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[Hirnforschung - Auf dem Weg nach innen... ]

Started by Textaris(txt*bot), June 13, 2005, 02:11:49 PM

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Textaris(txt*bot)

Quote...es wurde deutlich, daß sich Nervenzellen nicht nur über elektrische, sondern auch ausgiebig über molekulare Signale austauschen. Damit war jeder vorschnelle Vergleich zwischen Nervenzellen und Transistoren oder natürlichen und elektronischen Gehirnen obsolet geworden. Zum anderen wurde aber auch erkennbar, daß sich Nervenzellen in ihren molekularen Bausteinen von anderen Zellen nicht grundlegend unterscheiden.

[...] Der molekulare Ansatz machte auch deutlich, wie konservativ die Evolution vorging, wie zäh sie an Bewährtem festhielt. Hinsichtlich der molekularen Zusammensetzung unterscheiden sich die Nervenzellen des menschlichen Gehirns kaum von denen anderer Spezies, Insekten und Schnecken eingeschlossen. Bemerkenswerte Unterschiede finden sich lediglich hinsichtlich des Entwurfs und der Komplexität der Verschaltungsmuster.

[...] Schließlich revolutionierten molekularbiologische Techniken auch die Neuropharmakologie. Die genaue Kenntnis der molekularen Struktur von Chemorezeptoren gestattet es heute, Pharmaka maßzuschneidern und damit die erwünschte Wirkung zu steigern, ohne Nebenwirkungen befürchten zu müssen.

[...] Entgegen der Vermutung Descartes', daß es irgendwo im Gehirn ein singuläres Zentrum geben müsse, in dem alle Informationen zusammenkommen und einer einheitlichen Interpretation zugeführt werden, - einen Ort an der Spitze der Verarbeitungspyramide, wo das innere Auge die Welt und sich selbst betrachtet, entgegen dieser plausiblen Annahme erbrachte die Hirnforschung den Beweis, daß ein solches Zentrum nicht existiert. Korbinian Brodmans Vermutung hat sich bestätigt. Er folgerte schon zu Beginn dieses Jahrhunderts aus seiner Entdeckung funktionell und anatomisch abgrenzbarer Hirnrindenareale, ich zitiere: "Wir müssen daher die Annahme, daß eine Verstandesleistung oder ein Gemütsvorgang ..... in einem einzelnen umschriebenen Rindenteile zustande komme, mag man diesen nun "Assoziationszentren" oder "Denkorgan" oder ähnlich nennen, als eine ganz unmögliche psychologische Vorstellung ablehnen."

[...] Besonders spannend ist, daß sich bei der Bearbeitung dieses Problems überraschende Parallelen zu anderen komplexen Systemen ergeben, die ebenfalls distributiv organisiert sind, lenkender Konvergenzzentren entbehren und dennoch insgesamt koordiniertes, gerichtetes Verhalten zeigen, weil sie über mächtige Mechanismen der Selbstorganisation verfügen. Hierzu gehören die Superorganismen der Insektenstaaten ebenso wie unsere verflochtenen Wirtschafts- und Sozialsysteme. Es wäre lohnend, der epistemologischen Frage nachzugehen, ob es unsere postmoderne Weltsicht ist, die uns komplexe Systeme so sehen läßt, oder ob unsere gegenwärtige Weltsicht durch die Erfahrung mit solchen Systemen geprägt wird.

[...] Welche Veränderung wird der Erkenntnisbegriff erfahren, wenn wir erkennen können, welche neuronalen Prozesse unseren kognitiven Funktionen, unseren Werkzeugen der Erkenntnis, zu Grunde liegen? Und wie werden wir die als zwingend erfahrene Dichotomie von Geist und Körper, von Leib und Seele verteidigen wollen, wenn wir uns gleichzeitig anschicken, das Eine auf das Andere zurückzuführen? Wie immer auch die Suche ausgehen wird, gleich welchen Erscheinungen wir auf dem Weg in unser Innerstes begegnen werden, fest steht, daß die Hirnforschung unser Selbstverständnis tiefgreifend verändern wird. Erkennbar ist auch, daß die Hirnforschung dort, wo sie nach den höchsten Funktionen fragt, in angestammte Territorien der Geisteswissenschaften eindringt - mit der faszinierenden Konsequenz einer erneuten Annäherung von Natur- und Kulturwissenschaften.



Aus: Auf dem Weg nach innen - 50 Jahre Hirnforschung in der Max-Planck-Gesellschaft - von Prof. Dr. Wolf Singer - Geschäftsführender Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung;  Rede zum 50 jährigen Gründungsjubiläum der Max-Planck-Gesellschaft / 26. Februar 1998 /Göttingen /
Quelle: http://www.mpg.de/reden/1998/singer.htm (Der Link ist nicht mehr gültig)

Textaris(txt*bot)

#1
Quote[...] [Thomas] Metzinger: [...] Phänomenale Zustände, die Erlebnisse selbst, basieren auf neuronalen Mustern, dynamisch aktiven Nervennetzen. Der Charakter des subjektiven Erlebens bleibt gleich, egal ob man etwas tatsächlich wahrnimmt oder nur eine Halluzination hat. Diese Nervenmuster könnte man künstlich anschalten und etwa durch eine technische Intervention die Erfahrung einer Orange erzeugen. Doch ob dieser Zustand auch Wissen ist, sich auf die wirkliche Welt bezieht, hängt von sozialen und äußeren Umständen ab. Externe Faktoren in Umwelt und Gesellschaft entscheiden, ob er als Halluzination, Krankheit, als Weisheit oder Heiligkeit gilt. Dennoch, das bewusste, subjektive Erleben dieser Inhalte kann man vielleicht wirklich allein durch neuronale Funktionen erklären.

ZEIT: Das glaubt Ihnen in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen aber kaum jemand, oder?

Metzinger: Die Zusammenarbeit zwischen Philosophie und Hirnforschung klappt immer besser. Sie müssten die herausragenden jungen Leute bei der European Platform for Mind Sciences in der Volkswagen-Stiftung sehen - das ist eine ganz neue Forschergeneration. Die machen mir Mut. Aber Sie haben recht, es gibt seit Jahren einen Wettkampf darum, wer den menschlichen Geist erklären darf - die Neurowissenschaftler, die Kognitionsforscher oder die Psychologen.

ZEIT:  Wer wird als Sieger hervorgehen?

Metzinger: Im Moment liegen die Neuroforscher klar vorn. Aber auch die werden Schwierigkeiten bekommen - möglicherweise bei der mathematischen Modellierung. Das Gehirn ist ein sehr komplexes System, die übergreifende Theorie fehlt uns noch. Aber wir haben eine enorme Menge von Daten, die ständig anwächst. Es wäre lächerlich, den Erkenntnisfortschritt zu bagatellisieren. Und ich bin Philosoph, mir geht es ums Prinzip. Die Stunde der Philosophie des Geistes kommt noch.

ZEIT: Wie kann die Vorstellung des Ichs denn überhaupt in unserem Kopf entstehen, wenn es, wie Sie sagen, ein solches Selbst gar nicht gibt?


Metzinger: Was wir heute noch das »Selbst« nennen, ist kein Ding, sondern ein Prozess. Die meisten Menschen übersehen, dass man eine Identität nicht haben kann wie ein Fahrrad. Sie ist auch keine Eigenschaft wie die Augenfarbe. Höchstens ist sie eine Beziehung, die jeder Mensch zu sich selbst hat. Wir finden aber nichts im Gehirn oder im Geist, was sich durch die Zeit hindurch hält und die Selbigkeit der Person garantiert, ihr Stabilität gibt und deswegen als Kern der Person gelten könnte. Der Philosoph Wittgenstein hat gesagt, dass die Stärke des Fadens nicht darin liegt, dass eine Faser durch die ganze Länge läuft, sondern darin, dass viele Fasern ineinandergreifen. Der Faden kann sehr bunt sein ? und trotzdem stabil.

ZEIT: Dennoch, jeder Mensch empfindet sich als ein authentisches Wesen, das auch über Jahrzehnte hinweg dieselbe Person ist.

Metzinger: Ja, ich nenne das ein phänomenales Selbstmodell. Es gibt eine Struktur im Gehirn, in der sich der Körper repräsentiert findet, die Emotionen und auch der Geist. Unser Ziel ist, diese neurofunktionale Architektur aufzuspüren, ein minimales neuronales Korrelat, das hinreichend ist, damit ein vorsprachliches Ich-Gefühl entsteht, damit jemand das Erlebnis hat, dass er selbst rot sieht oder Vanille schmeckt. Ein solches Korrelat kann man nicht nur für das vorbegriffliche Selbstbewusstsein finden, sondern im Prinzip auch für jeden einzelnen Bewusstseinsinhalt und für das Erleben als Ganzes. Ich glaube, wir werden in den nächsten 20 bis 50 Jahren zumindest das globale Korrelat von Bewusstsein im Hirn ganz gut eingrenzen können.

ZEIT: Könnte dieses Wissen nicht auch gefährlich sein?

Metzinger: Wenn wir das neuronale Korrelat des Bewusstseins kennen und ein mathematisches Modell haben, das erklärt, wie Information darin fließt und verarbeitet wird, dann können wir auch Bewusstseinsinhalte direkt modulieren, sie hemmen, verstärken, optimieren. In den nächsten 200 Jahren werden Teile der Neurotechnologie fließend in Bewusstseinstechnologie übergehen.

ZEIT:  Aber es will doch wohl niemand sein Bewusstsein von anderen kontrollieren lassen.

Metzinger: Da bin ich nicht so sicher. Mächtige, höchst effektive Bewusstseinstechnologien kennen wir schon - adaptive Realitätsmodelle, die sich durch ganze Populationen propagieren und soziales Mikroverhalten durch eine Makrodynamik versklaven: Ideologien, den Glauben, metaphysische Placebos aller Art. Der Faschismus hatte den Charakter einer religiösen Erweckungsbewegung, auch den Stalinismus kann man als politische Religion verstehen.

ZEIT: Die Folgen waren schrecklich genug. Was haben wir von der Neuroforschung zu erwarten?

Metzinger: Die medizinische Neurotechnologie steht erst an ihrem Anfang. Aber ihre Werkzeuge werden besser. Wir erleben gerade den Übergang von neurologischen zu psychiatrischen Erkrankungen, sehen Erfolge bei der Tiefenhirnstimulation für Kranke mit schweren Zwangsgedanken und unheilbarer Depression. Neurotechnologie wird aber erst zur Bewusstseinstechnologie, wenn sie beginnt, phänomenale Realitätsmodelle, also Bewusstseinsinhalte als solche, vorsätzlich und selektiv zu verändern oder zu erzeugen.

ZEIT: Die Cyber-Seele im Second Life 2.0?

Metzinger: In Second Life war ich nur einmal - ich gehe doch lieber im Wald spazieren.

ZEIT: Also wird es keinen virtuellen Metzinger geben?

Metzinger: Auch das Selbstmodell in Ihrem Gehirn ist jetzt schon rein virtuell. Der interessante Punkt ist gerade, dass Sie es nicht als Modell erleben können, sozusagen naiv-realistisch an seinem Inhalt kleben. Stellen Sie sich vor, wir entwickeln eine Bewusstseinstechnologie, durch die Sie sich erlebnismäßig mit ihrer Second-Life-Figur identifizieren können. Ein Exodus des Menschen aus der Realität in die Virtualität ist keine ganz neue Idee. Die philosophische Frage wäre: Wer oder was ist es überhaupt, das da auswandert?

ZEIT: Wenn Sie den Menschen die Seele nehmen, nehmen Sie ihnen auch jede Hoffnung auf etwas nach dem Tod. Wie soll man damit umgehen?

Metzinger: Ich habe nichts zu verkünden. Aber wenn wir in einer Kultur der Verleugnung den Erkenntnisfortschritt verdrängen, taucht das tabuisierte Wissen wie ein Dämon aus dem Unbewussten in der Lebenswelt wieder auf - in Form neuer Technologien. Unser christlich-humanistisch geprägtes Verständnis vom Menschen verändert sich nicht nur durch theoretische Erkenntnisse, sondern ebenso durch das Auftreten dieser Technologien. Die Frage ist: Welche Konsequenzen wird eine naturalistische Wende im Menschenbild haben?

[...] Ich bin im Grunde stockkonservativ. Wir müssen die Werte der Aufklärung verteidigen. Ich sehe eine Gefahr der Flucht in den Fundamentalismus. Die naturalistische Wende könnte eine Welle der Desäkularisierung, der Gegenaufklärung antreiben. Amerika haben wir schon verloren, ich denke, das ist eigentlich kein westliches Land mehr. Als ich in China einen Vortrag über Neuroethik und Bewusstseinskultur gehalten habe, hat man mich dagegen ausgelacht: »Junge, das ist ein Problem, das nur ihr im Westen habt. Ihr hattet damals schon Theater mit Darwin und der Kirche - wir fanden es einfach interessant, dass wir von Affen abstammen.« Dort gibt es anscheinend keinen kulturellen Widerstand gegen ein neurowissenschaftliches Menschenbild.

ZEIT: Konservative Kritiker warnen davor, dass sämtliche Werte den Bach runtergehen, wenn sich ein solches Menschenbild durchsetzt.

