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[Romantik und Melancholie (Notizen)... ]

Started by Textaris(txt*bot), June 04, 2017, 01:28:56 PM

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Textaris(txt*bot)

QuoteDie Schwermut ist eine Bedingung der Kunst.

Konstantin Wecker


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Quote[...] Für mich ist Melancholie etwas Bejahendes, sie hat für mich mit Wärme zu tun, mit Liebe.


Aus: "Matti Geschonneck im Interview: ,,Melancholie hat mit Liebe zu tun"" Christina Bylow (02.06.2017)
Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/kultur/film/matti-geschonneck-im-interview--melancholie-hat-mit-liebe-zu-tun--27025760-seite2

Textaris(txt*bot)

#1
Quote[...] Die Romantik, die erste moderne Avantgardebewegung, gilt zu Unrecht als prinzipiell rückwärtsgewandt. In den Ländern, in denen sie zuerst entsteht, Deutschland und England, kann sie viel genauer beschrieben werden, wenn man sie unter dem Blickwinkel ihrer kritischen Sympathie mit der französischen Revolution betrachtet, auf derem Höhepunkt sie entsteht. Die revolutionären Sympathien der frühen Romantiker sind nicht individuelle Zufälle, sondern reichen ins Innerste der Neuen Schule. Sie nimmt die epochale Erschütterung nicht nur von aussen auf, um sie zu verarbeiten, sondern betrachtet sich selbst, ihre Philosophie, Kunst und Wissenschaft als integralen Bestandteil eines revolutionären Programms, das beitragen soll, die Revolution vor ihrem Versagen zu retten, indem sie über ihre Beschränkung hinaustreibt. In diesen Kreisen wird das Problem der Erneuerung, man könnte fast sagen: der Gründung einer Gesellschaft radikaler betrachtet als jemals vorher, und lange nachher. ...


Aus: "Über Romantik und Revolution: Jörg Finkenberger – Do 28.09.2017 – 20:00 Uhr, ACC Galerie Weimar" (31.07.2017)
Quelle: http://spektakel.blogsport.de/2017/07/31/ein-riss-ist-in-der-welt/

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Quote[...] »Linke Melancholie« ist eine Diagnose, die gerade in Krisenzeiten emanzipatorischer Praxen schnell zur Hand ist. In Berufung auf das von Walter Benjamin in den 1930er Jahren geprägte Schlagwort erklingen Klagen über einen Mangel an »Aktivismus«, den Rückzug aus gesellschaftlichen Gefechten »der Straße« in Selbstbespiegelungsdiskurse, »passives Lesekreisen« und (pop-)kulturelle Jammertäler. Was sich der Umwälzung verschrieben habe, sei durch eine Rückwärtsgewandtheit bestimmt, die sich in nostalgischem Schwelgen in überholten Traditionen und melodramatischem Suhlen in Niederlagen emanzipatorischer Bewegungen äußere. Von einer »wirklichen Bewegung« keine Spur – nur unwirksamer Stillstand und eine einzige Misere aus Pessimismus, Nihilismus und Utopieverlust. Als Hauptübel wird ein ästhetischer Eskapismus identifiziert, der zu »politischer Handlungsunfähigkeit« führe. ...


Aus: " »... versunken im Schlamm des Trauerbachs«: »Linke Melancholie« und revolutionäre ästhetische Praxis"
Antje Géra – Do 12.10.2017 – 20:00 Uhr, ACC Galerie Weimar (31.07.31)
Quelle: http://spektakel.blogsport.de/2017/07/31/versunken-im-schlamm-des-trauerbachs/


Textaris(txt*bot)

#2
Quote[...] " ... Nicht im melancholischen Verdämmern, sondern in trotziger Selbstbehauptung und Streben nach Glück begegnen seine Figuren der Unerbittlichkeit des Lebens, selbst dann, wenn ihnen das Scheitern eingeschrieben ist."


Aus: "Hans Falladas Doppelleben" Wilhelm von Sternburg (27.09.2017)
Quelle: https://www.fr.de/kultur/literatur/hans-falladas-doppelleben-11029469.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Frank Jödicke: ... Als ob die Melancholie dadurch entstünde, dass etwas innerlich, geistig genau ausgearbeitet wird. Sei es jetzt durch die Erinnerung oder die Kunst.

Konstantin Wecker: Das ist natürlich völlig richtig, die Melancholie gehört immer dazu. Eugen Drewermann hat gesagt, die Schwermut sei die Schwester Deines Glücks.
Das erscheint mir deswegen interessant, weil ich das an mir erst seit kurzem akzeptiere. Ich habe vor 14 Jahren ein Lied über die Schwermut geschrieben. Meine Texte passieren mir ja und ich denke sie mir nicht aus. Und nach diesem Lied wusste ich plötzlich, dass ich immer schon ein schwermütiger Mensch war und mir gerne von außen einreden ließ, ich hätte die Power und sei immer gut drauf. Ohne Schwermut kann man nicht mitfühlend sein. Erst die Schwermut gibt uns die Möglichkeit, tief in uns hineinzugehen, und wir beginnen dort etwas zu verarbeiten.
Die Schwermut ist eine Bedingung der Kunst. Das Glück ist ohne Schwermut gar nicht als solches zu erfassen. Das Erinnern an die schönen Augenblicke wird mir heute im Alter erst viel klarer. Die wirklich schönen Augenblicke sind nicht die, wo man mal kurz gut drauf ist, sondern sind jene der Ich-Losigkeit, wo man einfach nur da ist und aufgehoben ist in allem.
An diese mystischen Erfahrungen kann man sich natürlich nachher nicht erinnern, weil man ja in diesen Erfahrungen mitten drinnen war und ohne Ratio. Ich kann mich nur erinnern, dass da mal was war. Es kann nicht nachempfunden werden und mit dem Verstand zurückgeholt werden. Um es erneut zu empfinden muss es wieder erlebt werden. Das ist gerade das Schöne an diesen Momenten. Sie können auch nicht erarbeitet werden, auch vierzig Jahre Meditation bieten keine Gewähr, dass man in diesen Zustand kommt.



