garten alle Himbeeren geerntet sind, kaufe ich im Supermarkt keine neuen mehr. Weil ich hier gelernt habe, das alles seine Zeit hat, auch das Aufstehen zum Beispiel. Es wird hell, der Hahn kräht und ich beginne den Tag. Ich freue mich, wenn das Licht im September endlich wieder mild wird und nicht mehr so gleißend wie kurz zuvor im August. Wenn die Sonne jetzt nicht mehr in der Mitte des Sees versinkt sondern irgendwo am Ufer untergeht. Und ich weiß es, es wird nächstes Jahr wieder ganz genauso sein.

Seit ein paar Jahren gibt es ja auf den Bestsellerlisten diese "Gummistiefel statt Pumps"-Veröffentlichungen. In diesen Büchern beschreiben Menschen, wie sie ihr Glück auf dem Land gefunden haben. Ich hab noch nie so ein Buch gelesen und habe auch nicht vor, es zu tun. Die Vorstellung, dass ich mit meiner Familie in einem Trend lebe, ist mir unangenehm. Aber wahrscheinlich stimmt das mit dem Glück und dem Land schon so.

...

Quote
    Barbara Lavaud
    12.09.2012 um 11:39 Uhr

.... Sie brauchen dringend eine Rubrik "Jammern auf hohem Niveau" - denn die Kinder dieser Frau verbringen eine schöne Kindheit in behüteten und finanziell abgesicherten Verhältnissen, in einer intakten und gesunden Familie. Natürlich ist die Truman-Show auf dem Land manchmal schwer auszuhalten, aber wenn die Autorin sonst keine Probleme hat, kann ich ihr eigentlich nur gratulieren! [...]

Gekürzt. Bitte bleiben Sie trotz Kritik sachlich. Danke, die Redaktion/lv



Aus: "Die Härte des Lebens in kindgerechten Dosen" Julia Decker (12.09.2012)
Quelle: http://www.zeit.de/lebensart/2012-08/lust-auf-stadt-landleben-kind


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Als Kurzfilm über bildgebende Verfahren in der Medizin begann 2005 ein Projekt, aus dem der Kinoessay ,,Low Definition Control – Malfunctions #0" wurde, erklärt Regisseur Michael Palm: ,,Je länger ich recherchierte, desto klarer wurde mir, dass man das schwer isoliert behandeln kann. Der Horizont erweiterte sich vor allem um den kontrollgesellschaftlichen Aspekt." ...  ,,Low Definition Control" ist als dokumentarischer Science-Fiction-Film ausgewiesen, aber fast ein Horrorfilm – die Kontrollgesellschaft baut ja auf Angst. Palm: ,,Was seit 9/11 implementiert wird, erinnert mich an Invasionsfilme der 1950er. In Don Siegels ,Invasion of the Body Snatchers' gibt es eine Schlüsselszene, als der Held auf den Stadtplatz schaut. Das sieht aus wie eine Überwachungskamera-Aufnahme, schräg von oben. Und er sagt: ,Look! Everything normal.' Alles wie jeden Tag. Aber eigentlich geht es darum, dass man auf dieses stinknormale Bild schaut und schon Indizien für Abweichungen sucht. Das trifft die antikommunistische Paranoia der Zeit, und dieser paranoide Blick ist jetzt institutionalisiert."

Entscheidend sei laut Palm der Kontext, in dem die Bilder gemacht werden: ,,Man kann nicht einfach sagen: ,Wir werden alle überwacht.' Nein, wir überwachen uns auch gegenseitig! So entstehen neue Bruchlinien, um die ging es mir. Eine Lösung weiß ich auch nicht, aber wenn als Gegenkonzept zur Überwachung sofort Bürgerrechte und ,,privacy" angeführt werden, ist das zwar grundsätzlich richtig, greift aber zu kurz. Ein Rest von Rückzugsraum im bürgerlichen Kammerl, das kann nicht mehr das Thema sein: Wir sind nicht mehr im Biedermeier."

...


Aus: "Im Kino: ,,Wir überwachen uns gegenseitig!""
26.09.2012 | 18:17 |  CHRISTOPH HUBER (Die Presse)
Quelle: http://diepresse.com/home/kultur/film/filmkritik/1294697/Im-Kino_Wir-ueberwachen-uns-gegenseitig


Textaris(txt*bot)

#14
Quote[...] Ein Bekannter Mitte 30 erzählt Ihnen, dass er jetzt ja auch vor die Stadt ins Grüne ziehen werde. Den Kindern zuliebe und weil die Frau in der Stadt ja immer Probleme mit ihrer Allergie hätte. Der Mann guckt dann so, als ob er ein Opfer brächte - nur um danach mit umso leuchtenderen Augen von dem neuen Luxuseigenheim zu berichten.  ...


...  über weite Strecken funktioniert die ARD-Produktion "Sechzehneichen" wie ein Remake von Bryan Forbes' "Die Frauen von Stepford" aus dem Jahr 1975. Die legendäre Horrorsatire (die schon einmal 2004 mit Nicole Kidman wiederverfilmt wurde) beschrieb den ersten Emanzipations-Backlash: Katherine Ross spielte damals - die wilden Sechziger hallten nur noch schwach nach - eine Fotografin und Frauenrechtsaktivistin, die in der Vorstadt auf komplett konforme Geschlechtsgenossinnen trifft.

... "Sechzehneichen"-Regisseur Hendrik Handloegten und Autor Achim von Borries haben sich nun an einem Update versucht. Eine Übersetzung in die Gegenwart, die weitgehend schlüssig ist: Wo es in den Siebzigern bei der Stadtflucht gebildeter Besserverdiener auch darum ging, nach Jahren der Hippie-Experimente bürgerliche Werte zurückzugewinnen, da sollen heute eben Gated Communitys bei jungen, liberalen und umweltbewussten Dreißigjährigen für neue Geborgenheit sorgen. Motto: Wir bauen uns ein Hochsicherheitsnest.

So schafft die "Stepford"-Neuauflage (in den Credits verzichtet man auf die Nennung von Original-Autor Ira Levin, obwohl die Story fast identisch ist) den Transfer über die fast vier Jahrzehnte. Reflektierte "Die Frauen von Stepford" damals die allgemeine hippieske Naturverbundenheit, spiegelt "Sechzehneichen" ein neues breites ökologisches Mainstream-Bewusstsein wider. Gibt es im Original Softporno-Anspielungen, sieht man im Quasi-Remake angedeutete Gangbang-Szenen.

Wild und frei will man leben, aber auch gesund und abgesichert. Handloegten und Borries versuchen diesen Widerspruch in zum Teil krassen Bildern zu illustrieren. Dem bedrohlichen Naturalismus des Originals setzen sie streckenweise einen geballten Surrealismus entgegen, der Vorstadtterror kippt aber leider gelegentlich ins Maskenhafte. Gelegentlich laufen auch die männlichen Darsteller wie Aufziehpuppen durchs Bild.

Und was könnte denn nun der Grund für die Willenlosigkeit der Frauen von "Sechzehneichen" sein? Wie werden gebildete, selbstbewusste Frauen zu unterwürfigen Öko-Robotern? Alle Bewohnerinnen schlucken Globuli, die ihnen der örtliche Heilpraktiker verschreibt. Zuckerkügelchen als möglicher Anpassungsbeschleuniger - ein perfider Gag in diesem keineswegs in homöopathischen Dosen daherkommenden Gleichschaltungshorror.

...


Aus: "Meine Frau, der Öko-Roboter" Von Christian Buß (27.11.2012)
Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/tv/sechzehneichen-mit-makatsch-und-waschke-meine-frau-der-oeko-roboter-a-868585.html

-.-

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Frauen_von_Stepford

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Frauen_von_Stepford_%281975%29

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Frauen_von_Stepford_%282004%29


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Marion Elias: "... Wir haben [ ] wieder Neo-Biedermeier – diejenigen, die sehr emanzipiert daherkommen, dann heiraten und ein Kind bekommen, landen oft in ähnlichen Verhältnissen wie vor 500 Jahren. Es gibt ein Revival des Religiösen, bis zu einer Quasi-Orthodoxie auch im Katholischen. Kant sagte schon: Verwende deinen Verstand ohne fremde Anleitung. ..."


Aus: "Wenn der Neo-Biedermeier anklopft"
Ausgabe 37/11 - 19.10.11 | Raus aus dem Mittelalter
Quelle: http://www.dervinschger.it/artikel.phtml?id_artikel=17120&seite=1

-.-

Quote[...] Laut einer Studie von ARD und ZDF nutzen inzwischen 43 Prozent aller Internetuser soziale Netzwerke, aber nur acht Prozent bloggen. ,,Warum ist das so?", fragt sich die Bloggerin Antje Schrupp und gibt die Antwort gleich selbst: ,,Ich behaupte, dass der Grund gerade der ,bevormundende' Ansatz von Facebook ist."

... Auf Facebook oder Google+ ist es [ ] nicht nötig, eine eigene Form oder einen eigenen Stil zu finden, denn alles ist vorgegeben. Die Einstiegs-Hürden und Anforderungen sind niedrig. Das kommt den Couch-Potatoes des Internets in ihrem Neobiedermeier entgegen.

...

QuoteAvatar
Wolfgang Michal 10.01.2013 | 23:18

Geert Lovink schreibt in seinem Buch "Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur": "Rückblickend übersehen wir leicht, dass der rationale Netzbürger eine libertäre Gestalt war, eine Figur des neoliberalen Zeitalters der Deregulierung".

Und dieses Zeitalter geht womöglich (auch mit Hilfe des Freitag) langsam zu Ende. Die Deregulierung der schön geordneten demokratischen Öffentlichkeit (Zeitungen, Fernsehen) brachte u.a. die Figur des Bloggers hervor. Nun  verschwindet diese Figur in den Zerfallsprozessen des Liberalismus (FDP, Piraten).

Der libertäre Allein-Blogger (Der Einzelne und sein Eigentum) wird von den sozialen Netzwerken abgehängt. Denn dort geht es ziviler und - ja - auch sozialer zu. Dieses Bedürfnis nach normalen Umgangsformen, nach Gleichgesinnten und nach geschützten Räumen ist in der ganzen Blogszene spürbar.

Leider verschwindet mit der Figur des Bloggers aber auch ein Stück Originalität, Freiheit und Unabhängigkeit. Das ist der Preis. ...



Aus: "Die Krise der Blogger" Wolfgang Michal (10.01.2013)
Quelle: http://www.freitag.de/autoren/wolfgang-michal/die-krise-der-blogger


Textaris(txt*bot)

QuoteFox82, 30. Juni 2013 17:52

Gleichgültig, ja, Biedermeier...

Ich muss sagen ich fühle mich schon längst in einem neuen
Biedermeier. Die schlimme Welt draußen, Politik, Geheimdienste,
Konzerne... kann man sowieso nicht beeinflussen. Also richtet man es
sich im System und Zuhause gemütlich ein.

Ich verfolge die Nachrichten (mehrere Zeitungen...) regelmäßig, wobei
ich weiss dass viele Themenbereiche schlicht nicht mehr wichtig sind.
Die Politik verfolge ich mit Interesse, aber ich sehe sie als eine
Art "Film" der in Echtzeit abläuft. Unterhaltend, aber ohne Relevanz
fürs eigene Leben - und natürlich nicht beeinflussbar.

Die Wirtschaft interessiert mich und sie ist wichtig damit ich mich
geschäftlich darauf einrichten kann... Aber aufregen über das was
passiert? Nein, nur anpassen um selbst möglichst gut
durchzuschwimmen.

Langfristige Planung mache ich überhaupt nicht. Kinder kriegen? Für
die Pension ansparen? Das klingt alles ziemlich absurd. Ich weiss ja
nicht was nächstes Jahr sein wird, und schon gar nicht was in 10 oder
mehr Jahren sein wird. Die Welt ist derart unberechenbar geworden...

Ich weiß dass unser Geldsystem irgendwann in meinem Leben
zusammenbrechen wird (die Geldmenge steigt exponentiell, und eine
Exponentialfunktion kann der Mensch irgendwann nicht mehr
beherrschen, und dann muss resettet werden...). Ich mache auch nicht
viel dagegen, sondern genieße eben das Leben. Denn Erinnerungen
verliert man nicht, auch wenn alles Geld verschwindet.

Gut dass es noch eine Menge Leute gibt die das alles nicht wissen,
und die noch Kinder bekommen - denn sonst würden wir wohl
aussterben...


Aus: "Gleichgültig, ja, Biedermeier..." (30. Juni 2013)
Quelle: http://www.heise.de/newsticker/foren/S-Gleichgueltig-ja-Biedermeier/forum-259648/msg-23755472/read/

Kommentar zu: "Bericht: PRISM überwacht in Echtzeit" (30.06.2013)
Quelle: http://www.heise.de/newsticker/meldung/Bericht-PRISM-ueberwacht-in-Echtzeit-1908878.html


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Welche ideologische und kulturelle Rolle spielt Popmusik in der heutigen Gesellschaft?

Berthold Seliger: Eine meine Thesen ist, dass wir in einer Art Neo-Biedermeier leben. Zumindest ergeben sich einige interessante historische Parallelen: Zum einen der gnadenlose Überwachungsstaat, den es zu Metternichs Zeiten gab, in dem Zensur herrschte, als in Konzertsälen und Theatern alles notiert wurde und Leute wie Beethoven nicht mehr Opern komponieren durften. Dafür gab es dann die von Metternich bevorzugte "leichte" Musik von Rossini. Dasselbe passiert heute auch, nur wird die Überwachung nicht mehr nur staatlich, sondern global und mit Hilfe von Konzernen der Unterhaltungsindustrie bewerkstelligt, die mit den Geheimdiensten eng verbunden sind. Weiter gibt es eine Entpolitisierung der Menschen, die politisch gewünscht ist.

In diesem Konstrukt spielt die Musik eine besänftigende Rolle. Die Musik ist dazu da, die Massen zu befrieden. Es gibt ja den brutalen, aber sehr anschaulichen Satz von Metternich: "Das Volk soll sich nicht versammeln, es soll sich zerstreuen", den man ja durchaus doppelbödig lesen kann, und ich denke, dass heutzutage die Pop-Industrie zu dieser "Zerstreuung" einen massiven Beitrag leistet und rebellische Potentiale der Jugend in passiven Warenkonsum umleitet.

Eva Illouz hat den Begriff "emotionaler Kapitalismus" entwickelt - es geht danach beim Konsum in Zeiten des Spätkapitalismus gar nicht mehr so sehr um die Waren oder Dienstleistungen an sich, sondern um die unverwechselbaren Momente und Gefühle, die mit ihrem Erwerb und Konsum verbunden sind. Daraus konstruiert das neoliberale Selbst dann seine wahnsinnig individuelle Identität.

...


Aus: ""Eine Arbeitswelt inszenieren, in der sich Sklaverei wie Freiheit anfühlt"" Reinhard Jellen (09.03.2014)
Berthold Seliger über Popkultur und "Kreativwirtschaft" als Gentrifizierung
Quelle: http://www.heise.de/tp/artikel/41/41080/2.html


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Die Arbeit verändert den Menschen stärker, als sich die meisten bewusst sind. Vormals linksradikale Doktoranden arbeiten wenige Monate in der Bank und singen plötzlich im Freundeskreis das Lied von freien Märkten. Lehrer sind irgendwann von ihrem Besser-Wissen so sehr überzeugt, dass sie auch mit Erwachsenen wie mit Kindern reden. Juristen sehen Streitfälle und Schadensersatzansprüche, wo andere Blumen, Gemälde oder Sportverletzungen sehen. Eitle Manager reden ungeniert verächtlich über ,,Geringleister". Und Stewardessen laufen mit einem Lächeln durch die Welt, das nicht so ganz echt aussieht.

Oberflächlich kann man sagen: Der Beruf färbt eben ab. Man nimmt die Marotten mit nach Hause - so wie die Laborantin, die auch in der eigenen Wohnung ständig den Boden desinfiziert, weil sie es im Chemielabor immer so machen. Oder der Fotograf, der auch in der Freizeit ständig draufhält. Das sind Ticks oder Anlagen, aber noch nicht unbedingt Deformation. Die Veränderung von inneren Haltungen ist nicht durch neue Gewohnheiten zu erklären, sondern mit einem Blick auf die Mechanismen der Anpassung. Der Wiener Organisationsforscher Michael Busch hat sich mit dem Thema befasst. Er meint, die Deformation durch Konformismus passiere eher Angestellten, die es in der Hierarchie weit gebracht haben. ,,Wer steigt eher auf, das Chamäleon oder der Einzelgänger?", fragt er und antwortet selbst: ,,Vermutlich doch eher das Chamäleon."