Metzinger: Möglich wäre auch, dass die Gesellschaft in einen vulgären Materialismus abdriftet. Wenn die Leute sagen: Das ist ein kaltes, leeres Universum, wir sind eine bessere Art von Bioautomaten, Ego-Maschinen ohne Willensfreiheit, die aus der Evolution entstanden sind. Wir haben keine Seele, sondern Selbstmodelle, und es wird im Jenseits keine Belohnung für gute schauspielerische Leistungen geben. Da könnte sich, lange bevor die wissenschaftlichen und philosophischen Fragen überhaupt geklärt sind, ein primitiver Hedonismus ausbreiten, der zu einer Entsolidarisierung führt. Das klassische Stichwort lautet »soziale Bindekräfte«.

ZEIT: Wie kann man mit der Vorstellung zurechtkommen, ins Universum geworfen zu sein?

Metzinger: Es ist nicht einfach, damit zu leben. Ich frage mich aber, ob es einen dritten Weg gibt, vielleicht eine radikal individualistische, jenseits vom reaktionären Irrationalismus der organisierten Religion liegende Spiritualität, die dezidiert nichts glaubt und für empirische Erkenntnisse offen ist, die aber weiß, dass es Dinge gibt, über die wir aus prinzipiellen Gründen nicht reden können. Es geht darum, eine gewisse Qualität der Offenheit nicht zu verlieren. Wir stehen noch immer vor einem riesigen Ozean von Nichtwissen - vielleicht werden wir nach dem Durchmarsch der Neurowissenschaft Antworten finden, für die wir jetzt nicht einmal die Fragen formulieren können.


[...] unser kognitives Selbstmodell, sagt uns: Der größte anzunehmende Unfall, der wird kommen, auch für dich. Das ist der existenzielle Riss im Selbstmodell. Niemand von uns ist gefragt worden, ob er existieren will, mit diesem Gehirn, mit dieser Form von Bewusstsein. Und am Ende werden wir auch nicht gefragt werden, ob wir bereit sind zu gehen. Wir sind die ersten Tiere, die das bewusst erleben.

ZEIT: Liegt in diesem Riss, wie sie ihn nennen, der Ursprung der Religion?

Metzinger: Einer der evolutionsgeschichtlichen Ursprünge der Religion könnte die Kompensation für diese neue Schicht im Selbstmodell sein, die uns emotional verletzt. Aber natürlich wäre, rein logisch gesehen, auch eine solche Erklärung kein Beweis dafür, dass Gott nicht existiert.

Die Fragen stellte Ulrich Bahnsen.


...


Aus: "Der Riss im Selbstmodell" (DIE ZEIT 16.08.2007)
Der Mensch hat keine Seele. Er hat nicht einmal ein substanzielles Selbst, sagt der Philosoph Thomas Metzinger. Ein Gespräch über die aktuelle Neuroforschung
Quelle: http://www.zeit.de/2007/34/M-Seele-Interview

QuoteSi tacuisses...
Verfasst von thogos am Do, 16/08/2007 - 10:53.

[...] Wenn z.B. die Behauptung aufgestellt wird, es gebe kein eigenes Selbst, dann müsste der Philosoph doch fragen: Wer stellt denn die Behauptung auf - wenn nicht ein Subjekt? An wen richtet sich dann die Behauptung überhaupt - wenn nicht an ein subjektives Selbst? Und warum stellen wir überhaupt Thesen auf (wobei der Begriff "wir" hier schon bedeutungslos wäre), wenn es doch keine Subjekte gibt, an die wir unsere Erkenntnisse weitergeben könnten?
Wenn ferner behauptet wird, der freie Wille, sämtliche menschliche Gedanken seien allein das Produkt hirnphysiologischer Vorgänge, so soll nicht bestritten werden, dass der Geist natürlich eine materielle Grundlage hat. Aber zu fragen wäre doch, wie aus elektrischen und chemischen´, also materiellen Vorgängen der qualitative Sprung hin zu geistiger Wahrnehmung geschehen kann. Wie ergibt sich aus Materie das, was traditionell als Geist bezeichnet wird?
Das sind nur zwei vielen weiteren einfachsten Fragen, die eigentlich Gegenstand philosophischer Proseminare sind. Doch nicht einmal auf diese simplen, aber für unseren subjektiven Selbstvollzug grundlegenden Fragen bekommen wir von Metzinger eine Antworten. Nein, er stellt noch nicht einmal die Fragen!

QuoteInteressant, aber sein persönliches Weltbild-konstrukt
Verfasst von theologischCom am Do, 16/08/2007 - 14:59.

Auch, wenn wir Herrn Metzinger bei uns einmal zum Thema Bewußtsein zitiert haben, scheint das, was er hier von sich gibt, doch ein recht subjektives Weltbild zu sein. Es geht wie der Epikurismus den wesentlichen Fragen einfach aus dem Weg und geht davon aus, dass der Materialismus wahr sei - also dass es nur die Materie gebe, sonst nichts. Das ist Ansichtssache - mehr aber leider auch nicht. Insofern diskutiert Herr Metzinger hier sein eigenes Denkmodell (ist ja logisch), das aber automatisch eine ganze Menge anderer Modelle ablehnt - ohne das sonderlich zu begründen.

QuoteIhr Kommentar:...Wenn z.B.
Verfasst von volz am Fr, 17/08/2007 - 22:20.

Ihr Kommentar:
...Wenn z.B. die Behauptung aufgestellt wird, es gebe kein eigenes Selbst, dann müsste der Philosoph doch fragen: Wer stellt denn die Behauptung auf - wenn nicht ein Subjekt? An wen richtet sich dann die Behauptung überhaupt - wenn nicht an ein subjektives Selbst?...

Besonders gründlich scheinen Sie den Artikel nicht gelesen zu haben. Natürlich leugnet Metzinger, wie auch keiner der Hirnvermesser, dass es ein subjektives Empfinden gibt. Metzinger selbst hat da gar ein 600-Seiten Schmöker darüber verfasst. Er hat sich also ziemlich gründlich mit dieser Frage beschäftigt. Können Sie das auch von sich behaupten?

Metzinger:
... Ja, ich nenne das ein phänomenales Selbstmodell. Es gibt eine Struktur im Gehirn, in der sich der Körper repräsentiert findet, die Emotionen und auch der Geist....


QuoteSelbstmodell?
Verfasst von thogos am Sa, 18/08/2007 - 11:37.

Wenn Metzinger sagt, dass sich im Rahmen des von ihm entworfenen "phänomenalen Selbstmodells" eine Struktur vorfindet, "in der sich der Körper repräsentiert findet, die Emotionen und auch der Geist", dann behauptet er damit doch implizit nichts weniger, als dass es die Erfahrung des Selbst und eben den Geist doch gibt.
Umso erstaunlicher ist es folglich, wenn Metzinger im gleichen Interview behauptet, dass es gar kein "Selbst", also auch gar keinen Geist gebe. Sprachlich und logisch hebt Metzinger innerhalb weniger Sätze seine eigenen Aussagen wieder auf.
Ich erspare mir daher, einen 600-Seiten-Schmöker eines Autors zu lesen, der bereits in einem kurzen, populärwissenschaftlichen Interview seine eigenen Aussagen ad absurdum führt. Die reduktionistischen, bereits in ihrem Denkansatz widersprüchlichen Theorien, die Metzinger und andere Verteter einer randständigen "philosphy of mind"-Ideologie publizieren, wollen den Menschen in seiner Selbserfahrung entkernen. Doch wie die Aporien des hier vorliegenden Interviews unfreiwillig, aber sehr augenscheinlich aufzeigen, können diese biologistischen Ansätze kaum dazu beitragen, das Geheimnis des Geistes zu kären, da sie den Ausgangspunkt solcher Überlegungen nicht ernstnehmen: Die Selbstevidenz der Ich-Erfahrung. Die grundlegende Bedingung des Forschens und Fragens wird vorausgesetzt und zugleich als Illusion abgelehnt - da kann es nicht wundern, dass die verqueren Widersprüche entstehen, die ja in der Überschrift des Interviews schon anklingen: "Riss im Selbstmodell"

QuoteEin sehr guter Artikel, der ...
Verfasst von AlbertHalbstein am Sa, 18/08/2007 - 17:52.

... in dieses Jahrtausend paßt. Es ist gut daß endlich einmal Leute wie Metzinger zu Wort kommen. Er ist ein einsames Licht im Realitätsverlust der Gesellschaft.

Natürlich gibt es keine Seele. Alles was wir Denken nennen entstand aus einer einzigen befruchteten Zelle. Was wir Denken nennen ist nur das Produkt der Aktivität von Nervenzellen. Im Gegenteil, irgendwann ist man vielleicht in der Lage ein komplettes Gehirn mit Superrechnern zu simulieren. Oder eine ganze Stadt mit all ihren Einwohnern. Ich bin mir sicher daß diese Programme dann ebenso darauf bestehen daß es Seelen und Götter gibt wie (leider) die meisten Menschen.

Metzinger hat sehr gut herausgearbeitet daß die Religion / Seele aus der Angst vor dem Tod geboren wurde. Das habe ich selbst schon oft geschrieben. In den teilweise dümmlichen Kommentaren kann ich die Angst vor dem Tod förmlich riechen.

Die Menschen sind bis auf eine Minderheit nicht bereit nicht bereit sich der Realität zu stellen. Da werden in allen Bereichen des Lebens Lügengebäude aufgebaut. Hier in Deutschland ist das besonders extrem. Daraus resultieren auch die meisten gesellschaftlichen Probleme die wir haben. Die Nichtbereitschaft zu einer ehrlichen Betrachtungsweise.

Der Artikel macht Mut. Es gibt noch Menschen welche Realisten sind. Es gibt auch noch Gesellschaften wie China welche auf dem Realismus aufsetzen. Leider gehört denen die Zukunft und nicht uns.

QuoteEr hat schon recht
Verfasst von andrku am Sa, 18/08/2007 - 19:27.

[...] Wer Probleme hat, sich von der Seelenvorstellung zu trennen, dem kann ich nur einen Besuch in einem Pflegeheim empfehlen. Zu meiner Zivildienstzeit habe ich jede Menge Menschen gesehen, deren Persönlichkeit sich, analog zum Gehirn, sowohl verändert wie manchmal auch komplett auflöst. Jetzt erklär mir mal jemand, wie man diese Tatsache mit dem Konzept der unsterblichen Seele in Einklang bringt.

Trotzdem muss man nicht zu einem skrupellosen Materialisten werden, im Gegenteil. Wer die zahllosen Verirrungen der Religion ablegt bekommt einen klareren Blick auf sich und seine Umgebung. Der Humanismus als Weltanschaung ist aus diesen Erkenntnissen erwachsen und wird in seiner wahren Bedeutung für das Abendland, meiner Ansicht nach, viel zu sehr unterschätzt. Während die eher selten positiv aufgetretene Religion überschätzt wird. Na ja, wahrscheinlich Ansichtssache.

MfG
AKu

QuoteKompatibilistische Rückzugsgefechte
Verfasst von step2007 am Sa, 18/08/2007 - 19:35.

[...] Es erstaunt mich immer wieder, wie irrational der Mensch an liebgewonnenen Illusionen festhält, um nicht überfordert und narzisstisch gekränkt zu werden: transzendente Seelen, das Selbst mit freiem Willen, eine universelle Bedeutung des Menschen, das Ziel aller Geschichte, intelligente Schöpfergötter undsoweiter, je nach Ideologie.

Kompatibilistische Rückzugsgefechte allerorten - und ein kritisch-rationalistischer Hoffnungsschimmer, daß auch das Bewußtsein bald entmystifiziert wird, so wie es zuvor schon Himmel und Erde, der Entstehung der Arten und anderem erging. Forscher wie Roth, Singer und Metzinger leisten hier Pionierarbeit und haben dabei oft nicht nur die Kirchen, sondern auch viele Humanisten gegen sich.


Quote[...] Verfasst von step2007 am Sa, 18/08/2007 - 20:04.

Daß zwar keine Götter, aber Gottesvorstellungen existieren, daß zwar kein freier Wille, aber oft eine gefühlte Präferenzfreiheit besteht, und daß diese Vorstellungen und Gefühle auch reale Wirkungen hervorbringen, scheint mir in der Tat der Fall zu sein.

Wissen ist für mich die Kenntnis von Modellen, mit denen man gute und nachprüfbare Voraussagen über Phänomene machen kann. Ontologische Überlegungen interessieren mich weniger. Ich erwarte daher, daß ein tragfähiges neurologisches Modell des Bewußtseins erklären kann, was etwa eine Schöpfervorstellung ausmacht, ohne daß diese Erklärung Spuren eines "hypothetisch realen" Schöpfers auf der Erde voraussagt.

QuoteIst es nicht längst schon so?
Verfasst von peterstangenrod am So, 19/08/2007 - 11:38.

Haben nicht schon viele Menschen in unserer Gesellschaft ein neurowissenschaftliches Menschenbild? Wen die Frage nach der Existenz der Seele (oder wie auch immer man dies außerhalb des Physisch-Existenten benennt) nicht interessiert, der hat sich schon längst eingelassen auf die von Metzinger formulierten Spekulationen. Und wer nur ein kurzzeitiges Aufflackern dieser Frage angesichts des Todes empfindet, der ist sich oft sogar bewußt, dass er den lieben Gott nur bemüht, wenn die eigene Psyche nicht mehr stark genug ist, unser aller Sterben ertragen zu können. [...]


QuoteIch hatte einen Traum
Verfasst von moi-a-paris am So, 19/08/2007 - 19:37.

