[...] Langsam jedoch stellen müde gewordene Dreißigjährige fest, dass ihnen das Ausgehen und das Herumhängen in Plattenläden nicht mehr ganz so leicht fällt. Der Freudenspender Popmusik taugt für das eigene Leben in erster Linie nur noch als Prozac-Ersatz und wird vor allem als Folie gebraucht, auf der der Broterwerb organisiert sein will. Da hilft es enorm, wenn man ungestraft von früher erzählen darf oder hier und da über außermusikalische Dinge reflektieren kann. Das vermeintliche Ende der Jugendkultur, die Entdeckung der Vierzigjährigen als Käuferschicht und die Erfindung des Alters als der besseren Lebenshälfte sind Ausdruck dieser tief verankerten Sinnkrise. Und die Berichterstattung über die - zu Recht in Trümmern liegende - Musikindustrie ist für den Popjournalismus genau das, was Brecht/Weill-Interpretationen für in die Jahre gekommene Sängerinnen sind: eine als Weiterentwicklung verbrämte Zwischenstation an der Einbahnstraße von der Resignation in die Bedeutungslosigkeit.
[...] Niemand bestreitet, dass die Popmusik schon mal bessere Zeiten gesehen hat. Aber die viel zitierte Krise der Musikindustrie betrifft nur am Rande die Musik selbst. Sie ist in allererster Linie eine Krise der etablierten Distributionsformen und der ökonomischen Ausbeutung von Pop. Es gibt nach wie vor genreübergreifend spannende, interessante, gewagte, kaputte, mutige oder einfach nur schöne Musik. Das Problem dabei ist, dass wir es mittlerweile mit einem extrem heterogenen und ausdifferenzierten Feld zu tun haben und uns möglicherweise daran gewöhnen müssen, dass die Zeit der großen Verwerfungen erst mal vorbei ist. Die Popmusik ist nach über 40 Jahren Dauerrevolution erwachsen geworden und im Stadium ihrer ästhetischen Verfeinerung angekommen. Um diese zu diagnostizieren, bedarf es anderer Analysesysteme, eines genaueren Blickes. Es ist wenig hilfreich, wenn man dem Kranken übermüdet und mit schlecht übersetzten alten Lehrbüchern auf die Pelle rückt und direkt den Leichenwagen bestellt, nur weil der Patient schlecht riecht und sich nicht mehr schnell genug bewegt.
Aus: "Die Neokons der Popkritik" Auf in die Vergangenheit: Die bürgerliche Popkritik ruft zur neokonservativen Sinnstiftung und reaktiviert dafür einen zwanzig Jahre alten Popbegriff. Wo einst bedingungslos die Oberfläche gefeiert wurde, soll auch heute wieder Glamour sein. Die feinen Unterschiede bleiben dabei auf der Strecke / Von STEFFEN IRLINGER (taz vom 22.5.2004, S. 20, 382 Z.)
Quelle:
http://www.taz.de/pt/2004/05/22/a0256.1/text-:-
[...] Thomas Gross verkündete in der Zeit vom 22.02.2007 anlässlich der neu gestalteten / besetzten Spex das Ende der Bescheidwisser – die Popkritik müsse angesichts der neuen, virtuellen Informationsströme ihre Position als Instanz abgeben und sich vielmehr darauf konzentrieren, einen slow journalism anzugehen, der sich vom traditionellen Eurozentrismus ebenso emanzipiert wie von dem Gedanken der Vollständigkeit. Zitiert wird dabei Boris Groys, der sagt: Der Kritiker ist ein Zeigender.
Darauf antwortete nun gestern (mit allerlei schwerem Geschütz – Bourdieu etc.) in der taz Diedrich Diedrichsen, also einer der Wenigen, die sich vielleicht noch als Instanz bezeichnen dürfen, und das im Rahmen einer Besprechung der neuen Platte von Air. Popkritik müsse den engen Spielraum der Bemusterungsnormalität durchbrechen, sei aber weiterhin notwendig, nicht zuletzt, weil die Mentalität bloßen Zeigens keine über die eigene Subjektivität hinausgehende, politisch-kulturelle Relevanz besitze und somit nichts in der Hand hat gegen die Dominanz von reaktionären Ideen im Impliziten heutiger Pop-Musik. [Der Kritiker] darf ja nicht argumentieren, geschweige denn werten, er soll ja nur zeigen.
Rede, Gegenrede – es wäre wünschenswert, dass daraus tatsächlich eine breit geführte Debatte entsteht, die nicht - wie bei den letzten Ansätzen - bei der Feststellung stehenbleibt, dass Blogs einfach schneller sind bzw. die Spex früher besser war.
Aus: "Popkritik-Debatte" (10. März 2007)
Quelle:
http://www.echoes-online.de/blog/index.php?/archives/438-Popkritik-Debatte.html-.-
"Das Ende der Bescheidwisser" Die Allgegenwart von Musik hat die Popkritik in eine Krise gestürzt. Im Streit um »Spex«, einst das wichtigste deutsche Musikmagazin, zeigt sich die Sehnsucht nach alten Verbindlichkeiten. Doch der Kritiker als Stilpapst hat ausgedient
Von Thomas Gross (22.02.2007)
Quelle:
http://zeus.zeit.de/text/2007/09/Musikkritik-.-
[...] Kein Erhabenheitsschwindel mehr im Angesicht des absoluten Nichts kapitalistischer Kultur.