Aus: ""Nationalismus wird uns immer ins Elend führen"" Frank Jödicke (15. August 2018)
Quelle: https://www.heise.de/tp/features/Nationalismus-wird-uns-immer-ins-Elend-fuehren-4136969.html?seite=all

Textaris(txt*bot)

#4
Saudade ist eine spezifisch portugiesische und galicische bzw. lusophone Form des Weltschmerzes. Das Konzept der Saudade lässt sich mit ,,Traurigkeit", ,,Wehmut", ,,Sehnsucht", ,,Fernweh" oder ,,sanfte Melancholie" nur annähernd übersetzen. Das Wort steht für das nostalgische Gefühl, etwas Geliebtes verloren zu haben, und drückt oft das Unglück und das unterdrückte Wissen aus, die Sehnsucht nach dem Verlorenen niemals stillen zu können, da es wohl nicht wiederkehren wird. Ähnliche Sinninhalte vermitteln womöglich das amerikanische blue und das türkische hüzün. ... Als historisch belegbarer Ursprung des Begriffs wird auch der Verlust der Portugiesen nach der verlorenen Schlacht von Alcácer-Quibir gegen die Mauren genannt, den der unerfahrene König Sebastian I. 1578 erlitt. Diese verheerende Niederlage leitete den Untergang des portugiesischen Weltreichs ein, und das Phänomen des anschließend entstandenen messianischen Sebastianismus bekräftigt diese Theorie einer ,,nationalen Wehmut". ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Saudade

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Thievery Corporation - Saudade (full album)
Label: Eighteenth Street Lounge Music Country: US Released: 04.2014 Genre: Electronic, Latin Style: Bossanova
https://www.youtube.com/watch?v=W0CBzKfvA80

Joffrey Peroumal, vor 3 Jahren
Guys I am french, here is the english translation of the first song :

We smoked too much, a little bit more than usual
I feel dizzy, taking off in the moon and we spent the night
taking off in the space, taking off from the moon

And when everything stopped, music took me away
and I know that everything's gonna be..
everything is fine with the sound, I exceeded my own fears
but I know you're gonna be...
taking off in the space, taking off from the moon
Taking off in the space, we're staring at somewhere

I know I don't want to be childish
but when I open the eyes, the world has parallel projections
and I know...faith is the only eye
taking off in the space, taking off from the moon ( several times )

it is not, it is not a dream...
It is not, it is not a dream...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Sind wir wirklich so bei uns und in uns, sind wir Herr oder Herrin über unseren Körper, weil wir diesen willentlich bewegen können, damit Werkzeuge nutzen, Sport treiben, Auto fahren? Sind wir Herr unseres Geistes, wenn wir mit ihm Gedanken fassen? Sind wir Herr unserer Sprache, mit der wir uns strukturiert artikulieren, und auch unserer Affekte, die wir mit einem gewissen Training situationsbezogen einsetzen oder abschatten können? Zweifel sind angebracht. Die betrachteten Bereiche mögen auf den ersten Blick willkürlich gewählt sein. Jedoch gewinnen sie aus dem Blickwinkel phänomenologisch beschriebener Paradoxien von »eigen« und »fremd« einen neuen inneren Zusammenhalt.

... Der Schriftsteller Ferdinand von Schirach lässt seinen Helden im Epilog von TABU sagen: »Manchmal bleiben wir stehen, die Zeit bekommt einen Riss und in diesem Moment begreifen wir es: Wir können nur unser Spiegelbild sehen.« Und Sigmund Freuds Psychoanalyse kränkt das Bewusstsein mit der Annahme, »(...) daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus.« Mit dem herrenlosen Haus meint Freud das Ich-Bewusstsein, eben genau jene Sphäre, derer wir uns doch eigentlich so sicher sein müssten. Für Freud ist klar, dass das Ich gerade nicht eine Sphäre oder ein Zustand der bruchlosen Selbstidentität darstellen muss. Schon 1870 behauptete der Schriftsteller Arthur Rimbaud: »Ich ist ein anderer.« 1936 greift der französische Psychiater und Psychoanalytiker Jacques Lacan, der durch eine Neuinterpretation der Schriften Freuds internationale Bekanntheit erlangte, die Rimbaud'sche Formel im Rahmen seiner phänomenologischen Psychologie erneut auf.

Allen Ansätzen gemeinsam ist, dass sie den Sinn schärfen für den schwankenden Grund, auf dem unser Ich-Bewusstsein steht. Dieser Grund kann jederzeit aufreißen und uns vor tiefe Abgründe stellen. Der Blick in diese Abgründe offenbart eine dunkle, unbekannte Seite unseres Ich, die wir nur ungern wahrnehmen, die aber ebenfalls zu unserem Selbst gehört. Es müssen dabei nicht einmal pathologische Formen der Bewusstseinsspaltung sein, die solche Abgründe aufreißen und am Ende das ganze Erleben determinieren. Auch der Alltag »normaler« Menschen ist reich an solchen Fremdheitserfahrungen des eigenen Ich. Versetzt uns etwa der Verlust eines geliebten Menschen in einen Zustand der Trauer, so gleicht die Selbsterfahrung der Trauer ebenfalls einer Selbstentfremdung bzw. eines Selbstentzugs des Ichs. Das Verlustempfinden kann so überwältigend erscheinen, dass der Boden jeglicher Selbstgewissheit ins Schwanken gerät. Als Trauernde erkennen wir uns buchstäblich nicht wieder – wollen uns in diesem Zustand auch nicht wiedererkennen. Aber gerade das sind wir eben auch, ob wir es wollen oder nicht!