... Über allem schwebt die Abstiegsangst der Mittelschicht. Mit ihr kennt sich die Darmstädter Soziologin Cornelia Koppetsch gut aus, die das Buch ,,Die Wiederkehr der Konformität" (Campus) geschrieben hat. Sie sagt: ,,Trotz bester Qualifikation reicht oft eine falsche Entscheidung, ein falscher Mentor, um aufs Abstellgleis zu gelangen. Sehr viel in der Mitarbeiterführung läuft über Scham oder Angst, also über Sanktionen, die auf den Kern der Persönlichkeit zielen. Da sehe ich viele neue Konformitätszwänge entstehen." Koppetsch meint, durch die Subjektivierung und Entgrenzung der Arbeitswelt werde die emotionale Vereinnahmung intensiver.

Es gibt zum Beispiel mehr Teamarbeit, eine quasi-mütterliche Cheffigur, die das Team emotional führt - lobend statt über Anweisungen, duzend und scheinbar auf Augenhöhe. Gefühl, emotionale Bindung und Ausdrucksstärke würden in dieser Welt zu ,,strategischen und ökonomischen Ressourcen", schreibt Koppetsch. Ein Nachteil aber: Die Diskretion bleibe auf der Strecke. So ,,verschieben sich die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Leben". Die Folge: ,,Der Einzelne gerät mit seiner ganzen Persönlichkeit in den Sog einer Anerkennungsdynamik." Wo solche Entgrenzung tatsächlich stattfindet, nimmt wahrscheinlich auch der Leistungskonformismus zu.

Von einem ,,subtilen, atmosphärischen Zwang, nicht abzuweichen" spricht Michael Busch. Meinungskonformität sei heute extrem in den Organisationen von Politik, Medien und auch der Wissenschaft.

... Warum Anpassung mit einer Deformation der Persönlichkeit zu tun hat, erklären Experimente aus der Sozialpsychologie. Die kognitive Dissonanz - ein Widerspruch von Einstellung und Handeln - lösen die meisten Menschen auf, indem sie ihre Einstellung dem Handeln anpassen. Das ist bequemer, und meistens finanziell günstiger. Doch im Büro andere Einstellungen zu vertreten als im Privatleben, halten die wenigsten Menschen aus. So kommt es, dass der Beruf die Person verändert. Man arbeitet für Geld und Anerkennung, das verändert die Einstellungen, das verändert Haltungen. Die Soziologin Koppetsch spricht analog von einer ,,emotionalen Dissonanz". Die gibt es bei Kellnern, Stewardessen, Barleuten oder Immobilienmaklern, aber auch Ärzten und Anwälten.

Wer im Beruf freundlich sein muss - beziehungsweise umso erfolgreicher ist, je persönlicher zugewandt er sich den Kunden gibt -, bei dem entkoppeln sich irgendwann Gesten der Freundlichkeit von echten Gefühlsempfindungen. Die Personen können ihr Lächeln auch dann nicht ablegen, wenn sie sich eigentlich anders fühlen. Das zeigten vor vielen Jahren Studien von Arlie Hochschild über Stewardessen (,,Das gekaufte Herz").

... Ihr Fachkollege David Riesman unterschied die beiden Typen des innen- und außengeleiteten Menschen. Der erste, autonome Typ verfügt über einen inneren Kompass, der ihn leitet, der zweite orientiert sich an Anerkennung.

...


Aus: "Was die Arbeit mit mir macht" Jan Grossarth (26.11.2014)
Quelle: http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/arbeitswelt/konformismus-im-berufsleben-13277567.html

Textaris(txt*bot)

#19
Quote[...] Heute feiert vieles, das lange als fürchterlich bürgerlich galt, ein Revival. Das gilt nicht nur für die Jagd, sondern auch für Benimmkurse, Weinabende und seit einiger Zeit auch für den Möbelgeschmack. ... Wo kommt das Neo-Spießige bloß her, das sich jetzt überall beobachten lässt? - Soziologen halten den Trend, der sich in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen zeigt, für eine Art Gegenbewegung, eine Reaktion auf eine Welt, die immer schneller, lauter und gefühlt auch immer unsicherer wird. Menschen zwischen 20 und 30 seien in einer Zeit aufgewachsen, in der vieles irgendwie an den Abgrund geriet: die Stabilität der Währung, die Weltwirtschaft, das Klima. Nun sehne man sich nach etwas mehr Beständigkeit und Ruhe - und finde sie auch beim Rückgriff auf die Vergangenheit.

Weil Forscher (und auch Journalisten) es lieben, junge Menschen in ein Generationskorsett zu zwängen, entschieden sich die Wissenschaftler des Kölner Rheingold-Instituts daher sogar für den Namen "Generation Biedermeier". Eine Anspielung auf die Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die heute als Inbegriff des Bürgerlichen gilt. Damals, so behaupten Historiker, hätten sich die Menschen besonders gern in ihrem eigenen Wohnzimmer und bei der Familie aufgehalten: Es sei die Zeit der Kaffeekränzchen, Stammtische und hausbackenen Hobbys wie Handarbeit und Spaziergänge gewesen.

"Es gibt nichts Schöneres, als die Natur intensiv zu erleben", sagt Student Edel. Seinen Jagdschein hat er als 18-Jähriger in den Sommerferien gemacht, während eines dreiwöchigen Kurses in Mecklenburg-Vorpommern, der 1100 Euro kostete. "Da musste ich viel lernen, auch viel Theorie - nicht umsonst heißt die Jagdprüfung 'Grünes Abitur'." Bevor er sich irgendwann ein eigenes Revier pachten kann, hilft er jetzt erst einmal älteren Jägern bei der Hege - und darf zur Belohnung ab und zu mal ein Tier schießen. Den Vorwurf, die Jagd sei konservativ oder elitär, könne er überhaupt nicht nachvollziehen, sagt Edel - und viele seiner Kommilitonen auch nicht.

Wie sehr sich die studentischen Leidenschaften geändert haben in den vergangenen Jahren, hat auch Stefan Grob festgestellt. Dem Sprecher des deutschen Studentenwerks ist zum Beispiel aufgefallen, dass an den Universitäten derzeit all jene Abendkurse großen Zuspruch finden, die sich mit Tischsitten oder Weindegustation beschäftigen. "Da gibt es einen regelrechten Run", sagt er.

Beispiel Bad Honnef: Dort gönnt sich die 22-jährige Marleen Lucks an einem Abend im November gerade einen guten Weißen zum Entrée. Allerdings sitzt die Studentin des Luftverkehrsmanagements nicht in einem schicken Sterne-Etablissement, sondern im hauseigenen Restaurant der Internationalen Hochschule. Studenten in strahlend weißen Kochjacken servieren ihren Kommilitonen im Rahmen einer sogenannten Fine-Dining-Veranstaltung ein Fünf-Gänge-Menü.

Lucks und die 74 anderen Studenten, die hier zusammen speisen, haben sich schick gemacht: Sie tragen Hemden, Blusen, Halstücher, Perlen und Goldschmuck. Ein Pianospieler sorgt für dezente Hintergrundmusik. Der Weinklub der Hochschule, die "Grape Society", hat die passenden Weine zum Menü ausgewählt, das heute unter dem Motto "Indien" steht. Silvaner, Blanc de Blancs und Grauer Burgunder begleiten Tandoori Chicken, Fischsuppe und Butter-Curry-Lamm. Zum Dessert gibt es leckeres Chai-Tee-Parfait.

Die feste Abfolge der Gänge, die dazu servierten Weine, das edle Ambiente - all das kommt gut an bei den Studenten. Seit sie regelmäßig am Fine-Dining-Abend teilnimmt und Mitglied in der "Grape Society" ist, veranstaltet Marleen Lucks sogar selbst Weinabende in ihrer WG. "Jeder Gast bringt eine Flasche mit", erklärt sie und zählt dann ihre Lieblingssorten auf, darunter Spätburgunder, weil er "vollmundig, aber nicht so schwer" sei. Lucks glaubt, dass das Wissen über Wein ihr auch beruflich einmal helfen wird: "Es ist doch gut, wenn ich mich bei einem Geschäftsessen ein wenig über Rebsorten austauschen kann."

Das klingt pragmatisch, und dazu passt es auch, dass selbst Beschäftigungen wie das Golfen, das lange als elitär galt, immer beliebter werden bei Deutschlands Nachwuchsakademikern. Zum Beispiel in Köln, wo der vom AStA organisierte Hochschulsport sein Angebot an Golfkursen wegen der großen Nachfrage weiter ausbauen musste.

...


Aus: "Neue Bürgerlichkeit bei Studenten: Die Neo-Spießer" Rebecca Erken (07.01.2015)
Quelle: http://www.spiegel.de/stil/spiesser-studenten-entdecken-die-neue-buergerlichkeit-a-1011683.html

Quote#1 Heute, 13:09 von hansmaus
bürgerlich

hmmm also die meisten alt 68er von einst sind heute spießiger als die Generation denen sie den Muff aus 1000 Jahren austreiben wollten. Von daher ist es nur konsequent das die neue Generation den Quatsch gleich überspringt und sich zu dem bekennt was sie wirklich ist:
spießig, kleingeistig und Vereinsmeierisch.


Quote#9 Heute, 13:40 von FNagel
Das Jägertum ist nicht bürgerlich. Es ist ein Relikt...

...aus der Lebensweise der Aristokratie, von der das Bürgertum sich als Symbol seines Aufstiegs halt dies und jenes Statussymbol abgeschaut hat.
Daß die Aristokraten mit der Jagd wiederum selbst ein Relikt aus der Zeit Jäger und Sammler weiterpflegten, unterstreicht nur, was viele Hobbies im Grunde sind: Erinnerung an die gewöhnliche tägliche Arbeit untergegangene Kulturen


Quote#11 Heute, 13:43 von killing joke
Hierarchiepraxen

Es geht nicht um Tradition oder Selbstvergewisserung, sondern um die kulturellen Praxen der Selbstpositionierung in einer hierarchischen Rangordnung, die immer weniger durch Leistung bestimmt wird, sondern durch soziale Zuweisung.


Quote#12 Heute, 13:49 von twister-at
Was für ein Mischmasch

Schrebergarten, Jagd, Geweihe und Goldrahmen und Golfspielen - und all das ist irgendwie spießig... aehm, zeugt das nicht eher von der Spießigkeit der Betrachtet, die Leute noch immer in Schubladen packen. Golf ist ein sehr netter Sport und wird glücklicherweise auch günstiger, ein schrebergärtchen ist für viele deshalb praktisch weil sie eigenes Gemüse anbauen können aber die Wohnung keinen Platz dafür bietet usw. usf.

Wie mir diese Schubladen auf den Nerv gehen - jaja, wer golft, der will eigentlich nur Geschäfte mit Reichen abschließen; der Jäger nur Viecher abknallen, wie geil, höhö; der Weinverkostet will elitär sein und wer sich abends mal anhübscht zum Treffen, der ist schon total Mainstream...

Erinnert mich an die ersten Reaktionen auf die Ankündigung, ich würde heiraten. Oh nein, wie spießig, wie kann ich nur usw. usf. Dass ich auch noch ein weißes Hochzeitskleid trug und dass ich jetzt sogar noch auf einem Bauernhof lebe - wie reaktionär geradezu. Und ich koche sogar während der Ehemann ja "auf der Arbeit ist". Führte bei einigen dazu, dass sie mich dann gleich aus der Freundesliste strichen. Ach, Schubladen sind soooo schön.


Quote#13 Heute, 13:50 von Iggy Rock
Unbekannte Welten

In einer immer schnelllebigeren Zeit, verwundern mich solche Entwicklungen überhaupt nicht. Ich habe selber seit Jahren Papas Vinylsammlung bei mir stehen, sie selber noch aufgestockt und um einen Röhrenverstärker nebst puristischem Plattenteller bereichert. Unter freiem Himmel wird geangelt, gewandert, Wein, Salat und Tomaten kultiviert. Im Herbst werden Pilze und Maronen gesucht und das Jahr über gerne selbst gekocht, in Nicht-rostfreien, klassischen Pfannen.

Als Spießbürger würde ich mich nicht bezeichnen, noch nicht einmal als Konservativer, obwohl ich gerade bei diesen Hobbys moderne Entwicklungen konsequent ablehne. Altbewährtes ist einfach besser wie Produktvielfalt, die schon morgen aus der Mode ist oder schnell verschleisst. Nicht zu verachten ist dabei auch der ökologische Aspekt, gutes Werkzeug hält ein Leben lang, ordentliche Kleidung viele Jahre. Die Sachen sehen zwar aus, wie vom Großvater, aber sie sind funktional, für den Besitzer.

Dieser Wandel im Denken und Konsum fing bei mir mit etwa 20 Lebensjahren an, 40 bin ich noch lange nicht.
Merkwürdigerweise erstreckt er sich nicht auf moderne Elektronik, insbesondere IT. Aber ich weiss eben auch, dass es völlig ohne moderne Kommunikationsmittel geht. Ich brauche kein Internet um 50 Pilzarten voneinander zu unterscheiden, auch nicht um zu wissen, wie Waldmeister aussieht. Selbst auf GPS verzichte ich gerne beim Wandern.


Quote#19 Heute, 13:58 von jujo
...

Ein Klassenkamerad meiner Tochter meinte schon Mitte der neunziger zum Sportlehrer ob ihm der Reckaufschwung für spätere Leben nützlich sein würde wenn er mit seinen Klienten golfen würde. Inzwischen golft er mit denen als erfolgreicher Anwalt!


Quote#20 Heute, 14:00 von MutzurLücke
Konservativ oder individualistisch?

Ein wenig mehr Selbstkritik Jener, die meinen, bestimmen zu können, was ein Student von heute gut zu finden hat und was nicht, wäre vielleicht angebracht. Auch ist nicht unbedingt immer eine bestimmte generelle Geisteshaltung nötig, um an einer Sache Spaß zu haben.

Vielleicht sind die beschriebenen Einzelfälle Zeichern von neuer Spießigkeit, vielleicht aber auch gerade nicht. Aus meiner Sicht ist es nicht weniger spießig, jemanden dafür zu verurteilen, dass er Spaß an einem von der "herrschenden Meinung" als bieder empfundenen Hobby hat. Wenn man schon von Studenten jugendliche Aufgeschlossenheit erwartet, warum muss dann ein Teil der möglichen Freizeitgestaltungen in Schubladen gesteckt und tabuisiert werden?

Die Geschmäcker sind halt verschieden, und nicht jeder hat zwangsläufig Spaß an dem, was gerade "angesagt" ist (das Wort hat übrigens nicht umsonst etwas Befehlendes, Einengendes). Umgekehrt ist eine Sache, an der schon die Eltern oder Großeltern Spaß hatten, nicht deshalb automatisch für den "modernen" Menschen ungeeignet. Er muss sich aber, um das unvoreingenommen beurteilen zu können, erst einmal über die Klischees hinwegsetzen, die die Blockwarte des Zeitgeistes zu verbreiten pflegen.

Andere müssen warten, bis der Zeitgeist etwas Altmodisches zum "Kult" erhebt, dem man fröhnen kann, ohne seine Selbst- uund Fremdbild der unbedingten Hipness zu gefährden. Da sind mir Freigeister, denen das egal ist und die einfach machen, woran sie Spaß haben, deutlich lieber. Letztlich sind sie es, die - in guter studentischer Tradition - gegen den Strom schwimmen.


Quote#21 Heute, 14:02 von Kater Karlo
Jede Generation

hat den Nachwuchs, den sie verdient.


Quote#26 Heute, 14:14 von tomprill
Kapitalismus pur

"Lucks glaubt, dass das Wissen über Wein ihr auch beruflich einmal helfen wird: ,Es ist doch gut, wenn ich mich bei einem Geschäftsessen ein wenig über Rebsorten austauschen kann.' "
Das scheint das Mantra vieler Leute der 1980-plus-Generation zu sein. Die Suche nach dem persönlichen Vorteil. Verrückte Denkansätze interessieren nicht mehr, auch Beziehungen sind nur so lange interessant, wie sie dem eigenen Vorteil nutzen. Der reinste Kapitalismus.