[für Filmliebhaber] Ich hatte gerade einen Traum. Ich bin in einem Film von Ingmar Bergmann, ich bin der kleine Junge in "das Schweigen". Ich laufe durch die leeren Hotelkorridore mit meiner Spielzeugpistole. Auf einer Leiter aber steht nicht ein Handwerker, sondern Metzinger. Er schaut mich an, mit dem Grinsen wie auf dem Zeitungsbild in der 'Zeit', und meint : "Der Mensch hat keine Seele !" Ich halte die Knarre auf ihn und er schaut bloss, genauso verduzt wie der Handwerker im Film. Dann spiele ich weiter... Ich gehe ins Hotelzimmer zurück und finde meine kranke Tante. Nochmal steht da der Metzinger, jetzt schaut er auf meine Tante und behauptet : "Der Mensch hat keine Seele !" Sie kann ihn zwar nicht verstehen (denn da wo wir sind, versteht sie ohnhin nicht die Sprache), aber sie scheuert ihm eine, links und dann nochmal rechts, und zwar heftigst. Szenenwechsel. Jetzt bin ich im Film "Die Stunde des Wolfes". Max von Sydow sitzt auf einem Felsen. Ein kleines Kind hockt herum, man weiß nicht recht, worauf es aus ist, irgendwie unheimlich. Dann kommt Metzinger vorbei, man hat ihn vorher schon in einer sinistren einer Runde wolfsartiger Gestalten bei einem Abendessen gesehen, zu dem Max von Sydow eingeladen war, wie ein Rabe hat er vor allen anderen gekräht : "Der Mensch hat keine Seele". Jetzt ist er wieder da, am Felsen, und behauptet schon wieder "Der Mensch hat keine Seele". Da springt der kleine unheimliche Junge dem Metzinger von hinten an den Nacken und beißt ihn wie ein wildgewordener Wolf. Max von Sydow geht dazwischen, und wirft beide ins Meer. Man sieht, wie Metzinger mit dem kleinen Kind absäuft.
War aber nur so ein Traum von mir :) Schade, daß Bergman gerade gestorben ist.


QuoteWas will die Neurophilosophie?
Verfasst von paracelsus am Mo, 20/08/2007 - 09:45.

Es ist beeindruckend und erschreckend, wie Herr Metzinger sein Potenzial als hoffentlich abgründig und komplex denkender Philosoph kaum nutzt. Er feiert die Fortschritte der Neurowissenschaftler ohne deren mangelnde Bereitschaft zur Methodenerweiterung Richtung Leib-Seele Problem zu kritisieren. Überhaupt ähnelt sein Auftreten demjenigen von Wolf Singer: charmant, witzig, ironisch aber auch unglücklich bemüht: leider fast überhaupt nicht originell und die Philosophie als Diziplin überhaupt nicht nutzend. Er redet von der kommenden Zukunft der Philosophie, hat aber nicht den blassensten Schimmer, worin deren Stärke liegen könnte. Wenn es nur darum geht, den Neurowissenschaften zu aplaudieren wäre das grotten- schwach.

Von der Zeit wünsche ich mir viel mehr visionäre und konstruktive Kritik and den Methoden der Neuroforscher. Es ist beeidnruckend, wie das biologisch-organische Dogma alle Medien dominiert und das LEib-Seele Dilemma abgehakt ist. Wie Denken, Fühlen und Sinneswahrnehmungen mit Körpervorgängen zusammen hängen ist noch gar nicht richtig geklärt. Wie soll den eine Bioethik aussehen, die noch nicht einmal zu einer guten Methodenkritik fähig ist. Das Menschenbild und Darwin sind häufig angesprochene Themen, die viel zu kurz kommen und zu simpel diskutiert werden. Übrigens ist das Werk "Der Mensch eine Maschine" von La Mettrie aus der Barock-Zeit Singer und Metzinger an vielen Stellen überlegen: eigentlich erschreckend, da es bereits im 18. Jh. geschrieben wurde.

QuoteIch stelle fest,
Verfasst von ibm am Mo, 20/08/2007 - 12:55.

dass die Anhänger des neurowissenschaftlichen Reduktionismus behaupten, das Erleben des eigenen Daseins sei nur eine Illusion.
Eine Illusion setzt aber immer ein Subjekt voraus, das diese Illusion hat, und damit beißt sich die Katze in den Schwanz, denn damit müsste man wieder erklären, wie dieses illusionsbehaftete Subjekt denn eigentlich in die Welt kommt.
Insgesamt hat die Illusionstheorie also keinerlei Erkenntniswert. Der Zaubertrick besteht einfach darin, das, was man mit bestehenden wissenschaftlichen Theorien nicht erklären kann, als Illusion zu bezeichnen und zu ignorieren. Und das ist nun wirklich alles andere als naturwissenschaftlich.

QuoteUrknall, Symmetrie und Gehirn
Verfasst von fxrichter am Di, 21/08/2007 - 14:26.

@hectorle weist sehr richtig darauf hin,

"dass bisher keine Neurologie erklären konnte, wie der qualitative Sprung von Materie hin zu geistiger Erfahrung allein biologistisch zu verstehen ist.."

Noch pointierter könnte man das so ausdrücken: "Kein Physiker kann bisher erklären, wieso aus dem Urknall ein Physikergehirn entstanden ist, der sich Gedanken über den Urknall macht."

[...]


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Und wie sieht auf dem Hirnscan die Seele aus, die – dem Titel Ihres neuen Buches ,,Wie das Gehirn die Seele macht" zufolge – vom Gehirn gemacht wird?

Roth: ,,Die Seele" sehen wir nicht. Aber man kann durch EEG-Messungen feststellen, ob wir eine bewusste Wahrnehmung haben oder nicht. Daneben lassen sich neurochemische und elektrophysiologische Prozesse nachweisen, deren Zusammenspiel das bedingt, was unter ,,Seele", ,,Psyche", ,,Geist" verstanden wird.

Frau Strüber, wenn die Hirnchemie unsere Seele bedingt, was bedingt dann unsere Hirnchemie?

Nicole Strüber: Wir werden durch Gene und Umwelteinflüsse geprägt. In den 70er Jahren hielt man die Umwelt für den entscheidenden Faktor, später hieß es, alles liegt in den Genen. Jetzt wissen wir, dass Umwelteinflüsse sich auf Gene auswirken. Bei diesen epigenetischen Veränderungen werden nicht die Gene selbst modifiziert, sondern nur der sogenannte Expressions-Apparat. Dadurch können DNA-Sequenzen stillgelegt werden.

Wie können sich diese epigenetischen Veränderungen konkret auswirken?

Strüber: Ein Mensch, der eigentlich beste Erbvoraussetzungen für eine ausgeglichene Persönlichkeit mitbringt, wird durch Gewaltverbrechen oder Naturkatastrophen schwer traumatisiert. Der Schaden am Expressionsapparat der Gene kann an die nächste Generation vererbt werden. Eine Frau, die 9/11 miterlebt, wird unter Umständen ein Kind mit einer angeborenen Neigung zu psychischen Problemen zur Welt bringen.

Heißt das, dass sich bereits vor der Geburt entscheidet, ob und wie sehr ein Mensch zu psychischen Erkrankungen neigt?

Roth: Keinesfalls. Ungünstige Erbanlagen können durch Fürsorge und Zuwendung in den ersten Lebensjahren wieder wettgemacht werden. Ob genetische Vorbelastung zum Problem wird, hängt von der frühkindlichen Bindungserfahrung ab.

Strüber: Das beste Beispiel für diese Erkenntnis ist einer unserer Kollegen – ein Neurowissenschaftler, der sich mit Gehirnen psychopathischer Krimineller beschäftigt hat. Er hatte einen Hirnscan auf dem Schreibtisch, bei dem er dachte: das ist das Musterbild eines Psychopathen-Gehirns. Dann stellte er fest, dass es sich um sein eigenes Gehirn handelte.

Eine ziemlich unerfreuliche Feststellung.

Strüber: Sein Stammbaum, den er daraufhin erforschte, gibt auch keinen Anlass zur Heiterkeit. Unter seinen Vorfahren waren mehrere, teils sehr grausame Mörder. Auf Nachfrage haben ihm Mitarbeiter bestätigt, dass er tatsächlich über Charaktereigenschaften verfügt, die für Psychopathen typisch sind: er besitzt kaum Einfühlungsvermögen, ist relativ rücksichtslos und scheint Angst nicht zu kennen. Aber er ist nie straffällig geworden. Trotz der Erbanlagen hat er sich nicht zum pathologischen Psychopathen entwickelt, sondern ,,nur" zu einem emotionsarmen, erfolgreichen Wissenschaftler.

Und das liegt daran, dass er als Kleinkind ausreichend Zuwendung erfahren hat?

Strüber: Im Wesentlichen ja.

Was können wir später noch ausrichten, wenn diese Gen-Umwelt-Prägung besonders unglücklich ausgefallen ist?

Roth: Schwierig. Unser Denken, Fühlen und Handeln wird dadurch bestimmt.

Klingt nach einer klassisch reduktionistischen Position.

Roth: Ist es aber nicht. Denn wir ,,reduzieren" den Geist nicht auf Vorgänge im Gehirn. Wer das behauptet, hat von Möglichkeiten und Grenzen der Neurobiologie keine Ahnung. Das Bewusstsein hat seinen Ort einzig im subjektiven Erleben des Menschen, so sehr es an das Geschehen zwischen Neuronen und Rezeptoren gekoppelt ist. Aber für das Mentale gelten, abgesehen von den Naturgesetzen, gewisse Eigengesetzlichkeiten. Deshalb sagen wir, dass dem Geist eine ,,Teilautonomie" zugesprochen werden muss.

Wie äußert sich diese Teilautonomie?

Roth: Das Gehirn produziert eine psychische Welt. Darin gibt es Zustände wie das Ich-Gefühl oder die gezielte Aufmerksamkeit. Diese teilautonomen Zustände wiederum wirken auf die naturgesetzlich bestimmten Abläufe im Gehirn zurück. ...

Das Gespräch führte Marianna Lieder.


Aus: "Im Wirbel der Neuronen" Marianna Lieder (11/2014)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/kultur/hirnforschung-wie-das-gehirn-die-seele-macht-im-wirbel-der-neuronen/11038380.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Warum sollte es keine Unterscheidung mehr geben zwischen matter and mind, warum soll Ethik bloß auf Genetik beruhen und der freie Wille nur mehr Einbildung sein, fragt die junge, für harte Hirnmaterialisten und "Naturalisten" gleichwohl aufreizend altmodische Protagonistin Hilary. Sie glaubt als Psychologin noch an die gute Seele und gar an Gott. Ihr Freund Spike, ein klarer Materialist, nennt das einen Spleen. Statt Biophysik nur Metaphysik. Ein harter Stoff, denkt man. Doch bei Stoppard ist alle Theorie auch ein Spaß. Seine Komödie der kognitiven Konflikte ist auf Monate hinaus ausverkauft ...


Aus: "Tom Stoppard: Ein Dichter des Denkens" Peter von Becker (19. Februar 2015)
Quelle: http://www.zeit.de/2015/06/tom-stoppard-shakespeare-in-love-the-hard-problem

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Quote[....] Anton Reutlinger, 6. März 2016 14:52

Das große Problem ist, dass manche Leute die sprachliche Beschreibung der Welt für die Welt selber halten, dass sie die Landkarte als die Realität betrachten. Geist und Materie sind unterschiedliche Benennungen und Beschreibungen für dieselbe Sache. Ganz selbstverständlich ist jedes Lebewesen, der Mensch eingeschlossen, ein Bioautomat, der nach den kausalen Gesetzen von Physik und Chemie funktioniert, wobei Kausalität wiederum ein Erklärungsprinzip ist, nicht die Natur selber. Die Begriffe für mentale Zustände wie Wille und Gedanken bezeichnen selbstdeutende oder introspektive Phänomene der Ersteperson-Perspektive, die jedoch mit neurophysiologischen Prozessen identisch sind, bzw. davon hervorgebracht werden. Auch die Moral und das Gewissen ist neurophysiologisch implementiert, nicht umgekehrt! Nur weil diese komplexen Prozesse noch nicht als mentale Phänomene erkennbar und messbar sind (blackbox), werden sie geleugnet oder ignoriert.

Der Geist hat keine eigene, immaterielle Existenz, sondern existiert nur als Wort, als Bezeichnung für natürliche, komplex wirkende, verborgene Prozesse. Die Sache ist eigentlich so einfach, dass man sich wundern muss, warum so viele, eigentlich kluge Leute noch immer den spekulativen, irrationalen Illusionen des Spiritualismus anhängen. Was naturwissenschaftlich (noch) nicht erklärbar ist, muss deswegen nicht über- oder außernatürliche Eigenschaften haben. Vielmehr ist so gut wie sicher, dass die Naturwissenschaft die Natur nie vollständig erklären kann.

Feuer und Nebel sind Begriffe für ganz ähnliche Phänomene, denen jedoch durch alltägliche Erfahrung und durch Wissenschaft physikalische oder chemische Prozesse zugeordnet werden können, d.h. sie werden über Brückenprinzipien, Feuer als glühendes Gas und Nebel als Wassertröpfchen, mit natürlichen Prozessen identifiziert. Deshalb werden sie nicht mehr als metaphysische Entitäten (Gott des Feuers!) anerkannt.


