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["Moral ekelt mich an"... (Bruno Dumont)]

Started by Textaris(txt*bot), April 12, 2007, 12:59:02 PM

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Textaris(txt*bot)

,,Moral", hat Federico Fellini einmal zu Verstehen gegeben, sei ,,ein ständiger Kampf gegen die Rebellion der Hormone". ...
Aus: ,,Der Chronist der Dekadenz" Johann Ritter (27.12.2009), cineastentreff.de

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Quote[...] Anfangs habe ich Philosophie unterrichtet an Schulen. Ein glücklicher Lehrer war ich nicht. Diese ewige Erweckungsarbeit: Ich konnte verstehen, dass die Schüler sich sträubten. Wörter sind meist das debilste Mittel, um etwas auszudrücken. Im Film erreiche ich dasselbe Ziel auf andere Weise.

[...] Was läuft denn schon über das Denken? Der Mensch ist aus einem Körper gemacht, aus Sinneswahrnehmungen, alles folgt der Natur - das Wünschen, die Lust, die Gewalt, die Liebe. Moral hat da gar nichts verloren. Moral ekelt mich an. Und wenn das Publikum mich auspfeift, dann nehme ich das hin, wie damals den Tumult unter den Schülern.

[...] Meine Filme injizieren ein Serum, einen Impfstoff. Ich verabreiche bewusst die Krankheit, damit die natürliche Abwehr erwacht. Ich schockiere. Es ist dann am Publikum, Antikörper zu entwickeln.

[...] Kant hat gesagt, der Mensch sei ein krummes Holz. Das Bild hilft mir beim Handwerk des Filmemachens. Meine Filme sind so: verwachsen, krumm. In der Verzerrung, in der Ungeschicktheit, im Ungenauen steckt unsere Wahrheit.

[...] ,,Twentynine Palms" ist unverstellt autobiografisch, also gar kein eigentlich geistiges Werk, sondern folgt dem Zufall der Realität. Wobei auch hier die Wahrheit der Dinge erst im Bild entsteht, nicht aus den Dingen selbst. Ein Paar: Es fährt rum, es isst, es fickt, es guckt Fernsehen im Motel. Sehr primitiv, das alles. Nur den Schluss habe ich erfunden, um aus der Sache rauszukommen.

[...] Ich arbeite am liebsten mit Laien. Schauspieler sind immer schon bereit, ich aber will den Widerstand des Darstellers. Mit David war das kein Problem, er ist kein Profi, er fügte sich. Katia musste ich ausdrücklich am Spielen hindern. Ich zwang sie, eine Figur zu entwickeln, die ganz von ihr ausgeht. Nach zwei Tagen hatte ich sie so weit, aber dafür machte sie mir das Leben zur Hölle.

[...] Nein, ich bin kein verzweifelter Mensch. Ich habe nur einen Sinn für das Tragische.


Aus: ",,Moral ekelt mich an"" Der französische Regisseur Bruno Dumont und sein Film ,,Twentynine Palms" - Von Jan Schulz-Ojala
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/kultur/archiv/11.04.2007/3192961.asp

-.-

http://en.wikipedia.org/wiki/Bruno_Dumont


Textaris(txt*bot)

Quote[...] "Ich filme das, was ich nicht verstehe", sagt Bruno Dumont. Der 60-jährige Franzose erhielt beim Filmfestival in Locarno einen Ehren-Leoparden für sein Werk, das manchmal wunderlich, sehr oft verstörend und immer voller Neugier ist. "Wäre ich nicht neugierig, würde ich keine Filme drehen, denn das ist meine Triebkraft".
Dumont hat mit Filmen wie "L'Humanité" (1999) über ein brutales Sexualverbrechen oder auch "Flanders" (2006) über einen Mann mit traumatischen Kriegserlebnissen gezeigt, welche Themen ihm am nächsten liegen: Es geht um die Erforschung brutaler, extremer Gewalt ebenso wie um Sexualität und ihre Abgründe. ... "Ich sehe das Kino als eine Form der Konversation", erläutert Dumont seine Sicht auf die laufenden Bilder. "Diese Bilder stellen die Kommunikationsebene mit dem Zuschauer her, sie treten mit ihm in einen Dialog. Ich glaube, dass das Kino der Film unseres Innenlebens sein kann".