... Die in der Melancholie erfahrene »Ent-Täuschung« richtet sich nicht mehr auf andere, sondern auf sich selbst – auf den als endgültig erfahrenen Mangel eigener Möglichkeiten, etwas Gewünschtes zu erreichen. Damit ist die Melancholie ein Zustand, in dem sich wie unter der Lupe Eigenes und Fremdes auf nicht entwirrbare Weise zeigen und verbinden. Wir sind von diesem Zustand des Entzugs so unmittelbar eingenommen, dass dieser das Grundgefühl unseres Daseins durchzieht und nach Erlösung ruft.

Der Philosoph Bernhard Waldenfels hat für die uneinholbare Ambiguität von Eigenem und Fremdem folgende Formel geprägt: »Das Fremde zeigt sich, indem es sich uns entzieht. Es sucht uns heim und versetzt uns in Unruhe, noch bevor wir es einlassen oder uns seiner zu erwehren trachten.« (Bernhard Waldenfels – Topografie des Fremden) Die von Waldenfels beschriebene Ambiguität hat zum Beispiel auch Folgen für den Verlauf der öffentlichen Debatten zum Umgang mit Geflüchteten in Deutschland, Europa und der Welt. Der zeitgleiche Aufstieg rechtspopulistischer Strömungen in den USA, Europa und Russland kann auch als Ausdruck einer von vielen als bedrohlich empfundenen Mehrdeutigkeit gesehen werden.

Das Fremde erscheint damit allein schon dadurch bedrohlich, weil es durch sein bloßes Erscheinen die Deutungslücken und -risse im Gefüge des Eigenen sichtbar macht und uns damit in unserer Selbstwahrnehmung verunsichert – ja diese »frag-würdig« macht. Identitätsverlust scheint zu drohen. Der Rechtspopulismus nimmt sich dieser in modernen Gesellschaften prinzipiell bestehenden Ängste und Deutungslücken an und versucht, diese zum eigenen Nutzen mit einfachen Rezepten und Sinnangeboten zu füllen.

Er schafft also vermeintliche Gewissheiten, wo in einer offenen Gesellschaft eigentlich keine Gewissheit mehr bestehen kann. Und er schafft Sündenböcke für vermeintliche oder tatsächliche Missstände, auf die die Enttäuschten und Verunsicherten ihre Wut richten können. Mit dieser Projektion wird das Fremde jedoch noch weiter entfremdet – zu einem gleichsam absolut Fremden, mit dem eine Verständigung am Ende gar nicht mehr möglich erscheint. Auf diesem Boden der Verunsicherung gedeiht dann – leider auch in offenen Gesellschaften – die Saat der Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt.


Aus: "» Das Fremde zeigt sich, indem es sich uns entzieht «" Olaf Kaltenborn (23. Dezember 2016)
Quelle: https://aktuelles.uni-frankfurt.de/gesellschaft/das-fremde-zeigt-sich-indem-es-sich-uns-entzieht/


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Heimspiel und Reeperbahn - Auf dem Draiser Hof zwischen Eltville und Erbach im Rheingau findet seit 2009 das Heimspiel-Festivalstatt, das Gisbert zu Knyphausen auf dem Weingut seiner Familie, ,,Baron Knyphausen", organisiert. Dort sind bisher Künstler wie Element of Crime, Sophie Hunger, The Notwist und AnnenMayKantereit aufgetreten. Auf Wunsch des Vaters wird nur Wein, kein Bier ausgeschenkt. ...

Verscheuern wir unsern Tag, gehn zum Flohmarkt, spielen Cowboys, ganz egal, wohin das führt. Keiner kann dieses ,,Immer nur suchen, niemals bleiben", das Unstete, so besingen wie er, bloß nicht entscheiden, immer so 'ne Sehnsucht.

Gisbert zu Knyphausen live, für manche ist das Glück, er macht was mit den Leuten, beim kleinen Festival in Königs Wusterhausen, im Kesselhaus in Berlin, im Wohnzimmer. Vordergründig ist es die Instrumentierung, seine raue Stimme. Danach kommen die Worte, seine zarte Poesie. Der 41-Jährige gehört zu einer jüngeren Generation von Singer-Songwritern, die deutschsprachigen Chanson-Rock machen, andere sind Max Prosa, Felix Meyer oder Olli Schulz. Das Magazin Rolling Stone lud Gisbert zu Knyphausen und Reinhard Mey zum ,,Gipfeltreffen" ein, er ist einer der begabtesten Songschreiber in dieser Szene – in der Liedermacher-Ecke sieht sich Gisbert zu Knyphausen jedoch eher nicht. Er ist nicht so explizit politisch. Seit seinen Auftritten bei TV NOIR eilt ihm der Ruf des Neo-Schmerzensmanns voraus, nachdenklicher Typ mit Gitarre, der den Orientierungslosen in einer rasanteren Welt eine Stimme gibt. Der Blick nach innen kann radikal sein.

Gisbert zu Knyphausen steht am Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof, er trägt ein blaues Hemd und Bart. Er hat seinen Proberaum als Ort für ein Treffen vorgeschlagen, er führt durch den ausrangierten Hangar, leere Backsteingebäude, verschlossene Fenster, 2015 ist hier ein Flüchtlingsheim gewesen, sagt Gisbert zu Knyphausen.

Neuerdings singt er Schubert. Wieder diese Schwermut. ,,Ja, alle diese Lieder sind so beladen mit Weltschmerz, das Dichterische, das Romantische, alle so gefühlsschwanger, voller Drama und Leid. Ich habe mich eingehört in dieses Universum und immer mehr in diese Schwere verliebt, die ich in meinen Songs ja auch viel hab. Man kann sich da so reinfallen lassen." Er bleibe eben bei den Dramen hängen, ,,weil man das Gefühl hat, dass man seinem eigenen Drama so einen Platz geben kann. Das macht man ja im Alltag nicht so viel. Und durch die Musik kann man das stellvertretend ausleben."