Kommentar zu: "Nette Nachbarn werden Henker? - Was wissen wir wirklich von Milgrams Experimenten"
5. März 2016 von Stephan Schleim in (Willens-)Freiheit, Wissenschaftskritik
http://www.scilogs.de/menschen-bilder/nette-nachbarn-henker-was-milgrams/

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Quote[...] Wer Gerhard Roths und Nicole Strübers Buch liest, wird eine interessante Akzentverschiebung bemerken. Sie betrifft die Beurteilung des Menschen und seiner Biologie. Welche Faktoren sind entscheidend für unsere Entwicklung: Legen unsere Erbanlagen uns weitgehend fest, oder kommt es eher auf die Umwelt an? Diese Frage bildete den Kern vieler Kontroversen um die Hirnforschung, in denen Natur- und Geisteswissenschaften, "Hard" und "Soft Sciences", aneinander rasselten.

"Heute weiß man, dass die Gene im engeren Sinne wenig machen, und dass das allermeiste, was uns steuert, so genannte epigenetische Prozesse sind, auf einem Niveau im Gehirn, auf dem Gene und Umwelt aufs Engste miteinander wechselwirken. Das heißt, was die Gene tun und wie sie das tun, wird weitestgehend von der Umwelt bestimmt. Und das rausgekriegt zu haben in den letzten zehn, fünfzehn Jahren, ist eine Sensation der Neurobiologie."

Das aber ist die Pointe der interdisziplinären Annäherung: So wie Gerhard Roth die Sache sieht, ist es die Hirnforschung, die Kraft ihrer Autorität ein gutes Stück Terrain an die Soziologie zurückgibt.

"Die Rolle der Umwelt, warum die wichtig ist, ist eine naturwissenschaftliche Erkenntnis, und das ist natürlich um eine Größenordnung wichtiger, als wenn irgendein Soziologe sagt: Ja, aber die Umwelt ist doch viel wichtiger. Das konnte ja stimmen und musste nicht stimmen. Wenn aber jetzt die Hirnforschung als Naturwissenschaft sagt, du hast Recht. Und ich erkläre dir auch, warum du Recht hast, und ich erkläre dir auch, wie das molekular und zellulär passiert, hat das eine ganz andere Dimension."

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Aus: "Geist und Gehirn (2/2): Die Zukunft der Hirnforschung" Frank Kaspar (05.02.2015)
Quelle: http://www.deutschlandradiokultur.de/geist-und-gehirn-2-2-die-zukunft-der-hirnforschung.976.de.html?dram:article_id=310207

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Quote[...] Barbara Weber: Was verstehen Sie unter Bewusstsein?

Thomas Metzinger: Das erste, was man, glaube ich verstehen muss, ist, dass das Problem des Bewusstseins nicht ein Problem ist, sondern ganz viele. Das ist ein Problem in der Philosophie, das ist auch ein Problem in der Neurologie und in der Hirnforschung, und das hat sehr viel verschiedene Aspekte, zum Beispiel die Einheit des Bewusstseins, das ist ein klassisches Problem, das zum Beispiel auch in der deutschen Philosophie viel diskutiert worden ist, wie kommt es eigentlich, dass meine Welt eine ist, meine erlebte Welt, wie kommt es, dass all das immer integriert ist in eine Situation mit einem Erleben im Selbst. Das wäre zum Beispiel das Problem der globalen Integration, das beschäftigt auch Hirnforscher, die würden sich fragen, wie wird das Modell der Welt im Gehirn global integriert, wie wird es zu einer Ganzheit.

Weber: Darf ich da mal kurz einharken. Das heißt, wir nehmen ganz viel wahr, wir sehen viel, wir hören viel, wir schmecken alles Mögliche, und das wird dann von unserem Gehirn als eine Einheit wahrgenommen. Ist das gemeint?

Metzinger: Ja, wir haben ja das Gefühl, in einer Welt zu leben und nicht in mehreren, und allein das übersieht man häufig, ist schon ein großes Problem. Wie schafft es das Gehirn eigentlich, Gerüche, Klänge, Farben, Kanten zu Gegenständen zusammenzuführen, das nennt man auch das Bindungsproblem, zu Dingen, die ich gleichzeitig tasten, hören , sehen kann, und wie kommt all das zusammen, auch mit meinen Bauchgefühlen, mit meiner Körperwahrnehmung, warum ist das so eine bruchlose Ganzheit.

Das ist das Problem der Einheit des Bewusstseins, und wenn man es genau betrachtet, stellt sich das auf verschiedenen Ebenen: Wie entstehen ganzheitliche Gegenstände in der Wahrnehmung, wie entsteht ein ganzheitliches Ich-Gefühl aber auch die Welt als Ganze.

Dann gibt es aber auch noch andere Probleme des Bewusstseins, zum Beispiel die Frage, gibt es sowas wie Atome des subjektiven Erlebens, kleinste, unteilbare Einheiten? Philosophen haben zum Beispiel sehr viel über so genannte Qualia gesprochen, die subjektiven Empfindungsqualitäten, also die Schmerzhaftigkeit bei einem Schmerzerlebnis oder die Qualität der Röte in einem Farberlebnis, die Geschmacksqualität der Süße. Und es gibt viele Leute, die denken, das ist zum Beispiel etwas, was eine Maschine nie haben kann, richtige subjektive Empfindungsqualitäten.

Die kann vielleicht Wellenlängen analysieren, aber viele Leute haben Schwierigkeiten, sich vorzustellen, die bewusste, selbsterlebte Qualität der Röte in einer Maschine auftreten könnte. Ich nenn noch mal einen dritten Aspekt des Bewusstseins-Problems: Warum ist das eigentlich alles subjektiv? Wenn wir das Gehirn öffnen, finden wir ja kein Bewusstsein oder finden wir auch kein selbst. Da sehen wir nur feuernde Neuronen, und scheinbar ist Bewusstsein das einzige Phänomen, das wir in der Wissenschaft kennen und auch in der Philosophie, das an eine subjektive Innenperspektive gebunden ist, also es gibt irgendwie jemand, der das erlebt als ein erlebendes Selbst. Und viele Leute haben sich gefragt, ob man das wissenschaftlich erklären kann, also die Subjektivität des Bewusstseins mit objektiven Forschungsmitteln, geht das?

Weber: Also das heißt, um das mal ein bisschen aufzudröseln, objektive Forschungsmittel wären ja jetzt, wenn ich zum Beispiel sage, ich untersuche das Gehirn mit irgendwelchen Methoden und schaue mir an, wie es funktioniert beispielsweise?

Metzinger: Genau! Sie können zum Beispiel sehen, immer, wenn sie ein Gelb-Erlebnis haben, sind diese Erregungsmuster im Gehirn vorhanden, in diesem Bereich des Gehirns, und immer wenn sie ein Grün-Erlebnis haben, sind diese Erregungsmuster vorhanden, und wenn man da eine Elektrode reinsteckt, kann man sogar ein Grün- und ein Gelb-Erlebnis machen, das wissen wir alles heute.

Trotzdem sagen viele Leute, nichts an diesen beiden Ereignissen im Gehirn zeigt mir, dass sich das grün anfühlen muss oder dass sich das Gelb anfühlen muss. Ein Marsmensch, der in unser Gehirn guckt, würde das nie verstehen, was wir da empfinden, und traditionell hat es viele Leute gegeben, die gesagt haben, dass es da etwas gibt, was die Wissenschaft nicht erklären kann, nämlich das, was der Marsmensch auch nicht verstehen würde.

Weber: Ich schließe jetzt daraus, dass man nicht sehen kann oder bis heute nicht weiß, wo das Bewusstsein im Gehirn ist?

Metzinger: Wir wissen viel, viel mehr als vor 30 Jahren. Wir kennen die neuronalen Korrelate von bestimmten Erlebnisinhalten teilweise sehr gut. Wir können zum Beispiel mit einer Elektrode im Gehirn ihnen das Gefühl geben, sie wären außerhalb ihres Körpers mit ihrem Ich-Gefühl. Wir schalten den Strom wieder ab, sie sind wieder im Körper, wir schalten ihn wieder an, sie sind wieder außerhalb, das heißt, auch die Grundlagen unseres Selbstgefühls werden langsam immer mehr und genauer bekannt, und wir haben sehr viel Detailwissen über viele verschiedene Formen.

Was wir noch nicht haben, ist eine vereinheitlichende Theorie bei der diese ganzen vielen kleinen Puzzle-Stückchen zusammenfallen in einem Bild. Davon sind wir weit entfernt.

Weber: Nicht nur wir Menschen haben Bewusstsein. In eingeschränktem Maße auch Tiere. Aber was ist mit den Dingen, die wir geschaffen haben? Hat Künstliche Intelligenz womöglich Bewusstsein? Und wenn ja, wie ist das zu beurteilen?

Metzinger: Ich halte das für ein Zukunftsrisiko, ich glaube nicht, dass wir morgen Maschinen mit Bewusstsein haben werden und auch nicht übermorgen. Das sage ich einfach als jemand, der sich seit 30 Jahren mit Bewusstseinsforschung beschäftigt, aber manchmal sind Sachen auch viel schneller und viel früher passiert.

Zum Beispiel hat Enrico Fermi noch ganz kurz vor der ersten erfolgreichen Kernspaltung mit Uran gesagt, dass das wahrscheinlich niemals gelingen wird, und dann hat er es selber durchgeführt und es gibt mehrerer solcher Beispiele, und sowas könnte uns im Moment auch passieren. Es könnte sein, dass es ein Zusammenwirken von KI-Forschung und Hirnforschung zum Beispiel gibt, die plötzlich zu Sachen führt, die wir nicht erwartet haben. Deswegen sag' ich, wir sollten da ganz, ganz vorsichtig sein.

Weber: Aber kann es nicht sein, dass unser Bewusstsein ein vollkommen anderes sein könnte als das, was eine KI entwickelt?

Metzinger: Das würde, glaube ich, mit Sicherheit ein ganz anderes sein, weil wir sind ja Lebewesen, die Angst vor dem Tod haben und Kinder haben wollen. Wir sind seit Millionen von Jahren darauf optimiert, unsere eigene Existenz zum Beispiel zu erhalten und nicht zu sterben. Wir sind Überlebensmaschinen. Eine Künstliche Intelligenz, die ganz vernünftig ist, könnte niemals ein Problem damit haben, wenn es Gründe gibt, sich selbst abzuschalten, das auch einfach zu tun aus vernünftigen Gründen, weil die hat ja diese kreatürliche Angst vor dem Tod nicht, die wir haben, und sie hat auch – wir wissen nicht, wie diese Systeme mal aussehen werden – aber sie hat ganz bestimmt nicht dieselbe Art von Embodiment wie wir, das heißt, sie haben keinen eigenen Stoffwechsel.

Sie atmen nicht. Sie essen nicht. Sie kennen alle solche Sachen wie Hunger, Durst, Krankheiten nicht, das heißt, es könnte eine Form von Intelligenz sein, die nicht so leiblich verankert ist wie wir, oder wenn sie in Robotern auftritt, auf eine so andere Weise sich selbst fühlt und sich selbst erlebt, dass wir das eigentlich gar nicht richtig verstehen können, was für eine Art von Bewusstheit das da ist, weil die so fremdartig ist, eben die erste nicht-biologische Form von Geist auf der Erde.

Weber: Merken wir das, wenn KI Bewusstsein entwickelt? Und woran könnten wir sowas merken?

Metzinger: Das ist eine sehr gute Frage. Man kann ja nur entscheiden, wann jemand Bewusstsein hat und wann nicht, wenn man eine Theorie des Bewusstseins hat. Das zeigt sich beim Menschen zum Beispiel ganz deutlich in der Komaforschung, wenn man wirklich wissen will, ob jemand wirklich noch etwas erlebt, bei verschiedenen Arten von Koma oder in der Narkoseforschung, wenn man Bewusstsein ausschalten will und welche Stufen da noch sind. Da braucht man eigentlich eine Theorie des Bewusstseins.

Und da wir die noch nicht haben, würde es uns auch bei Maschinen sehr schwer fallen, und im Prinzip – also das sind jetzt wirklich Science-Fiction-Szenarien – könnte es natürlich sein, dass da etwas entsteht, was wir nicht verstehen. Wir behandeln ja viele andere Lebewesen auf dem Planeten einfach wie Dinge oder wie Maschinen, und dasselbe Problem könnte da auftauchen. Es könnte sein, dass wir nicht genau hingeguckt haben und etwas ist schon längst entstanden. Es könnte auch sein, dass wir großes Leiden verursachen, ohne es zuerst zu verstehen, dass wir das tun.

Weber: Das aktuelle Buch zum Thema Bewusstsein von Thomas Metzinger heißt ,,Der EGO Tunnel – Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik" und ist bei Piper erschienen.

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AUs: "Bewusstsein Das Geheimnis hinter der Intelligenz" (18.04.2019)
Der Philosoph und Autor Thomas Metzinger im Gespräch mit Barbara Weber
Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/bewusstsein-das-geheimnis-hinter-der-intelligenz.1148.de.html?dram:article_id=446569

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Quote[...] Ist das menschliche Bewusstsein ein Kontinuum, also zu jedem beliebigen Zeitpunkt aktiv, oder tritt bewusste Wahrnehmung nur in bestimmten Momenten in Erscheinung, wie eine Kamera, die eine Serie von Einzelaufnahmen schießt? Seit der christliche Theologe und Philosoph Augustinus von Hippo an der Schwelle zwischen Antike und Frühmittelalter vor 1.500 Jahren über den Ursprung des Bewusstseins brütete, wird über diese Frage diskutiert. Möglicherweise ist ja beides der Fall, so paradox das auch zunächst klingen mag: Schweizer Forscher vermuten anhand eines neuen Modells, dass unser Bewusstsein eine Kombination aus kontinuierlichen Phasen und Einzelmomenten der Wahrnehmung von Informationen ist.