Quote#29 Heute, 14:17 von samothrake.von.nike
Ach Gottchen

Wie hier alle Älteren direkt über meine Generation ablästern. Wir sind nicht spießig, sondern normal. Die Großeltern in den 50ern waren spießig und konservativ. Unsere Elterngeneration der 69er hat meist auch nichts ordentliches hervorgebracht. Bei all dem Freiheitsdrang befindet sich in meinem Freundeskreis (alle um die 29, frische Juraabsolventen) eine Person, deren Eltern noch zusammen sind. Alle anderen sind Scheidungskinder und haben teilweise ihre Väter nicht kennen gelernt, weil die Mütter es nach der Trennung verhinderten. Wir hingegen haben stabilere Beziehungen, wie ich in meinem weiten Umfeld erkenne. Wir bilden einfach ein gesundes Mittelmaß, weder erzkonservativ wie die Großeltern, noch "free love and drugs" wie die Eltern. Und seien sie mal ehrlich, wären wir rebellisch, würden die meisten Älteren uns als "undankbar" bezeichnen ;)


Quote#30 Heute, 14:21 von schneegrauchen
Was mir auffällt:

wir sprechen in diesem Artikel von Generation Biedermeier, eine Generation sind aber sehr viele. Nur die angesprochenen Personen waren alles Studenten! Es gibt aber in dieser Generation noch etliches andere; Auszubildenden, Arbeiter, Angestellte, sogar Selbständige, aber auch Arbeitslose. Und alle bürgerlich, sogar spießig eingestellt? Diesen Tenor kann ich nicht unterstreichen. Ich beobachte schon, dass es der Generation Y nicht mehr so wichtig ist, unabhängig, autark, selbständig und politisch aktiv zu sein, wie noch vor 30, 40 Jahren, aber deshalb auf eine neue deutsche Spießigkeit zu schließen, halte ich für verkehrt. Mglw. kommen die in dem Artikel angesprochenen Studenten aus einem behüteten Elternhaus und wollen sich diese Werte/Strukturen bewahren, andere haben anderes erlebt und/oder haben einfach andere Wertigkeiten.


Quote#32 Heute, 14:22 von kumi-ori

Ich finde es traurig, dass so viele Menschen glauben, Spießigkeit sei eine Frage dessen, was man anzieht, welche Hobbies man hat, ob man Jagdhorn spielt und wie die Kneipe dekoriert ist. Im Gegenzug glauben die Leute, wer Jeans mit Löchern kauft, Bassgitarre spielt und eine italienische Kaffeemaschine hat, der sei automatisch nicht spießig. Ein gefährlicher Trugschluss.


Quote#33 Heute, 14:23 von michael.woehler
Ist doch nicht neu!

Hier treffen sich (ohne nun jedem Einzelnen der Betroffenen zu nahe treten zu wollen) zwei Trends: 1. die neue Manufactum-am-Prenzlauer-Berg-Bürgerlichkeit und 2. die Vorzeigekinder aus dem Hotel Mama.
Jedem das Seine. Schön wäre es aber, wenn dies nicht mit zwei weiteren Phänomenen unserer Gesellschaft einher gehen würde: 1. einem Steuersystem, das auf leistungsfeindliche Weise die ohnehin priviligierten Kinder bevorzugt (selbst verdientes Einkommen wird im Durchschnitt 10x so hoch besteuert wie Erbschaften) und 2. dem engen Zusammenhang zwischen sozialer Stellung der Eltern und dem Bildungserfolg der Kinder, der in Deutschland wesentlich ausgeprägter ist als in anderen Ländern.


Quote#34 Heute, 14:23 von Pvanderloewen

Nur, weil ein Teil der Studenten den (pseudo-)bürgerlichen Lebensstil für sich entdeckt hat, bedeutet das noch lange nicht, dass es eine ganze "Generation Biedermeier" gibt. So ein Käse. Ich arbeite an einer Universität und sehe unter meinen Studenten (Fachbereich Jura, also die Studenten, die als die spießigsten verschrien sind) alle Möglichen Typen, da gibt es natürlich die "Golfer", aber genauso gut die "Gangsta" und "Rocker". Oder besteht eine "Generation" immer aus den Leuten, die am meisten auffallen?

Die älteren Generationen sollten endlich aufhören, die Studenten in bestimmte Schubladen zu packen und sie nach ihrem Wunsch formen zu wollen ... angeblich sind Studenten zu spießig, zu unpolitisch, zu wenig engagiert... aber haben die Herrschaften, die vor 30-40 Jahren Studenten waren und mit Studentenbewegung, Anti-Atom-Protesten, Umweltbewegung usw gegen ihre Eltern aufbegehrt haben, mal darüber nachgedacht, dass die heutigen Studenten ihnen nur auf neue Art sagen: "Fuck you, ihr alten Säcke"?


http://www.spiegel.de/forum//neue-buergerlichkeit-bei-studenten-die-neo-spiesser-thread-216714-1.html

....

Textaris(txt*bot)

#20
Quote[...]  ZEITmagazin: Herr Kocka, ist der Trend zum Rückzug ins Private, der nun vor allem die Jüngeren erfasst hat, ein neues Phänomen?

Jürgen Kocka: Sicher nicht. Es gab in der Geschichte immer wieder Zeiten des Rückzugs eines großen Teils des Bürgertums und der aktiven Kleinbürger und Arbeiter ins Private. Eigentlich immer nach Phasen des Umbruchs, nach einer großen öffentlichen Anstrengung und einer Überspannung der politischen Idee. Das war in den fünfziger Jahren so, nach der politischen Katastrophe der Diktatur, des Weltkriegs, der Zerstörung. Und es war in abgeschwächter Form nach der Reichsgründung 1871 so, vor allem aber nach der gescheiterten Revolution von 1848/49.

...


Aus: "Rückzug - Müde Bürger" Julia Friedrichs (29. Dezember 2014)
Quelle: http://www.zeit.de/zeit-magazin/2015/01/rueckzug-entschleunigung-weltflucht

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Quote[...] Wer wollte in einem Jahr wie diesem nicht ab und zu die Augen verschließen, sich die Ohren zuhalten, die Sinne in Watte packen und der Welt entfliehen? Wir wissen aber, dass alles Verdrängen nichts hilft. Dass wir am Ende doch zurückkehren müssen in die raue, graue, banale, brutale Nachrichten-Wirklichkeit. Oder etwa nicht?

Diese Geschichte beginnt im Sommer 2014 in Berlin-Mitte. Die Auguststraße ist eine Hipster-Meile, Galerien-Gelände, Flanierstrecke der Avantgarde. Im Ladenlokal Book Couture bügelt eine Frau handgenähte Bucheinbände. Beim Feinspitz gibt es rund geflochtene Lederleinen aus New York und anderes Feines für Hund und Mensch. Und so ist das do you read me?! auch kein Zeitschriftenkiosk, sondern eine kuratierte Boutique für Magazine und Lektüre der Gegenwart. Wer hier eintritt, steht unter gut aussehenden Menschen, die in Magazinen blättern oder sich in einem edlen Periodikum festgelesen haben. Die Zeitschriften, die ich – in einer feinen Jutetasche – nach Hause trage, sind auf dickem Papier gedruckt, matt in der Farbgebung, erdig im Look. Sie heißen: Oak, die Eiche, Cereal, das Getreide, Escape, die Flucht, und Weekender – Das Magazin für Einblicke und Ausflüge. Und sie haben alle dieselbe Botschaft: Sie predigen das einfache, das gebremste Leben. Loben die vergessene Kunst des Papierschnitts, das meditative Zeichnen von Schmetterlingsflügeln, die Makrofotografie von Kakteenblättern. Erzählen Aussteigergeschichten im Dutzend, wie die von einem Paar, das seine Großstadtwohnung verlässt, um in einer Hütte in der Mojave-Wüste, Kalifornien, unter schlichten Bedingungen zu leben.

In keinem der Magazine findet sich auch nur ein Spurenelement dessen, was gemeinhin für einen elementaren Teil der Gesellschaft gehalten wird: Politik und Wirtschaft. Auch Konflikte oder Armut tauchen nicht auf, erst recht keine Kriege. Nichts Schwieriges, nichts Unbehagliches, kein Dreck. Die Verkäuferin – hübsch wie ihre Kunden – sagt, fast jede Woche kämen jetzt neue Hefte wie diese auf den Markt, europaweit. In Polen, in Skandinavien, in Großbritannien oder den Niederlanden: Look und Themen seien überall die gleichen. In den Händen, sagt sie, hielte ich einen "Megatrend". Ich zweifle.

Das war im Sommer 2014. Im Herbst zweifle ich nicht mehr. Jetzt muss ich nicht mehr nach Berlin-Mitte fahren. Andere Verlage haben ähnliche Weltflucht-Magazine für die Masse auf den Markt geworfen. Sie füllen nun sogar die Regale in profanen Kiosken, am Bahnhof, am Flughafen. "Da, wo auch die Gala verkauft wird", freut sich eine junge Heftkäuferin – sie ist Design-Studentin mit der Mission, Wildkräuter wieder populär zu machen. Während 2014 die Auflagen der Tageszeitungen weiter sanken und auch Spiegel, stern, Focus und die ZEIT um Leser kämpften, wussten die Macher der Wohlfühlzeitschriften nicht, wohin mit ihrem Glück.

Flow – Das Magazin für Achtsamkeit, Positive Psychologe und Selbstgemachtes aus dem Verlag Gruner + Jahr hat gerade die Auflage auf 220.000 Hefte erhöht. My Harmony – Das Magazin für gute Ideen und schöne Gedanken erscheint jetzt mit 100.000 Exemplaren. Und auch die Emotion Slow – Motto: Mehr Zeit fürs Wesentliche – die der relativ kleine Emotion Verlag herausgibt, hob gerade die Auflage zur zweiten Ausgabe auf 60.000 Hefte. Sinja Schütte, Chefredakteurin von Flow, sagt: "Als uns die Hefte derart aus der Hand gerissen wurden, war ganz schnell klar, dass da etwas Großes brodelt, dass sich da draußen wirklich etwas tut, dass es ein Trend ist, der weit über die Flow hinausgeht." Sie meint: Der Verkaufserfolg der Magazine sei bloß die Spitze des Eisbergs. Unter der Oberfläche verberge sich weit mehr: ein neuer Zeitgeist.

Tatsächlich neu? Wer sich in die Magazine vertieft, fühlt sich zurückversetzt – in ein Mädchenzimmer aus früheren Zeiten. Alles wirkt sanft und lieblich, viel Handgezeichnetes, kleine Bildchen, Drucke von Blättern und Wolken. Dazwischen Sätze, die aus einem Teenagertagebuch stammen könnten und Seite um Seite Wohlfühlmomente heraufbeschwören: "Man bückt sich nebenbei nach Kastanien und fühlt, wie sie den Händen schmeicheln. Man sammelt Herbstmomente, wenn man Kastanien sammelt." (My Harmony) "Wenn das Feuer im Ofen knistert und wir spüren, wie die Wärme in Wellen auf uns ausstrahlt. Wenn die Pferde auf der Wiese zufrieden schnauben." (Emotion Slow) "Seit ich mir die Zeit nehme, wirklich hinzusehen, fühlen sich so viele Momente, Beziehungen und Dinge anders an. Bedeutungsvoller. Schöner. Entspannter." (Flow)

Verwundert trenne ich kleine Beigaben heraus: ein Ausmalbuch für Erwachsene, darin "zarte Blumen, ein Fink oder gestempelte Sinnsprüche", Postkarten mit Fotos von Luftballons, Papierdrachen und Teetassen, ein Set aus Mach-dir-keine-Sorgen-Karten für den Nachttisch. Eine heile, warme, ängstliche, ganz und gar apolitische Haltung kommt mir da entgegen. Gibt es wirklich eine solche neue Jugendbewegung – raus aus der Welt, ins kuschelige Heim?

... Das Psychologenteam des Forschungsinstituts Rheingold aus Köln hat kürzlich in 100 zweistündigen Interviews junge Erwachsene nach ihren Wünschen und Überzeugungen befragt. Das Ergebnis: "Angesichts einer als zerrissen und brüchig erlebten Lebenswirklichkeit sehnt sich die Jugend nach Stabilität. Sicherheit und Kontrolle findet sie in der Flucht in eine abgesteckte, verlässliche Biedermeier-Welt." Ob Schrebergarten, Schrankwand oder Beamtenlaufbahn: "All das, was die Jugendlichen der siebziger Jahre noch aufbrachte, was ihnen Symbol einer bornierten, betonierten Welt war, wirkt in den Augen der Jungen heute begehrenswert." Das sagt der Studienleiter Stephan Grünewald. "Das Lebensgefühl, mit dem die Jüngeren aufgewachsen sind, ist ein ganz anderes: Früher wirkte die Welt vernagelt, heute ist sie instabil."

Nicht nur die Jugend, auch die Älteren zwischen 40 und 60 Jahren fühlen sich bedrängt von den globalen Schrecken. Die Zeitschrift Landlust – sozusagen das Zentralorgan der Eskapisten – hat in den vergangenen fünf Jahren an Auflage zugelegt wie kein Blatt sonst. Im dritten Quartal 2014 verkauften sich pro Ausgabe 1.011.802 Hefte. Im Vergleich zu 2009 ist das ein Plus von 87,3 Prozent. Auch in Landlust dreht sich alles um Garten, Küche und Natur. Die Sprache ist freundlich, Konflikte gibt es nicht.

Man habe es, sagt die Soziologin Cornelia Koppetsch, Autorin des Buches Die Wiederkehr der Konformität, seit einigen Jahren mit einem "neuen Mentalitätstypus" zu tun, dem sich immer mehr Menschen öffneten. Und sie ist überzeugt: "Bei den Wertvorstellungen findet ein Rückzug aus dem öffentlichen Leben statt. Die Mentalitäten des neuen Jahrhunderts weisen mehr Ähnlichkeiten mit der Moral der fünfziger und sechziger Jahre auf als mit der postmodernen Vielfalt der achtziger Jahre."

Ein neuer Zeitgeist also? In soziologischen Studien greifbar, von Zeitschriftenmachern identifiziert, noch namenlos, noch gesichtslos, beschrieben als "Mentalitätstypus", als generationelles Charakteristikum, als Massenflucht in den Biedermeier. Das fasst den Trend. Hinter den Zahlen aber verbirgt sich, was eigentlich zählt: das Leben vieler Einzelner, die auf erstaunliche Art ähnlich denken.

Es sind Menschen wie Amber Riedl. Sie ist ein zartes Wesen in hauchdünner Seidenbluse, die langen braunen Haare fallen glatt. Amber ist 33. Sie hat in Kanada Politikwissenschaften studiert. In ihrem ersten Job – bei Transparency International – wagte sie sich vor in die Untiefen unserer beschädigten Welt und half, Korruption aufzudecken. Heute macht Amber Riedl etwas anderes: Sie bietet Näh-, Strick- und Häkelkurse im Internet an. Und, als smartes Extra für ihre jungen Kundinnen: Pappboxen, in denen alles bereitliegt, was man braucht, um sich spontan Pulswärmer zu stricken, ein Sommerkleid zu nähen oder ein Stoff-Meerschweinchen zu basteln, das Flow begeistert abdruckte.

...  Die Handarbeit – ein Pflaster für die Wunden, die die Arbeitswelt schlägt? Vielleicht ist es auch der unbewusste Wunsch, sich verloren gegangene Kompetenzen anzueignen, um in einer ganz anderen Gesellschaft der Zukunft bestehen zu können, in der die Industrialisierung zusammengebrochen sein könnte.

Vor allem das Berufsleben der Jungen sei komplizierter und unsicherer als das ihrer Eltern, konstatiert der Soziologe Hurrelmann. Die jüngere Generation habe es heute schwerer, sich zu etablieren. Egal, ob zu Beginn der Ausbildung, im Studium, beim Einstieg in den Beruf oder wenn sie Eltern werden, bei jedem Übergang müssten junge Menschen erhebliche Kräfte mobilisieren, um die Chance auf eine Karriere zu wahren. "Wir hören in den Studien oft: ›Wenn ich keine Grenzen ziehe, bin ich mit 40 kaputt‹ ", sagt Hurrelmann. Daher der Rückzug, die Sehnsucht nach der Höhle als Reaktion auf eine Arbeitswelt, die ständig antreibt, einfordert, abverlangt.