... Auffallend ist Dumonts jüngste Hinwendung zum Skurrilen, zur Komödie, die man in seinen früheren Arbeiten vergeblich suchte. "Ich habe erst vor einigen Jahren die Komödie für mich entdeckt. Ich glaube, dass jedes Drama, wenn man nur tief genug gräbt, am Ende aus einer Komödie entsprungen ist. Die Komödie ist ein gefallenes Drama, bleibt aber dennoch stets dramatisch".

...


Aus: "Bruno Dumont: "Kino ist Konversation"" (05.08.2018)
Quelle: https://www.wienerzeitung.at/themen/filmfestival-locarno/981055-Bruno-Dumont-Kino-ist-Konversation.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Emotional erleben wir Moralisierung einer bisher sachbezogenen Diskussion wie einen plötzlichen Ortswechsel aus gemäßigten Breiten in große Kälte oder Hitze. In diesen neuen Gefilden, so spüren wir, gelten andere Spielregeln als vor der Moralin-Injektion; es geht schlagartig und dramatisch um mich, nicht mehr um etwas, das sich in sicherer Entfernung außerhalb befindet.

...


Aus: "Das Gift der Moralisierung" Michael Andrick (10.02.2024)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/michael-andrick/debattenkultur-das-gift-der-moralisierung

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Am Tag nachdem der Film Chinatown am 20. Juni 1974 in den US-amerikanischen Kinos angelaufen war, schrieb Rex Reed in seiner Kolumne in der New York Daily News, dieser Film sei "so groß und spannend und unterhaltsam, dass in vielen Jahren, wenn wir einmal zurückblicken werden auf die wirklich wichtigen Filme der Siebzigerjahre, Chinatown wahrscheinlich der sein wird, an den wir die liebevollsten Erinnerungen haben werden". Der Kolumnist, Hollywoodstar-Interviewer und Schriftsteller Reed, könnte man hier einwenden, war allerdings auch ein sehr begabter Schwärmer. Sein noch ein bisschen erfolgreicherer Kollege Tom Wolfe hatte bereits 1973 in seinem Reader The New Journalism ein Interview von Reed mit Ava Gardner mit einem interessanten literarischen Vergleich vorgestellt: Reed, so Wolfe, schreibe sich selbst in Texte hinein auf eine Weise, wie es der Funktion von Nick Carraway in F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby entspreche. Carraway ist der Erzähler in Fitzgeralds Roman und eine völlige Nebenfigur: Carraway blickt liebevoll, aber halt von schräg unten auf den mysteriösen Protagonisten Jay Gatsby. Er schwärmt von ihm.

Mit dieser Erzählhaltung, von sehr weit schräg unten schwärmend, hätte man früher wohl auf Chinatown geblickt bei einem Anlass wie einem runden Geburtstag des Films. Täte man das heute so, würde man Rex Reed weitgehend recht geben, nur ungebrochen liebevoll ist die Erinnerung nicht: Selbst aus dem vielleicht großartigsten Jahrzehnt des US-amerikanischen Films, dem New Hollywood der Siebzigerjahre, ragt Chinatown als Kunstwerk bis heute heraus. Die Videos, in denen YouTuber weiter darüber diskutieren, ob Chinatown womöglich das beste Drehbuch aller Zeiten hatte, das perfekte Skript, sind Legion.

Das eigentlich Interessante und Bedenkliche an Chinatown für die Gegenwart aber ist, dass er geradezu idealtypisch in heutige Diskussionen über ältere Kunstwerke, ihr Zustandekommen und das außerkünstlerische Verhalten der beteiligten Kunstschaffenden passt. Kunst wird ja seit einigen Jahren verstärkt im Rückblick befragt danach, ob ihre Inhalte oder Ausdrucksweisen heute noch als akzeptabel gelten oder Menschen verletzen könnten; ob sie umgekehrt unter dem Eindruck des vermeintlichen Cancel-Zeitgeistes heute noch so gemacht werden könnte oder würde; und ob die zum Teil erst viel später bekannt gewordenen oder zumindest heute neu betrachteten Missetaten der Schöpfer von einst für groß gehaltenen Kunstwerken diese Kunstwerke rückwirkend beschmutzen, sie gar hinfällig machen.