Aufgrund der abstrakten Natur des Bewusstseins kämpfen Wissenschafter damit, bewusste und unbewusste Wahrnehmung zu definieren. Was wir allenfalls wissen, ist jedoch, dass eine Person von Bewusstlosigkeit zu Bewusstsein wechselt, wenn sie morgens aufwacht. "Bewusstsein ist im Grunde wie ein Film. Wir glauben, wir sehen die Welt so, wie sie ist, als lückenlose Abfolge – aber das kann nicht wirklich die Wahrheit sein", meint Michael Herzog von der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) in der Schweiz, Erstautor der im Fachjournal "Trends in Cognitive Sciences" präsentierten Studie. "Veränderungen können nicht augenblicklich festgestellt werden. Sie können erst wahrgenommen werden, nachdem sie stattgefunden haben."

Die meisten Philosophen stimmen dennoch eher der Idee einer kontinuierlichen bewussten Wahrnehmung zu, hauptsächlich weil das der grundlegenden menschlichen Intuition folgt. "Immerhin haben wir das Gefühl, dass wir zu jedem Zeitpunkt bewusst sind", so Herzog. Dass das nicht ganz stimmen kann, ergibt sich unter anderem aus früheren Studien: Experimente haben beispielsweise gezeigt, dass rote Punkte auf einem Bildschirm, denen Sekundenbruchteile später an derselben Stelle grüne Punkte folgen, von Testpersonen als gelbe Punkte wahrgenommen werden. Wäre die Hypothese des kontinuierlichen Bewusstseins wahr, würde man tatsächlich zuerst den roten und dann den grünen Punkt wahrnehmen, meint Herzog.

Aber auch das weniger populäre Konzept, dass das menschliche Bewusstsein eine Serie einzelner Informationverarbeitungen ist, erweist sich als nicht wirklich befriedigend: Wäre beispielsweise unser Gehirn jede halbe Sekunde damit beschäftigt, Informationen zu verarbeiten, wäre es praktisch unmöglich, auch nur die einfachsten Aufgaben wie Fahrradfahren zu erledigen.

Um diesem Dilemma zu entkommen, haben Herzog, seine Kollegin Leila Drissi-Daoudi und sein Kollege Adrien Doerig daher die Vorteile beider Hypothesen zu einem neuen zweistufigen Modell vereint. Grundlage ihrer Theorie ist die Annahme, dass das Gehirn annähernd kontinuierlich während bis zu 500 Millisekunden langen Intervallen Informationen aufnimmt und verteilt, immer wieder unterbrochen von lichten, bewussten Momenten. Während der unbewussten Phasen verarbeitet das Gehirn die verschiedenen Elemente einer Situation und analysiert sie in vielen unterschiedlichen Regionen.

Einige Gehirnareale beschäftigen sich mit Farben, andere mit der Form und Position von Objekten, wieder andere mit den übrigen Sinneseindrücken. Schließlich werden diese Informationsschnipsel ausgetauscht und zusammengeführt. Erst wenn die unbewusste Verarbeitung abgeschlossen ist, poppt die bewusste Erfahrung von all dem, was vor uns liegt, mit einem Mal auf. "Mit anderen Worten: Sie müssen Informationen kontinuierlich verarbeiten, können diese jedoch nicht kontinuierlich wahrnehmen", sagt Herzog.

Die Forscher veranschaulichen das mit einem Beispiel aus der Alltagserfahrung: Wenn wir mit dem Rad fahren, geschieht dies großteils unbewusst. "Es ist gleichsam der Zombie in uns, der unser Fahrrad antreibt – ein unbewusster Zombie mit einer hervorragenden räumlichen und zeitlichen Auflösung", sagt Herzog. "Die Wahrnehmung über unsere Umgebung wird laufend aktualisiert, unser bewusstes Selbst arbeitet nur mit diesen Aktualisierungen."

Ihr zweistufiges Modell könnte nicht nur ein jahrhundertealtes philosophisches Problem lösen, sondern auch in anderen Disziplinen für Fortschritte sorgen, so die Wissenschafter. "Weil wir damit diese zusätzliche Zeitdimension erhalten, um Probleme zu lösen, könnte unser Ansatz auch Herangehensweisen in den Neurowissenschaften, in der Psychologie und möglicherweise auch in der Bildverarbeitung beeinflussen."

Auch praktischen Nutzen sieht Herzog am Horizont: Das neue Modell könnte Möglichkeiten eröffnen, die Art und Weise zu manipulieren, wie das Gehirn Informationen wahrnimmt. Während der Intervalle unbewusster Verarbeitung, in denen Details über die Umwelt im Gehirn gespeichert werden, könnte man etwa mithilfe von magnetischen Impulsen von außen Einfluss auf diese Details nehmen und damit auch auf die Wahrnehmung der Welt um uns herum.

So plausibel das Modell auch ist, es bleiben freilich immer noch viele wichtige Fragen unbeantwortet: Wie werden die bewussten Momente integriert? Was löst die unbewusste Verarbeitung aus? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen diesen unbewussten Intervallen und Persönlichkeit, Stress oder Krankheiten wie Schizophrenie? Und nicht zuletzt: Wofür wird Bewusstsein überhaupt benötigt? "Von all dem haben wir vorerst noch keine Ahnung", räumt Herzog ein. (tberg, 6.9.2020)


Aus: "Wir erfahren die Welt als Serie kurzer Bewusstlosigkeiten" (6. September 2020)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000119800526/wir-erfahren-die-welt-als-serie-kurzer-bewusstlosigkeiten

Quote
Von hinterm Mond

"Wofür wird Bewusstsein überhaupt benötigt?" - das geht von einem sehr mechanistischem Weltbild aus, das das Bewusstsein lediglich als ein Sammelsurium an Funktionen, Ausdrücken und Inhalten begreift, die der Körper hervorbringt.

Auch im Psychologiestudium wurde zum Thema Bewusstsein und Seele ein fast primitiver mechanischer Vergleich benutzt - im menschlichen Körper sei von Tausenden Chirurgen und Pathologen noch nichts davon entdeckt worden. Am liebsten hätte ich dazwischengerufen, dass ich in Radios auch noch nie kleine singende Leute gefunden habe.

Wird die umgekehrte Frage: "Wozu benötigt das Bewusstsein einen Körper?" eigentlich heute als (pseudo-)religiös gewertet, oder darf man das wenigstens in der Philosophie noch so äußern?


Quote
Boesmensch

Das ,,mechanistische" Weltbild ist das Ergebnis vorliegender Erkenntnisse. Die Alternative des Glaubens an Wunder ist plausibel, solange man Teile der Evidenz ausblendet oder auf deren logische Begründung verzichtet.


Quote
X Y

In der Wissenschaft
geht es nicht anders. Eine Seele kann man nicht messen, es ist nicht sinnvoll, sie in eine Theorie einzubauen. Glauben dürfen Sie eh, was Sie wollen, aber das war´s dann auch, was die Wissenschaft betrifft.


Quote
Massl

Die Überschrift und der Satz "Erst wenn die unbewusste Verarbeitung abgeschlossen ist, poppt die bewusste Erfahrung von all dem, was vor uns liegt, mit einem Mal auf." sind eben nicht das was die Forscher sagen wollen
Dazu ein Zitat aus dem Paper, dass die Idee dahinter erklärt:

"We do not claim that discrete conscious percepts occur periodically. Consider the following analogy. Conscious percepts occur when the captain of a ship updates their state of the world. They may call the engine room and ask about the current pressure of the steam engine, or the engine room may call the captain for urgent updates. Hence, updates occur on demand, rather than periodically, in both a bottom-up and a top-down manner. As long as there are no updates, there is no change in consciousness."


Quote
Dirty ol Bastard

"Immerhin haben wir das Gefühl, dass wir zu jedem Zeitpunkt bewusst sind" - Dieses Gefühl hat wohl nur jemand, der/die sich nie mit dem Thema auseinander gesetzt hat. Es ist wohl mehr als offensichtlich, dass sehr Vieles automatisch abläuft. Auch daran zu sehen, dass wir alle Aufmerksamkeit benötigen, wenn wir etwas Neues lernen.


Quote
bencostan

,,Wir erfahren die Welt als Serie kurzer Bewusstlosigkeiten"

Das erklärt so manches hier im Forum!


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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Heute steht "Fenster ins Gehirn: Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann" (Ullstein Verlag, 2021) von John-Dylan Haynes und Matthias Eckoldt im Rampenlicht. Haynes ist Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging und Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité Berlin. Eckoldt ist erfahrener Wissenschaftsjournalist.

Gleich am Anfang verweisen die Autoren auf ihre bei einer "professionellen Befragungsagentur" in Auftrag gegebene Studie zum Zusammenhang zwischen Gehirn und Geist. Den Ergebnissen zufolge sind über 90 Prozent der Befragten Dualisten (S. 22). Auch im Interview mit dem Humanistischen Pressedienst meinte Haynes erst vor Kurzem: "Laut Umfragen sind über 90 Prozent der Menschen Dualisten." Später im Buch wird dann – aus Sicht der Hirnforschung – gegen diesen philosophischen Standpunkt argumentiert.

Unter dem Leib-Seele-Dualismus versteht man in der Regel, dass Körper (insbesondere Gehirn) und Geist beziehungsweise Seele verschiedene Dinge sind; philosophisch gesagt, verschiedene "Substanzen", die aus sich heraus bestehen. Das schließt die Möglichkeit ein, dass Körper/Gehirn und Geist/Seele unabhängig voneinander existieren können.

Dieser Standpunkt war und ist traditionell in vielen Religionen von Bedeutung. Und nach wie vor fühlt sich die übergroße Mehrheit der Menschheit einer Religion zugehörig.

Der Leib-Seele-Dualismus ist also eine ontologische Position darüber, wie die Welt wirklich ist.

Bei näherer Betrachtung fällt aber auf, dass Haynes und Eckoldt hier Aussagen über das Sein und über unsere Erkenntnis – in Fachsprache: ontologische und epistemische Aussagen – über einen Kamm scheren. Mit Aussagen wie: "Der menschliche Geist kann nicht allein durch das Gehirn erklärt werden." (S. 20), geht es nämlich eher um die Erkenntnismöglichkeiten der Hirnforschung als um das Wesen von Geist/Seele.

Ich betone seit Jahren immer wieder, wie wichtig es ist, Aussagen über das Sein auf der einen und Aussagen über das Wissen/Erklären auf der anderen Seite deutlich zu trennen (Reduktionismus und die Erklärung von Alltagsphänomenen: https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/nicht-reduktiver-materialismus-physikalismus-und-erklaerungen-von-alltagsphaenomenen/). Die Frage nach der Existenz von Geist/Seele ist nämlich weitgehend unabhängig von den Erklärungsmöglichkeiten der Hirnforschung:

Wenn, wie heute zweifellos der Fall, die Wissenschaft nicht den "Menschen an sich" erklären kann, lässt sich nicht entscheiden, ob das an der Natur des Menschen (Sein) oder an den Möglichkeiten der Forschung (Erkenntnis) liegt. Umgekehrt ist es auch möglich, dass es zwar keine Seele gibt, wir Menschen aber trotzdem so kompliziert sind, dass wir nicht vollständig wissenschaftlich erklärt werden können. Gerade Neurowissenschaftler nennen das menschliche Gehirn gerne den komplexesten, uns bekannten Gegenstand des Universums.

Wie man es auch dreht und wendet: Die Frage nach der Seele (Dualismus) mit der Frage der Erklärbarkeit des Menschen zu vermischen, ist also mindestens irreführend, wahrscheinlich sogar falsch. Aber zugegeben, Haynes' und Eckholdts Vorgehen liefert eine gute Schlagzeile. Und der Humanistische Pressedienst springt gleich darauf an. Ob das guter Journalismus ist, möge jeder selbst entscheiden.

Man kann es besser machen. So erhob beispielsweise der Psychologieprofessor Jochen Fahrenberg 2006 die Ansichten unter Studierenden. Seiner Befragung zufolge ließen sich nur rund 40 (Naturwissenschaften) bis 60 Prozent (Theologie) eher dem Dualismus zurechnen. In etwa so viele gingen von einer komplementären Sichtweise aus, die Körper und Geist als zwei Seiten einer Medaille sieht. Rund 10 bis 20 Prozent (Naturwissenschaften) hatten eine eher aufs Gehirn begrenzte, reduktionistische Sichtweise (Hirnforschung oder Religion: Wer ist hier Dualist?: https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/hirnforschung-oder-religion-wer-ist-hier-dualist/).

Im Übrigen ist auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass es zwar eine Seele gibt, der Mensch aber trotzdem vollständig wissenschaftlich erklärbar ist. Das wäre genau dann der Fall, wenn die Vorgänge von Geist/Seele und Körper/Gehirn streng aneinandergekoppelt sind.

Denn das ist es ja, was (insbesondere biologische) Psychologen und (kognitive) Neurowissenschaftler seit jeher machen: physische (körperliche) Reaktionen mit psychischen Vorgängen in Verbindung bringen; und umgekehrt. Eine weiterführende metaphysische Interpretation über das "Wesen der Psyche" ist dafür gar nicht notwendig.