... Ein zittriges "Pong" hallt durch einen Saal mitten in Berlin. Die Slow Living Conference, die erste deutsche Konferenz für "Entschleunigung, Einfachheit und Nachhaltigkeit", wird mit sanftem Schlag auf die Klangschale eröffnet. Um mich herum: ein junges Großstadtpublikum, in der Mehrzahl weiblich, viele von ihnen – das höre ich in der Pause – Leserinnen der Zeitschriften Flow und Emotion Slow (Letztere liegt auf jedem Tisch aus). Vorne steht Ragnar Willer, bärtig, Konsumsoziologe. "Slow Living ist in den USA schick und trendy", sagt er ins Publikum. "Und wir wollen diesen Trend nach Deutschland holen." Er lächelt. "Fühlen Sie sich entschleunigt!" Er bemüht ein schönes Bild: "Wir strampeln auf rutschenden Abhängen." Bleiben Verlangsamung und Rückbesinnung als einzig gesunde Reaktion. "Wir fragen nach der Seele, nach der Essenz der Dinge", sagt Willer. "Was früher glänzte, ist heute matt. Still sein. Stillstehen. Stillsitzen ist Luxus".

Hier lerne ich nun, wie man im Geiste des Slow Living die Welt verändert: Ein junger Mann führt eine App vor, die stundenweise das Smartphone blockiert, um der permanenten Erreichbarkeit zu entfliehen. Ein anderer erklärt, wie er sich beigebracht hat, Holzbrillen mit der Hand zu fertigen. Wir müssen alle wieder lernen, Dinge selber zu machen, höre ich. Ein Zwillingspaar stellt seine Modekollektion vor, gefertigt aus nachwachsenden und veganen Materialien. Der Weg, um die Natur und Mensch ausbeutende Modeindustrie zu umgehen, erfahre ich.

Ich frage nach dem Preis der Brille: 800 Euro. Und die nachhaltige Hose? 300 Euro. In der Pause trete ich – meinen Wildkräutersnack noch in der Hand – auf die Straße. Und stehe in der Realität des Berliner Kiezes: Eine großflächig tätowierte Frau schiebt einen Buggy vorbei. Eine Alte mit blauädrigen, angeschwollenen Beinen schlurft über den Bürgersteig. Ein Mann hält sich an seiner Sternburg-Bierflasche fest und brüllt in sein Handy.

Ist das der Weg, etwas Neues zu schaffen? Handgemachte Brillen? Vegane Hosen? Die mehr kosten, als die Menschen draußen vor dem Kongresszentrum im Monat zum Leben haben? Ist das "Slow"- und "Mindful"-Programm nichts als ein elitäres Projekt? Ich denke an einen Freund, der manchmal böse zischt: "Fuckin' First World problems." Sarina Hassine, die Achtsamkeitstrainerin, sagt dazu: "Natürlich ist es das Privileg einer Luxusgeneration. Die Kriegsgeneration, auch die Nachkriegsgeneration, hatte mit existenziellen Nöten zu kämpfen. Es war nicht die Zeit, sich derart mit sich selbst zu beschäftigen. Aber ich finde es toll und so wertvoll, dass wir diesen Luxus haben. So können wir vielleicht Verhaltensweisen, die uns schaden, tatsächlich ändern."

... Edgar Allan Poe erzählt in seiner Novelle Die Maske des Roten Todes von der Vergeblichkeit des Eskapismus: Sie handelt vom Prinzen Prospero, der glaubt, dem Roten Tod – einer Pest, die im Lande wütet – entkommen zu können. Gemeinsam mit Gleichgesinnten zieht er sich in eine Abtei zurück. Umschlossen von Mauern, geschützt von eisernen Toren, versorgt mit Leckereien und Luxusartikeln. "Die Welt da draußen mochte für sich selbst sorgen", heißt es. Doch eines Nachts, als die Bewohner einen rauschenden Maskenball feiern, schleicht eine Gestalt durch die Gänge, niemand kennt sie, niemand weiß, wie sie hereingekommen ist. Sie trägt das Kostüm einer Pestleiche. Die Gesellschaft ist schockiert. Die Gestalt lässt sich nicht ergreifen, nicht töten: Es ist die Pest selbst – weder Mauern noch Tore konnten sie abhalten.

...


Aus: "Entschleunigung - Die Welt ist mir zu viel"
Julia Friedrichs, ZEIT Magazin Nr. 1/2015 8. Januar 2015
Quelle: http://www.zeit.de/zeit-magazin/2015/01/entschleunigung-biedermeier-handarbeit-stressabbau


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Winnetou, so erfuhren wir am Wochenende, kehrt zurück, als Mehrteiler neu verfilmt für RTL. Ein paar Tage zuvor war bereits das Comeback von Timm Thaler verkündet worden, dem Jungen, der 1979 so um Weihnachten rum im ZDF sein Lachen verkaufte [...] Die Film- und Fernsehindustrie setzt jetzt offenbar gezielt auf die Nostalgie der 35- bis 45-Jährigen. [...] Sind im besten Alter für eine Midlife-Crisis, beäugen also die nähere Zukunft und die nähere Vergangenheit misstrauisch und lassen uns nur allzu gern in das behagliche Sofa der Nostalgie fallen. Entsprechend dazu steht dieses Sofa ja heute in unseren Wohnzimmern voller Retrodesign. 

Wir sind die letzte Generation, deren Kindheit analog war. Die Zukunft wird immer digitaler, und Retro beruhigt. Dass wir uns, wenn wir eine futuristische Lampe aus den 1970ern ins Wohnzimmer stellen, nach einer Vergangenheit sehnen, die sich selbst nach der Zukunft gesehnt hat, ist fast ein bisschen komisch. Oder traurig. Aber egal, sieht nämlich gut aus. Vor allem, wenn man beim Fotografieren mit dem Smartphone noch so einen 1970er-Jahre-Farbfilter drüberlegt.

...


Aus: "Generation Glotz" Anna Kemper (24. März 2015)
Quelle: http://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2015-03/winnetou-remake-fernsehen-nostalgie-gesellschaftskritik


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Müsste man eine Karikatur zum Thema bürgerliche Gemütlichkeit zeichnen - der Ohrensessel wäre dabei so sicher gesetzt wie das Kaminfeuer, das gute Buch und Hausschuhe. Kein anderes Möbel strahlt eine solche Zufriedenheit aus, kein anderes definiert das Zuhause-Sein seit Jahrhunderten so gut wie der große Sessel mit den Ohrenbacken, die seinen Insassen vor den Unbilden der Welt abschirmen.

Vielleicht, weil es von diesen Unbilden wieder besonders viele gibt, erlebt die große, gepolsterte Sitzmaschine in diesen Jahren ein sehenswertes Comeback. Fast alle namhaften Hersteller haben neue Ohrensessel im Programm oder Klassiker wieder aufgelegt. Und nicht nur das, es ist ihnen auch gelungen, die Gleichung Kaminsessel+Fußhocker = Spießerglück umzudrehen und daraus ein Supermöbel zu machen, mit dem sich jedes anspruchsvolles Interieur krönen lässt.

Bei Preisen von 5000 Euro und mehr, wie sie etwa für den "Grand Repos" Sessel von Vitra (Entwurf von 2011), den "Ro" von Jamie Hayon für Fritz Hansen (Entwurf von 2013) oder den "808" von Thonet (Entwurf von 2014) bei entsprechender Stoff-Konfiguration fällig werden, ist mit dem großen Sessel auch ein neues Statussymbol im Haus.

Das hat durchaus historische Richtigkeit, als Erfinder des Ohrensessels gilt immerhin Charles II., der als König den Puritanismus in England für beendet erklärte und wieder etwas mehr Lebensfreude einkehren ließ, wozu auch bequemeres Sitzen gehörte. Mit Arm- und Kopfstützen versehen, entstand so gegen 1660 bei Hofe der "sleeping chayre", der noch etwas später seine kantige Urform gegen sinnlichere Linien eintauschte. Seitdem hält der mächtige Stuhl mit den Konstanten hohe Lehne, Seitenhalt und tiefer Sitz Einzug in die Wohnkultur und erfuhr als Club-, Großvater-, Chef- und letztlich Fernsehsessel immer neue thematische Zuweisungen.

Der andere Sitzplatzhirsch, der ihm noch in Preis und Funktion das Wohnzimmer streitig macht, ist das Sofa. Aber anders als die weiten Polsterflächen, die in den letzten Jahrzehnten zunehmend modular und strukturloser designt wurden, verspricht der Ohrensessel festen Halt, bei gleichzeitiger Wahrung der Gemütlichkeit. Anders gesagt: Während man in der Sofalandschaft zum wenig zivilisierten Fläzen neigt, behält man im großen Sessel die Würde des Sitzenden, kann aber eben trotzdem sanft versacken, sei es durch raffinierte Polsterung oder Wipptechnik.

... Er soll abschirmen und maximalen Rückzug und Weltabschied bieten, auch wenn der Betrieb ringsherum summt. Dank Drehgestell und Feder ist man bei Bedarf aber auch schnell wieder mittendrin, der Sitzende kann sich sozusagen selbst an- und abschalten. Dieses schnelle Verschlucktwerden ist die Kernkompetenz des Möbels, an der heute immer noch getüftelt wird.

... Ob als Oase innerhalb des Familientrubels oder einziger Wärmeort in der modernen Ungastlichkeit eines Architektenhauses mit Sichtbeton und bodentiefen Fenstern - Bedarf dafür gibt es genug. Außerdem eignen sich die Supersitze auch für die heimliche Hauptbeschäftigung dieser Zeit optimal: das Herumschieben von digitalen Inhalten auf Tablets und Smartphones, das ganze haltlose Im-Netz-Sein lässt sich in der angenehm echten Tiefe eines hohen Sessels beinahe genießen. Und für den unbehausten Unternehmensberater, der jedes Jahr die Stadt wechseln muss, ist ein großer Sessel vielleicht das einzige Stück Heimat und Lebensart, das sich mitzunehmen lohnt.


Aus: "Rückkehr des Ruhesitzes" Max Scharnigg (12. Mai 2015)
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/stil/moebel-ruhesitz-1.2468275

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Während sich die Intelligenz Europas weitgehend in biedermeierlichen Rückzugsgefechten verliert – selbstverständlich moralisch integer und keinesfalls mitschuldig –, hat uns die neoliberale Realpolitik den Boden unter den Füßen weggezogen.


Aus: "Essay zum Linksliberalismus in Europa: Revolution. So friedlich wie möglich" Anselm Lenz (02.08.2015)
Quelle: http://www.taz.de/Essay-zum-Linksliberalismus-in-Europa/!5216612/


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Die Regisseurin Aslı Özge hat einen der interessantesten Filme des Jahres gedreht. Ihr Thriller "Auf einmal" entwirft ein grausames Bild unserer Wohlstandsmittelschicht.

In ihrem dritten Spielfilm zeichnet Özge meisterlich das Sittenbild einer Generation von Wohlstandskindern. Von den Eltern mit allem überversorgt, stehen sie nun als Dreißigjährige völlig hilflos mit dem Leben und seinen Problemen da. 

Auf fast gespenstische Weise haben Karsten und seine Freunde die Rituale ihrer Eltern übernommen, ja, sie übertreffen diese noch an Biederheit. Das Büffet mit Gemüsestreifen, die uniformierten Anzüge der Bankkollegen, die Dialog-Choreografie auf den Pärchenabenden. Interessanterweise passen diese alt gewordenen Jungen in die Geschichte der realen Stadt Altena: Sie ist – Zufall oder nicht – eine der Gemeinden mit dem stärksten Bevölkerungsrückgang in Deutschland.

Auf einmal ist ein deutscher film noir im besten Sinne. Özge spielt aus, wie dehnbar die Begriffe Loyalität, Ehrlichkeit und Vertrauen sind. Und wie sehr Macht und Ansehen in Deutschland vererbt werden. ...


Aus: ""Auf einmal": Viele gute Menschen und eine Tote" Carolin Ströbele (4. Oktober 2016)
Quelle: http://www.zeit.de/kultur/film/2016-09/auf-einmal-film-asli-oezge/komplettansicht

Textaris(txt*bot)

#25
Quote[...] Heute feiert vieles, das lange als fürchterlich bürgerlich galt, ein Revival. Das gilt nicht nur für die Jagd, sondern auch für Benimmkurse, Weinabende und seit einiger Zeit auch für den Möbelgeschmack. ... Soziologen halten den Trend, der sich in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen zeigt, für eine Art Gegenbewegung, eine Reaktion auf eine Welt, die immer schneller, lauter und gefühlt auch immer unsicherer wird. Menschen zwischen 20 und 30 seien in einer Zeit aufgewachsen, in der vieles irgendwie an den Abgrund geriet: die Stabilität der Währung, die Weltwirtschaft, das Klima. Nun sehne man sich nach etwas mehr Beständigkeit und Ruhe - und finde sie auch beim Rückgriff auf die Vergangenheit.

... Weil Forscher (und auch Journalisten) es lieben, junge Menschen in ein Generationskorsett zu zwängen, entschieden sich die Wissenschaftler des Kölner Rheingold-Instituts daher sogar für den Namen "Generation Biedermeier". Eine Anspielung auf die Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die heute als Inbegriff des Bürgerlichen gilt. Damals, so behaupten Historiker, hätten sich die Menschen besonders gern in ihrem eigenen Wohnzimmer und bei der Familie aufgehalten: Es sei die Zeit der Kaffeekränzchen, Stammtische und hausbackenen Hobbys wie Handarbeit und Spaziergänge gewesen.

... Wie sehr sich die studentischen Leidenschaften geändert haben in den vergangenen Jahren, hat auch Stefan Grob festgestellt. Dem Sprecher des deutschen Studentenwerks ist zum Beispiel aufgefallen, dass an den Universitäten derzeit all jene Abendkurse großen Zuspruch finden, die sich mit Tischsitten oder Weindegustation beschäftigen. "Da gibt es einen regelrechten Run", sagt er.

Beispiel Bad Honnef: Dort gönnt sich die 22-jährige Marleen Lucks an einem Abend im November gerade einen guten Weißen zum Entrée. Allerdings sitzt die Studentin des Luftverkehrsmanagements nicht in einem schicken Sterne-Etablissement, sondern im hauseigenen Restaurant der Internationalen Hochschule. Studenten in strahlend weißen Kochjacken servieren ihren Kommilitonen im Rahmen einer sogenannten Fine-Dining-Veranstaltung ein Fünf-Gänge-Menü.

Lucks und die 74 anderen Studenten, die hier zusammen speisen, haben sich schick gemacht: Sie tragen Hemden, Blusen, Halstücher, Perlen und Goldschmuck. Ein Pianospieler sorgt für dezente Hintergrundmusik. Der Weinklub der Hochschule, die "Grape Society", hat die passenden Weine zum Menü ausgewählt, das heute unter dem Motto "Indien" steht. Silvaner, Blanc de Blancs und Grauer Burgunder begleiten Tandoori Chicken, Fischsuppe und Butter-Curry-Lamm. Zum Dessert gibt es leckeres Chai-Tee-Parfait.

Die feste Abfolge der Gänge, die dazu servierten Weine, das edle Ambiente - all das kommt gut an bei den Studenten. Seit sie regelmäßig am Fine-Dining-Abend teilnimmt und Mitglied in der "Grape Society" ist, veranstaltet Marleen Lucks sogar selbst Weinabende in ihrer WG. "Jeder Gast bringt eine Flasche mit", erklärt sie und zählt dann ihre Lieblingssorten auf, darunter Spätburgunder, weil er "vollmundig, aber nicht so schwer" sei. Lucks glaubt, dass das Wissen über Wein ihr auch beruflich einmal helfen wird: "Es ist doch gut, wenn ich mich bei einem Geschäftsessen ein wenig über Rebsorten austauschen kann."

...


Aus: "Stil-Klassiker: Bürgerlichkeit bei Studenten - Die Neo-Spießer" Rebecca Erken (07.01.2015)
Quelle: http://www.spiegel.de/stil/spiesser-studenten-entdecken-die-neue-buergerlichkeit-a-1011683.html

Quote
hansmaus 07.01.2015

1. bürgerlich - hmmm also die meisten alt 68er von einst sind heute spießiger als die Generation denen sie den Muff aus 1000 Jahren austreiben wollten. Von daher ist es nur konsequent das die neue Generation den Quatsch gleich überspringt und sich zu dem bekennt was sie wirklich ist: spießig, kleingeistig und Vereinsmeierisch.