Aus: "Den Einsatz erhöhen!" - Kritisieren heißt, einen Unterschied zu machen. Und davon zu sprechen, was man politisch und kulturell für wünschenswert hält. Aus Anlass von "Pocket Symphony", dem neuen Album des Pariser Duos Air: einige Gedanken zum Stand der Popkritik /
VON DIEDRICH DIEDERICHSEN" DIEDRICH DIEDERICHSEN (taz vom 9.3.2007, S. 15, 323 Z. (Kommentar))
Quelle:
http://www.taz.de/pt/2007/03/09/a0219.1/text-.-
[...] Der Begriff Popkultur als Kulturtechnik kennzeichnet eine Strömung, die seit dem beginnenden 20. Jahrhundert für ein kulturelles und gesellschaftspolitisches Phänomen steht, das auch unter dem Begriff Massenkultur subsumiert wird. Durch den gesamtgesellschaftlichen Charakter ist Popkultur (kurz: Pop) nicht bloß eine kulturelle Sparte unter vielen, sondern kennzeichnet eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung westlicher Wert- und Moralvorstellungen, die nahezu alle kulturellen Sparten umfasst. Popkultur nahm ihren Ursprung in den Anfängen der Industrialisierung und den mit ihr einhergehenden strukturellen Veränderungen.
[...]
Popkultur folgt verschiedenen Mechanismen:
* Ambivalenz: scheinbare Gegensätze werden aufgehoben: Massen-/Elitekultur, Kunst/Kapitalismus, Virtualität/Realität, Glokalisierung, Prosumer, Technologie/Emotion, etc.
* Aktualitätsprinzip und das Streben nach Neuem: Up to date zu sein, ist essentiell. Meistens erscheinen die Ideen revolutionär und/oder einfach. Oft wird auch Altes wiederholt, aber stets überreizt wiedergegeben. Die Popkultur folgt also dem Modeprinzip.
* Gebrauch der Medien: Sie sind das zentrale Darstellungs- und Hilfsmittel zur Distribution der Hervorbringungen der Popkultur. Durch sie werden die Konsumenten beeinflusst und/oder interaktiv miteinbezogen, z. B. bei Wikipedia, Ebay oder Podcasts. Wegen zunehmendem cocooning der heutigen Gesellschaft wächst die Macht der Medien und Marken kontinuierlich, z.B. durch branded entertainment.
* Ständige Grenzüberschreitungen, schnelle Veränderung und ein damit verbundenes subkulturelles und revolutionäres Image, das ausgehend von der früheren Popbewegung heute von großen Marken benutzt wird.
* Befriedigung des Bedürfnisses nach Spaß und intensiven Erlebnissen.
[...]
Zur Theorie der Popkultur lassen sich im wesentlichen zwei Ansätze unterscheiden. Zum einen die Kritische Theorie, die vor allem auf Adorno und die Frankfurter Schule zurückgeht, zum anderen die Cultural Studies, die sich auf das Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) stützen. Auf der Seite der Kritischen Theorie ist vor allem das Kapitel Kulturindustrie in Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung zu nennen, auf der Seite der Cultural Studies haben sich Autoren wie John Fiske, Stuart Hall, Dick Hebdige und Lawrence Grossberg hervorgetan.
Die Cultural Studies untersuchen Kultur im eigentlichen Sinne, ohne wie bei der Kritischen Theorie auf einen gemeinsamen ideologischen Kern zurückzugreifen. Diese wissenschaftliche Disziplin hat sich interdisziplinär weiterentwickelt und eint verschiedenste Lesarten. In den Cultural Studies werden partikulare und lokale Erscheinungen auf ihren Zusammenhang mit sozialstrukturellen Merkmalen, wie z. B. Ethnie, Klasse, Schicht, Gender und sexuelle Orientierung hin untersucht.
Cultural Studies erforschen die Bedeutung von Kultur als Alltagspraxis. Diese Bedeutungen werden als sozial konstruiert aufgefasst. In seiner extremsten Form wird alles als Kultur aufgefasst, was im Zusammenhang mit menschlicher Sprache entsteht und somit einen soziokulturellen und zivilisatorischen Ursprung hat. Die Kritik an den Cultural Studies hinterfragt den Erkenntnisgewinn durch die genannten Ergebnisse.
Die These der Totalitätstheorie der Kulturindustrie Adornos und Horkheimers analysiert die gesellschaftlichen Verhältnisse der 1940er Jahre. Ihre These ist keine kulturkritische, sondern eine gesellschaftskritische Theorie. Die Form der ökonomischen Analyse ihrer Theorie genießt heute keine Aktualität mehr. Sie stellen Kapitalismus als einen ausweglosen, sich in monopolkapitalistischer Formation verdichtenden Block dar. Aktualität wird hingegen der Diagnose des Spätkapitalismus zugerechnet. Adorno und Horkheimer gehen davon aus, dass sich Kapitalismus zum allgegenwärtigen System entwickelt hat. Darin habe sich fortwährend die Idee der Nische aufgelöst. Die Autoren haben diese Erkenntnis auf die einfache Formel gebracht: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“
Aus: "Popkultur" (03/2007)
Quelle:
http://de.wikipedia.org/wiki/Popkultur