Gisbert zu Knyphausen stoppt vor einer zerkratzten Eisentür, könnte auch eine Garage sein. Innen klebt ein Bild von Vermeer. Der Raum wirkt mehr wie ein Neuköllner Wohnzimmer, mit Cordsessel, Vintage-Schirmlampe, gedämpftem Licht. Ein Schlagzeug ist postiert, Verstärker, mehrere Gitarrenkoffer, ein Holzregal mit Kisten, E-Gitarre, Klavier. An vergilbten Wänden hängen verträumte Bilder in Mini-Goldrahmen. Die meisten Proberäume, die man mieten kann, sind steriler. ,,So einen habe ich auch noch, da trifft sich die Band, oder wer gerade zu ihr gehört", sagt Gisbert zu Knyphausen leise. Der Flügel seiner Freundin, der in der Wohnung steht, sei sicher schuld, dass er mit dem Klavierspielen wieder angefangen hat. Auf dem Pult stehen die Noten zur Litanei auf das Fest Allerseelen, vertont von Franz Schubert. Er will diese Lieder nicht so knödelig singen wie die klassischen Opernsänger, er stellt sie neben seine eigenen. Beides verbindet eine tiefe Melancholie, eine Schönheit, die aus dem Schmerz kommt. Und Lust auf Leben.

Jugendliche sind melancholisch, und man kennt einen Weltschmerz auch von Adligen, ennui [Substantiv, maskulin [der]bildungssprachlich 1. Langeweile 2. Verdruss, Überdruss] kann zu Schwermut führen. Ist Melancholie Luxus? ,,Ja, absolut, in unserer Gesellschaft ist sie das. Wenn ich in einer anderen Welt, in einem anderen Land aufgewachsen wäre, hätte ich gar nicht so viel Zeit, mich der Musik zu widmen, der Schwermut zu frönen, hätte gucken müssen, dass ich meinen Lebensunterhalt verdiene." Er ist privilegiert groß geworden – ,,mit diesem Gefühl, dass ich eigentlich überallhin kann, zumindest standen mir viele Türen offen".

Gisbert zu Knyphausen ist als Spross einer alten Adelsfamilie im Rheingau aufgewachsen. Seine Familie besitzt ein Weingut in Eltville-Erbach. Sein Onkel, Bruder des Vaters, war der Älteste, erbte ein Schloss in der Nähe von Dortmund, in dem die Großeltern gelebt hatten. Als Kinder tobten sie im Wassergraben des Schlosses herum. Obwohl sie nicht strikt adlig sind, bekamen sie immer Einladungen zu Festen, wo nur Adlige hinkönnen. ,,So 'ne Welt existiert ja noch – von der ich mich dann ferngehalten habe."

Einerseits war es eine offene, fröhliche Kindheit. ,,Und dann gab es auch in unserer Familie Sachen, die mich belastet haben", sagt er, welche Dinge das waren, das ist ihm zu privat. Da war eine Unfähigkeit, Konflikte auszutragen, in der Familie sei vieles unterm Scheffel gehalten worden. ,,Manchmal kam so 'ne Schwermut. Ich hab mich viel damit beschäftigt, vieles ist mir auch ein bisschen unklar, wo mein Hang nach Löchern so herkommt zum Beispiel."

Es gab familiäre Erwartungen, die er nicht erfüllt habe. ,,Meine Mutter fand das interessant, dass ich so einen eigenen Kopf hatte. Und so einen komischen Weg einschlage. Mein Vater hat das anfangs eher nicht verstanden." In seiner Tradition ging man in schlagende Verbindungen, die Bonner Preußen, mit 1.000 Ritualen. ,,Es herrschte gesellschaftlicher Druck, dass man was Vernünftiges macht. Und vielleicht ist es bei Adligen noch wichtiger, wie man nach außen wirkt, wie man seine Rolle erfüllt." Gisbert zu Knyphausen dreht sich eine Zigarette, raucht vor der Tür.

... 2012 starb überraschend sein Kollege und Freund Nils Koppruch. Da verlor er die Lust am Musikmachen, nahm sich eine Auszeit, ging auf Reisen, er war mit dem Goethe-Institut in Russland und Teheran. ,,Ich war gerührt, wie sie Fremde dort mit offenen Armen willkommen heißen." Er machte mit iranischen Musikern einen Trip in die Wüste, sie entwickelten Songs auf Farsi und Deutsch. ,,Da hat einer noch 'n traurigeren Song als der andere gesungen, das war irgendwie geil, weil es mich so ein bisschen versöhnt hat mit meiner Traurigkeit. Das war in dem Jahr, nachdem Nils gestorben war, und es war für mich ein ziemlich wichtiger Punkt. Es hat mich wieder ein bisschen zurück zur Musikliebe gebracht." Er hat ein Album aufgenommen, Das Licht dieser Welt (2017). Das Lied ist an ein Kind gerichtet.

Wie verändert sich die Perspektive mit Kindern? ,,Natürlich versuche ich, meine dunklen Seiten von der Kleinen fernzuhalten, um ihr nicht zu vermitteln, wie schwierig alles ist. Das entdecken die ja früh genug, dass es im Leben viel Schmerz gibt." Er ist nur Teilzeit-Papa und hat beides, er nimmt am Familienleben teil, hat aber auch Zeit für sich, seine eigenen Sachen. ,,Ist eigentlich perfekt." Seine Freundin ist auch Musikerin, sie haben sich bei einem Konzert von Sophie Hunger kennengelernt. Er konnte sich also auf einmal festlegen?

