[...] Identifikation mit der Kamera bedeutet hier nicht Identifikation mit dem „Künstler hinter der
Kamera“, wie Eisenstein Balázs 1926 unterstellte (und darüber wird noch zu sprechen sein), sondern
mit dem Apparat des Kinos, seiner gesamten Anordnung, der Herstellung wie der Projektion.
Identifikation mit der Kamera heißt Identifikation mit dem Subjekt des Films, das von seinen Bildern
vollständig absorbiert, unsichtbar gemacht worden ist. An seine Stelle tritt der Zuschauer selbst. „Der
Zuschauer, libidinös mit sich selbst als reiner Kraft der Wahrnehmung identifiziert, wird ganz Auge [...].
[...] Kontakt auf Distanz lautet die Formel, die auch Christian Metz für die „Leidenschaft der
Wahrnehmung“, die Lust des Voyeurs konstatiert: Der Voyeur achtet peinlich darauf, einen
Abstand zu wahren, einen leeren Raum zwischen seinem Objekt und seinem Auge. Sein Blick heftet
das Objekt in der richtigen Entfernung fest, so wie der Zuschauer im Kino, der darauf achtet, nicht zu
nah und nicht zu weit von der Leinwand entfernt zu sitzen. Diese Entfernung darf nicht aufgehoben
werden. Die Gefahr, vom Objekt überwältigt zu werden, wäre gleichbedeutend mit der, das Objekt
selbst zu verschlingen, es nicht mehr sehen zu können.87 So hält die Augenlust die Waage zwischen
dem erotischen Vereinigungswunsch und dem Wunsch nach intakten Körpergrenzen.
[...] „Der Kinobesucher folgt den Bildern auf der Leinwand in einem traumartigen Zustand“, schreibt
Siegfried Kracauer in der Theorie des Films. Und er formuliert damit nur einen Gemeinplatz der
Kinotheorie. Auch Edgar Morin beschreibt das Kino wie einen Traum. „Der Film führt die Welt des
Traumes mitten in die filmische Welt des Wachzustandes“:
„Wir treten in die Dämmerung einer künstlichen Höhle. Tanzend fällt leuchtender Staub auf eine
Leinwand; unsere Blicke verlieren sich in ihm; er nimmt Körper und Leben an; er zieht uns mit sich in
ein schweifendes Abenteuer: Wir überwinden Zeiten und Räume, bis eine feierliche Musik die
Schatten von der wieder weiß gewordenen Bildwand verscheucht hat. Wir gehen hinaus, und wir
sprechen über Vorzüge und Fehler eines Films.“
[...] die Beobachtung, dass die Struktur der Filme und der Träume auf ähnlichen
Mechanismen zu beruhen scheinen, jenen Mechanismen, die Sigmund Freud in der 'Traumdeutung'
und den damit verbundenen einzelnen Aufsätzen seit Beginn des Jahrhunderts identifiziert und
beschrieben hatte: Verschiebung, Verdichtung und Rücksicht auf Darstellbarkeit, also
Verbildlichung. Christian Metz hat, von diesen Mechanismen ausgehend, versucht, mögliche
Gesetze der Beziehung zwischen Verdichtung und Verschiebung einerseits, und Formen der
Metapher und Metonymie andererseits im Film zu identifizieren und zu analysieren. Hier aber geht es
um die Beziehung zwischen der beobachteten Regression des Subjektes und der Besetzung der
geschauten oder halluzinierten Bilder, die Formen der Objektbesetzung im Kino - jenen Vorgang
also, den Edgar Morin, an Lévy-Bruhl anknüpfend, als Verwandlung von Projektion und
Identifikation in emotionale Partizipation zu beschreiben versucht hat. Auch Morin vermochte
freilich die Frage danach nicht zu klären, welchen Ort die von ihm „filmische Partizipation“ genannte
Synthese von Veräußerlichung und Einverleibung - von Projektion einer Vorstellung in die uns
umgebende Objektwelt und Identifikation mit dem Geschauten - zwischen Traum und Wachen,
Wirklichkeit und Halluzination einnimmt.
Aus: "Medium und Initiation - Béla Balázs: Märchen, Ästhetik, Kino" (Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Universität Konstanz vorgelegt von Hanno Loewy aus (Frankfurt am Main; 1999))
Quelle:
http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=958461252&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=958461252.pdf