Vor drei Jahren hatte ich einen Freund in Paris besucht, der einen schlecht bezahlten Job bei einem Weinhändler angenommen hatte, und bei dem ich zwei Wochen wohnen konnte. Es war im Winter gewesen, kurz vor Weihnachten. Tagsüber schlenderte ich durch die endlosen Boulevards und verschoss drei Schwarzweiß – Filme am Tag. Abends verkroch ich mich regelmäßig in einem runter gekommenen Jazz – Schuppen, der keinen Eintritt verlangte und den Rotwein in weißen Plastikbechern ausschenkte. Es war ein ehemaliges Kino, in dem allabendlich Musiker ihre Instrumente mitbrachten und zusammen spielten, bis der Wein alle war oder es zu kalt wurde. Die Heizung war ausgeschaltet, weil sie die Nebenkosten nicht mehr zahlen konnten, weswegen auf jedem Kinosessel eine Wolldecke lag. Dorthin verkrochen sich auch viele Obdachlose, die tagsüber auf den Lüftungsschächten lagen und sich an der heraus strömenden Luft wärmten.
Mein Weg zurück führte über den langen und zu jeder Tageszeit von Menschen überfüllten Boulevards Barbés, der mit seiner fiebrigen Unruhe dazu einlud, sich darin mit zielloser Sehnsucht zu verlieren. Mein Freund wohnte in der Rue Ordener, die im 18. Arrondissement lag, welches aufgrund von Gewalt und Straßenstrichen von einigen Leuten genauso gemieden wird wie sich andere davon angezogen fühlen. Vor der Tür des besagten Hauses, in dem mein Freund wohnte, gab es einen dieser mehr oder weniger versteckten Straßenstriche, die auf den ersten Blick nicht gleich gesehen werden. Schließlich sind Bordelle in Frankreich seit 1946 verboten, wodurch die Prostitution auf die Straße und in anonyme Treffs abgewandert ist. Prostitution an sich blieb weiterhin erlaubt, doch seit den neunziger Jahren verschärften sich die Verbote. `Aktives Werben` (direktes Ansprechen…) ist für Prostituierte sowie für Freier strafbar. Und seit 2003 kann sogar `Passives Werben` (anlächeln, Blickkontakt…) mit bis zu zwei Monaten Gefängnis bestraft werden.
Erst als ich aus der Wohnung im vierten Stock einen Blick auf die Straßenszene warf, konnte ich in allen Häuserecken die Prostituierten sehen, die heimlich mit den Freiern kommunizierten. Sie standen in kurzen Röcken fröstelnd in den Häusereingängen und versuchten trotz der Kälte sexy zu wirken. Autos fuhren langsam mit herunter gekurbelten Fenstern vorbei. Männer musterten Figur, Gesicht und Oberweite. Schließlich fällt die Wahl und sie steigt ein. Sie fahren hundert Meter weiter auf einen dunklen Parkplatz; Licht aus, Motor aus, Bezahlung, Hose runter. Danach steigt sie wieder aus und läuft zurück zur Straße. Der Freier schaltet das Autolicht erst ein, wenn er wieder auf die Straße fährt. Andere gehen zu Fuß um die nächste Ecke, lauern auf eine offene Haustür oder gehen hinter den nächsten Busch.
Als ich eines Abends mal wieder vom Jazzschuppen nach Hause schlenderte und um drei Uhr nachts die Haustür öffnete, bemerkte ich im Dunklen die Umrisse zweier Leute im Hausflur. Ich dachte zuerst an zwei Obdachlose, die sich dort zum Pennen nieder gelassen hatten, aber als ich das Licht anmachte, grinste mich die Frau an, die mir am Tag meiner Ankunft über die Schulter geguckt hatte, als ich den vierstelligen Code an der Haustür eingegeben hatte. Ich hatte ihr sozusagen unwissend den Haustürschlüssel gegeben. Sie hockte mit herunter gelassener Hose auf allen Vieren, während ein junger Typ, der soeben noch versucht hatte, sich die Hose anzuziehen, seinen Kopf wegdrehte und beschämt an die Wand starrte. Ein klassischer `doggystyle` neben den Briefkästen. Während er in Peinlichkeit versank, hörte sie nicht auf, mich anzugrinsen, und ich sagte `Bonsoir`, ging an ihnen vorbei und verschwand hinter der zweiten Haustür, wo ich mich natürlich noch mal umdrehte. Ich hörte sie etwas zu ihm sagen, worauf er da weiter machte, wo ich ihn unterbrochen hatte; in langsamen, gleichmäßigen Stößen.
Zwei Nächte später. Diesmal kam ich mit dem Fahrrad wieder, mit dem ich mich tagsüber in den zehnspurigen Kreisverkehr um den Triumphbogen gestürzt hatte. Es war dieselbe Hure wie vor zwei Nächten. Diesmal musste sie laut los lachen. Sie lag rücklings auf den Boden, während ein älterer, gut aussehender Mann auf ihr lag und sie mit einem etwas schnelleren Tempo durch nahm. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger blickte er nur einmal hoch, um kurz von mir Notiz zu nehmen, und ließ sich nicht weiter dabei stören. Ich hatte den Eindruck, dass ich mich dazu stellen und zusehen konnte, ohne dass sie etwas dagegen hätten.
Da sie in dieser Nacht quer auf den Boden lagen und ich mein Fahrrad dabei hatte, gestaltete es sich als etwas schwierig, samt Drahtesel über sie hinüber zu steigen.
„Ca va?“ fragte sie und rückte etwas, soweit es ihr Freier zuließ, zur Seite.
„Oui…, pas de probleme!“ sagte ich. „Ca marche.“
Sie lachte.