[...] Bienenbüttel – Das Buch schließt mit der Ermordung Else Urys in Auschwitz am 13. Januar 1943. Und es ist mucksmäuschenstill in der Buchhandlung Patz, als Marianne Brentzel die letzten Sätze ihrer Biografie über die Schriftstellerin und Kinderbuchautorin gelesen hat.
Dann entspinnt sich doch noch eine Frage-Runde mit der Autorin, die 1988 begonnen hatte, das Leben Urys, die mit ihren zehn „Nesthäkchen“-Bänden berühmt wurde, zu recherchieren. ....
„Mit ihrer Kriegsbegeisterung, das wissen wir alle, befand sich Else Ury in guter Gesellschaft“, liest die 75-Jährige aus Dortmund und zeichnet die Entwicklung Urys bis zum Berufsverbot durch die Nationalsozialisten nach. Dabei hatte Ury, unpolitisch wie sie war, in der Machtergreifung durch Hitler 1933 sogar eine mögliche Lösung für die tiefe Staatskrise gesehen.
65 Jahre alt wurde Ury, die aus dem liberalen Patrizier-Bürgertum Berlins entstammte. Der Vater, Tabakfabrikant, und die Mutter, Zentrum der Familie, ermöglichten Ury in einer Zeit, als Frauen in Berlin noch nicht studieren konnten, den höchsten Schulabschluss. Und Else Ury, die um 1900 mit dem Schreiben, zunächst von Märchen, begann, lebte unverheiratet zu Hause bei den Eltern. Und sie kaufte später als Erfolgsautorin von „Nesthäkchen“ ein Ferienhaus im schlesischen Krummhübel. Dabei fällt auf: Ihre beliebten Backfisch-Romane blieben konfessionell neutral. Und sie trug in Zeiten materieller Not zum Familieneinkommen bei: Rund 80 000 Reichsmark hoch war ihr jährlicher Verdienst in den zwanziger Jahren. „Sie war in ihrem Herzen selbst ein Kind geblieben“, zitiert Brentzel aus einem posthum geschriebenen Brief für Ury.
„Was kann sie getrieben haben?“, fragt Brentzel bei der Lesung. Und gibt selbst eine Antwort: „Sie hat die Lage nach 1933 falsch eingeschätzt.“ Nahe Verwandschaft ersten Grades habe sie im Ausland nicht gehabt. „Die Umstände waren nicht so.“ Und die Verwurzelung in Deutschland habe einen Fluchtgedanken ausgeschlossen.
So warf sie ihrem Bruder Hans „Schwarzmalerei“ vor. Und noch 1938, als ihr ein Mitarbeiter der Commerzbank die Auswanderung nahelegte, antwortete sie: „Wenn meine Glaubensgenossen bleiben, dann habe ich so viel Mut, Charakter und die feste Entschlossenheit, ihr Los zu teilen.“
Da waren Else Urys Bücher schon verfemt. Ihre „Nesthäkchen“-Heldin Annemarie Braun habe nicht dem Weltbild der Nazis entsprochen, sagt Brentzel. „Eine Frau hatte hart zu sein, ihre Pflicht zu erfüllen und ihre Kinder im nationalsozialistischen Sinne zu erziehen.“
Nach der Wende 1989 erlebten die „Nesthäkchen“-Bände noch einmal einen Aufschwung: Nicht nur unter den Nazis, sondern auch in der DDR waren sie verboten.
Aus: "Ermordet im KZ: Das Leben Else Urys und ihre „Nesthäkchen“-Geschichten"CHRISTIAN HOLZGREVE (07.05.2019)
Quelle:
https://www.az-online.de/uelzen/bienenbuettel/verbotene-romane-12258420.html-
[...] Als Else Ury Ende Juli 1914 die Nachricht vom Kriegsausbruch erhielt, saß sie behaglich plaudernd bei einer Tasse Kaffee im Liegestuhl. Hastig brach sie aus der Sommerfrische in Johannesbad in Böhmen auf – und konnte noch lange nicht begreifen, dass ihre übersichtliche, wohl geordnete Welt für immer untergegangen war. Millionen Deutsche haben es ähnlich erlebt.