Quote
FNagel 07.01.2015

9. Das Jägertum ist nicht bürgerlich. Es ist ein Relikt aus der Lebensweise der Aristokratie, von der das Bürgertum sich als Symbol seines Aufstiegs halt dies und jenes Statussymbol abgeschaut hat. Daß die Aristokraten mit der Jagd wiederum selbst ein Relikt aus der Zeit Jäger und Sammler weiterpflegten, unterstreicht nur, was viele Hobbies im Grunde sind: Erinnerung an die gewöhnliche tägliche Arbeit untergegangene Kulturen.


Quotekilling joke 07.01.2015

10. Hierarchiepraxen

Es geht nicht um Tradition oder Selbstvergewisserung, sondern um die kulturellen Praxen der Selbstpositionierung in einer hierarchischen Rangordnung, die immer weniger durch Leistung bestimmt wird, sondern durch soziale Zuweisung.


Quote
twister-at 07.01.2015

11. Was für ein Mischmasch

Schrebergarten, Jagd, Geweihe und Goldrahmen und Golfspielen - und all das ist irgendwie spießig... aehm, zeugt das nicht eher von der Spießigkeit der Betrachtet, die Leute noch immer in Schubladen packen. Golf ist ein sehr netter Sport und wird glücklicherweise auch günstiger, ein schrebergärtchen ist für viele deshalb praktisch weil sie eigenes Gemüse anbauen können aber die Wohnung keinen Platz dafür bietet usw. usf. Wie mir diese Schubladen auf den Nerv gehen - jaja, wer golft, der will eigentlich nur Geschäfte mit Reichen abschließen; der Jäger nur Viecher abknallen, wie geil, höhö; der Weinverkostet will elitär sein und wer sich abends mal anhübscht zum Treffen, der ist schon total Mainstream... Erinnert mich an die ersten Reaktionen auf die Ankündigung, ich würde heiraten. Oh nein, wie spießig, wie kann ich nur usw. usf. Dass ich auch noch ein weißes Hochzeitskleid trug und dass ich jetzt sogar noch auf einem Bauernhof lebe - wie reaktionär geradezu. Und ich koche sogar während der Ehemann ja "auf der Arbeit ist". Führte bei einigen dazu, dass sie mich dann gleich aus der Freundesliste strichen. Ach, Schubladen sind soooo schön.


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Iggy Rock 07.01.2015

12. Unbekannte Welten

In einer immer schnelllebigeren Zeit, verwundern mich solche Entwicklungen überhaupt nicht. Ich habe selber seit Jahren Papas Vinylsammlung bei mir stehen, sie selber noch aufgestockt und um einen Röhrenverstärker nebst puristischem Plattenteller bereichert. Unter freiem Himmel wird geangelt, gewandert, Wein, Salat und Tomaten kultiviert. Im Herbst werden Pilze und Maronen gesucht und das Jahr über gerne selbst gekocht, in Nicht-rostfreien, klassischen Pfannen. Als Spießbürger würde ich mich nicht bezeichnen, noch nicht einmal als Konservativer, obwohl ich gerade bei diesen Hobbys moderne Entwicklungen konsequent ablehne. Altbewährtes ist einfach besser wie Produktvielfalt, die schon morgen aus der Mode ist oder schnell verschleisst. Nicht zu verachten ist dabei auch der ökologische Aspekt, gutes Werkzeug hält ein Leben lang, ordentliche Kleidung viele Jahre. Die Sachen sehen zwar aus, wie vom Großvater, aber sie sind funktional, für den Besitzer. Dieser Wandel im Denken und Konsum fing bei mir mit etwa 20 Lebensjahren an, 40 bin ich noch lange nicht. Merkwürdigerweise erstreckt er sich nicht auf moderne Elektronik, insbesondere IT. Aber ich weiss eben auch, dass es völlig ohne moderne Kommunikationsmittel geht. Ich brauche kein Internet um 50 Pilzarten voneinander zu unterscheiden, auch nicht um zu wissen, wie Waldmeister aussieht. Selbst auf GPS verzichte ich gerne beim Wandern.


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MutzurLücke 07.01.2015
19. Konservativ oder individualistisch?
Ein wenig mehr Selbstkritik Jener, die meinen, bestimmen zu können, was ein Student von heute gut zu finden hat und was nicht, wäre vielleicht angebracht. Auch ist nicht unbedingt immer eine bestimmte generelle Geisteshaltung nötig, um an einer Sache Spaß zu haben. Vielleicht sind die beschriebenen Einzelfälle Zeichen von neuer Spießigkeit, vielleicht aber auch gerade nicht. Aus meiner Sicht ist es nicht weniger spießig, jemanden dafür zu verurteilen, dass er Spaß an einem von der "herrschenden Meinung" als bieder empfundenen Hobby hat. Wenn man schon von Studenten jugendliche Aufgeschlossenheit erwartet, warum muss dann ein Teil der möglichen Freizeitgestaltungen in Schubladen gesteckt und tabuisiert werden? Die Geschmäcker sind halt verschieden, und nicht jeder hat zwangsläufig Spaß an dem, was gerade "angesagt" ist (das Wort hat übrigens nicht umsonst etwas Befehlendes, Einengendes). Umgekehrt ist eine Sache, an der schon die Eltern oder Großeltern Spaß hatten, nicht deshalb automatisch für den "modernen" Menschen ungeeignet. Er muss sich aber, um das unvoreingenommen beurteilen zu können, erst einmal über die Klischees hinwegsetzen, die die Blockwarte des Zeitgeistes zu verbreiten pflegen. Andere müssen warten, bis der Zeitgeist etwas Altmodisches zum "Kult" erhebt, dem man fröhnen kann, ohne seine Selbst- und Fremdbild der unbedingten Hipness zu gefährden. Da sind mir Freigeister, denen das egal ist und die einfach machen, woran sie Spaß haben, deutlich lieber. Letztlich sind sie es, die - in guter studentischer Tradition - gegen den Strom schwimmen.


QuoteKater Karlo 07.01.2015

20. Jede Generation
hat den Nachwuchs, den sie verdient.


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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Im Magazin Landlust ist das Leben einfach, einfach schön: alte Einmachgläser, dekorative Strohballen, reizende Haarkränze aus duftenden Wiesenblumen; man kann ganz einfach rote Kerzen in rote Äpfel stecken, schon hat man einen romantischen Adventskranz. Den weihnachtlichen Mürbeteig füllen wir einfach »mit fruchtigem Aprikosenmus, zimtiger Nussmischung sowie feiner Orangenfüllung« und in der kalten Jahreszeit stricken wir uns gemütliche Pulswärmer. Ja, hier hat noch jedes Substantiv sein Adjektiv, hier schmeckt's, hier ist's gesund, hier ist's übersichtlich – und besonders wichtig: ganz natürlich.

Allein im zweiten Quartal 2016 verkaufte die Landlust 946 159 Hefte und damit deutlich mehr als Spiegel und Stern. Abgesehen von einigen Fernsehzeitschriften ist sie das erfolgreichste Magazin Deutschlands: ein großer Markt für Idylle. Die Welt jenseits dieser Idylle sieht bekanntlich anders aus: Islamisten, Putin, Trump.

... Und die alten Werte – sie gelten nicht mehr. Gott ist tot, die Familie gay, überall Sex und Chemie. Die Ökonomie ist ebenfalls aus den Fugen: Krisen, Crashs, auch die neue Arbeitswelt kennt keine Gewissheiten mehr. Schließlich droht auch noch beständig die Apokalypse: Weltkrieg und Klimawandel.

Da wundert es wenig, wenn Menschen lieber in Magazinen wie Landlust, Landleben oder Landidee blättern. Sie ziehen das einfache, naturverbundene Leben, das stille Glück im heimischen Landhaus oder der auf Landhaus getrimmten Stadtwohnung dem Weltchaos vor. Zumindest als Projektion, als Sehnsuchtsort – denn wer wirklich auf dem Land lebt, also auch arbeitet, dessen Welt besteht weniger aus duftenden Zimtschnecken und wintergrünem Thymian in mediterranen Terrakottatöpfen als aus Traktor, Gülle und Gummistiefeln.

Dass sich heute viele Menschen von der digitalisierten, globalisierten, entwerteten Welt überfordert sehen und deshalb »zurück zur Natur« wollen – während gleichzeitig immer mehr in die großen Städte ziehen –, ist historisch nichts ganz Neues. In der Biedermeierzeit Anfang des 19. Jahrhunderts zog sich das neue Bürgertum, erschrocken von den politischen Wirren jener Zeit, zur Hausmusik in seine schrecklich gemütlichen Wohneinrichtungen zurück. Vor allem aber geschah Vergleichbares in der darauffolgenden Zeit der Industriellen Revolution, als eine ganz ähnliche Verunsicherung um sich griff wie heute. Auch damals verstanden viele die Welt nicht mehr, kamen nicht mit den technologischen Entwicklungen mit, waren von den neuen Maschinen, Verkehrsmitteln und Wirtschaftsformen, dem allgemeinen Wertewandel überfordert.

Damals entstand als Reaktion die Lebensreformbewegung, was eigentlich nur ein Überbegriff ist für eine Vielzahl von Reformbewegungen, denen es darum ging, die vermeintlich drohenden »Zivilisationsschäden« und »Zivilisationskrankheiten« durch eine Rückkehr zu »naturgemäßer Lebensweise« zu vermeiden und zu heilen. Damals etablierte sich die Naturheilkunde, die Reformpädagogik, die Freikörperkultur, Landkommunen verschiedenster Art: völkische, anarchistische, religiöse und esoterische. Die Rohkost und die Vollwertkost erlebten hier ihre erste Hochphase, der Vegetarismus ein Revival. Die damals gegründeten Reformhäuser und der Deutsche Vegetarierbund sind Überbleibsel dieser Zeit.

... Ob Rohkost, bio, laktosefrei, glutenfrei, »clean«, vegetarisch oder vegan: Dass auch diese Ernährungsformen als Reaktion auf das Überforderungsgefühl gegenüber der heutigen Zeit verstanden werden können, erklärt die Soziologin Jana Rückert-John. Sie sagte dem Fernsehsender N-TV: »Die verschiedenen Ernährungstrends fokussieren alle verschiedene Aspekte. Sie präferieren jeweils eine bestimmte Art der Ernährung und schließen eine andere aus. Typisch für alle ist, dass man sich auf bestimmte Produkte oder eine bestimmte Auswahl beschränkt, die dann gegessen werden. Im Fachjargon sind Ernährungstrends Strategien der Komplexitätsreduktion.« Thomas Ellrott, Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie an der Universität Göttingen, meint, dass tradierte Ordnungssysteme wie Religion und Familie an Bedeutung einbüßen, deshalb verlagere sich die Sinnsuche in die eigene Küche: »Was ich esse, ist eine Facette des Ichs, die ich vergleichsweise leicht selbst bestimmen und ändern kann.«

Das »Zurück zur Natur« dieser Tage, die Glorifizierung des – vermeintlich – Ursprünglichen ist keine Hinwendung zur Natur, sondern die Simulationen einer Natürlichkeit, die es gar nicht gibt. Denn in der Natur ist nichts naturgegeben und unveränderlich. Im eigenen Kühlschrank, im Vorgarten oder Wohnzimmer möchte man eine kleine heile Welt schaffen, inmitten der großen allgemeinen Konfusion. Die rousseausche Hoffnung, dass der Mensch in der Annährung an seinen Naturzustand zu seinem guten Wesen zurückfinde, ist angesichts der politischen Weltlage zwar verständlich. Doch anders als zu Zeiten Jean-Jacques Rousseaus können wir heute wissenschaftlich belegen, dass mit unserer Vorstellung von Natürlichkeit weder Gesellschaft noch Natur »geheilt« werden können. Wollten alle Menschen einen Deko-Strohballen in ihren Vorgarten legen, benötigte man anderthalb Milliarden Tonnen Stroh – das ist doppelt soviel wie jährlich weltweit überhaupt Weizen produziert wird.


Aus: "Archiv - 51/2016 - Thema - über regressive Naturromantik - Das einfache Leben" Ivo Bozic (Jungle World Nr. 51, 22. Dezember 2016)
Quelle: http://jungle-world.com/artikel/2016/51/55430.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Für echte Rockfans, so wie mich, waren KuschelRock-Alben immer schon systematische Körperverletzung. Und tatsächlich gibt es sogar beim kuscheligen Kuschelrock einen zwischenmenschlichen Risikofaktor - denn es sollen auch immer wieder sich anbahnende Beziehungen platzen, weil er in ihrem Regal KuschelRock-CDs entdeckt. ... Kuschelrock-Alben werden übrigens nicht nur für die lieben Kleinen rausgebracht, sondern auch für ältere Semester, denn ab irgendeinem Punkt besteht das Leben mehr aus Erinnerungen als aus Absichten, und sehnsuchtsvolle Erinnerung ist ein beliebtes Mittel, der Ratlosigkeit zu begegnen! Deshalb waren auch 1987 schon Procol Harums A Whiter Shade Of Pale, When A Man Loves A Woman von Percy Sledge und Without You von Nilsson zwischen all diesen irgendwie seifigen Love Songs jener Zeit verstreut wie Rosenblätter im Badeschaum.  ... Doch wie Karl Marx bereits im ersten Band vom KAPITAL erkannte: Der Rock ist ein Gebrauchswert, der ein besonderes Bedürfnis befriedigt. Und erst recht trifft das auf Kuschelrock zu! ... Ja, toll zum Kuscheln ... Aber nirgends steht geschrieben, wie man Rockmusik zu konsumieren habe: Vielleicht ja so, wie mir, als ich noch jünger war, mal eine Frau sagte, als ich mir vor der Wohnungstür die Schuhe auszog: Den intellektuellen Überbau lässt Du aber auch draußen, okay?

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Aus: "30 Jahre Kuschelrock" Eine Glosse von Laf Überland (23.11.2017)
Quelle: http://www.deutschlandfunkkultur.de/30-jahre-kuschelrock-gift-fuer-singles-gefuehlskonserven.2177.de.html?dram:article_id=401357

Textaris(txt*bot)

#28
Quote[...] "Seid Ihr bereit für euer neues Haus?" – diese Frage ist fixer Bestandteil jeder Episode der amerikanischen Fernsehsendung Fixer Upper. Anschließend ziehen die Moderatoren eine große Schiebewand auseinander, hinter der ein frisch renoviertes Haus zum Vorschein kommt. Staunende Augen, hysterische Schreie und Umarmungen folgen. Die Kandidaten sehen zum ersten Mal ihr neues Zuhause, das zuvor von Chip und Joanna Gaines renoviert und eingerichtet wurde. Das Ehepaar aus Waco, Texas, ist Teil der wohl erfolgreichsten Hausrenovierungsshow aller Zeiten. Im Jahr 2013 vom Sender HGTV gestartet, wurde das Format sofort ein Hit. 14,5 Millionen Zuschauer sahen es wöchentlich. Vor wenigen Tagen wurde die letzte Folge in den USA ausgestrahlt, Chip und Joanna wollen sich nun auf andere Dinge konzentrieren.

Zu diesen Dingen gehört etwa das Immobilien- und Einzelhandelsimperium Magnolia, das aus ihrer TV-Sendung entstanden ist. Diese hat nebenbei die texanische Stadt zum Touristenmagnet gemacht. Den Magnolia Market in Waco besuchen 40.000 Menschen pro Woche. Es gibt Ferienappartements, einen Bauernmarkt, eine Bäckerei, ein Gartencenter und ein Restaurant. Sowohl Chip als auch Joanna haben Bücher herausgebracht, verlegen ein Magazin, haben Teppich- und Farblinien entworfen und verkaufen ihre Produkte etwa im Kaufhaus Target.

Das amerikanische Beispiel zeigt, was auch im deutschsprachigen Raum offensichtlich ist: Sendungen über Einrichten, Wohnen, Bauen und Renovieren boomen wie nie zuvor. Eine der aktuell beliebtesten Netflix-Serien heißt Die außergewöhnlichsten Häuser der Welt. Der zu ProSiebenSat1 gehörende Sender Sixx, auf dem auch Fixer Upper zu sehen ist, zeigt aktuell vier weitere Shows, die sich um diese Themen drehen – etwa die deutsche Produktion Boom My Room. Auf Kabel 1 läuft Schrauben, sägen, siegen, bei der die Kandidaten um die Wette renovieren. Auch in Österreich war und ist Wohnen und Bauen im TV ein Thema. Auf ATV läuft seit kurzem Kein Pfusch am Bau, in der der EU-Bausachverständige Günther Nussbaum Tipps gibt, wie Baumängel erst gar nicht auftreten. Ebenfalls mit ihm auf ATV zu sehen ist mittlerweile die 14. Staffel von Pfusch am Bau. "Weil die Quoten stimmen", wie Nussbaum im Gespräch mit dem STANDARD sagt.