Und, man höre und staune, schon im 17./18. Jahrhundert kam man auf den Gedanken, dass Leib und Seele eng verbunden sind, Stichwort "psychophysischer Parallelismus". Mit tieferer Textarbeit könnte man dafür argumentieren, dass sogar der Vorzeigedualist und Naturforscher René Descartes (1596-1650) einen strengen Zusammenhang zwischen Leib und Seele annahm, jedenfalls für das diesseitige Leben.

Mit dem Aufkommen der Naturwissenschaft – im 19. Jahrhundert dann dem Energieerhaltungssatz – wurde Philosophen deutlich, dass Beschreibungen von Naturvorgängen in sich schlüssig sind und keine äußere Kraft angenommen werden muss. Schon in der Antike gab es solche Überlegungen (Das kleine Einmaleins des Leib-Seele-Problems: https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/das-kleine-einmaleins-des-leib-seele-problems/).

Da schien die Annahme einer Parallelität – oder in Gottfried Wilhelm Leibniz' (1646-1716) Worten: Harmonie – zwischen Leib und Seele verlockend. Diese löst den Widerstreit zwischen den Seinsweisen zumindest auf begrifflich-logischer Ebene. Warum dann überhaupt noch von Seelen sprechen? Folgerichtig entstanden später die Positionen der Epiphänomenalisten (die psychischen Vorgängen alle Kausalkräfte absprechen) oder Eliminativisten (die die Existenz psychischer Vorgänge verneinen).

So viel Philosophiegeschichte muss man natürlich in einem 2021 veröffentlichten Buch über Hirnforschung nicht zur Kenntnis nehmen. Wenn man sich aber ausdrücklich auf philosophisches Terrain begibt, dann täte man gut daran. Die Autoren gehen sogar noch ein paar Schritte weiter und diskutieren, wie man einen Dualismus experimentell bestätigen oder widerlegen könnte:

    "Eine Möglichkeit wäre, Gedanken zu finden, die überhaupt keine Spuren im Gehirn hinterlassen. Man könnte eine Versuchsperson bitten, sich [...] zwei verschiedene Dinge vorzustellen – etwa einen Hund und eine Katze. [...] Wenn wir im Labor zwischen diesen beiden Gedanken keinerlei Veränderung in der Hirnaktivierung feststellen können, wäre erwiesen, wovon die Mehrheit der Menschen laut unserer Umfrage ausgeht: nämlich, dass wir nicht allein mit der Hirnaktivität herausfinden können, was jemand denkt. [...] Doch als Hirnforscher habe ich erfahren, dass das Gegenteil zutrifft: Gedanken lassen sich aus der Hirnaktivität in der Tat zu einem gewissen Grad auslesen [...]."
    Haynes/Eckoldt, 2021, S. 50-51

Der Teufel steckt hier im Detail: Als erfahrener Hirnforscher weiß Haynes, dass ein Nullbefund (kein Unterschied) in den Gehirndaten verschiedene Gründe haben kann. Wenn sich beispielsweise Gedanke A und Gedanke B im Signal nicht unterscheiden lassen, könnte das an einem Messfehler liegen; es könnte aber auch sein, dass das Messinstrument nicht genau genug ist.

Und die Verfahren der Hirnforschung reduzieren die Aktivität vieler tausend bis hunderttausend Neuronen und anderer Zellen auf ein einziges und zudem sehr grobes Signal; oder sie sind zwar sehr genau, erfassen aber nur sehr wenige Zellen gleichzeitig. Ersteres gilt insbesondere auch für die Verfahren, mit denen Haynes arbeitet, nämlich die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und Elektroenzephalographie (EEG).

Aus dem Vorangegangenen folgt, dass weder die Abwesenheit gemessener Gehirnunterschiede die Existenz einer Seele beweist, noch ihre Anwesenheit diese widerlegt. Der Gedanke, die Seele im Gehirnscanner zu finden, ist in etwa so geistreich wie die Vorstellung, den "lieben Gott im Himmel" mit einer Weltraumsonde zu suchen. Die Leser von "Fenster ins Gehirn" werden also gleich am Anfang sowohl über die Verbreitung des Dualismus als auch über die Möglichkeiten der Hirnforschung in die Irre geführt.

Für an der Physik interessierte Leser gibt es eine interessante Analogie: Der Streit darüber, ob die Welt deterministisch ist, ist ähnlich alt wie die Diskussion über die Existenz der Seele. An bestimmten Punkten berühren sich die Diskussionen sogar, wo manche im naturwissenschaftlichen Indeterminismus ein Einfallstor für "übernatürliche" Entitäten sehen.

Formallogisch stimmt das sogar: Wo die Natur das Ergebnis nicht zwingend festlegt, könnte es (rein theoretisch) übernatürlich festgelegt werden. Es sollte aber klar sein, dass aus dieser (metaphysisch-spekulativen) Möglichkeit nicht folgt, dass es in unserer Welt wirklich so zugeht. Ich will hier aber auf etwas Anderes heraus:

Der Chaostheorie zufolge kann der Ausgang eines Versuchs unvorhersehbar (und in diesem Sinne indeterministisch) sein, auch wenn das System selbst deterministisch ist. Was hat das nun mit dem Dualismus zu tun? Ganz einfach: Wenn uns die Welt indeterministisch erscheint (Erkenntnis, Wissen; epistemische Ebene) ist das kein Beweis für ihre wirkliche Indeterminiertheit (Sein; ontologische Ebene). Wo Haynes und Eckoldt diese Ebenen vermischen, begehen sie einen Fehlschluss.

Noch ein philosophischer Punkt zum Dualismus: Warum sollte man überhaupt die Existenz einer Seele annehmen? Hierfür gibt es im Wesentlichen traditionell-religiöse und phänomenologische Gründe. Letztere bedeuten, dass man sich selbst – etwa bei außerkörperlichen Erfahrungen – als losgelöst von seinem Körper wahrnimmt. (Ich hatte solche Erlebnisse, insbesondere während meines Studiums der Philosophie des Geistes, ordnete diese aufgrund von Wahrnehmungsfehlern aber als Traum ein.)

Auch vom phänomenalen Schein können wir nicht ohne Weiteres auf das wirkliche Sein schließen, selbst wenn solche Erfahrungen für manche Menschen eine tiefe Überzeugungskraft besitzen. Ähnliches berichten Konsumenten halluzinogener Substanzen wie Ayahuasca oder LSD, die darum auch in spirituellen Kreisen beliebt sind. Da kommt man mit wissenschaftlichen oder Vernunftargumenten oft nicht weit.

Bei der Existenz der Seele handelt es sich – wie bei der Existenz eines Gottes – um eine Glaubensfrage. Es geht um Metaphysik, nicht Physik (Naturwissenschaft). Und es sollte sich irgendwann einmal herumgesprochen haben, dass man metaphysische Fragen nicht empirisch, also auch nicht mit wissenschaftlichen Experimenten lösen kann. Grundkurs Philosophie, Teil 1.

Die positivistischen Philosophen des Wiener Kreises (wie Moritz Schlick oder Rudolf Carnap) lehnten metaphysische Fragen daher gänzlich ab: Wenn die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage – etwa, dass es eine Seele gibt – keinen empirisch feststellbaren Unterschied macht, dann sei sie schlicht sinnlos. Und "sinnlos" ist für einen Philosophen noch schlimmer als "falsch". Jeder kann sich mal irren; aber sinnlose Sätze formulieren?



Aus: "Hirnforschung und Dualismus: Wie war das mit der Seele?" Stephan Schleim (27. Jul 2021)
Quelle: https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/hirnforschung-und-dualismus-wie-war-das-mit-der-seele/

QuoteMartin Holzherr
    27.07.2021, 16:39 Uhr

Dualismus bedeutet an eine vom Körper unabhängige Seele zu glauben. Mein Verdacht: der Glaube an einen ausserhalb dieser Welt stehenden Gott ist verwandt damit. Und der Glaube an ein Bewusstsein nicht als Zustand (wenn man sagt:"mir ist bewusst ..") sondern als Seinsform/als Substanz gehört ebenfalls in diesen Bereich.

Erklärungsversuch: Unser Geist verkörpert Geisteszustände und geistige Prozesse und macht sie zu etwas Dinghaftem, damit wir eine Handhabe haben, damit wir über fiktive Dinge wie die Seele, Gott oder einen Zustand der Bewusstheit so sprechen können wie über einen Baum oder etwas anderes Gegenständliches. Wenn man etwas Abstraktes zu etwas Konkretem und damit Realem macht, spricht man von Reifizierung. Die Seele, Gott oder das Bewusstsein kann man als Konkretisierungen/Reifizierungen sehen.

Unser Geist hat aber die Vergegenständlichung auch bei weniger abstrakten Dingen ,,auf Lager", benutzt die Vergegenständlichkeit auch bei dem, was man Sinnesempfindungen oder auch Qualia nennt. So empfinden wir Schmerz etwa an einer bestimmten Stelle obwohl das Schmerzempfinden erst im Gehirn entsteht, was bedeutet, dass das Hirn offenbar den Schmerz an die ,,richtige" Körperstelle projiziert. Meistens ist es die richtige Körperstelle. Aber nicht immer wie der Phantomschmerz beweist.
Aber auch das Farbempfinden kann als Vergegenständlichung aufgefasst werden, denn wir empfinden ja nicht nur eine Farbe, sondern erleben eingefärbte Flächen, fast so als wäre die Farbe etwas an die Dinge ,,angeklebtes".

Letztlich gibt es einen einfachen Grund für Reifizierungen und für das was wir Qualia/Sinnesempfindungen nennen: Es sind von unserem Geist erzeugte Illusionen mit dem Zweck uns etwas als Ding zugänglich zu machen. Warum das? Antwort: weil wir im Laufe der Evolution gelernt haben mit Dingen umzugehen, nicht aber mit Prozessen wie etwa dem Prozess der Bewusstwerdung oder dem momentanen Gefühl der Schuld. Nur wenn wir eine Fläche als grün eingefärbt emfinden, können wir uns später darauf beziehen und uns daran erinnern. Wenn unser Geist die Qualia und Illusion Farbempfindung nicht erschaffen würde, dann würde uns die Handhabe fehlen uns bewusst damit zu beschäftigen.


Quotehwied
    27.07.2021, 19:13 Uhr

Wenn die Seele trauert, dann trauert sie nicht, weil der Stoffwechsel der Person nicht richtig funktioniert, die Seele trauert, weil die Welt nicht harmonisch ist. Die Harmonie der Dinge, man kann auch sagen, die Schönheit der Kunst ist existent.
Ein Naturwissenschaftler wird darüber keine Aussagen machen, weil er weiß, dass ihm die Empfindungen dazu fehlen. Empfindsamkeit ist angeboren. Der Mensch hat keine Möglichkeit sie zu ändern. Die Religiösen wissen das, für sie ist die Harmonie der Welt göttlichen Ursprungs.
Sie wieder zu erlangen ist das Ziel der Religionen.
Der Dualismus ist existent und in der Kunst mit Händen greifbar, in der Musik hörbar und in der Kochkunst körperlich erlebbar.
Wer so etwas wegdiskutieren will ist ein Banause.


QuoteElektroniker
    27.07.2021, 23:31 Uhr

Wäre ich ,,Steinzeitmensch" und hätte ich nicht einmal einen Bezug zur Höhlenmalerei, so hätte ich nicht den geringsten Zweifel daran, dass Geist/Seele niemals unabhängig von Körper/Gehirn existieren könne.

Aber frühestens seit der Höhlenmalerei, Schrift, Buchdruck, Telefon, Radio, TV, Computer ... wurde angestrebt, möglichst die ,,pure Information" vom Körper/Gehirn ausgehend ,,abzusondern" und völlig getrennt z.B. an Mitmenschen oder an die nächste Generation weiter zu geben oder zu verarbeiten. Z.B. wenn vernetzte Computer die von Menschen herrührende Information weitergeben, verarbeiten, noch besser und viel schneller als ein Mensch.

Man hat das unmöglich Scheinende einfach möglich gemacht, man ahmt sogar die Informationsverarbeitung im Gehirn nach. Es funktioniert und seither ist die gesonderte Betrachtung von Hardware und Software völlig selbstverständlich.

Die Informatiker haben mit ihrem Konzept von ,,Prozessor – Prozess – Information" höchstens den Dualismus um eine 3. Komponente, den ,,Prozessen" erweitert.

     28.07.2021, 00:53 Uhr

Die ,,Erklärungslücke" im Zusammenhang mit dem "Menschen an sich" würde ich an der Komplexität festmachen und daran, dass sich diese Komplexität zwangsläufig, bei vermutlich immer mehr Menschen in Zukunft, erhöhen muss und nicht mehr ausreichend abschätzbar ist. Die Weltbevölkerung könnte aber auch kleiner werden. Man kann nun einmal nicht wirklich in die Zukunft schauen.

Aus Gründen der Zweckmäßigkeit wurden die Begriffe ,,Seele", oder auch der Begriff ,,Software" deklariert, damit existieren sie, ob man damit einverstanden ist oder nicht, man muss sie ja nicht verwenden.

Man könnte den ,,Zufall" als Einfluss nehmende ,,äußere Kraft" sehen, damit müssen Beschreibungen von Naturvorgängen nicht mehr in sich schlüssig sein, da ein Zufall sozusagen ,,alles verändern" kann.....