Schon wegen zweier Schlüsselszenen in Chinatown, in denen Gewalt gegen eine Frau ausgeübt wird, könnte man den Film heute per se für problematisch halten. Und noch mehr könnte man es mit dem Wissen um das reale Gebaren gegenüber Frauen damals und vor allem später derjenigen Männer, die den Film gemacht haben: des Regisseurs Roman Polański, des Drehbuchautors Robert Towne, des Hauptdarstellers Jack Nicholson, des Produzenten Robert Evans. Nach heutigen Kriterien waren und sind sie, in unterschiedlicher Abstufung: böse Männer mit im Privaten, aber in Memoiren und Zeitzeugenberichten ausgebreitetem problematischen Sozialverhalten gegenüber Frauen. Und in Chinatown spielt überhaupt nur eine Frau eine wichtige Rolle, Faye Dunaway als Darstellerin einer Figur, die verzweifelt versucht, nicht weiter das Opfer zu sein, zu dem ein spezieller Mann sie gemacht hat, die übermächtige Vaterfigur.

Die US-Kulturjournalistin Claire Dederer hat genau diese Fragen, mit denen Kunstwerke der Vergangenheit heute befragt werden (können), und genau Roman Polański zum Ausgangspunkt ihres im vergangenen Jahr erschienenen Sachbuchs Monsters: A Fan's Dilemma (auf Deutsch Genie oder Monster: Von der Schwierigkeit, Künstler und Werk zu trennen) gemacht.

Für ein eigentlich anderes Buchprojekt hatte Dederer lange zuvor noch einmal alle Filme Polańskis gesehen, zu dessen Schaffen Filme gehören, die man in der Zeit ihrer Entstehung allgemein für Meisterwerke hielt, neben Chinatown vor allem Rosemaries Baby (1968) und Der Pianist (2002). Bereits im Jahr 2017 hatte Dederer in einem Essay in der Paris Review dargelegt, dass sie beim Betrachten der Polański-Filme eingeschüchtert gewesen sei von der "Ungeheuerlichkeit" des Regisseurs, seiner Monsterhaftigkeit: "Sie war monumental, wie der Grand Canyon. Und trotzdem. Als ich seine Filme anschaute, war deren Schönheit eine andere Art von Monument, undurchlässig für seine Missetaten."

Roman Polański ist Holocaustüberlebender und musste als Gatte im Jahr 1969 etwas ertragen, was eigentlich unerträglich ist: Seine Ehefrau Sharon Tate und ihr gemeinsames ungeborenes Kind wurden von Mitgliedern der Manson-Sekte ermordet.
Und Roman Polański hat im Jahr 1977, drei Jahre nach dem Kinostart von Chinatown, einem damals 13-jährigen Mädchen namens Samantha Gailey nach deren Aussagen in Los Angeles – im Haus von Jack Nicholson (der nicht anwesend war) – Champagner und Pillen eingeflößt, sie zu Nacktaufnahmen im Pool überredet und sie anschließend vergewaltigt.

Polański wurde damals von der Polizei in Gewahrsam genommen. In einer außergerichtlichen Vereinbarung hat er eingestanden, sich des Verbrechens "widerrechtlichen Geschlechtsverkehrs mit einer Minderjährigen" schuldig gemacht zu haben – in keinem denkbaren Rechtsverständnis, nicht 1977 und nicht 2024, ist Sex mit einer 13-Jährigen kein Verbrechen (und allenfalls später eine Frage der Verjährungsfristen). Polański hat sich durch Flucht aus den USA einer Anklage entzogen, er lebt seither in Frankreich; alle Auslieferungsanträge der US-Justiz auch an die Schweiz und Polen bei Reisen Polańskis dorthin blieben erfolglos. Roman Polański ist nie bestraft worden für das, was er getan hat. Und es gibt weitere Anschuldigungen: Im kommenden Jahr soll in den USA ein Zivilprozess wegen eines anderen Vergewaltigungsvorwurfs einer anderen Frau gegen Polański beginnen, der soll die Tat im Jahr 1973 begangen haben. Eine weitere Frau warf Polański vor fünf Jahren vor, er habe sie 1975 vergewaltigt. 2010 beschuldigte eine noch weitere Frau Polański, sie in den Achtzigerjahren vergewaltigt zu haben, sie sei zum Zeitpunkt der vermeintlichen Tat 16 Jahre alt gewesen. Und 2017 folgte ein weiterer Vergewaltigungsvorwurf, diese Frau sagte, sie sei 1972 Opfer von Polański geworden, sie sei damals 15 Jahre alt gewesen. Die Fülle und Schwere der Anschuldigungen Roman Polański sind wahrlich monströs.

