[...] Der Iran hat Kritik der Europäische Union am Vorgehen gegen die andauernden Proteste im Land zurückgewiesen. «Das ist Einmischung in die internen Angelegenheiten des Irans und Unterstützung von Krawallmachern», sagte Außenamtssprecher Nasser Kanaani. Der Fall Mahsa Amini werde derzeit untersucht, aber die EU und der Westen ignorierten diese Tatsache und unterstützten Unruhestifter, die die Sicherheit des Irans gefährdeten.
Auslöser der seit neun Tagen anhaltenden regimekritischen Proteste im Iran ist der Tod der 22 Jahre alten Mahsa Amini. Sie war von der Sittenpolizei wegen eines Verstoßes gegen die strenge islamische Kleiderordnung festgenommen worden und am 16. September unter ungeklärten Umständen verstorben.
Indessen beeinträchtigt eine massive Internetsperre im Iran die Verbreitung von Informationen über die Proteste im Land stark. Demonstranten können beispielsweise weniger Videos und Informationen in sozialen Medien posten. Augenzeugen berichteten aber, dass Menschen in der Nacht zum Montag in verschiedenen Teilen der Hauptstadt Teheran gegen die iranische Führung protestiert hatten. «Islamische Republik wollen wir nicht, wollen wir nicht» war einer der meist gehörten Slogans.
Augezeugen berichteten weiter, dass die Polizei einige Hauptstraßen in Teheran blockierte, um eine Ausweitung der Proteste zu verhindern. Auch waren Schüsse zu hören, unklar jedoch, ob in die Luft oder auf Demonstranten. Viele Teheraner lassen auch die Eingangstüren ihrer Gebäude offen, damit Demonstranten sich vor den Sicherheitskräften verstecken können.
Die lokale Presse berichtet entweder überhaupt nicht über die Proteste oder sie reflektiert lediglich den Standpunkt der Regierung. Mehrere iranische Reporter wurden nach Angaben des Journalistenverbands wegen ihrer kritischen Berichterstattungen über die Proteste entweder verhaftet oder mit rechtlichen Konsequenzen verängstigt.
Für Iraner sind daher nur die sozialen Medien und die persischsprachigen Nachrichtensender im Ausland Nachrichtenquellen. Aber die massiven Einschränkungen des Internets haben auch den Zugang zu diesen Quellen erheblich erschwert.
Dementsprechend gibt es auch keine neuen Angaben zu der Anzahl der Toten oder Festgenommenen. Bislang war inoffiziell von über 40 Toten und über 1000 Festnahmen in zwei Provinzen im Nordiran die Rede. Beobachter befürchten jedoch weitaus mehr Tote – sowohl auf der Seite der Demonstranten als auch der Sicherheitskräfte – und auch eine große Festnahmewelle.
Immer mehr iranische Prominente schließen sich den Protesten an. Einheimische Fußball- bis hin zu Filmstars kritisieren die aggressive Vorgehensweise der Führung gegen die Demonstranten. Besonders aktiv ist der iranische Fußballstar und ehemalige Bundesliga-Profi Ali Karimi. Wegen seiner offenen Kritik sollen nun seine Bankkonten eingefroren werden.
Auch der Regisseur und zweifache Oscarpreisträger Asghar Farhadi und andere renommierte Filmstars sympathisieren mit den Demonstranten. Die Hardliner im Land haben daher ein Arbeitsverbot für all diejenigen Künstler gefordert, die sich auf die Seite der Demonstranten stellen.
Das Auswärtige Amt in Berlin bestellte den iranischen Botschafter ein. Das Gespräch werde an diesem Montagnachmittag stattfinden, teilte ein Sprecher des deutschen Außenministeriums in Berlin mit. Zudem betonte er, man werde auf EU-Ebene rasch über alle Optionen einer Reaktion beraten.
Zuvor hatte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell im Namen der 27 Mitgliedsstaaten erklärt, der unverhältnismäßige Einsatz von Gewalt gegen gewaltlose Demonstranten im Iran sei nicht zu rechtfertigen und nicht hinnehmbar.