,,Es war eine Entscheidung dafür, die ich auf einmal fällen konnte. Wahrscheinlich auch, weil es die richtige Person ist, da fällt das leichter." Sie hätten beide gemerkt, dass sie Konflikte miteinander lösen können, bereit dafür sind, das zuzulassen. ,,Das hatte ich von zu Hause nicht mitbekommen. Mein Vater ist, was emotionale Dinge angeht, ein sehr schweigsamer Mensch. Und das hat sich auch auf uns übertragen. Er war verschlossen, wie viele in dieser Generation. Die haben überhaupt nicht gelernt, über Gefühle zu reden. Als ich und meine Brüder Jugendliche waren, da wusste er gar nicht so genau, wie er sich uns gegenüber verhalten soll. Jetzt, im Alter, haben wir ein engeres Verhältnis."

Einige Wochen später, Streifzug durch die Alte Nationalgalerie. Gisbert zu Knyphausen sucht solche Orte. Er sieht müde aus, schlafe gerade schlecht. Die vielen Bilder über den Tod sind ihm zu düster. Vor einem Gemälde bleibt er stehen, Rückkehr zur Heimat. Jemand wird im Totenwagen transportiert. Ihn fasziniert das Realistische daran, die Echtheit der Schattierungen, Falten im Gewand, in Gesichtern. ,,Die Pastellfarben, die machen das andere, das Dunkle, erträglicher." Er sucht Widersprüche, er kann sie aushalten. Die Stillleben mit Äpfeln, alte Schinken, hingen bei ihm zu Hause, seine Mutter hat manche gegen moderne französische Malerei getauscht. Monets Sommer, tanzende Blätter, ja, so stelle er sich einen Sommertag vor, sagt er.

,,Manchmal glaube ich, dass ich zu langsam bin für all die Dinge, die um mich herum geschehen", heißt es im Lied Sommertag bei Gisbert zu Knyphausen. Er hat sein Tempo gefunden.


Aus: ",,Ich bleibe immer bei den Dramen hängen"" Maxi Leinkauf (Ausgabe 37/2020)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/maxi-leinkauf/ich-bleibe-eben-bei-den-dramen-haengen

Quote
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Vielen Dank für das einfühlsame Porträt. Er hat es verdient, so gewürdigt zu werden.


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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Der Melancholiker [ ] sieht, daß das Leben auf einer gewaltigen Welle des Todes in eine Zukunft strömt, die die "Schädelstätte der Geschichte" (Lucacs) nur vergrößert. Darum ist die Ruine der eigentliche Ort des Melancholikers. Die Ruine zeigt unseren mächtigen Bauwillen im Übergang zum endgültigen Verfall. Was einst Ausdruck lebensvoller Energien, Stätte des Handels oder der Liebe, Ort des Gebets oder der Arbeit war, ist jetzt Zeugnis einer eigenartigen Verwandlung, durch die das Schauspiel des Lebens zur Totenklage wird. Noch ist der Bauplan des Hauses, der Stadt zu erkennen, noch stehen Gewölbe, Torbögen, Mauergerippe aber schon frißt das Wasser am Stein, krallen sich Pflanzen in die Risse der Mauern, spielt der Wind in den Fensterhöhlen, huschen die unheimlichen Tiere der Nacht durch Räume, die spurenhaft noch das vormalige Leben der Menschen bewahren. Die Natur holt sich, was der Mensch ihr abgerungen hat, zurück. Die Ruine läßt spüren, daß unsere Einrichtungen eines lückenlosen Energieaufwands zu ihrer Erhaltung bedürfen. Nichts aber hat Bestand; dies ist das unnachgiebige Wissen des Melancholikers. So mächtig, stolz, siegreich sich unsere Bauwerke erheben - es gibt eine stärkere Kraft, die des leisen, unmerklichen Niedersinkens.

...


Aus: "Kritik der Melancholie - und Melancholie der Kritik" (Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt am Main 1988. II. Subjektgeschichte)
Quelle: https://www.hartmutboehme.de/static/archiv/volltexte/texte/natsub/melancho.html


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Die Vorlage, also Erich Kästners Buch, das 1931 erschien und von einem jungen, ironischen Beobachter der Sitten der endenden Republik erzählt, von einem, der sachlich bleiben möchte, sich trotzdem empört und schließlich "vor die Hunde geht", ist ein guter, aber nicht sehr guter Roman. Er ist erotisch, aber nicht zu arg, im Geiste links, aber nicht politisch. Er drängt sich allerdings förmlich auf, um nach Analogien zur Jetztzeit zu suchen ... Seinerzeit fällte Walter Benjamin eines seiner stalinistischen Kunsturteile über den Fabian: Das sei "linke Melancholie" ...


Aus: "Der wahre Moralist bekämpft zuerst sich selbst" Aus einer Rezension von Thomas E. Schmidt (16. Juni 2021)
Frank Castorf inszeniert Kästners "Fabian" am Berliner Ensemble.
Quelle: https://www.zeit.de/2021/25/frank-castorf-erich-kaestner-fabian-berliner-ensemble

Textaris(txt*bot)

Quote[...]  "Nostalgie und Nationalismus sind eng miteinander verbunden, insbesondere in alternden Gesellschaften, in denen ein großer Anteil der Bevölkerung sowieso dazu neigt, die Vergangenheit zu idealisieren."

Vor der Pandemie war Nostalgie weltweit eine starke politische Kraft. Donald Trump kam mit dem Versprechen an die Macht, "Amerika wieder groß zu machen", und die Brexit-Befürworter gewannen ihre Schlacht zum Teil auch durch die Idealisierung des verflossenen britischen Weltreichs. Der chinesische Präsident Xi Jinping forderte eine "große Verjüngung des chinesischen Volkes", der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan verfolgte neo-osmanische Ambitionen und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán trauerte den Gebietsverlusten des Königreichs Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg hinterher.

Als die Pandemie die Welt in eine dringendere Krise stürzte, kam die Bewegung kurz zum Stillstand. Jetzt aber kehrt die Nostalgie mit aller Macht zurück. Russlands Präsident Wladimir Putin hat diese Form der Politik nun auf die Spitze getrieben. Er rechtfertigt seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit der falschen Behauptung, Russlands Nachbar sei "ein untrennbarer Teil unserer gemeinsamen Geschichte, Kultur und unseres spirituellen Raums".