Samantha Gailey – heute Geimer – hat im Jahr 2013 ihre Memoiren veröffentlicht. Deren Titel The Girl. A Life in the Shadow of Roman Polański enthält bereits die niederschmetternde Erkenntnis, dass die öffentliche Wahrnehmung des ganzen Lebens eines ansonsten unbekannten weiblichen Verbrechensopfers überschattet sein kann von der Bekanntheit eines männlichen Täters. Das Opfer bleibt in dieser Perspektive immer weiter das Mädchen, dessen Schicksal an eine Gewalttat gekettet bleibt. Zugleich hat Geimer in Interviews – im vergangenen Jahr sogar in einem mit der Ehefrau Polańskis, Emmanuelle Seigner – betont, dass sie Polański nichts mehr vorwerfe. Sie sagte, es sei eine "schreckliche Bürde" für sie, immerzu wiederholen zu müssen, dass die Vergewaltigung "keine große Sache" für sie gewesen sei und ihr unmittelbar nach dem Geschehen nicht einmal klar gewesen sei, dass dies ein Verbrechen gewesen sei: "Mir ging es gut, mir geht es immer noch gut."

Wenn ein mutmaßliches Opfer einem mutmaßlichen Täter vergibt, ist damit dann alles gut? Nicht nur zwischen diesen beiden, sondern auch für die Öffentlichkeit, selbst wenn die dieses Vergeben womöglich nicht verstehen, gar anstößig finden könnte? Was ist das Vergeben eines mutmaßlichen Opfers wert, wenn der mutmaßliche Täter nie strafrechtlich zur Konsequenz gezogen wurde? Ist das künstlerische Schaffen eines einst Teilgeständigen wie Polański, wenn es durchs Vergeben des Opfers einer Straftat nicht einmal mehr vom Künstler getrennt werden müsste, automatisch rehabilitiert? Oder ist die ganze Diskussion eine große, falsch moralisierende Schimäre, und wer Skrupel beim Betrachten von Kunstwerken hat, egal aus welchen Gründen, soll sich halt ein anderes Hobby zulegen als Filmegucken – oder sich verdammt noch mal zusammenreißen und die Realitäten der Welt zur Kenntnis nehmen, ihre vielleicht bedauerliche, aber unvermeidliche Ungerechtigkeit?
Genau um die Ungerechtigkeit der Welt aber und wie unerträglich die ist: Darum geht es im Kern in Chinatown. An diesem 50 Jahre alten Kunstwerk lassen sich also paradoxerweise auch heutige Gerechtigkeitsfragen sehr gut verhandeln.

[...] Das eigentliche Symbol des Bösen in Chinatown ist der reiche Weiße Noah Cross als Vertreter und Verkörperung eines kapitalistischen Systems, das immerzu den belohnt, der vor absolut nichts zurückschreckt, nicht vor Land- und Ressourcenraub und nicht vor Mord; ein System, dessen Protagonist hier innerlich derart kaputt ist, dass er nicht einmal vor Inzest zurückschreckt und das Besitzenwollen von Menschen mit Liebe verwechselt. Besitz ist das Einzige oder zumindest Größte, warum es in dieser Ausdeutung des Kapitalismus geht.

[...] Am Ende des Films liegt Evelyn tot in ihrem eigenen Blut, erschossen von einem Polizisten in Chinatown auf der Flucht, einer Flucht allerdings vor allem vor dem übermächtigen Vater. Die Staatsgewalt erfüllt letztlich als Handlanger den totalen Machtanspruch des Kapitals in Gestalt von Noah Cross, und Jake Gittes steht ohnmächtig, zornbebend und untröstlich daneben. "Forget it, Jake, it's Chinatown", sagt einer seiner Helfer und zerrt ihn weg.

Über dieses Ende, das ist wohldokumentiert unter anderem in dem fantastischen Buch The Big Goodbye: Chinatown and the Last Years of Hollywood (2020) des Filmchronisten Sam Wasson, haben der Drehbuchautor Robert Towne und der Regisseur Roman Polański vor den Dreharbeiten lange gestritten, als sie das Skript gemeinsam (und gegeneinander) überarbeiteten. Es ist Polańskis Ende, Towne wollte Evelyn leben lassen.