Es scheint sich jedenfalls so zu verhalten, dass auch unbewusste ,,Denkmuster" ,,Handlungsmuster" steuern. Die ,,Begrifflichkeiten" sollten jedenfalls so ,,deklariert" sein, dass halbwegs plausible Erkenntnisse aus Beobachtungen/Experimenten gewonnen werden können, die zu einer besseren Existenzfähigkeit der Menschen beitragen sollten.

Die Behandlung von Glaubensfragen hängt von den individuellen, psychischen, die Denkmuster steuernden ,,Motivationsstrukturen" ab, wie sie sich über Lern- und auch unterbewusste Wahrnehmungsprozesse, aufbauend auf die vorhandenen (genetischen) Anlagen, entwickelt haben. Ich behaupte selbstverständlich nicht, dass diese Strukturen lokal eindeutig abgrenzbar sind.



QuoteWolfgang Stegemann
    28.07.2021, 10:11 Uhr

Man muss sich doch nur mal klarmachen (ich weiß, ich wiederhole mich), dass das Gehirn nicht etwa nach den Regeln der Boolschen Algebra arbeitet, sondern nach denen der Selbstorganisation. Schließlich ist es ein Organ. Das Gehirn denkt nicht logisch. Die Logik findet Eingang ins Gehirn ausschließlich durch logisch abstrakte Begriffe, in denen die jeweilige Logik der Dinge sprachlich vergegenständlicht ist. Mit diesen Begriffen denen wir. Es ist ein Unterschied, ob ich sage, wir denken logisch mit Begriffen, oder, wir denken mit logischen Begriffen.
Die Begriffe sind die Bausteine des Denkens, und mit diesen Bausteinen entwickeln wir komplexe Theorien, Fantasien, ja insgesamt Kultur. Sie sind der Stoff, aus dem auch Religionen sind.
Mit ihnen interpretieren wir die Welt. Und wenn wir einen 'tieferen' Einblick in die Welt erhalten wollen, dann ist zwar die Beobachtung (Empirie) unabdingbar, Erklärungen erhält man aber nur, indem man die Empirie 'sortiert', also Modelle bildet, die genauso tiefgreifend sind, wie die Erklärung, die man sucht. Und genau dafür ist die Philosophie zuständig. Und genau diese Dimension fehlt der derzeitigen Neurowissenschaft. Daher wird ihr Fenster ins Gehirn nur Beobachtung bleiben, ohne wirkliche Erklärung.


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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Eine einzigartige Form der Hirnstimulation scheint die Fähigkeit von Menschen zu verbessern, sich neue Informationen zu merken. Die sogenannte Gedächtnisprothese scheint dabei auch Menschen mit Gedächtnisstörungen zu helfen. In Zukunft könnten fortschrittlichere Versionen der Gedächtnisprothese Menschen, die aufgrund von Hirnverletzungen, Altern oder degenerative Krankheiten wie Alzheimer Gedächtnisverluste erlitten haben, helfen, sagen Forscher um den Neurowissenschaftler Rob Hampson von der Wake Forest University School of Medicine in North Carolina.

Die Gedächtnisprothese ahmt die Art und Weise nach, wie das Gehirn Erinnerungen erzeugt. Genauer gesagt bildet sie Vorgänge im Hippocampus nach. Diese Seepferdchen-förmige Region tief im Gehirn spielt eine entscheidende Rolle beim Gedächtnis. Sie hilft nicht nur bei der Bildung von Kurzzeitgedächtnissen, sondern scheint auch Erinnerungen zur Langzeitspeicherung in andere Regionen zu leiten.

Seit mehr als zehn Jahren arbeiten Theodore Berger und Dong Song von der University of Southern California mit Kollegen daran, diesen Prozess zu imitieren [https://www.heise.de/hintergrund/Schrittmacher-fuers-Gedaechtnis-2092798.html] . Sie versuchen, mit Hilfe von Gehirnelektroden die elektrischen Aktivitätsmuster zu verstehen, die bei der Kodierung von Erinnerungen auftreten. Ihre Idee: dieselben Elektroden zu verwenden, um ähnliche Aktivitätsmuster abzufeuern.

Um herauszufinden, ob die Methode Menschen mit Gedächtnisschwäche helfen könnte, testeten Berger und Hampson mit Kollegen zwei Versionen der Gedächtnisprothese an 24 Probanden. Ihnen waren zur Untersuchung ihrer Epilepsie bereits Elektroden implantiert worden. Einige von ihnen hatten auch Hirnverletzungen.

Die erste Version namens Gedächtnis-Dekodierungsmodell (memory decoding model oder kurz MDM) ahmt die Muster der elektrischen Aktivität im Hippocampus nach, die auf natürliche Weise auftreten, wenn jeder Proband erfolgreich Erinnerungen bildet. Das MDM-Modell nimmt einen Durchschnitt dieser Muster für jedes Individuum und feuert dann dieses Muster der elektrischen Stimulation ab.

Der zweite Typ mit dem Namen Multi-Input-Multi-Output (MIMO) ahmt die Funktionsweise des Hippocampus genauer nach. In einem gesunden Hippocampus fließt die elektrische Aktivität von einer Schicht zur anderen, bevor sie sich auf andere Gehirnregionen ausbreitet. Das MIMO-Modell basiert auf dem Erlernen der Muster elektrischer Ein- und Ausgänge, die mit der Gedächtniskodierung korrespondieren, und ahmt diese dann nach.

Um zu testen, wie gut jedes der Modelle funktioniert, baten Hampson und seine Kollegen die Freiwilligen, an Gedächtnistests teilzunehmen. Bei diesen Tests wurde jeder Person ein Bild auf einem Computerbildschirm gezeigt. Nach einer Verzögerung wurde dasselbe Bild erneut gezeigt, zusammen mit einer Auswahl anderer Bilder. Die Person musste sich entscheiden, welches das bereits gezeigte Bild war. Jeder Proband absolvierte etwa 100 bis 150 dieser kurzen Aufgaben, mit denen das Kurzzeitgedächtnis einer Person getestet werden soll.

Zwischen 15 und 90 Minuten später unterzog sich jede Person einem zweiten Test. Diesmal wurden ihnen jeweils drei Bilder gezeigt, von denen sie das auswählen sollte, das ihr am bekanntesten vorkam. Dieser Test gibt Aufschluss über das Langzeitgedächtnis einer Person.

Die Probanden führten beide Gedächtnistests zweimal durch: einmal zur Aufzeichnung des Hippocampus und einmal zur Stimulierung der aufgezeichneten Muster, die mit erfolgreich gespeicherten Erinnerungen verbunden sind. Die Aufzeichnungen waren einzigartig, sagt Hampson: "Bisher haben wir festgestellt, dass es bei jeder Person anders ist."

Das Team fand heraus, dass die Gedächtnisprothese die Leistungen der Probanden bei Gedächtnistests verbesserte. Ihre Ergebnisse waren deutlich höher, wenn sie bei der ersten Präsentation der Bilder das richtige Stimulationsmuster erhalten hatten. Dies deutet darauf hin, dass die Gedächtnisprothese dazu beitragen kann, Erinnerungen im Gehirn zu kodieren, sagen die Forscher. "Wir stellen Verbesserungen zwischen elf und 54 Prozent fest", sagt Hampson.

"Diese Art der Personalisierung von Hirnstimulationen ist eine wirklich wichtige Sache", sagt Josh Jacobs von der Columbia University. Er untersucht ebenfalls Hirnaufzeichnungen von Menschen mit Epilepsie, war aber nicht an der aktuellen Forschung beteiligt.

Bisher haben Ärzte und Wissenschaftler einige Erfolge bei der Behandlung von Krankheiten wie der Parkinson-Krankheit erzielt, indem sie einfach bei allen Personen auf dieselbe Gehirnregion abzielten. "Aber die einzelnen Menschen reagieren sehr unterschiedlich", sagt Jacobs. Durch die Anpassung der Stimulation an das individuelle Gehirn kann die Wirkung wahrscheinlich verbessert werden, meint er.

Das MIMO-Modell, das die Funktionsweise des Hippocampus besser widerspiegelt, erzielte im Durchschnitt sogar noch bessere Ergebnisse. Aber die größten Verbesserungen wurden bei Personen festgestellt, die zu Beginn des Experiments die schlechteste Gedächtnisleistung hatten. Die Forscher sind sich nicht sicher, warum das so ist. Es könnte daran liegen, dass es "mehr Raum für Verbesserungen" gibt, sagt Hampson.

Bei allen Probanden wurden die Elektroden nach einigen Wochen wieder entfernt, nachdem die Ärzte die Untersuchungen zu ihrer Epilepsie abgeschlossen hatten. Song hofft jedoch, dass die Verbesserung des Gedächtnisses von Dauer sein wird. Theoretisch könnte die Stimulation, die jede Person erhielt, die Verdrahtung der Neuronen im Hippocampus gestärkt haben, sagt er: "Wir wissen es nicht genau, aber wir hoffen es."

Song, Hampson und ihre Kollegen, die ihre Ergebnisse im Juli in der Fachzeitschrift Frontiers in Human Neuroscience veröffentlicht haben, hoffen, dass ihre Gedächtnisprothese eines Tages auf breiter Front zur Wiederherstellung des Gedächtnisses bei Menschen mit Gedächtnisstörungen eingesetzt werden könnte.

"Patienten mit Hirnverletzungen wären die ersten [Kandidaten]", sagt Song. Solche Verletzungen betreffen meist bestimmte Regionen des Gehirns. Verletzungen des Hippocampus wären leichter zu behandeln als degenerative Krankheiten wie Alzheimer, bei denen in der Regel viele Hirnregionen geschädigt sind.

"Ich halte es für möglich, dass wir eines Tages einen Hippocampus durch etwas anderes ersetzen können", sagt Jacobs. Er weist jedoch darauf hin, dass es nicht leicht sein wird, einen gesunden Hippocampus vollständig nachzubilden, da die Struktur Dutzende Millionen von Neuronen enthält. "Es ist etwas schwierig, sich vorzustellen, wie eine Handvoll Elektroden die Millionen von Neuronen im Hippocampus ersetzen könnte", sagt er.

Die in der Studie verwendeten Elektroden sind etwa einen Millimeter breit und wurden bei allen Probanden tief genug ins Gehirn implantiert, um den Hippocampus zu erreichen, also etwa zehn Zentimeter tief. Nach modernen Forschungsstandards sind sie ziemlich grob und können nur etwa 40 bis 100 Neuronen aufzeichnen, sagt Song. Jede Gedächtnisprothese, die zur Behandlung von Gedächtnisstörungen entwickelt werden soll, benötigt Gehirnelektroden mit Hunderten von Kontaktpunkten, damit sie Hunderte oder Tausende von Neuronen aufzeichnen und stimulieren können, sagt er.

Hampson, Song und ihre Kollegen haben noch nicht ausgearbeitet, wie die Gedächtnisprothese in der Praxis funktionieren könnte. Es könnte zum Beispiel nicht sinnvoll sein, das Gerät ständig laufen zu lassen. Es gibt viele Lebenserfahrungen, wie zum Beispiel den Müll rauszubringen, an die sich Menschen mit Gedächtnisstörungen nicht erinnern müssen. "Warum den [Gehirn-]Platz verschwenden?" sagt Jacobs.

Song zufolge könnte die Prothese zusammen mit einer Art Gerät eingesetzt werden, das erkennt, ob das Gerät laufen muss oder nicht. Zum Beispiel, indem es detektiert, wann das Gehirn in einen lernbereiten Zustand versetzt werden muss. Dabei stellt sich die Frage, ob eine Gedächtnisprothese über Nacht laufen sollte. Die Wissenschaft geht davon aus, dass der Hippocampus im Schlaf einige der tagsüber kodierten Erinnerungen erneut abruft, um sie in anderen Hirnregionen zu konsolidieren. Song und seine Kollegen wissen nicht, ob eine Gedächtnisprothese, die diese Wiederholung nachahmt, das Gedächtnis verbessern würde, oder ob es überhaupt sinnvoll ist, den Hippocampus im Schlaf zu stimulieren.

"Es ist ein Blick in die Zukunft dessen, was wir tun können, um das Gedächtnis wiederherzustellen", sagt Kim Shapiro, ein Neurowissenschaftler an der Universität Birmingham im Vereinigten Königreich, der nicht an der Forschung beteiligt war. Noch sei die Prothese noch weit von einer klinischen Anwendung entfernt. "Ich denke, dass sie im Prinzip funktionieren könnte", sagt er. "Aber wir haben noch einen weiten Weg vor uns, bis wir genug über das Gedächtnis wissen, um mit dieser Art von Ansatz die Funktion des Hippocampus ersetzen zu können."


Aus: "Besser erinnern: Gehirnelektroden könnten Menschen mit Gehirnschäden helfen" Jessica Hamzelou (08.09.2022)
Quelle: https://www.heise.de/hintergrund/Besser-erinnern-Gehirnelektroden-koennten-Menschen-mit-Gehirnschaeden-helfen-7256591.html?seite=all

QuoteMichl aus Lönneberga, 08.09.2022 10:50

Warum nur.. Warum nur kann die Menschheit nicht Ihre Energie dazu nutzen sich selbst zu helfen anstatt sich auszulöschen?
Andererseits, wäre das nicht etwas für eine aktuelle Führungsperson die sich an nichts mehr erinnern kann?


