[...] „Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.“
Das war das Ziel von Annie Ernaux‘ Projekt „Die Jahre“. Zwei Jahrzehnte hat sie gerungen, bis sie die passende Form für die Materialfluten fand. Zum einen skizziert sie – ausgehend von Fotos und Videoaufnahmen – Stationen ihres eigenen Werdegangs. Zum anderen zapft sie das kollektive Gedächtnis der Franzosen an und beschreibt in komprimierter Form, was „man“ erlebt hat – oder was „wir“ oder „die Leute“ durchmachen mussten. Den zeitlichen Rahmen markieren Annie Ernaux‘ Geburtsjahr 1940 und der Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf den ersten Seiten mit Werbe-Slogans, Lied-Zitaten und Schlüsselbegriffen der Nachkriegszeit glaubt man noch, diese sogenannte „unpersönliche Autobiografie“ sei ausschließlich ein Buch für Franzosen und eingefleischte Frankophile. Dann aber häufen sich für deutsche Leser die Vergleichsebenen: von der Invasion der amerikanischen Popkultur über die Aufbruchsstimmung der 68er bis hin zur großen materiellen Wohlstandsflut:
„Die Gesellschaft bekam einen neuen Namen, sie hieß jetzt ‚Konsum-Gesellschaft‘. […] Die Zeichen der Zeit standen auf Geldausgeben, und so schaffte man sich unermüdlich Gebrauchsgegenstände und Luxusgüter an. Man kaufte eine Kühl- und Gefrierschrank-Kombination, einen Renault 5, […] man erwarb einen Farbfernseher. Bunt war die Welt viel schöner [...]. Die Werbung zeigte, wie man zu leben, sich zu verhalten, und seine Wohnung einzurichten hatte, sie war die Kulturanimateurin der Nation.“
Annie Ernaux sucht nicht die Objektivität einer Kulturgeschichte. Vielmehr schreibt sie – zuweilen mit leise ironischem Unterton – immer aus der Sicht ihrer Prägungen. Der Kampf der Frauen für die Legalisierung der Abtreibung gehört genauso dazu wie der Milieuwechsel aus der Unter- in die Mittelschicht. Als gute Schülerin durfte sie studieren und wurde Gymnasiallehrerin für Französisch. Doch das Glück, das die zweifache Mutter sich erhoffte, sah für Annie Ernaux anders aus.
„Wenn sie Zeit mit ihrer Familie verbringt, fühlt sie nur und denkt nicht. Richtige Gedanken kommen ihr nur, wenn sie allein ist, […] Gedanken über sich selbst, über das, was sie hat und was sie ist, über ihr Leben. Diese Gedanken sind eine Vertiefung all der flüchtigen Gefühle, über die sie mit niemanden reden kann, all der Dinge, über die sie schreiben würde, wenn sie die Zeit dazu hätte – aber sie hat ja nicht mal mehr die Zeit zum Lesen. In ihrem Tagebuch, das sie nur noch selten aufschlägt, ganz so, als würde es eine Bedrohung für den Zusammenhalt der Familie darstellen, als hätte sie kein Recht auf ein Innenleben, notiert sie: ‚Mir fällt gar nichts mehr ein. Ich versuche nicht mehr, mir mein Leben zu erklären‘ und: ‚Ich bin zu einer arrivierten Kleinbürgerin geworden.‘“
Durch die Erzählperspektive in der dritten Person schafft Annie Ernaux Distanz zu sich selbst. Sie macht sich gleichsam zu einer historischen Figur, zu einer Repräsentantin ihrer Generation. Oft ist sie sich auf alten Fotos selbst fremd und betont die Vagheit ihrer Erinnerungen. Darin liegt die große Stärke ihrer „unpersönlichen Autobiografie“. Nie behauptet Annie Ernaux, es ganz genau zu wissen. Sie bleibt immer eine Suchende im großen Kontext des gesellschaftlichen Wandels. Besonders bewegend sind die nachdenklichen, melancholischen Passagen, so zum Beispiel über das Vergehen der Zeit.