Wie in allen nostalgischen Narrativen gibt es bei Putin ein "Goldenes Zeitalter", gefolgt von einer großen Katastrophe, die schließlich zum aktuellen misslichen Zustand führt. Das Goldene Zeitalter war das russische Zarenreich, in dem die Ukraine eine vollständig integrierte Provinz war. Die Katastrophe kam, als Wladimir Iljitsch Lenin aus der ethnischen Vielfalt des russischen Reiches eine Föderation aus nationalen sowjetischen Republiken formte. Daraus ergibt sich in Putins Interpretation, dass "die moderne Ukraine allein durch Russland, oder um genauer zu sein, durch das kommunistische Russland der Bolschewiken geschaffen wurde". Die aktuelle missliche Lage schließlich ist auf diese Trennung zurückzuführen. Dementsprechend erklärte Putin im März 2014: "Kiew ist die Mutter aller russischen Städte. Die Kiewer Rus ist unser gemeinsamer Ursprung, und wir können ohne einander nicht leben."

In vielerlei Hinsicht ist nostalgischer Nationalismus das politische Übel unserer Zeit. Die Brexit-Befürworter wollten nicht akzeptieren, dass Großbritannien nach Jahrhunderten der imperialen Herrlichkeit heute nur noch ein normales Land mittlerer Größe ist. Und die Auflösung der liberalen Hegemonie der USA bietet postimperialen Mächten wie China, Russland, der Türkei und sogar Ungarn die Möglichkeit, ihrem verlorenen Status auf der Weltbühne wieder Geltung zu verschaffen, wenn auch mit unterschiedlicher Überzeugung und Entschlossenheit. Trump hat versucht, diese Zentrifugalkräfte mit seiner "America First"-Agenda einzufangen – sein Geist spukt noch immer durch die US-amerikanische Politik.

Vergangenen Zeiten hinterherzutrauern ist alles andere als harmlos. Die sentimentale, historisch einseitige Verklärung einer romantisierten Vergangenheit gehört zum kleinen Einmaleins chauvinistischer Politiker. Nostalgie wird eingesetzt, um den Blick eines Gemeinwesens auf die Gegenwart zu verzerren und so radikalen und oft gefährlichen politischen Umwälzungen den Weg zu bereiten. Der Appell an vergangene Größe kann ein Gemeinwesen dazu verleiten, Grenzen zu überschreiten, Risiken einzugehen und sich über die herrschende Weltordnung hinwegzusetzen. Nostalgie und Nationalismus sind eng miteinander verbunden, insbesondere in alternden Gesellschaften, in denen ein großer Anteil der Bevölkerung sowieso dazu neigt, die Vergangenheit zu idealisieren.

Die russisch-amerikanische Kulturtheoretikerin Svetlana Boym unterscheidet zwei Formen der Nostalgie: die reflexive und die restaurative. Reflexive Nostalgie ist in der Regel harmlos. Sie prüft die Vergangenheit kritisch und erkennt an, dass zwar ein paar gute Dinge verschwunden sind, aber im Laufe der Zeit auch vieles besser geworden ist. Die heute vorherrschende restaurative Nostalgie dagegen will die Vergangenheit wieder auferstehen lassen.

Trotz aller offensichtlichen Unterschiede zwischen dem Brexit und dem russischen Angriff auf die Ukraine stellen beide den Versuch dar, die Zeit zurückzudrehen, um einer unangenehmen Gegenwart zu entfliehen. Die Brexit-Befürworter wollen zurück in das Zeitalter Eduards VII. oder zumindest in die 1970er-Jahre, als Großbritannien sich noch nicht dem europäischen Projekt angeschlossen hatte, und Putin will zurück in die Zarenzeit.

Allerdings funktioniert eine Politik der Nostalgie in demokratischen Staatsformen ganz anders als in autoritären. Anders als Putin mussten die Brexit-Befürworter die Mehrheit der Wähler von ihrer Sache überzeugen. In Demokratien können die Parteien der Mitte die Versuche nostalgischer Populisten, die Geschichte des Landes zu monopolisieren, vereiteln. Sie können der restaurativen Nostalgie eine reflexive Nostalgie entgegensetzen und zum Beispiel darauf hinweisen, dass das britische Kolonialreich reichlich Blut an den Händen hatte. Die technokratische Hier-und-jetzt-Strategie der EU-Freunde hat stattdessen versucht, einen Kampf um die Herzen der Wähler mit Grafiken und Tabellen zu gewinnen.

In autoritären Systemen, in denen die Opposition – wenn es sie überhaupt gibt – das Geschichtsbild des Regimes nicht offen kritisieren kann, ist Nostalgie noch gefährlicher. In solchen Fällen besteht eine der wenigen Lösungen in der internationalen Einbindung der entfremdeten Macht. Dieser Ansatz empfiehlt sich möglicherweise auch für eine wieder erstarkende Macht wie China, die das Gefühl hat, dass die Welt sie ständig marginalisiert und ihre lange Geschichte nicht ausreichend würdigt.

Eine aufsteigende Macht kann aus dem Versprechen, ein verlorenes Vaterland wiederherzustellen, spirituelle Kraft ziehen. Aus diesem Grund betont Xi häufig die Kontinuität der chinesischen Geschichte und verknüpft die Volksrepublik mit dem untergegangenen Kaiserreich. Das Konzept einer großen Verjüngung zeichnet den Weg in eine bessere Zukunft, der ohne Bruch mit der Gegenwart auskommt. (Edoardo Campanella, Project Syndicate, 10.5.2022)


Aus: "Nostalgischer Nationalismus ist das politische Übel unserer Zeit" (10. Mai 2022)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000135553332/nostalgischer-nationalismus-ist-das-politische-uebel-unserer-zeit

Quote
Orjares

Ich habe den Eindruck, gewonnen, viele Reaktionäre sehnen sich nach der idealisierten Welt ihrer Kindheit, die es so nie gegeben hat.