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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Bereits seit einigen Jahren arbeiten Wissenschaftler daran, mithilfe mathematischer Modelle beziehungsweise Künstlicher Intelligenz Gedanken zu "lesen". Das heißt, sie versuchen zu visualisieren, was Menschen sehen oder sich vorstellen. Japanischen Forschern ist jetzt gelungen, besonders realistische Bilder mit einem eher ungewöhnlichen Werkzeug zu erzeugen. Ihre Ergebnisse haben die Wissenschaftler der Universität Osaka in einem Preprint und einer knappen Zusammenfassung veröffentlicht. Begutachtet ist die Studie noch nicht.
https://sites.google.com/view/stablediffusion-with-brain/

High-resolution image reconstruction with latent diffusion models from human brain activity
(This article is a preprint and has not been certified by peer review)
https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2022.11.18.517004v2

Basis einer bildlichen Rekonstruktion von Gedanken ist die sogenannte funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT). Sie macht neuronale Aktivitäten im Gehirn sichtbar, indem sie Durchblutungsänderungen darstellt. Wie das grundsätzlich abläuft, hat schon 2011 die kalifornische Universität Berkley beschrieben, an der einer der beiden Studienautoren, Shinji Nishimoto, damals auf dem Gebiet forschte.

Nishimoto selbst war damals einer der Propanden, die mehrere Stunden in einem MRT-Scanner verbrachten. Er schaute sich Filmtrailer an, während der Blutfluss in dem Bereich seines Gehirns gemessen wurde, der visuelle Informationen verarbeitet (visueller Kortex).

Am Computer wurde das Gehirn in kleine, dreidimensionale Würfel unterteilt, die als volumetrische Pixel oder "Voxel" bezeichnet werden. Die aufgezeichnete Gehirnaktivität wurde in ein Computerprogramm eingespeist, das so lernte, visuelle Muster im Film mit der entsprechenden Gehirnaktivität zu verknüpfen.

Um die gewonnenen Informationen zu dekodieren, wurden bisher sehr aufwändige Modelle verwendet, die trotzdem oft nur recht schwammige Bilder erzeugten. Für ihren neuen Ansatz verwendeten Nishimoto und sein Kollege Yu Tagagi stattdessen Stable Diffusion. Dabei handelt es sich um ein sogenanntes Diffusionsmodell, das eigentlich dazu da ist, fotorealistische Bilder aus Texteingaben zu generieren.

Diffusionsmodelle lernen im Prinzip, indem sie zuerst ein Bild mit immer mehr Pixeln bis zur Unkenntlichkeit "verrauschen" und dann den Prozess rückgängig machen. So trainiert ist ein Modell in der Lage, Daten zu erzeugen, indem es zufällig abgetastetes Rauschen durch den erlernten Entrauschungsprozess verarbeitet. Sehr schön erklärt dies Michael Katzlberger in einem Artikel zu Stable Diffusion auf "Artificial Creativity".

Laut dem KI-Experten Salvator Raieli sind bei der von den Japanern umgesetzten Lösung zunächst die aus dem Bild extrahierten Informationen wichtiger und die Text-Konditionierung erfolgt später. Man könnte also sagen, sie dient zur Verfeinerung, was den in der Vorab-Studie gezeigten Bildern entspricht.

Stable Diffusion ist nicht nur besonders, weil es Open Source, also für jedermann zugänglich ist. Die Autoren der Studie weisen auch darauf hin, dass es einfach und kostengünstig arbeitet. Denn Stable Diffusion ist im Prinzip ein Modell von der Stange, das nicht extra entwickelt und von Grund auf neu trainiert werden muss. Und es ist so genügsam, dass es auch auf Heim-PCs ausgeführt werden kann.

Das Modell ist aber nicht nur eine sehr effiziente Lösung. Die Kombination von Bild- und Text-Kodierung, die mit dem Modell möglich sind, erzeugt den japanischen Wissenschaftlern nach auch hochauflösende Bilder mit hoher Wiedergabetreue, "auf höchstem Niveau".

Die japanische Studie könnte ein wichtiger Schritt zu einer praktischen Umsetzung der Technologie zur Visualisierung von Gedanken sein. Man könnte unter anderem besser verstehen, was in Menschen vorgeht, die sich nicht verbal äußern können, beispielsweise Schlaganfallopfer oder Komapatienten. Oder gelähmte Menschen erhalten über eine Schnittstelle die Möglichkeit, Computer mit ihrem Verstand zu steuern.

Quelle: ntv.de



Aus: "Bilder aus MRT-Scans KI kann offenbar Gedanken lesen" Klaus Wedekind (06.03.2023)
Quelle: https://www.n-tv.de/technik/KI-kann-offenbar-Gedanken-lesen-article23964171.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Was Forschenden in San Francisco gelungen ist, klingt nach Science Fiction: Eine Frau, die nach einem Schlaganfall gelähmt war und deshalb nicht mehr sprechen konnte, redet nun dank eines Avatars wieder mit ihren Mitmenschen. Denn der Avatar auf einem Bildschirm spricht aus, was die Frau sagen möchte. 

Der Avatar ist mit einem Chip verknüpft, der im Gehirn der Frau auf der Oberfläche der motorischen Sprachrinde sitzt. Er zeichnet dort die elektrische Aktivität der Nervenzellen auf. Mithilfe einer künstlichen Intelligenz (KI) ist es den Forschenden gelungen, aus diesen elektrischen Signalen Sprachinformationen zu entschlüsseln. Ihre Arbeit hat die Gruppe aus San Francisco jetzt in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht. Auch die New York Times berichtete über den Fall der kanadischen Patientin, die Ann Johnson heißt und ihre Sprache wiedergefunden hat.

Doch die Gruppe ist mit ihrem Erfolg nicht allein. Denn gleichzeitig gelang es Forschenden der Stanford University ebenfalls mithilfe eines Gehirnchips und künstlicher Intelligenz, die Sprache eines Mannes zu decodieren, der aufgrund einer amyotrophen Lateralsklerose (ALS) nicht mehr selbst sprechen konnte. Die Studie erschien zeitgleich in Nature. 

Viele Fachleute sehen in den beiden Arbeiten einen großen Fortschritt der neurowissenschaftlichen Forschung. "Die Ergebnisse dieser Studien sind enorm beeindruckend", sagt der Neurologe und Neurowissenschaftler Simon Jacob, der an der TU München selbst an sogenannten Gehirn-Computer-Schnittstellen bei Schlaganfallpatienten forscht. Vor allem die Schnelligkeit und Präzision der Decodierungs-KI sei im Vergleich zu dem, was bislang möglich war, eine enorme Entwicklung.

78 Wörter pro Minute kann die Kanadierin Ann Johnson mithilfe des Gehirnchips und ihres KI-Avatars sprechen. Zwar nicht immer korrekt – noch ist jedes vierte Wort fehlerhaft. Doch für Fachleute wie Jacob ist klar: "Von null auf über 70 Wörter – das ist ein Quantensprung." Zum Vergleich: Ein gesunder Mensch verwendet im Schnitt 160 Wörter pro Minute. Jacob ist überzeugt, dass die Technologie künftig noch besser werden und auch die Fehlerquote weiter deutlich sinken wird.

Damit Ann Johnson wieder sprechen konnte, musste sie sich zunächst einer OP unterziehen, in der Neurochirurgen ihr eine Art Silikonfolie mit Sensoren auf die Gehirnoberfläche setzten. Anschließend begann sie, die KI zu trainieren. Immer wieder stellte sie sich dabei vor, bestimmte Dinge zu sagen. In ihrem motorischen Sprachhirn aktivierte sie damit Nervenzellen, die eigentlich elektrische Bewegungsimpulse an Mund, Lippen, Kiefer, Zunge oder Kehlkopf senden. Diese Übertragung funktioniert bei ihr seit dem Schlaganfall nicht mehr, weil ihre Sprechmuskulatur gelähmt ist. Aber ihr Sprachhirn kann die Impulse noch immer senden und genau dieses elektrische Aktivitätsmuster nimmt nun der Chip auf ihrer Hirnoberfläche auf. Eine KI verarbeitet das Muster dann weiter.

Wie genau diese Decodierung der elektrischen Muster in gesprochene Sprache funktioniert, sei ziemlich komplex, sagt Jacob. Grundsätzlich übersetze die KI aber nicht nur Wort für Wort, sondern erkenne auch größere sprachliche Zusammenhänge. Im Falle von Ann Johnson versuchten die Forscher allerdings nicht nur die Informationen für Sprache, sondern auch die für ihre Mimik aus der Hirnaktivität zu entschlüsseln. In einem Video, das die New York Times veröffentlichte, sieht man, wie Johnson es schafft, ihren Avatar zum Lächeln zu bringen. 

Die Gruppe aus San Francisco schaffte es gar, die Stimme des Avatars ähnlich klingen zu lassen, wie einst Ann Johnson selbst sprach. Dafür verwendeten sie einen viertelstündigen Mitschnitt einer Hochzeitsrede. Johnson, die heute 48 Jahre alt ist, sagte gegenüber der New York Times, es sei sehr bewegend, eine Stimme zu hören, die der eigenen ähnlich sei. "Es gab mir das Gefühl, wieder ein ganzer Mensch zu sein."

Bei allem Optimismus gebe es jedoch auch wichtige Einschränkungen, sagt Jacob. Denn bislang sind nur Daten von zwei Einzelfällen publiziert worden. Ob und für welche Patientengruppen sich die Technologie in Zukunft tatsächlich eigne, müsse sich erst noch in weiteren Studien mit mehr Teilnehmenden zeigen. Vor allem bei Schlaganfallpatienten ist der Neurologe skeptisch. Zwar hat die Technik bei Ann Johnson funktioniert. Doch häufig sei die Ursache für Sprachprobleme nach einem Schlaganfall nicht eine reine Lähmung der Sprechmuskulatur. "Meist weisen Schlaganfallpatienten größere Hirnschädigungen auf und haben deshalb auch Probleme mit dem Formulieren von sprachlichen Gedanken und mit dem Sprachverständnis", sagt Jacob. Wenn jemand aber nicht in der Lage sei, klare Sprachbefehle zu generieren, dann könne man auch mit noch so viel KI daraus nichts ablesen.

Dennoch ist Jacob optimistisch, dass immer mehr Patienten von der neuen Technologie profitieren könnten. "Vor allem, wenn wir sehen, welch enormen Fortschritt wir alleine in den vergangenen Jahren gemacht haben."

Mit diesem Fortschritt gehen allerdings auch Fragen einher, die das sensibelste Innere eines Menschen berühren: unsere Gedanken. Wenn Forschende schon heute einzelne Sprachelemente aus Gehirnaktivität rekonstruieren können, wie weit sind sie dann noch davon weg, unsere Gedanken zu lesen? "Zumindest noch ein ganzes Stück", sagt Jacob. Denn was die heutigen Modelle auslesen, seien nicht Gedanken, sondern vor allem ausgefeilte Bewegungsprogramme der Hirnrinde für alle möglichen Muskeln, die beim Sprechen benutzt werden.

"Das ist also kein Gedankenlesen", sagt er. Denn Gedanken würden im Gehirn auf einer sehr viel komplexeren Ebene stattfinden. Mit dem jetzigen Fortschritt halte er es aber für durchaus möglich, dass man in nicht allzu ferner Zukunft auch an diese tieferen Ebenen herankomme und möglicherweise auch Gedanken auslesen könne, sagt Jacob – denn auch die seien letztlich in elektrischen Mustern abgelegt. "Deshalb ist es wichtig, dass solche Forschungsarbeiten stets in einem interdisziplinären Umfeld geschehen – einem Feld aus Klinikern, Neurowissenschaftlern, aber eben auch Experten aus Ethik und Sozialwissenschaften."

Bei alledem sei noch etwas entscheidend, sagt Jacob. Die elektrischen Muster scheinen nämlich nicht universell und für jeden Menschen gleich zu sein. Jedes Hirn tickt etwas anders. Während dem einen beim Gedanken an Koriander das Wasser im Munde zusammenläuft, dreht sich dem nächsten der Magen um. Wenn eine KI also von einem Menschen trainiert wurde, heißt es nicht, dass sie auch die elektrischen Muster eines anderen Hirns auslesen kann. Die universelle Gedankenlesemaschine ist also – zum Glück – noch in sehr weiter Ferne. 


Aus: "Gehirn-Computer-Schnittstellen: Sie kann wieder sprechen" Tom Kattwinkel (24. August 2023)
Quelle: https://www.zeit.de/gesundheit/2023-08/gehirn-computer-schnittstellen-ki-sprache-schlaganfall/komplettansicht

Quotekrispetersen

Schon verrückt, dass das, was vor Jahrzehnten in Werken wie "Neuromancer" oder dem Cyberpunk-Universum erträumt wurde, immer realistischer wird. Ein bisschen mulmig wird mir beim Lesen solcher Meldungen aber schon. Hoffentlich vergessen wir in Zukunft die Ethik nicht. Für die erkrankten Personen und ihre Liebsten ist die Erfindung aber auf jeden Fall ein Segen. Dafür gebührt den Forschern und Ingenieuren Dank.


Quoteoverthehilll

Technisch gesehen ist das eine bemerkenswerte Leistung in allen beteiligten Einzeldisziplinen. Und fraglos ein Segen für die PatientInnen.
Gesellschaftlich ein weiterer Dammbruch der Kraft, die stets das Gute will. ...


QuotePanther138

Eine gute Nachricht. Ich freue mich für die Frau. ...


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