„Auch wir werden eines Tages in den Erinnerungen unserer Kinder im Kreise der Enkel stehen, im Kreise von Menschen, die noch gar nicht geboren sind. Wie das sexuelle Verlangen ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte. Auch werden sich auf einen Schlag alle Wörter auflösen, mit denen man Dinge, Gesichter, Handlungen und Gefühle benannte, mit denen man Ordnung in die Welt gebracht hat, die das Herz höher schlagen und die Scheide feucht werden ließen: die Slogans, Graffiti an Häuser- und Klowänden, Gedichte und schmutzige Witze.“
Annie Ernaux findet für ihr Erinnerungsbuch „Die Jahre“ nicht nur eine gelungene Form, sondern auch einen eigenen, unverwechselbaren Ton, den ihre Übersetzerin Sonja Finck bestens getroffen hat. Ihre Beobachtungen zeigen eine nie selbstgewisse, immer fragende Frau im Strudel der sexuellen und politischen Ängste und Hoffnungen. Ihre „unpersönliche Autobiografie“ ist kein gemütliches Nostalgie-Buch, sondern eine vielstimmige, stets provozierende Aufforderung zur Selbstbesinnung in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt. Dazu gehört auch der Blick auf die mittelständische Vorstadt 40 Kilometer vor Paris, wo sie seit Jahrzehnten lebt; oder die Beschreibung der Desillusionierung, die sie als überzeugte Sozialistin seit Beginn der Mitterrand-Präsidentschaft durchleiden musste. Das anrührendste, da aussagestärkste Strukturelement ihres Buchs ist aber das klassische französische Festessen im Kreis der Familie. Annie Ernaux beschreibt hier, wie sich im Wandel der Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg die Gepflogenheiten bei Tisch verändern. Auch das nachdenkliche Finale sollte man sich nicht entgehen lassen. Denn immer, wenn Annie Ernaux der Glaube an die Zukunft abhandenkam, hat sie das Schreiben gerettet: über alle Trennungen, den Brustkrebs und Präsident Sarkozy hinweg.
Aus: "Provozierende Aufforderung zur Selbstbesinnung" Christoph Vormweg (15.01.2018)
Quelle:
https://www.deutschlandfunk.de/annie-ernaux-die-jahre-provozierende-aufforderung-zur.700.de.html?dram:article_id=408269-
[...] Annie Ernaux ist in Frankreich eine literarische Legende, hierzulande werden ihre Romane über ihre Herkunft aus dem Arbeitermilieu gerade erst entdeckt. ... Ihre autobiografischen Romane über ihre Herkunft aus dem französischen Kleinbürgertum waren eine Provokation. Das ist insofern verständlich, als die französische Literatur seit Jahrhunderten nahezu exklusiv vom Pariser Großbürgertum und von den Grandes Écoles der Hauptstadt beliefert wird. ... Annie Ernaux sagt, sie habe zu schreiben begonnen, weil die Familie sich nichts zu sagen gehabt habe. ... An seinen Ursprung zurückzukehren war ihr lebenswichtig: "Solange das Buch nicht geschrieben war, blieb etwas nicht verstanden." So ist es, seitdem Bücher geschrieben werden. Man kehrt an die Unfallorte zurück. Man versteht die Idiotie der Gegenwart immer erst nachträglich.
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Aus: "Annie Ernaux: "Ich fühle mich schuldig"" Iris Radisch (10. Oktober 2018)
Quelle:
https://www.zeit.de/2018/42/annie-ernaux-erinnerung-eines-maedchens-roman-frankreich-arbeitermilieu/komplettansicht-
[...] Sie selbst ist die Zeugin, aber sie sagt niemals «ich», sondern «man» oder «wir». Das Subjekt dieser Autobiografie sind also die durchlebten Jahrzehnte. Sie demokratisiert gewissermassen ihre private Geschichte, wir begegnen ihr als der Geschichte aller Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Nicht als individuelle Frau entwirft sie sich, obwohl sie aus bescheidenen Verhältnissen im normannischen Yvetot stammt und zur Akademikerin in Annecy, dann in der Nähe von Paris wurde.