Aber woher kommt das Interesse an den Themen Bauen, Wohnen und Renovieren? Warum boomen TV-Formate wie diese? Es hat sozialpsychologische und gesellschaftliche Gründe, weiß der Soziologe Rainer Rosegger. Er hat vor einigen Jahren untersucht, warum Menschen sich dafür entscheiden, ein Einfamilienhaus zu bauen. "In diesen TV-Formaten und in der Werbung werden genau die damals erhobenen Motive angesprochen", sagt Rosegger. Dazu gehöre erstens die Statusrepräsentation. "Ich kann mein Heim im TV präsentieren, dieses Bedürfnis wird so angesprochen und auch weitergegeben", so der Soziologe.

Dazu kommt eine Art neues Biedermeiertum, also ein zunehmender Rückzug ins Private, der in der Trendforschung "Homing" genannt wird. Dabei wird das Zuhause zu einem halböffentlichen Ort. Die Menschen laden Freunde zu sich ein, wollen zeigen, wie schön sie es haben. Rossegger sieht darin auch eine Parallele zu Kochsendungen, die schon seit längerem boomen. Drittens, so Rosegger, sei es vielen Menschen heute ein Anliegen, sich selbst zu verwirklichen. "Sie spricht der Do-it-yourself-Trend stark an. Selbst Hand anlegen – dazu motiviert auch die Werbung, etwa mit Slogans wie 'Respekt, wer's selber macht'."

Günther Nussbaum glaubt, dass viele Zuschauer sich mit den Protagonisten der Sendungen identifizieren können. "Jeder wohnt ja irgendwie und hat daher auch auf die eine oder andere Art Interesse an den Inhalten. Man fiebert mit, trauert, freut sich." Außerdem werde viel Information vermittelt. "Man kann also etwas lernen. Die Mischung aus Unterhaltung und Information mag das Geheimnis sein", so Nussbaum.

Wohnsendungen seien oft eine Mischung aus Reality-TV und Ratgebersendung, dadurch entstehe ein thematisches Interesse des Publikums, sagt der Medienforscher Jürgen Grimm von der Universität Wien. "Es ist ein Megatrend, den wir schon seit mehreren Jahren beobachten: Klassische Informationsvermittlung wird heute zunehmend dominiert durch Themen des Alltagslebens, etwa Wohnen, Gesundheit, Beziehungen." Und: Wohnen habe auch generell an Bedeutung gewonnen. "Es geht nicht mehr darum, nur funktional zu wohnen, die Menschen wollen sich geborgen und wohl fühlen."

Und die Folge? Grimm: "Wir wissen aus Untersuchungen, dass die Zuseher die eigenen Geschmäcker und Ansichten mit dem vergleichen, was sie auf dem Bildschirm sehen." Daraus resultiere ein Lernen, ein Schlussfolgern für die Gestaltung des eigenen Bereichs. "Die Menschen denken sich etwa: 'Diese Farbkombination könnte ich auch mal ausprobieren.'" Diesen Einfluss hält Soziologe Rosegger teilweise auch für problematisch. Er sieht den zunehmenden Flächenverbrauch durch den Bau von Einfamilienhäusern kritisch und befürchtet, TV-Sendungen könnten die Nachfrage weiter steigern. Dennoch gebe es Chancen: "Das Fernsehen könnte auch verdichtete Wohnformen positiv kommunizieren – auch in dem Bereich ist Selbstverwirklichung möglich." Ein erster Schritt in diese Richtung ist bereits getan: In der Sixx-Sendung Tiny House – Wohntraum XXS werden, wie es heißt, Wohnträume auf wenig Platz wahr gemacht. (Bernadette Redl, 6.5.2018)

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Aus: "Warum TV-Sendungen über Bauen und Einrichten boomen" Bernadette Redl (6. Mai 2018)
Quelle: https://derstandard.at/2000078191646/Warum-TV-Sendungen-ueber-Bauen-und-Einrichten-boomen

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ringo102

Pfusch am Bau schau ich sehr gerne. Obwohl es fast immer um fehlende Abdichtungen oder falsch angelegte Dampfbremsen geht ;-)


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Peter Williams

Oder falsch eingebaute Fensterbänke.


Quoteeisy57

Nach den besch... Kochshows der nächste Schwachsinn.


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Fräulein hübsch

Und die Bewohner sitzen immer im perfekt zusammen geräumten heim (wie auch sonst immer) in edler schale (wie auch sonst immer) mit dem glas rotwein (wie auch sonst immer) am Tisch und erzählen dass es hier so gemütlich haben.


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aufmerksamer_beobachter

Hoffentlich erklärt er noch, wie wunderbar er sich selbst verwirklicht hat.


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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Lisz Hirn - Die 1984 geborene Autorin studierte Philosophie und Gesang in Graz, Paris, Wien und Kathmandu. Sie arbeitet in der Jugend- und Erwachsenenbildung, etwa am Lehrgang "Philosophische Praxis" der Universität Wien, und ist Obfrau des Vereins für praxisnahe Philosophie.

... Die Idee der "guten Mutti" hat hierzulande eine lange und ambivalente Geschichte. Sie beginnt mit einem Konzept, das seit Anfang des 19. Jahrhunderts alle Beziehungen zwischen Individuen prägte: die romantische Liebe. Seit die Familie als Keimzelle der Gesellschaft entdeckt und die Liebe zwischen Mutter und Kind "heilig" ist, hat sich die Rolle der Frau als Mutter wesentlich verändert. Das Muttersein wurde von der simplen biologischen Funktion zu einer normativen Idee, die alle anderen Rollen der Frau überlagerte.

Als Adolf Hitler in den 1930er-Jahren das "Mutterkreuz" für den verdienten "Dienst am Deutschen Volk" einführte, säte er auf bereits ideologisch fruchtbarem Boden. Das nationalsozialistische Frauenbild orientierte sich an der Ideologie der deutschnationalen oder alldeutschen Biedermänner, die über den "Emanzipationskoller der entarteten Weiber" schimpften und die "Entmutterung der Frauen" anprangerten. Diese "Berufung zur Mutter" als prägendes Frauenbild hat in Deutschland und Österreich bis heute überdauert. Auch die neuen deutschnationalen Biedermänner sprechen heute wieder von "geburtenorientierter Politik".

2013 schrieben sie in einem vom jetzigen FPÖ-Verkehrsminister Norbert Hofer herausgegebenen Buch von einem "natürlichen Brutpflegetrieb" des weiblichen Geschlechts: "Der vom Thron des Familienoberhaupts gestoßene Mann sehnt sich unverändert nach einer Partnerin, die, trotz hipper Den-Mädels-gehört-die-Welt-Journale, in häuslichen Kategorien zu denken imstande ist, deren Brutpflegetrieb auferlegte Selbstverwirklichungsambitionen überragt." Im Klartext bedeutet das: Eine Frau, die Mutter ist, soll sich weitgehend in den häuslichen Bereich zurückziehen, eigene Ambitionen aufgeben und sich vorrangig auf ihre Mutterpflichten konzentrieren. Doch nicht jede Frau macht das mit.

Dass sich Geschlechterrollen nicht so entwickeln müssen, zeigen vergleichende Recherchen mit anderen Ländern, wie beispielsweise Frankreich. Elisabeth Badinter argumentiert mit akribischer Schärfe in Die Mutterliebe, dass die Rolle der "Vollzeitmutter" nicht in der Natur der Sache liegt, sondern eine historisch gewachsene Institution ist, an der in Ländern wie Österreich und Deutschland unter zwei Prämissen auffällig stark festgehalten wird: Erstens geht das Wohl des Kindes über alles und zweitens kann dieses Kindeswohl nur durch eine 24-Stunden-Mutter-Kind-Beziehung garantiert werden. Während eine französische Maman ihre Rolle als Frau pflegen darf, wird ihr deutsch-österreichisches Pendant auf ihre Rolle als Mutter reduziert, die die Aufgabe des unabhängigen, selbstbestimmten Lebens der Mutter zum Wohl des Kindes einfordert. Die folkloristische Behauptung, dass die Mutter unersetzlich für das Kind und deshalb unabkömmlich sei, schlägt sich, wie im vorigen Kapitel ausgeführt, nicht nur in der fehlenden externen Kinderbetreuung und dem fehlenden partnerschaftlichen Ethos nieder. Tatsächlich macht kaum ein junges Elternpaar halbe-halbe. Es gibt den Versuch auf, bevor er überhaupt begonnen wurde.

Badinter hat gut belegt, dass Mutterschaft die Ungleichheit in der Paarbeziehung enorm verschärft. Egal ob mit oder ohne Trauschein lastet der Großteil der Hausarbeit auf den Schultern der Frauen. Die ungleiche Verteilung häuslicher Pflichten hat sich seit den 1950er-Jahren kaum verändert – vor allem nicht in den Köpfen der Menschen. Zwar hat "die Revolution der Sitten die Männer und Frauen mit der besten Ausbildung einander angenähert, während sie gleichzeitig diese Frauen von ihren weniger gut ausgebildeten Schwestern entfernt hat." Die sehr gut ausgebildeten Frauen verzichten eher für ihre Karriere auf Kinder, während den anderen mangels adäquater Angebote wenig überbleibt, als sich im Haushalt zu engagieren. Wer aufgrund schlechterer Qualifikationen oder Ausgangsbedingungen keinen Job findet, der finanziell genug abwirft, bleibt eher zu Hause. Das ist durch Zahlen gut belegbar. So ist die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau hierzulande nicht vom Migrationshintergrund, sondern in besonderem Maß vom Bildungsniveau abhängig. In Österreich bekommen in der Landwirtschaft tätige Frauen durchschnittlich 2,5 Kinder und türkisch-stämmige Frauen durchschnittlich 2,4 Kinder. Es wäre allerdings falsch, daraus zu schließen, dass wir das "langsame Aussterben der Österreicher" dadurch verhindern könnten, wenn wir mehr Städterinnen von den Vorteilen des Landlebens überzeugen, da sie dann liebend gerne Kinder bekommen würden.

Spätestens nach dem medial breit rezipierten Aufschrei unter dem Hashtag #RegrettingMotherhood sickert diese Botschaft auch in das Bewusstsein der Konservativen. Diese reagieren mit Abwehr: Jede Frau, die sich nicht in das "Natürlichste auf der Welt" fügt, ist keine "richtige" Frau. Eine "richtige" Frau ist für ihre Kinder immer verfügbar, übernimmt das Gros der Erziehungs- und Hausarbeit und stellt die Bedürfnisse der Familie über die eigenen. Nebenbei verdient sie ein Taschengeld dazu, ist gut ausgebildet, schlank und sexuell attraktiv. Wie stark dieses Ideal als Bringschuld gegenüber einer Gesellschaft gesehen wird, deren Leistungsanspruch an die heutigen Frauen kaum Grenzen kennt, konnte man an den abwertenden Kommentaren gegenüber Politikerinnen wie Elisabeth Köstinger sehen, die ob ihrer Figur beschimpft wurde. Selbst die Biederfrauen sind von diesem Leistungsdruck nicht ausgenommen, sie schlagen mit noch mehr Funktionalität zurück und dem Image der glücklichen und erfüllten Mutter.

Lisz Hirn: Geht's noch! Warum die konservative Wende für Frauen gefährlich ist. Molden Verlag, Wien/Graz 2019; 144 S.


Aus: "Rückkehr der Biederfrauen" Lisz Hirn (4. März 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/2019/10/feminismus-gleichstellung-konservatismus-tradition-biederfrauen

QuoteUlrike Metz #8

Frauen werden wie eine wirtschaftliche Ressource behandelt, die je nach Bedarf mal in Kriegszeiten Männer in Fabriken ersetzen, nach dem Krieg Trümmer abtragen und körperlich und seelisch verwundete Männer versorgen und zwischen Kriegen für Haushalt, Kinder und die Pflege der älteren Generation zuständig sein sollen. Was, wenn Frauen anderen Gesetzen folgen und intuitiv wissen, dass die Welt nicht unter zu wenig Kindern leidet, sondern eine neue Ideologie für die digitale Zukunft braucht?


QuoteMaria_29 #21

Ich verstehe irgendwie nicht wieso es immer nur um ,,die Männer" oder ,,die Frauen" geht...
Meiner Meinung nach gibt es halt auf beiden Seiten solche und solche Typen.

Es gibt die Frauen, die gerne arbeiten, selbständig sind und einfach keine Kinder möchten. Denen merkt man es auch an, und ich glaub ihnen aufs Wort wenn Sie sagen: sie möchten keine Kinder, sondern lieber frei sein und einfach alles ihre Entscheidungen frei treffen können.

Auf der anderen Seite gibt es auch die Frauen, die schon immer den Wunsch nach Kindern hatten und dann in ihrer Arbeit der Kindererziehung auch voll aufgehen...
Die mehr oder weniger gern Ihren Haushalt erledigen...zumindest für eine Zeit, bis die Kinder wieder aus dem Haus sind.

Genauso gibt es Männer, die schauen ihre eigenen Kinder genervt an, sind unfähig sich längere Zeig vernünftig mit Ihnen zu beschäftigen, geschweige denn mal einen oder mehrere Tage den Haushalt zu schmeissen ohne komplett im Chaos zu versinken.

Und dann gibts auch solche, die einen wunderbaren Draht zu ihren Kindern haben, gerne auch Arbeiten im Haushalt übernehmen, Ihre Frau unterstützen und verstehen...

Ich verstehe dieses Schubladendenken in Geschlechter einfach nicht.
Meiner Meinung nach sind alles Charaktere und man tut am Besten daran, sich das ergänzende Gegenstück zu suchen, wie es am Besten zu seiner eigenen Vorstellung von Leben passt.
Man kann doch nicht jeden in eine Rolle zwingen, wie man meint dass ,,Mann" oder ,,Frau" sein muss...


Quotethe one #42

Warum müssen sich konservative Lebensmodelle, die das Bild der Frau als Mutter ins Zentrum rücken und andere Lebensmodelle, nach denen Frauen die Rolle einer Mutter und die der arbeitenden dem Mann gleichgestellte Person vereint oder sogar die Mutterrolle zurücktritt, ausschließen?

Ein jeder mag so leben, wie es ihm beliebt. Wenn die Mehrheit moderner Frauen gerne Beruf und Karriere für das Hausfrauen-Dasein zurückstellt, dies aber anders als Frauen in den 1950er Jahren (und davor) aus freier Selbstüberzeugung macht, dann ist das ebenso emanzipiert wie andere Lebensformen. Ich empfehle den in dieser Hinsicht sehr sehenswerten Film "Mona Lisas Lächeln", der exakt diese Problematik aufgreift.


QuoteGerne_unterwegs #43

Im Artikel wird deutlich, dass es historische Entwicklungen gibt z. B. die Erläuterungen zur romantischen Liebe, die Propaganda der Nazizeit und natürlich auch die Frauenbewegungen. Der "Zeitgeist" hat also nicht nur Einfluss auf die Länge der Röcke.

Seltsamerweise wird heutzutage sehr häufig davon ausgegangen, dass alle Individuen frei, unabhängig und emanzipiert ihre Entscheidungen treffen. Die These dazu lautet: Es gibt keinen Zeitgeist mehr, keine historischen und kulturellen Einflüsse.

Wer glaubt so etwas wirklich?


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Textaris(txt*bot)

#30
Quote[...] ,,Sissi" [gehört] zu den beliebtesten Filmklassikern an Weihnachten. Am 22. Dezember 1955 wurde der erste Film in deutschen Kinos gezeigt und machte die beiden Hauptdarsteller Romy Schneider und Karlheinz Böhm zu Stars. Seither gehören die Sissi-Filme für viele zur Weihnachtstradition. ...