Die EU forderte, dass der Iran die Zahl der Toten und Verhafteten klären, alle gewaltlosen Demonstranten freilassen sowie den Inhaftierten ein ordnungsgemäßes Verfahren gewähren müsse. Der Tod von Amini müsse ordnungsgemäß untersucht und die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Zugleich drohte die EU vage mit möglichen Sanktionen gegen das Land.
Aus: "Iran weist EU-Kritik am Vorgehen gegen Demonstranten zurück" (26. September 2022)
Quelle:
https://www.radio-bamberg.de/iran-weist-eu-kritik-am-vorgehen-gegen-demonstranten-zurueck-10063597/https://www.radio-bamberg.de/berichte-mehr-als-40-tote-bei-protesten-im-iran-10058722/-
[...] BERLIN taz | Eine Gruppe bewaffneter Soldaten patrouilliert durch die leeren Straßen einer Wohngegend am späten Abend. Ein kleiner Junge beobachtet sie aus einem Fenster, ein Erwachsener steht neben ihm und schiebt die Gardine vorsichtig zur Seite. Sekunden später zielt einer der Soldaten auf das Fenster und schießt. Der kleine Junge duckt sich daraufhin schnell vom Fenster weg. Das zeigt ein Video vom 23. September auf den sozialen Medien. Der Ort? Die kurdische Stadt Bokan in der Provinz West-Aserbaidschan im Nordwesten des Iran.
Seit dem Tod der 22-jährigen Kurdin Zhina Amini am 16. September wüten massive Proteste in über 40 Städten im Iran. Begonnen haben die Proteste in Seqiz, Aminis Heimatstadt in der Provinz Kurdistan im Westen des Landes. Hier vermischt sich die Wut über den Tod Aminis mit der Kritik an der systematischen Diskriminierung der Kurd*innen.
Die Proteste weiten sich schnell auf andere kurdische Städte wie Urmia, Sardascht, Sine/Sanandaj und Bokan aus. Mittlerweile trägt nahezu das gesamte Land die Proteste mit. Neben Forderungen zur Abschaffung des Verschleierungszwangs rufen neben Kurd*innen auch Perser*innen, Araber*innen, Aserbaidschaner*innen und Belutsch*innen Seite an Seite Parolen gegen das repressive Regime.
Dabei kommt es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant*innen und Sicherheitskräften. Bislang unbestätigte Videos in den sozialen Medien zeigen nicht nur das Ausmaß der Gewalt, sondern auch den revolutionären Charakter der Protestwelle, insbesondere in den kurdischen Städten. Einige kurdische Social-Media-Accounts verbreiteten am Freitagabend die Nachricht, dass die kurdische Stadt Shino sich der Kontrolle des iranischen Staates entzogen habe.
Die erste kurdische Republik wurde immerhin 1947 im nur 95 Kilometer von Shino entfernten Mahabad ausgerufen, erinnern die Politikwissenschaftlerin Dastan Jasim und Journalist Pedram Zarei in Analyse & Kritik. Mittlerweile sei die Stadt wieder unter militärischer Kontrolle des Regimes. Das berichtet Hengaw, eine in Oslo ansässige Menschenrechtsorganisation. Solche Berichte können bis dato nicht unabhängig überprüft werden. Laut der Menschenrechtsorganisation Iran Human Rights (IHR) sind seit dem Beginn der Protestwelle mindestens 54 Menschen ums Leben gekommen und mehrere Hunderte verletzt oder verhaftet worden, Tendenz steigend.
Die landesweiten Proteste schlugen laut Onlinevideos immer wieder in Gewalt um. Die Repressionen sind besonders stark in den kurdischen Gebieten. In Piranschahr, Mahabad und Urmia schossen die Sicherheitskräfte den Aufnahmen zufolge mit scharfer Munition auf unbewaffnete Demonstranten. Die meisten Getöteten sind daher Kurd*innen, wie die 20-jährige Hadis Najafi* in Urmia am Wochenende.