Lediglich ein wiederkehrendes, strukturierendes Motiv ist persönlich gefärbt: In Abständen beschreibt Ernaux Fotos ihrer selbst vom Säugling bis zur pensionierten Literaturdozentin, zur Grossmutter mit ihren Enkeln. Auch sie aber zeugen primär von den Zeitabschnitten, den «Jahren». Eine parallele Gliederung ergibt sich aus den Schilderungen von Familienzusammenkünften – einst im Nachkrieg mit den Eltern, später in den sechziger, siebziger Jahren mit Ehemann und Nachwuchs, in den Achtzigern dann geschieden und mit wechselnden Partnern – das geht bis Weihnachten 2006. Identitäten sind brüchig geworden, die Individuen austauschbar. Es ging um die Rekonstruktion einer «gesellschaftlichen Zeit», die in ihr selbst und den Zeitgenossen sichtbar wurde.
Mit Erinnerungen allein war damit wenig auszurichten, es brauchte empirisches Material. Die Autorin sammelte Dokumente aller Art: Schulnotizen, Listen von Film- und Buchtiteln, von Fernsehserien und Chansons. Sie trieb Zeitungsartikel zu den prägenden Politikern auf: von de Gaulle und Pompidou über Giscard d’Estaing, Mitterrand und Chirac bis Sarkozy, dazu Verzeichnisse der jeweiligen Schlagwörter und Parolen. Die grossen Brennpunkte waren Algerien, der Vietnamkrieg, 1968 und – dies vor allem – die sexuelle Befreiung der Frau. Dazu kam das Material zu den wechselnden Moden, zum Essverhalten, zum anschwellenden Konsum, zur Mobilität und den gigantischen Einkaufszentren in den Vorstädten. Und sie sah, wie die Bilder alles überfluteten, Bilder, welche «die Wirklichkeit schröpfen».
In einer Autobiografie ohne ein Ich reden die Dinge deutlicher von der Epoche als die Personen. Dinge können auftauchen, allgegenwärtig sein und wieder verschwinden – in Frankreich beispielsweise das Minitel, der avantgardistische kleine Computer aus den frühen achtziger Jahren, ein Online-System vor dem Internet. Dinge seien ihre Proustsche Madeleine, notiert Annie Ernaux. Sie beschwört Georges Perec und dessen Buch «Les choses» von 1965. Vor allem aber hat ihr der Soziologe Pierre Bourdieu die Augen geöffnet. Bei ihm lernte sie, dass die Subjektivität sozial gesteuert sei. Bourdieus Schriften seien für sie «Synonyme der Befreiung» gewesen, schrieb sie bei dessen Tod 2002 in «Le Monde». Er habe sie aus dem Gefängnis einer weiblichen Existenz ausbrechen und teilhaben lassen an den Umwälzungen ihrer Epoche.
«Les années» wurden 2008 auf Anhieb ein Bestseller in Frankreich. In der autobiografisch tingierten Geschichtsschreibung erkannte man das eigene Leben wieder, und die Aufwertung des Gewöhnlichen und der alltäglichen Dinge bezauberte die Leser.
Knapp zehn Jahre später nun «Die Jahre» auf Deutsch. Die Resonanz kann nicht mehr ganz dieselbe sein. Finanzkrise, das Scheitern des Arabischen Frühlings, IS-Terror, die Kriege im Nahen Osten, die Flüchtlinge – dies alles hat ein neues Lebensgefühl geschaffen. Die betonte «Impassibilité», der leicht herablassende Umgang mit dem Auf und Ab in Gesellschaft und Politik, wirkt nicht mehr ganz zeitgemäss. Dazu kommt, dass die Übersetzung von Sonja Finck oft zu weit vom spezifisch Französischen abrückt. Die Umgangssprache wirkt zu berlinisch; Ausdrücke wie pennen, Klamotten, Kumpel, Bescheuertes verfälschen die Atmosphäre. Trotzdem: Annie Ernaux' konsequentes Unternehmen, das autobiografische Ich zu dezentrieren und den Nebensachen ein existenzielles Gewicht zu geben, verändert den eigenen Blick und wirkt lange nach.
Annie Ernaux: Die Jahre. Übersetzung aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2017. 256 S.
Aus: "Annie Ernaux erzählt eine Autobiografie ohne Ich" Beatrice von Matt (14.2.2018)
Quelle:
https://www.nzz.ch/feuilleton/eine-autobiografie-ohne-ich-ld.1355351