Doch dieses Ende macht den Film erst zum Melodram und zu dem erinnerungswürdigen, weil hochkomplexen Meisterwerk, das Chinatown bis heute ist. Das ist aber auch das Fatale, Unauflösbare dieses Kunstwerks: Die gewaltsame Vollendung der weiblichen Opferbiografie Evelyn Mulwrays ist zugleich dramaturgisch vollkommen nachvollziehbar, wenn der Film eine große Parabel auf die Ungerechtigkeit der Welt sein soll, und für die Zuschauer verstörend, empörend – und dadurch erinnernswert. Ein Happy End hätte Chinatown als Kunstwerk ins Banale kippen lassen.

[...] Warum muss eine Frau immer Opfer bleiben, am Schluss gar sterben, warum kann sie dem nicht entrinnen, was man nicht einmal Schicksal nennen kann, denn patriarchale Unterwerfung von Frauen ist bewusste Machtausübung und hat nichts Schicksalhaftes – und warum soll dieser Tod der Frau Bedingung dafür sein, dass ein 50 Jahre altes Kunstwerk als bedeutend gelten kann bis heute? Und wie war Polański in der Lage, drei Jahre nach Vollendung dieses meisterhaften Films über die männliche Unterwerfung einer Frau mutmaßlich eine 13-Jährige zu vergewaltigen?

Darauf gibt es keine klare Antwort (okay, vielleicht haben Psychologen auf die letzte Frage eine). Die einfachste von mehreren möglichen Antworten wäre: Chinatown belegt, dass die Trennung von Kunst und Künstler nie so eindeutig möglich ist, wie man es sich vielleicht wünschen würde. Und dafür, dass sich weniger Gesellschaften als vielmehr gesellschaftliche Vorstellungen von richtig und falsch ändern, von sozial akzeptabel und niederträchtig, kann man ein Kunstwerk nicht 50 Jahre später schuldig sprechen. Da hilft nur Ambiguitätstoleranz.
Claire Dederer wiederum hat in ihrem Buch Monsters eine zutiefst unbefriedigende Antwort gefunden, indem sie das Verhältnis des Fans zu einem Kunstwerk und dessen Schöpfer mit einer Liebesbeziehung verglichen hat, die auch toxisch sein oder werden kann. Der Vergleich hakt schon da, weil man sich von einem Kunstwerk und dessen Schöpfer wirklich sehr leicht trennen kann. Und schmerzhaft muss das wirklich nicht sein. Gemessen vor allem daran, was ein reales Opfer einer realen Straftat wie mutmaßlich Samantha Geimer ertragen muss. Geimer mag dem Täter vergeben können, doch das ist eine öffentliche Geste, die der unbeteiligten Öffentlichkeit nur bedingt hilft, mit der mutmaßlichen Täterschaft eines Künstlers klarzukommen – dazu ist dieses persönliche Vergeben Geimers allerdings offenbar auch gar nicht gemacht. Wer etwas vergibt, möchte dieses Etwas auch hinter sich lassen.

Quentin Tarantino wiederum hat in seinem Film Once Upon a Time in Hollywood die Fiktion bemüht, um die Geschichte rückwirkend zu verändern, und das Verbrechen ungeschehen gemacht, dessen Opfer Sharon Tate im Jahr 1969 wurde: Der Mord an ihr wird im Spielfilm nicht verübt, Roman Polański wird nicht mit 36 Jahren zum Witwer. Natürlich sagt Tarantino damit nicht, dass, wäre Tate nicht ermordet worden, Polański ein anderer Mann geworden wäre, kein böser zum Beispiel. Tarantino hat nur eine schreiende Ungerechtigkeit aus der Welt geschafft, für die Dauer eines Spielfilms. Sharon Tate hätte leben sollen. Die Bösen hätten nicht gewinnen sollen. Auch die Fiktion jedoch kann die Wirklichkeit nicht rückwirkend verändern. Sie kann nur ein Gedankenspiel erlauben: Was, wenn alles anders gelaufen wäre?

Ist es aber nicht. Und das Verhältnis eines Publikums zu einem Film ist zugleich trivial und kompliziert. Einen Künstler kann man verachten – doch wie könnte man einem Kunstwerk etwas verzeihen? Ein Kunstwerk kann doch nichts verbrechen. Außer schlecht zu sein. Und das ist Chinatown ja gerade nicht. Wäre dieser Film schlecht, dann wäre wirklich alles einfach. Dann könnte man ihn vergessen.