Aus: ",,Sissi" zu Weihnachten: Das sind die Sendetermine" (19.11.2019)
Quelle: https://www.rnd.de/medien/sissi-zu-weihnachten-das-sind-die-sendetermine-BFJELP766FCUXCE6HGAZ5JFVXE.html

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Quote[...] Kritiken:

    ,,Romantisch-gefühlvolle Unterhaltung im Stil anspruchsloser Heimatfilme." – Lexikon des internationalen Films (CD-ROM-Ausgabe), Systhema, München 1997

    ,,Damals, als es die Lady Di noch nicht gab, mussten die Bedürfnisse von Royalisten anders befriedigt werden, und da bot sich die für den Film entsprechend frei bearbeitete Geschichte der jungen und schönen bayerischen Prinzessin, die in zwei Fortsetzungen als österreichische Kaiserin auftrat, geradezu an. Herzallerliebst." – Heyne-Filmlexikon, 1996

    ,,Anspruchslos unterhaltsame Farbenpracht." – 6000 Filme. Kritische Notizen aus den Kinojahren 1945 bis 1958. Handbuch V der katholischen Filmkritik, 3. Aufl., Verlag Haus Altenberg, Düsseldorf 1963, S. 397–398

    ,,Romy Schneider ist taufrisch, jung, kindlich verführerisch und trägt ihre Roben mit Anmut. Karlheinz Böhm als herausgeputzter Kaiser Franz Joseph weiß sein Glück zu schätzen. Mischung aus Heimatfilm, Melodram, Märchen und prachtvoller Biedermeieridylle, die Romys große Starkarriere einleitete." (Wertung: 2 1⁄2 Sterne = überdurchschnittlich) – Adolf Heinzlmeier und Berndt Schulz in Lexikon ,,Filme im Fernsehen" (Erweiterte Neuausgabe). Rasch und Röhring, Hamburg 1990, ISBN 3-89136-392-3, S. 751

    ,,Rührende Liebesromanze um die spätere österreichische Kaiserin Elisabeth im zeitgerechten ,Gartenlaube'-Stil. Für Liebhaber dieser Unterhaltungsware ,aus der guaten, alten Zeit' ab 14 bekömmlich." – ,,Evangelischer Filmbeobachter"

    ,,Filme haben Kaiserin Elisabeth zum Mythos werden lassen. Mit der Wirklichkeit haben sie fast nie etwas zu tun." – Mittelbayerische Zeitung vom 14. Dezember 2012[5]


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Sissi_(Film) (30. September 2019)

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Quote[...] Mit nur 43 Jahren starb Romy Schneider - vermutlich an Herzversagen, verursacht durch Tablettenmissbrauch und Alkohol. Ihr damaliger Lebensgefährte entdeckte sie am Morgen des 29. Mai 1982 am Schreibtisch in der gemeinsamen Pariser Wohnung. Viele meinten damals, sie sei an "gebrochenem Herzen" gestorben, die vielen Schicksalsschläge und die gnadenlose Hatz der Presse hätten sie in den Tod getrieben.

Doch Romy Schneider hat ihren Erfolg auch genossen. So sagte sie einmal: "Den Leuten hat es gefallen, dem Publikum hat es gefallen, also war es richtig! Mir hat es auch gefallen. Ich war selig, ich war die Prinzessin vor der Kamera, ich war dauernd die Prinzessin!"

In den ersten Jahren hat Romy Schneider das Scheinwerferlicht gesucht. Ihre Karriere startete raketengleich mit den kitschigen "Sissi"-Filmen. In den drei Filmen spielt Romy Schneider Elisabeth von Bayern, die dann zur Kaiserin von Österreich - genannt "Sisi" - wurde. Sie war der süße Star des deutschen Nachkriegskinos, tanzte auf vielen Filmbällen und genoss den Ruhm - bis dieser sich ihrer bemächtigte, ihr alles zu viel wurde und sie nach Frankreich flüchtete.

Sie habe damals versucht, nicht nur beruflich aus einer Art Zwangsjacke, aus einer Art "kleinen Welt" auszubrechen. Sie habe weg gewollt von immer denselben Dingen, sich nicht mehr im Kreis drehen wollen und in Frankreich sei es einfach eine neue Welt, ein neues Leben gewesen, sagte Romy Schneider später über ihre Flucht ins Nachbarland.

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Aus: "Romy Schneider - der tragische Superstar" Jochen Kürten  (23.09.2018)
Quelle: https://www.dw.com/de/romy-schneider-der-tragische-superstar/a-45590187

Textaris(txt*bot)

Denn unabhängig davon, ob vermeintliche Eheprobleme oder ,,jede Menge Stress und Überstunden" (Freizeit Vergnügen) die Kanzlerin quälen, besteht der erzählerische Fluchtpunkt fast all dieser Berichte in der existenzialistischen Vision eines biedermeierlichen Schrumpfkonservatismus, wonach Lebensglück sich aus der Kombination von Ehe und gemütlicher Überschaubarkeit ergibt. Mag die geopolitische Nachkriegsordnung zerfallen oder die Klimakatastrophe heraufziehen, man wünscht sich vor allem, dass Merkel ,,mit Ehemann und Freunden ein Glas Wein im idyllischen Ferienhaus in der Uckermark ohne Termindruck genießen" kann (frau aktuell) oder ,,Zeit [hat], neue Rezepte auszuprobieren" (frau aktuell).

Quote[...] Yellow Press - Wer Angela Merkels Erfolgsrezept in Gänze verstehen will, sollte Blättchen wie ,,frau aktuell" oder ,,Freizeit Woche" lesen

Zu den vielfach wiederholten Merksätzen über Angela Merkel gehört, dass sie in ihrer 16-jährigen Amtszeit stets eine ,,Teflon-Kanzlerin" gewesen sei, an der diskursiv schlicht nichts haften bleibe. Genauer besehen erscheint die Sache jedoch komplexer. Zum einen ist es nämlich nicht einfach so, dass Merkel quasi-präsidial über dem politischen Betrieb schwebte und sich jeder Einordnung entzog. Vielmehr beherrschte sie ein intrikates Zurechnungsmanagement, das in der Regel zu ihren Gunsten ausfiel. Das Publikum vermochte ihr bei Erfolgen zu unterstellen, dass diese dank ihrer Sachkenntnis und strategischen Weitsicht zustande kamen, während sie gleichzeitig den Eindruck vermitteln konnte, dass Niederlagen und Fehler nicht wegen, sondern trotz ihr passierten. Oder anders gesagt: Merkel gelang es, für sich eine politische Hermeneutik des Wohlwollens in Anspruch zu nehmen, wodurch man ihr im Zweifelsfall abnahm, dass sie mit den von Andi Scheuer oder Horst Seehofer verantworteten Entscheidungen nichts zu tun hatte.

Die Teflon-Metapher scheint aber auch deshalb unzureichend, weil zum medienpolitischen Kapital der Kanzlerin eine spezifische Form der Authentizität gehörte: ein Habitus der Bescheidenheit, Bodenständigkeit und Uneitelkeit. Nun mag diese medial vermittelte Authentizität ebenso einem inszenatorischen Kalkül folgen, da Merkel darum wissen wird, dass bei ihren regelmäßigen Einkäufen in einem Supermarkt in Berlin-Mitte Handybilder von Umstehenden entstehen, die auf Facebook und Twitter das Porträt einer unprätentiösen Spitzenpolitikerin zeichnen, die Wein und Klopapier bisweilen noch selbst einkauft.

Doch ganz gleich, ob darin nun Berechnung steckt oder nicht, entfaltet dieser Habitus der Bodenständigkeit seine Wirkung. Das erkennt man nicht nur daran, dass er in kaum einem journalistischen Merkel-Porträt unerwähnt bleibt, sondern man sieht es noch deutlicher, wenn man in die tiefsten Niederungen des Boulevards hinabsteigt, die mit dem Begriff des Journalismus nicht mehr adäquat zu fassen sind. Gemeint sind jene dünnen Blättchen wie frau aktuell, Freizeit Woche oder Neue Post, die im Zeitschriftenhandel zu Dutzenden nebeneinander aufgereiht liegen und auf den Titelseiten die immer gleichen, mit Ausrufezeichen versehenen Skandal- und Herzgeschichten von Schlagersängerinnen, Schauspielern und europäischem Adel anreißen, welche sich dann bei der Lektüre als abstruse Irreführungen oder blanke Lügen entpuppen.

In Bezug auf Angela Merkel ist jedoch nicht nur interessant, dass sie als eine der wenigsten Politiker:innen überhaupt regelmäßig in diesen Blättchen vorkommt, das mag man noch mit ihrer Bekanntheit und herausgehobenen Stellung erklären, sondern vor allem, wie sie dies tut. Denn so problematisch diese Postillen freilich auch sind, bekommen sie nicht nur dadurch publizistisches Gewicht, dass sie insbesondere von der wahlentscheidenden Ü-60-Generation ,,gelesen" werden, sondern ihre obskure Machart entstellt auch ein wesentliches Erfolgsrezept Angela Merkels zur Kenntlichkeit. Nur lässt sich dieses vollends erst auf den zweiten Blick erkennen. Auf den ersten erscheint die Kanzlerin in dieser buchstäblichen Yellow Press zunächst mit denselben Themen wie Helene Fischer: Liebe, Krankheit, Arbeit.

Dass es bei dieser ,,Berichterstattung" freilich nicht auf Tatsachen ankommt, zeigt sich exemplarisch schon daran, dass die Freizeit Woche am 23. Juni über die Kanzlerin titelte:  ,,Ihr Mann ist weg! Ist sie bald die einsamste Frau der Welt?" (Anlass: Joachim Sauer wurde in die Turiner Akademie der Wissenschaften aufgenommen), während am selben Tag Die Neue Frau mit der Schlagzeile aufmachte: ,,Ehe gerettet! Sie hat um ihre Liebe gekämpft – und gewonnen" (Anlass: Sauer hatte Merkel zum G-7-Gipfel in Cornwall begleitet). Am 1. September titelte die Freizeit Woche wiederum: ,,Unheilbar krank? So schlecht geht es der Kanzlerin wirklich" (Anlass: Sie leide angeblich an exzessivem Nägelkauen), während frau aktuell vom 4. September auf dem Cover vermeldete: ,,Endlich glücklich! Große Zukunfts-Pläne" (Anlass: Im Ruhestand habe Merkel endlich einmal Zeit für sich).

Praktisch alle anderen Merkel-Schlagzeilen dieser Zeitschriften folgen einem ähnlichen Muster: ,,Überraschender Neu-Anfang" (frau aktuell, 28.08.21), ,,Die Wahrheit über ihre Ehe (Freizeit Vergnügen, 14.09.21), ,,Alles aus! – Droht ihr jetzt ein Leben in bitterer Einsamkeit" (Woche Heute, 28.10.20) oder ,,Bitteres Ende! Sie hat ihr Glück für die Pflicht geopfert" (Neue Post, 20.01.21). Wird an diesen Geschichten zum einen deutlich, dass selbst die mächtigste Frau Europas auf ihre Rolle als Gattin reduziert wird, zeigt sich zum zweiten eine narrative Konstante darin, dass die Kanzlerin, ganz gleich, ob nun von vermeintlicher Zweisamkeit oder Trennungsschmerz die Rede ist, sich auf der Suche nach dem kleinbürgerlichen Glück befindet.

Denn unabhängig davon, ob vermeintliche Eheprobleme oder ,,jede Menge Stress und Überstunden" (Freizeit Vergnügen) die Kanzlerin quälen, besteht der erzählerische Fluchtpunkt fast all dieser Berichte in der existenzialistischen Vision eines biedermeierlichen Schrumpfkonservatismus, wonach Lebensglück sich aus der Kombination von Ehe und gemütlicher Überschaubarkeit ergibt. Mag die geopolitische Nachkriegsordnung zerfallen oder die Klimakatastrophe heraufziehen, man wünscht sich vor allem, dass Merkel ,,mit Ehemann und Freunden ein Glas Wein im idyllischen Ferienhaus in der Uckermark ohne Termindruck genießen" kann (frau aktuell) oder ,,Zeit [hat], neue Rezepte auszuprobieren" (frau aktuell).

Dass Boulevardzeitschriften derlei biedermeierliche Fantasien pflegen, mag an sich nicht sonderlich überraschen, erfüllt in Bezug auf Merkel dann aber doch eine nicht unerhebliche Funktion. Denn im Gegensatz zu Helmut Kohl und Gerhard Schröder, die ihre vermeintliche Bodenständigkeit ostentativ am Wolfgangsee oder in Kleingartenanlagen in Szene setzten, hat Merkel sich dieser medienwirksamen Form der halb-privaten Tuchfühlung verweigert. Dass die Kanzlerin, die biografisch und persönlich stets eine Herausforderung für den männerbündlerischen BRD-Konservatismus war, vom Ü-60-Boulevard dennoch einen Nimbus kleinbürgerlicher Hausfrauen-Solidität verliehen bekommt, ist aus geschlechterpolitischer Perspektive freilich fatal, aus christdemokratischer Binnensicht indes eine Art publizistisches Geschenk.

Roger Willemsen bemerkte 2014 einmal, Angela Merkel sei ,,die Transposition von Helene Fischer auf die Politik". Ähnlich wie Deutschlands Schlagerqueen stehe die Kanzlerin für eine Form der permanenten Unschärfe, die durch totale Reibungslosigkeit einer Depolitisierung der Verhältnisse Vorschub leiste. Daran ist sicher einiges richtig, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass die Coverzeilen des Rentner-Boulevards in puncto Helene Fischer und Angela Merkel bisweilen austauschbar scheinen. Aber abgesehen davon, dass der viel zu früh verstorbene Willemsen dieses Urteil angesichts von Merkels Agieren in der Flüchtlingskrise womöglich revidiert hätte, scheint die Sache im Grundsatz auch dialektischer.

Merkel konnte ihren vergleichsweise disruptiven Kurs in puncto Migrations- oder Atompolitik gegen parteiinterne Widerstände ja nicht zuletzt auch deshalb durchsetzen, weil ihre persönlichen Zustimmungswerte stets so hoch blieben. Und das hing wiederum damit zusammen, dass ihre persönliche Unschärfe nicht einfach Konturlosigkeit war, sondern vielmehr als eine Art identitätspolitischer Gemischtwarenladen funktionierte. Während die einen in ihr eine christdemokratische Quasi-Feministin erkannten, vermochten andere in ihr eine Sucherin des kleinen (Ehe-)Glücks sehen. Insofern trugen frau aktuell und Co. auf eigentümliche Weise zum vielleicht zentralen Erfolgsgeheimnis Angela Merkels bei: ihrer Wahrnehmung als One-Woman-Volkspartei.


Aus:"Ehejahre einer Kanzlerin" Nils Markwardt (22.09.2021)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/nils-markwardt/ehejahre-einer-kanzlerin

Quote
Sozialist | Community

Die bunten Blättchen, die aufgrund ihrer Papierqualität noch nicht mal zur Lokushilfe taugen, versorgt den deutschen Michel und seine Micheline mit den Geschichtchen, die denen so gut gefallen.
Und Merkel spielt dabei offensichtlich eine wichtige Rolle. Wer möchte sich schon mit den drögen Nachrichten z.B. über einen verlorenen Krieg in Afghanistan beschäftigen. Laaaaangweilig.
Viel spannender, wie es bei den Promis hinter der Schlafzimmertür ausschaut. ...


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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Würde meine Großmutter, die heute 101 Jahre alt wäre, in die Welt zurückkommen, sie wäre der Star jedes Party-Small-Talks. Sie beherrschte nämlich all die Kulturtechniken, die heute absolut angesagt sind. Sie besaß eine Wiese, auf der sie alte Quittenbäume pflegte (ich war mir früher sicher: Es gibt kein langweiligeres Obst als Quitten und kein schlimmeres Gelee als Quittengelee).

Sie beschnippelte Fallobst, das schon faul war, mit ihrem Küchenmesser, sodass garantiert Essbares übrig blieb (mir waren tadellose Äpfel und Birnen lieber).

Sie kaufte Eiernudeln in großen Säcken direkt beim Hersteller (warum, wo es doch im Supermarkt Spaghetti gab?).

Sie züchtete Zimmerpflanzen und verschenkte gern ihre Ableger (ich war froh, verschont zu bleiben).

Auch zu den Themen Backen, Kochen, Nähen, Waldökologie und Ressourcensparen hätte sie auf einer Party eine Menge beizutragen. "Wie man von einer Brombeere einen Ableger zieht? Klar, zeige ich dir mal", würde sie sagen. Alle wären begeistert von ihr.

Die Ende-30- bis Anfang-50-Jährigen von heute – also grob: die Altersgruppe, zu der ich gehöre und mit der ich am meisten zu tun habe – finden schon eine ganze Weile Gefallen an Verhaltensweisen, die noch vor einer Generation ausschließlich von Rentnerinnen und Rentnern gepflegt wurden. Und diese ganze Weile begann schon ein paar Jahre vor Corona. Es war eher so: Als der Lockdown kam, war meine Altersgruppe bereit für das große Einwecken von Obst, Gemüse – und sich selbst.