Das macht sie zu einer gefährlichen Bewegung, die glaubt man müsse nur alles was falsch gelaufen ist korrigeren - mit allen Mitteln - und es wird wieder gut. Und wer nicht in dieses idealisierte Weltbild passt wird bekämpft.


Quote
Barrayar

Dies tun nicht nur Reaktionäre sondern auch viele andere, zum Beispiel jene die vom "einfachen Leben von früher schwärmen", im Grunde blendet jeder aus was ihm/ihr nicht in den Kram passt. Reflexive Nostalgie & restaurative Nostalgie trifft es mMn sehr gut.


Quote
Jene Grüne Straßenkatze

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob etwas ein Übel "unserer Zeit" ist, wenn es sich als Konstante durch die gesamte Geschichte zieht: Restitutio Imperii, Rückeroberung Konstantinopels, Wiedererlangung der Adler der Legionen, Rückgewinnung der Ostgebiete, Eretz Israel, Triest-Fantasien, Elsass/Alsace, Mare Nostrum, Gebietsansprüche der Republik Taiwan ... mir fallen da kurz nach dem Aufstehen schon eine Menge Beispiele für Wiederherstellungs-Fantasien ein.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] In der Kunsthalle Talstraße in Halle ist bis zum 25. Februar 2024 die Ausstellung "Die Kraft der Melancholie. Alexander Camaro und Seelenverwandte" zu sehen. Darin gezeigt werden Malerei und Grafik des Berliner Künstlers, aber auch wichtige Werke unter anderem von Karl Hofer, Horst Strempel und Werner Heldt. Die Ausstellung nimmt damit eine Künstlergeneration in den Blick, deren Karrieren durch den Zweiten Weltkrieg jäh unterbrochen wurden und deren Wege danach auch nach Halle führten.


... Das Konzept der Melancholie entsteht in der Antike und erlebt in der Renaissance sein Revival, als die Religion als trostspendende Instanz langsam an Einfluss verliert und der Mensch mit seiner Freiheit und seinen Sorgen zunehmend auf sich gestellt ist.

Spätestens seit Albrecht Dürers berühmtem Kupferstich "Melancholia" wird die gedämpfte Gemütslage explizit dem Genius des Künstlers zugeschrieben. Später kultivieren die Romantiker um Caspar David Friedrich in der Malerei und Joseph von Eichendorff in der Literatur ihr sehnsuchtsvolles Leiden an der Welt. Ausstellungsleiter Matthias Rataiczyk versteht das, "weil man auch was Schönes darin empfinden kann. Welcher Popsong ist heute ohne Melancholie? Welcher Chanson? Jazz und Blues – alles voller Melancholie. Und wir finden das toll, denn das macht es reizvoll."

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Aus: "Die Kunsthalle Talstraße in Halle zeigt "Die Kraft der Melancholie"" Eva Gaeding (03. November 2023)
Quelle: https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/halle/halle/kraft-melancholie-ausstellung-kultur-news-100.html

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Quote[...]  Die Sehnsucht nach dem, was einmal war und nicht mehr ist und nie wieder sein wird. Nostalgie kann schmerzhaft sein, aber auch gut für die Psyche. Sie könnte sogar bei Demenz, Depressionen und posttraumatischem Stress helfen, meinen Forscherinnen und Forscher.

Dass Nostalgie positiver ist als ihr Name vermuten lässt – darin steckt das griechische Wort álgos für Schmerz –, ist für Wissenschaftler eine relativ neue Erkenntnis. Als der Schweizer Medizinstudent Johannes Hofer Ende des 17. Jahrhunderts die Nostalgie erstmals beschrieb, hielt er sie nämlich noch für eine Geisteskrankheit, die Schweizer Söldner fernab ihrer Heimat befiel. Tatsächlich ging man bis ins frühe 20. Jahrhundert davon aus, dass Nostalgie eine psychische Störung sei, ähnlich wie Depression. Das änderte sich erst, als die Psychologie zunehmend zu einer empirischen Wissenschaft wurde: Forscherinnen fanden heraus, dass viele Symptome, die sie auf Nostalgie zurückgeführt hatten – etwa Angst, Trauer oder Unglücklichsein –, nicht durch eben jene ausgelöst wurden, sondern allenfalls mit ihr einhergingen.
Heute gilt Nostalgie als eine Emotion, die entsteht, wenn wir uns an Ereignisse, Menschen oder Beziehungen erinnern, die in der Vergangenheit für uns bedeutsam waren. Nostalgie ist also eine bestimmte Form der Erinnerung, die typischerweise mit gemischten Gefühlen einhergeht: Meist erinnern wir uns an eine positive Begebenheit – eine frühere Klassenfahrt, den ersten Urlaub als Paar oder eben die Weihnachtsfeste der Kindheit. Und diese Erinnerung weckt Wehmut: Dann wird uns schmerzlich bewusst, dass wir vielleicht nie wieder diese unbeschwerte Vorfreude auf die Bescherung empfinden werden. 

Es stimmt zwar: Wer sich zu sehr in Nostalgie flüchtet oder vergangene Zeiten überhöht, läuft tatsächlich Gefahr, in Angst zu geraten und die Hoffnung zu verlieren, wie Johannes Hofer es einst bei den Schweizer Söldnern beobachtete. Was die Nostalgie aber gerade für die Psychologie so interessant macht, ist ihre gegenteilige Wirkung.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist das Feld der Nostalgie-Forschung stark gewachsen, sagt der Psychologe Tim Wildschut von der University of Southhampton in England. "Nahezu jeden Tag werden neue Erkenntnisse veröffentlicht." Und sie alle zeigten, dass Nostalgie eine Reihe von psychologischen Vorteilen bietet. Sie wirkt wie ein natürlicher Stimmungsaufheller.