Aus: "Die ganze Ungerechtigkeit der Welt" Dirk Peitz (22. Juni 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/film/2024-06/chinatown-film-jack-nicholson-faye-dunaway

QuoteCaleo

Kunstwerk und Künstler bilden für mich eine Einheit. Wenn ich sie voneinander trennen will, verschwimmen die beiden Komponenten zu einer amorphen Masse. Und bei jedem versuchten Trennschnitt entgleitet sie mir wie ein nasser, glitschiger Fisch.

Jedem sei zugestanden höchst individuell zu entscheiden, wie er mit dem aufgezeigten Dilemma umgehen will. Ich für meinen Teil bin konsequent und habe sowohl Künstler wie deren Werk "verbannt". Allein wenn ich ein Foto von Polanski und besonders Nicholson zu sehen bekomme, stellen sich mir regelrecht die Haare auf.

Ganz schlimm finde ich die Relativierer und solche, die Künstlern mildere juristische Maßstäbe zugestehen wollen. Seit sich Wenders in Sachen Verhaftung Polanskis in der Schweiz in solcher Weise für den Verbrecher eingesetzt hat, ist der bei mir als Person unten durch, seine Filme nicht.

Und Kunst sollte grundsätzlich kein rechtsfreier Raum zugestanden werden. Erinnert sei bspw. an das lange Zögern und Lavieren bei den höchst antisemitischen und zugleich absolut dilettantischen Gemäldebannern der indonesichen Künstler-? / Hetzergruppe auf der Documenta.


QuoteErgie Weggedorn

hmm....und wie machen Sie das, wenn sich erst im Nachhinein herausstellt, was für ein Bösewicht ein/eine von Ihnen verehrte/r Künstler/in ist? Fangen Sie dann sofort an, alle Filme, Bücher, CDs (was immer) zuhause im Garten zu verbrennen? Quälen Sie sich nächtelang, wie es nur sein konnte, dass sie jemals eine Veranstaltung von/mit dieser Person besucht haben? Hassen Sie dann plötzlich alles, was Sie zuvor noch im Freundeskreis begeistert gefeiert haben?

Oder wie läuft das so ab?




Quotebassmonster

Ein Kunstwerk sollte bewertet werden nach:

- der Botschaft, die es transportiert (und die ist im Fall von Chinatown extrem vielschichtig, uneindeutig, voller unbequemer Widersprüchlichkeiten, und in toto nicht schmeichelhaft für den klassischen alten weißen Mann)

- dem Kontext innerhalb dessen es geschaffen wurde (europäischer Regisseur, Hollywood, 1970er rückblickend auf die 30/40er)



QuoteKlausK3

Der Wert eines Kunstwerks bemisst sich auch daran, ob es einen Diskurs durch seine Präzision und Mehrdeutigkeit auslöst. Roman Polanski ist durch die von ihm selbst erfahrne Gewalt und den Versuch des Vergessens im Rausch (Sexualität und Drogen) in der Lage gewesen, die wiedersprüchliche Ungerecht der Welt, nicht nur in den 70ern abzubilden. Der Film hat heute noch seine Gültigkeit, weil stolze Frauen immer wieder durch männliche Gewalt zerstört werden, auch wenn sie als Überlebende immer wieder verzweifelt ihr kurzes Glück suchen. Dass sie dabei auch über die Gefühle anderer hinwegsehen, zeigt die ganze Tragik. Weil Chinatown genau das abbildet und Polanski genauso widersprüchlich handelt, sind Biografie und Werk zusammen zu begreifen und erst dann wirklich lehrreich.Das voneinander zu trennen zeugt von einer naiven und oberflächlichen Betrachtung. Beides muss dialektisch nebeneinander stehen, um dem Gesamten seinen Hintergrund zu geben. Nur so kann man aus dem Vergangenen lernen. ...


QuoteWaSom1951

    "Wie lässt er sich heute betrachten?"

Schöne Passivkonstruktion, die verschleiern soll, dass nur eine kleine Minderheit hier irgendwas neu "betrachten", also nach ihrer privaten Haltung bewerten will. Das darf jeder machen, wie er will, aber schwingt euch bitte nicht auf zu Belehrungen fremder Menschen.