Längst bücke ich mich nach Fallobst, wenn ich über welches stolpere. Als im vorigen Spätsommer die Pandemie eine Pause machte, habe ich erstmals Quittenmus gekocht, ich habe die harten Früchte ewig köcheln lassen und immer wieder umgerührt. Die Quitten hatte ich selbst von einem Baum geschüttelt. Und ja, ich habe sie vor dem Einkochen fotografiert, weil ich sie inzwischen so schön finde.

Oder Sauerteigmachen. Diese Fähigkeit ist zur Schlüsselqualifikation meiner Generation geworden. Nicht nur, weil Sauerteigbrot so gut schmeckt und so gesund ist. Das auch. Aber das, was den Sauerteig zum rising star gemacht hat, ist, dass seine Zubereitung so lange dauert, ein paar Tage nämlich, und dass der Teig danach älter werden kann als der Mensch, der ihn angesetzt hat. Was in einer Welt, in der Lebensmittel schnell geliefert werden, natürlich irre antizyklisch ist. Kein Wunder, dass es von diesem Teig, in dem Generationen stecken, heißt, von ihm gingen Kraft und Ruhe aus. Es heißt sogar, er verändere die Persönlichkeit desjenigen, der ihn backt. Natürlich zum Guten.

Seit 2017 hat fast jeder große oder mittelgroße Kochbuchverlag ein Sauerteigbuch herausgebracht, ich zähle seither mehr als 30 verschiedene Titel. Laut der Deutschen Nationalbibliothek werden in diesem Jahr deutlich mehr neue Sauerteigbücher erscheinen als Bücher über Joe Biden.

Ich selbst fühle mich noch nicht bereit für diese transzendentale Stufe des Backens. Aber ich bin immerhin schon beim Hefeteig angelangt. Die Vorstufe der Erleuchtung.

Dafür kann ich einen Kleingarten vorweisen. In Gemüsezucht und Lattenzaunbau bin ich zwar eine Null, habe aber dafür umso eifriger die Kleider-Codes des natürlich von echten Rentnern verwalteten Kleingartenvereins verinnerlicht. Als mich im vorvorigen Sommer eine Freundin zum ersten Mal im Garten besuchte, musterte sie mein Outfit, die Adiletten, die Shorts, das T-Shirt, die Baseballmütze, und sagte: "Gut passt du hier rein."

Die Verrentnerung meines Lebensstils hatte schleichend begonnen: Kauf einer Datsche (mit 38), Reduzierung meiner Arbeitszeit auf 80 Prozent (mit 39), Kauf eines VW T4 California, also eines kleinen, mittelalten Wohnmobils (mit 43), Übernahme eines sehr alten Hundes (mit 46). Gassi-Gänge in einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 1,1 Kilometern pro Stunde gehören seither zu meinem Leben. Und natürlich habe ich mich schon dabei ertappt, jungen Leuten, die zu schnell und zu eng mit dem Rad an dem Hund vorbeifahren, ein böses "Mensch, pass doch auf, du!" hinterherzuschnauzen.

"Montag bis Donnerstag erreichbar", las ich vor Kurzem zum ersten Mal in der Signatur eines beruflichen Mail-Accounts, vor der Telefonnummer. Ein Hinweis darauf, dass es sich beim Versender um einen 80-Prozentigen handelte. Der Hinweis ist wie ein Warnschild: "Am Freitag bitte nicht stören." Freitag ist übrigens ein guter Tag zum Rasenmähen im Kleingartenverein. Am Wochenende verbietet es einem die Satzung ja fast rund um die Uhr.

Ich bin nicht allein. Da sind zum Beispiel meine beiden Freunde aus Schulzeiten, Ende 40 wie ich. Wir drei haben unterschiedliche Lebensmodelle mit bis zu drei Kindern, ganz unterschiedliche Berufe, aber einen gemeinsamen Nenner: lieber etwas weniger arbeiten. Zwei von uns arbeiten nur 80 Prozent, der Dritte tauscht seit ein paar Jahren seine Gehaltserhöhungen gegen mehr Urlaubstage ein. Ein paar Gehaltsklassen über uns fielen zuletzt einer der Chefs des Online-Versandhändlers Zalando (damals Ende 30) und die Marketingchefin der Deutschen Bahn (damals Ende 40) auf, die sich beide in eine berufliche Pause von unbestimmter Dauer begaben, freiwillig und, nach allem, was man weiß, ohne Not. Man muss sich das Kürzertreten leisten können. Und damit ist es zugleich auch ein Statussymbol.

Es ist eigenartig: Jahrzehntelang wurde über den Jugendwahn geklagt und Menschen meines Alters und meines Milieus vorgehalten, sie scheuten das Erwachsenwerden. Jetzt fühlt es sich so an: Kaum ist die ewige Pubertät vorbei, sind wir auch schon im Seniorenalter.

Im Bekanntenkreis höre ich zuletzt immer wieder Bekenntnisse zu "rentnermäßigem" Verhalten, ein Adjektiv, das eine kleine Karriere gemacht hat. Meistens verbunden mit dem Eingeständnis, dass man schon ganz gerne früh schlafen gehe oder am Tegernsee Urlaub mache, sogar 35-Jährige sagen das. Man darf sich sicher sein, dass man mit einem solchen Bekenntnis nicht mehr als Langweiler gilt. Ein Kolumnist der Vogue twitterte ganz lustig: "Wer so rentnermäßig unterwegs ist wie ich zurzeit, muss keine Angst haben, im Alter Dinge nicht mehr so tun zu können wie heute." Botschaft: Man ruht in sich. Man ist nicht mehr schwer unterwegs, man ist jetzt ganz bei sich selbst und seinem Sauerteig.

Der in Massachusetts lehrende Philosoph Kieran Setiya beschäftigte sich im Jahr 2017 mit seiner Lebenskrise, die er in der Lebensmitte empfand, und schrieb ein Buch darüber. Was er zur Linderung als Erstes empfiehlt, sind: Spaziergänge. Daneben empfiehlt er alles, was kein konkretes Ziel und keine Deadline hat. Mit anderen Worten: Rentnerbeschäftigungen.

Kleiner historischer Rückblick: Aus der Generation meiner Eltern kenne ich niemanden, egal wie vermögend, der auf die Idee kam, mit Mitte 40 sachte runterzuschalten. Dieser Generation ging es besser als ihren Eltern, den eigenen Kindern sollte es bekanntlich noch besser gehen: also bloß nicht schlappmachen. Die Generation meiner Eltern zahlte ihre Häuser ab, und die Zinsen waren hoch, die letzten Raten mussten noch im Alter abbezahlt werden. Selbst die Freizeit war voll mit Verpflichtungen: Meine Eltern verbrachten ihren Feierabend mit Ehrenämtern, ihre Samstage oft mit Freundschaftsdiensten.

Als diese Generation in der Lebensmitte war, wurde die Midlife-Crisis als Phänomen entdeckt. Ich frage mich: Was ist aus ihr geworden, aus dieser Krise mit dem Ausbrechen aus langjährigen Ehen zugunsten bedeutend jüngerer Neupartner? Dem Segelscheinmachen, dem Auswandern nach Ibiza? Sie war immer mehr Klischee als Wirklichkeit, darüber ist sich die psychologische Forschung heute einig. Eine medizinische Diagnose war die Midlife-Crisis sowieso nie.

Unbestritten ist, dass im mittleren Lebensalter der Mensch einige spezielle Sorgen hat: erste nicht harmlose Krankheiten, die eigenen Eltern werden alt oder sterben, die Kinder müssen vielleicht gerade durch die Pubertät, Familie und Job zehren gleichzeitig an den Kräften, die Karriere geht nicht ganz so steil nach oben, wie man sich das mit 28 erhofft hat, langjährige Beziehungen scheitern. Dass bei einem signifikant großen Teil der Bevölkerung daraus aber ein Draufgängertum wird, daran glauben nur noch Fernsehfilme auf ARD und ZDF. Ist ja auch viel naheliegender, in diesem Alter mal innezuhalten und Kräfte zu sammeln.

Die Begriffe Downshifting und Work-Life-Balance tauchten in Deutschland zum allerersten Mal um die Jahrtausendwende auf, in der Zeit der New Economy, 20 Jahre ist das her. Gemeint war mit Work-Life-Balance zumeist, dass mehr life der work echt guttun würde. Und mit Downshiften, dem Runterschalten, dass man eigentlich weniger arbeiten müsste. Nun, 20 Jahre später, macht man es wirklich. Übrigens nicht nur die, die schon ein paar Jahrzehnte gearbeitet haben, sondern auch die, die gerade erst anfangen: Dass die Berufsanfänger von heute nicht mehr bereit seien, Wochenenden, Feierabende, Beziehungen ihrer Arbeit zu opfern, das erzählt einem heute jeder Personaler. Dass man sich das Downshiften inzwischen gönnt, hat sicher mit dem finanziellen Polster zu tun. In meiner Altersgruppe sind die Leute oft gerade noch vor dem Krisenjahr 2001 in den Beruf eingestiegen und konnten sich, vor allem wenn sie aus dem Westen kommen, mithilfe der Eltern nicht selten Anfang, Mitte 30 Haus oder Wohnung kaufen, in der Zeit, als Immobilien noch bezahlbar waren. Nicht wenige erben erkleckliche Summen. Selbst ich, der ich zur Miete wohne, muss keine Panik haben, bis zur tatsächlichen Rente meine Miete eines Tages nicht mehr zahlen zu können. Das hat auch damit zu tun, dass ich, was sonst, geradezu rentnerhaft bescheiden lebe (mit den Ausnahmen: Essengehen, VW-Bus, Fleisch für den Hund). Seltsam fasziniert schiele ich auf jene Gruppe extrem sparsamer Menschen in den USA, die dem Frugalismus huldigen. So heißt ihr Mantra, wonach ein sehr bescheidener Lebensstil dazu führe, um die 40 so viel Geld zu haben, dass es, gut angelegt, bis zum Lebensende reicht.

Und trotzdem: Obwohl viele der Menschen um mich herum eher kleine finanzielle Sorgen haben, sind sie anfällig für die Selbstdiagnose, unter großem Stress zu stehen (und ja, auch das war schon vor Corona so). Stressvermeidung, darauf können sich alle als Lebensziel einigen. Wie viele WhatsApp-Dialoge enden mit der Aufforderung, sich "keinen Stress" zu machen. "Kein Stress!" ist eine Floskel, die "Gesundheit!" nach dem Niesen oder "Alles gut" nach dem Erwähnen kleinster Probleme langsam in ihrer Beliebtheit überholt. Der empfundene Stress wird oft genannt als Ursache für das Bedürfnis nach Muße. Eines der Sauerteigbücher trägt den Untertitel: Zeit für Brot in einem rastlosen Leben.

Sogar die echten Rentner haben angefangen, uns zu schonen. Wenn ich meine Mitte-Ende-70-jährigen Eltern besuche und ankündige, die mehrere Hundert Kilometer mit dem Auto fahren zu wollen, dann sagen sie: "Das ist doch viel zu anstrengend!" Dass mein Vater, er war Bauleiter, in meinem Alter oft täglich mehrere Hundert Kilometer zu einer Baustelle fuhr und wieder zurück, lässt er als Argument nicht gelten. Und wenn ich ankomme bei meinen Eltern, sagen sie: "Du bist bestimmt müde." Selbst wenn ich mit dem Zug gefahren bin. Das ist das Bild, das ich meinen Eltern offenbar liefere: dauergestresst, dauermüde. Ich muss sofort aufs Sofa, selbst wenn ich gesund bin. Die heutigen Endvierziger schonen sich vielleicht auch deshalb so gern, weil sie, anders als die Endvierziger des Jahres 1981, nicht auch ein bisschen damit kalkulieren müssen, schon zehn Jahre später tot zu sein. Aufgrund von Herzinfarkten, die einen damals ja oft früh ereilten, wegen Tabak und Wurstsalat. Wer heute wie ich 47 Jahre alt ist, kann sich ausrechnen, dass er mit Glück noch mal 47 Jahre hat. Und weil ich, anders als viele Männer in meiner Familie, nie körperlich arbeiten musste, kann es sogar sein, dass ich in den meisten dieser möglichen Jahre noch fit sein werde. Also schalte ich runter, auch um durchzuhalten. Niemand wird so lange rentnern wie wir. Und am Ende ist es vielleicht eine dieser selbsterfüllenden Prophezeiungen: Die heutigen 47-Jährigen werden 94, weil sie damit rechnen.


Aus: "Generation X: Die Frühstrentner" Matthias Stolz (ZEITmagazin Nr. 24/2021)
Quelle: https://www.zeit.de/zeit-magazin/2021/24/generation-x-40-50-fruehrentner-lebensstil-buergerlich-altmodisch/komplettansicht

QuoteTeamleiterin #46  —  14. Juni 2021, 18:05 Uhr

Da bin ich (47) ja mit meinem aktuellen ,, Mindset" in bester Gesellschaft hahaha!
Danke für den Artikel;)


QuoteSystem-bleibt-System #41  —  13. Juni 2021, 19:13 Uhr

Toller Artikel... angenehm leicht geschrieben und dennoch zum Nachdenken anregend ! Bin 53 und habe mich wiedererkannt : ))


QuoteFG. #37  —  13. Juni 2021, 12:58 Uhr

Stimmt mich traurig. Durchaus kurzweilig und gewitzt beschrieben aber eben traurig, dass so viele Generationsgenossen tatsächlich mit dem beschriebenen Neo - Spießertum zufrieden sind. Selbstgerecht und Selbstgefällig.


QuoteBamaman #51  —  21. Juni 2021, 11:59 Uhr

Ich bin 35 und finde den Artikel sehr gelungen.

Auf Statussymbole gebe ich gar nichts. Ich habe mit Sport, Kochen und Musik spielen ganz tolle Hobbies, wie ich finde. Daneben sind meine 2 Kinder ein Wunschlebensmittelpunkt für mich.

Das einzige, wo ich nicht sicher bin, ist das Haus, was wir vor 2 Jahren gekauft haben. Ein Haus ist für mich kein Statussymbol. Im Familienleben hat man einfach ganz andere Möglichkeiten zur Beschäftigung. Ein Garten ist eben etwas für schönen Zeitvertreib. Das Kochen macht mir in unserer großen Wohnküche seeehr viel Spaß. Zum Gitarre spielen in den ausgebauten Kellerraum (wie ein 2. Wohnzimmer) ist eben toll, wenn die Kinder oben schlafen. Ich will sagen: Da ist viel Materielles, was mir zum Schluss all die Muse ermöglicht. Aber das Haus nimmt schon sehr viel Zeit in Anspruch. Das ist die Kehrseite.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Als Reaktion auf Krisen wie Krieg und Klimawandel ziehen sich die Deutschen einer Studie zufolge mehr und mehr ins Private zurück. Die bedrohliche Wirklichkeit klammern sie weitgehend aus und richten den Fokus auf ihre persönliche Lebenswelt.

So wird das eigene Zuhause liebevoll als Wohlfühloase hergerichtet – 93 Prozent der Befragten gaben an, es sich daheim so schön wie möglich zu machen.
Für 84 Prozent hat auch das Miteinander mit Freunden und Familie an Bedeutung gewonnen – wobei dieser soziale Kreis zunehmend aus Gleichgesinnten besteht.
Ein Gefühl von Selbstwirksamkeit erwächst vor allem aus der Beschäftigung mit sich selbst, etwa im Gym oder in der Yoga-Schule.

Die ,,böse Außenwelt" wird so weit wie möglich ignoriert. ,,Das ist, als würde ein Verdrängungsvorhang heruntergelassen, der unsere eigene Welt von der da draußen abschottet", sagte der Psychologe Stephan Grünewald der Deutschen Presse-Agentur.

Die Studie, die das Kölner Rheingold-Institut in Zusammenarbeit mit der gemeinnützigen Philosophie-Stiftung Identity Foundation erstellt hat, setzt sich zusammen aus einer repräsentativen Online-Befragung von 1000 Menschen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren und einer jeweils zweistündigen tiefenpsychologischen Befragung von 35 Probanden, bei deren Auswahl Aspekte wie Geschlecht, Alter, Bildung und politische Präferenz berücksichtigt wurden. (dpa)


Aus: "Zuflucht im Privaten: Deutsche suchen in Krisenzeiten nach Schutz und Selbstwirksamkeit" (27.07.2023)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/zuflucht-im-privaten-deutsche-suchen-in-krisenzeiten-nach-schutz-und-selbstwirksamkeit-10220035.html