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[In der Wohnung gegenüber... ]

Started by Thomasio, October 11, 2007, 08:30:07 PM

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Thomasio

  Es gibt ein heimliches Verhältnis zwischen der Nachbarin in der Wohnung gegenüber und mir. Ich kenne nicht mal ihren Namen und weiß nicht, wie sich ihre Stimme anhört. Es ist wie ein  Stummfilm, an den ich tagsüber nicht denke, und der doch jeden Abend weiter geht. Wenn es dunkel wird und in ihrer Wohnung das Licht angeht, verbringen wir einige Stunden zusammen. Mein Schreibtisch steht am Fenster und ich kann, ohne mich verrenken zu müssen, direkt in ihr Zimmer sehen. Während ich am Computer sitze, liegt sie mir ihrer Katze auf der Couch, telefoniert oder zappt sich durch die Kanäle des Fernsehens. Bisweilen schenkt sie mir heimliche Spannerfreuden, indem sie nackt durch die Wohnung läuft, und ich glaube, dass es ihr insgeheim Spaß macht, dabei gesehen zu werden. Samstag Abend  kann ich sie lange dabei beobachten, wie sie sich nach ihrer Dusche ausgiebig abtrocknet, ihr schulterlanges Haar fönt, den Körper mit einer Bodylotion einreibt, ihre Ausgehklamotten nackt auf einem direkt vor dem Fenster positionierten Bügelbrett bügelt und minutenlang vor dem Spiegel Tanzschritte einübt. Wenn sie hinüber schaut, blicke ich konzentriert auf meinen PC Schirm, aber natürlich weiß sie es, dass ich da bin und sie beobachte. Mein Zimmer ist genauso einsichtig wie ihres. Schon unsere Abneigung gegen Gardinen verbindet uns. Wahrscheinlich beobachtet sie mich ebenso, wenn ich nackt durch die Wohnung laufe oder mir einen runter hole.
  Sie steht zur selben Zeit auf wie ich und wir treffen uns jeden Morgen an der Bushaltestelle, wo ich von meinem Arbeitskollegen abgeholt werde, während sie auf die Linie 22 wartet. Wir tun so, als würden wir uns nicht kennen und nichts voneinander wissen. Es gehört zu unserem Spiel. Nur manchmal kreuzen sich unsere verstohlenen Blicke und treffen in einer Zehntelsekunde des heimlichen Wissens aufeinander. Der Kontrast zwischen dem nonverbalen Einblick in die häusliche Intimsphäre und der darauf folgenden Anonymität am nächsten Morgen ist so stark, dass wir beide sofort wegschauen müssen. Ich glaube, es ist uns Beiden ein bisschen peinlich. Manchmal steigt sie als erstes in den Bus und ich schaue ihr nach, frage mich, was sie wohl arbeiten, wie sie den Tag verbringen, oder welche Areibeitsschikanen sie durchstehen würde, und manchmal werde ich früher abgeholt, und sie schaut mir nach, während sich in ihren Augen ähnliche Fragen aufdrängen. Wir bleiben fremd und erfahren nichts weiter voneinander, als dass wir wissen, wie der Andere aus der Nähe aussieht. Wir bleiben jeweils für den Anderen ein kleiner Teil der Phantasie und was immer ich mir vorstelle, wie das jeweilige abendliche Spiel mit einem unverhofften Klingeln an der Haustür durchbrochen werden könnte – letztendlich funktioniert es zwischen uns wohl nur auf dieser Art, indem wir nackt durch die hell erleuchtete Fenstereinsicht laufen, uns gegenseitig unsere voyeuristischen und exhibitionistischen Neigungen vorführen und mit dem Privaten und Öffentlichen jonglieren, ohne dabei irgendetwas erklären zu müssen. 
  Vor ein paar Tagen ist sie ausgezogen, und ich muss mir eingestehen, dass ich sie irgendwie vermisse.