Die kurdischen Regionen sind weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten. Vergangene Woche hat die Regierung das Internet im ganzen Land weitgehend lahmgelegt. Betroffen ist vor allem die Provinz Kurdistan, berichtet das Projekt Netblocks.org. Unbestätigten Berichten zufolge soll dort der Ausnahmezustand ausgerufen worden sein.
Am Samstag haben iranische Streitkräfte nach eigenen Angaben Stützpunkte kurdischer Separatistengruppen im benachbarten Nordirak angegriffen. Der militärische Angriff wurde als „legitime Reaktion“ auf vorherige Angriffe kurdischer Gruppen auf iranische Militärbasen im Grenzgebiet gerechtfertigt, wie die dem iranischen Militär nahestehende Nachrichtenagentur Tasnim berichtete.
Einige sehen in den Angriffen eine Reaktion auf die Proteste in den kurdischen Gebieten, denen es anscheinend laut sozialen Medien immer wieder gelingt die Streit- und Sicherheitskräfte des Regimes zu vertreiben. Irans Innenminister Ahmad Wahidi hatte zuvor einigen kurdischen Gruppen vorgeworfen, an den regierungskritischen Protesten der vergangenen Tage im Iran beteiligt gewesen zu sein. Laut der Regierung soll es auch kurdische Waffenlieferungen an Demonstrant*innen in den Kurdengebieten Irans gegeben haben.
Das iranische Regime bekämpft Kurd*innen im Iran seit Jahrzehnten mit Gewalt. Dass Zhina Aminis Tod das gesamte Land jedoch derart mobilisieren konnte, das hängt vor allem mit der Person Zhina Amini zusammen. Kurdische Expert*innen weisen auf die mehrfache Diskriminierung Aminis hin.
Ihre Herkunft spiele für die Proteste durchaus eine Rolle. Vor allem als Kurdin und als Frau aus einem wirtschaftlich schwachen Teil des Landes habe sie die historische Frustration und Wut im Land in sich vereinen können und so dazu beigetragen, dass auch viele weitere im Iran lebende Menschen gemeinsam Seite an Seite den kurdischen Slogan „Jin, Jiyan, Azadi“ (auf deutsch „Frau, Freiheit, Leben“) rufen und gegen ein jahrzehntelanges System der Diskriminierung und Gewalt protestieren. Aktivisit*innen sind überzeugt: Ohne Kurdistan, ohne Zhina Amini wäre dieser Protest womöglich nicht machbar gewesen.
*Anm. der Red: Auf Twitter war am Samstag vielfach ein Video geteilt worden, dass die 20-jährige Hadis Najafi mit offenem Haar auf dem Weg zu Protesten zeigen soll. Am Sonntag wurde die Meldung verbreitet, dass Hadis Najafi bei den Protesten durch sechs Kugeln getötet worden sei.
Aus: "Frauenrechte im Iran: Protest mit kurdischem Antlitz" Sham Jaff (25. 9. 2022)
Quelle:
https://taz.de/Frauenrechte-im-Iran/!5880010/-
"Proteste im Iran: Menschenrechtler gehen von mindestens 76 Toten aus" (27. September 2022)
Die Organisation Iran Human Rights wirft Irans Polizei vor, mit scharfer Munition auf Demonstrierende zu schießen. Das Militär fahndet nach "Anführern der Unruhen". ... Amiry-Moghaddam rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, entschieden und vereint konkrete Schritte gegen die Tötung und Folter von Demonstranten zu unternehmen. Der Organisation zufolge wurden in 14 Provinzen des Landes Todesfälle gezählt, 25 allein in Masandaran am Kaspischen Meer. In Teheran seien drei Tote zu beklagen, hieß es. Iranische Behörden meldeten mehr als 1.200 Festnahmen und mindestens 41 Tote, darunter zahlreiche Einsatzkräfte. ...
https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-09/iran-demonstranten-76-tote-ngo-polizei-schuesse