QuoteHagmar

Ich habe 'Monsters' gelesen und fand es extrem repetitiv. Noch ein Fall und noch ein Fall und noch ein Fall. Natürlich Polanski, natürlich Allen, natürlich der mit seinem Neverland, Name fällt mir grad nicht ein, natürlich Richard Wagner usw. usf. eine endlose Aneinanderreihung. Aber die Kernfrage: Wie gehen wir damit um, wenn sich herausstellt, dass geliebte Kunstwerke von moralisch verwerflich handelnden Personen geschaffen wurden? Diese Frage bleibt bei Dederer erstaunlich flach bzw. gar nicht behandelt.

Reich-Ranicki soll gesagt haben, es gebe nur einen einzigen moralisch völlig einwandfreien Schriftsteller: Walther von der Vogelweide; über den wissen wir nämlich nichts.


QuoteMr. Smithers

    Gemacht hat ihn indes ein Haufen böser Männer.

Wenn's schon so anfängt...


QuoteGreezle

Möchten Sie ein Tröstkissen?


QuoteAntal Rev

Leider konnte ich den Text von Herrn Peitz nicht zuende lesen, da mir recht schnell bewusst wurde, dass ich nichts - wirklich gar nichts - über den Menschen Dirk Peitz weiß, gerade den "privaten" Dirk Peitz, was es mir unmöglich macht, diesen Text angemessen einzuordnen. ...


QuoteFulganzio

"Böse Männer" (und Frauen) können gute Kunst erschaffen? - Gut, wenn diese Erkenntnis erhalten bleibt!


QuoteHannah L.

Sollte man Ästhetik und Ethik "vermischen"?

Wie verhalten sie sich zueinander? Meines Erachtens gar nicht.

Das eine ist das eine und das andere ist das andere.

Meines Erachtens kann ein Film, der hier dermaßen in die Höhe gelobt wird, nie wirklich ganz "menschlich" sein, denn dieses ist nicht perfekt, per se nicht.

Vielleicht ein einzelner Mensch in einer einzelnen Disziplin.
Der Bogen wird zu weit gespannt in diesem Artikel.


QuoteHerko

Wenn das doch nur so einfach wäre, sich von einem geliebten Kunstwerk zu trennen. Mir fällt das z. B. bei R. Wagner schwer: Er war ein widerlicher Antisemit, aber wer für seine Harmonien empfänglich ist, kommt davon kaum wieder los. Ambiguitätstoleranz ist wohl das richtige Stichwort.


Quoteaxelhoener

Aber genau diese Ambivalenz gilt es auszuhalten und daraus zu lernen - persönlich und als Gesellschaft. Es muss nicht alles in den Giftschrank, weil wir uns nur so der Realität stellen können.


QuoteWundervolle Wildschweine

Und Caravaggio war ein Mörder - und trotzdem ein herausragender Maler, dessen Lichtführung mich immer wieder faziniert.


QuotePumpernickelkarnickel

Fast alle Menschen die viel und großartiges gemacht haben, haben auch viel schlechtes gemacht. So sind Menschen eben. Auch Stars, Künstler usw. Eventuell Jesus nicht. Eventuell....


QuoteDhamma

Der Autor schlägt einen grossen Bogen, schliesst Polanski, den Film Chinatown, das Böse und anderes mit ein, um am Ende die Ausgangs-Gretchenfrage (wie hältst Du es mit einem Super-Polanski Film, Heinrich?) weiter offen zu lassen. Sehr schön und Danke.


QuoteDaniel1990

Tatsächlich denke ich, dass man Filme als Kunstform losgelöst von solchen Fragen betrachten sollte. Sei es nun ,,Vom Winde verweht'', ,,Lawrence von Arabien'' oder wie hier diskutiert ,, Chinatown''. ...


QuoteJanplau

Was wird denn an "Lawrence von Arabien" kontrovers diskutiert?


QuoteDer blinde Rächer

Tja, immer Moral und Moralismus und Moral. Man sollte sich an die Prohibition erinnern: die wurde von protestantischen Frauenvereinen gefordert, um den Teufel in Flaschengestalt aus der Welt zu vertreiben. Alles Moral in bester Absicht. Aber der Hauptprofiteur der Prohibition war ein gewisser Al Capone. ...


Quotekurt.schumacher2.0

Warum muss Gretchen - erlöst - sterben, während Faust - nach Heilschlaf - ein Reset ermöglicht wird?


...