2022 haben sich Wissenschaftler erstmals aus Sicht der Hirnforschung mit dem Thema beschäftigt. Sie gehen davon aus, dass beim Erleben von Nostalgie verschiedene Regionen des Gehirns aktiv sind, unter anderem die Bereiche, in denen das Belohnungssystem und das autobiografische Gedächtnis sitzen, sowie jene, die dafür zuständig sind, unsere Emotionen zu regulieren und uns selbst zu reflektieren. Das legt nahe, dass Nostalgie nicht nur ein emotionales Erlebnis ist, sondern ein komplexer kognitiver Prozess, der Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen beeinflussen kann.

Nostalgie wirkt, wenn man so will, wie ein Sicherheitsnetz für die Seele, denn sie hilft Menschen, mit negativen Emotionen und Gedanken umzugehen. Studien zeigen nämlich, dass der stärkste Auslöser für Nostalgie eine negative Stimmung ist. Wenn wir traurig, ängstlich oder verunsichert sind, uns einsam oder hoffnungslos fühlen, spült unser Geist positive Erinnerungen in unser Gedächtnis – damit es uns besser geht.
Und das funktioniert: Die mentalen Bilder von Familienfeiern, Kindergeburtstagen oder vom Spielen im Garten erzeugen ein Gefühl sozialer Verbundenheit. Wer nostalgisch ist, fühlt sich jenen Menschen näher, die Teil der nostalgischen Erinnerung sind, etwa dem Partner oder den Kindern. Auch die Verbundenheit zur Gemeinschaft allgemein steigt. Wir fühlen uns weniger einsam und verloren, sind resilienter gegenüber psychischem Stress.
Wer in Gedanken in rosigere Zeiten zurückreist, kommt auch mehr in Kontakt mit sich selbst. "Wir sehen die Verbindung zwischen unserem vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ich", sagt Wildschut. Psychologen sprechen von Selbstkontinuität. Alles scheint plötzlich mehr Sinn zu ergeben: Wer wir sind, wo im Leben wir stehen, welche Menschen an unserer Seite sind, die Richtung, in die wir gehen. Dieses Gefühl der Kontinuität macht uns selbstbewusster und lässt uns optimistischer in die Zukunft blicken. 

Vor allem in schwierigen Zeiten kann das helfen, etwa wenn Menschen sozial isoliert sind, wie zuletzt in der Pandemie, oder wenn wir einen nahestehenden Menschen verloren haben. Schützende Wirkung entfaltet die Nostalgie aber auch dann, wenn es uns gut geht.
Wissenschaftler wollen diese Erkenntnisse künftig nutzbar machen, um die seelische Gesundheit zu fördern. Die Hoffnung: Versteht man die Mechanismen dahinter genauer, ließen sich Therapieansätze entwickeln, von denen zum Beispiel Menschen mit einer emotionalen Störung oder einer Gedächtnisstörung profitieren könnten. Es gibt erste Hinweise darauf, dass nostalgische Interventionen – beispielsweise Musiktherapien – positiv auf die Psyche von älteren und demenzkranken Personen wirken. Auch Menschen, die an leichten Depressionen oder posttraumatischem Stress leiden, scheinen darauf anzusprechen. Allerdings haben die wenigen bisher verfügbaren Studien oft nur kleine Versuchsgruppen untersucht und die Effekte waren teils eher mild. Es besteht also weiterer Forschungsbedarf, bevor Nostalgie als Therapie eingesetzt werden kann.

Fest steht: Nostalgie ist ein universelles Gefühl, das nahezu jede Kultur der Welt und nahezu jede Altersgruppe (vom Teenager bis zur Seniorin) kennt. Dass gerade die Zeit der Kindheit und Jugend oft Gegenstand nostalgischer Erinnerungen ist, erklären Wissenschaftler aus evolutionsbiologischer Sicht: Gerade die jungen Lebensjahre waren für unsere Vorfahren vermutlich sehr wichtig.
Schließlich lebten sie in relativ kleinen Gruppen zusammen und verbrachten ihr ganzes Leben mit denselben wenigen Menschen. Das junge Erwachsenenalter war eine prägende Zeit, in der sich entschied, wie man sozial gestellt war, welche Aufgaben man übernahm und wie begehrenswert man als Partner angesehen wurde. Und in der man Erfahrungen machte, die einem später nutzen konnten, wenn man sich an sie erinnerte: Wer ist mir wohlgesonnen und wer nicht? Auf wen kann ich mich verlassen?   
"Wir mussten uns daran erinnern, wer uns gut behandelt hat und wer nicht, und je emotionaler die Erinnerung war, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass wir sie vergaßen", schreibt der US-amerikanische Evolutionspsychologe Frank T. McAndrew in einem Beitrag für die Washington Post. Starke Emotionen prägen sich ein und halten die Erinnerung an Erlebnisse oder Beziehungen, mit denen sie verknüpft sind, lebendig.   

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich Erwachsene mittleren und höheren Alters am stärksten an die Zeit erinnern, in der sie zwischen zehn und 30 Jahre alt waren. Gedächtnisforscher bezeichnen dieses Phänomen auch als Reminiscence Bump, was wörtlich übersetzt etwa Erinnerungshügel bedeutet. Eine eindeutige wissenschaftliche Erklärung für den Reminisence Bump gibt es bislang nicht. Aber Weihnachtsfeste scheinen für diesen Hügel durchaus eine besondere Bedeutung zu haben.   


Aus: "Was macht Nostalgie mit unserer Psyche?" Andrea Böhnke (22. Dezember 202)
Quelle: https://www.zeit.de/gesundheit/2023-12/psychologie-nostalgie-weihnachten-psychische-gesundheit-gefuehle