Else Ury, Verfasserin zahlreicher Kinder- und Jugendbücher, machte sich sehr bald daran, ihre Erfahrungen vom Kriegsalltag aufzuschreiben. Sie waren die Grundlage für „Nesthäkchen und der Weltkrieg“, Band vier der zehnbändigen Nesthäkchen-Serie. Er erschien erst 1922 und endet mit den Worten: „Mögen es bald die Friedensglocken sein, die Deutschland durchjubeln – das walte Gott. Mit diesem Wunsche nehme ich Abschied von Euch, meine lieben jungen Leserinnen. Auch mancher von Euch hat der Weltkrieg wohl, gleich unserm Nesthäkchen, Opfer auferlegt, kleine und größere. Aber ich bin davon durchdrungen, daß auch Ihr sie freudig fürs Vaterland auf Euch genommen habt. Wenn das schwere Ringen zu Ende und ein siegreicher Frieden unserer teuren Heimat beschieden ist, dann erzähle ich Euch, was aus Doktors Nesthäkchen wurde.“
Von einem „siegreichen Frieden“ konnte keine Rede mehr sein. Deutschland stand als Brandstifter des Weltkriegs, der 17 Millionen Tote gefordert hatte, am Pranger der Weltöffentlichkeit, die Niederlage war mit dem Versailler Friedensvertrag besiegelt worden. Bei Else Ury kein Wort davon. Sie hat das Buch vermutlich aus der Sicht des Jahres 1916 schreiben wollen, als sie selbst noch voller Hoffnung auf einen „Siegfrieden“ war. In einer Verlagswerbung von 1924 heißt es: „Nesthäkchen und der Weltkrieg ist beileibe keine Kriegs- oder gar Hurrageschichte. Das muß besonders hervorgehoben werden. Trotz des Ernstes, mit dem dieser Band durchwebt ist, zieht sich der goldene Faden des Humors hindurch.“
Dieser Einschätzung des vierten Bandes der Nesthäkchenserie haben die Verleger nach 1945 nicht getraut. Im Gegenteil. Bis heute, hundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs, hat sich bisher kein Verlag bereit erklärt, diesen Band wieder erscheinen zu lassen. Anfangs war der Band auch sicher zurecht auf der Verbotsliste der Alliierten Kontrollbehörden. Im Jahre 2006 traute sich Steven Lehrer, ein Deutsch-Amerikaner, den Band zu übersetzen und mit einer Einleitung in den USA zu publizieren.
Ist es denn eine „Kriegs- und Hurrageschichte“, ganz im Gegensatz zu der freundlich-naiven Werbung aus Meidinger`s Jugendschriften Verlag der zwanziger Jahre? Sollte man den Band nicht besser in der Versenkung verschwinden lassen und dem Vergessen anheim geben? Wie immer liegen die Dinge nicht so einfach, dass ein eindeutiges Urteil zu fällen wäre.
Else Ury, 1877 geboren, war das dritte Kind einer traditionell jüdischen Familie, hineingeboren in das deutsche Kaiserreich, das den jüdischen Bürgern Gleichstellung versprach und Anpassung einforderte. Assimilation war das Gebot der Stunde. Die Familie lebte im alten Zentrum Berlins, dicht beim Alexanderplatz. Der Vater, Emil Ury, war Teilhaber einer Tabakfabrik, die Mutter, Franziska Ury, stammte ebenfalls aus jüdischer Familie. Es entwickelte sich bei den Urys der typische Aufstieg jüdischer Bürger vom Unternehmer zum Akademiker. Die Brüder studierten Medizin und Jura, die jüngste Schwester wurde Gymnastiklehrerin und heiratete den Baurat Heymann.
Örtlich führte der Aufstieg aus der Alten Mitte zur Kantstraße, Nähe Savignyplatz. Nicht weit entfernt hatte der Kaiser mit großem Pomp die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche eingeweiht und im nahe gelegenen KaDeWe konnte die glitzernde Konsumwelt bewundert werden.
In ihrer Kindheit war Else Ury in die Synagoge Heidereuter Gasse geführt worden. Die lag dicht beim Scheunenviertel, das sich zum Armenviertel der aus Osteuropa kommenden Juden entwickelte, den Planjes, wie sie auch in der Familie Ury verächtlich genannt wurden. Das Gebiet betrat ein seriöser Bürger nur mit einem gewissen Schaudern. Männer mit Schläfenlocken und Kaftan beherrschten das Straßenbild ebenso wie unzählige, schlecht ernährte Kinder. Ein Gaunerviertel, auch ein Hurenviertel. In der Heidereuter Gasse ganz in der Nähe gab es zahlreiche Betschulen und kleine Synagogen. Die Gläubigen eilten durch die stille Straße, versammelten sich zum Gebet. Wer hier aufwuchs, auch als behütetes kleines Mädchen, vergaß das nie.
Die Familie Ury war stets bemüht, gleicher Maßen guter Jude und guter Deutscher zu sein, die jüdische und die deutsche Identität in der Waage zu halten. Eine Entscheidung zwischen diesen beiden Grundlagen ihres Lebens schien ihnen unvorstellbar.
Else Ury ging zehn Jahre in die Königliche Luisenschule in der Ziegelstraße und lernte alles, was man für angemessen und nützlich für die zukünftigen Ehefrauen der Unternehmer, Akademiker und Militärs hielt. Viele Schülerinnen stammten aus bekannten adeligen Familien. In der Schule gab es auch einen jüdischen Religionsunterricht. Man war religiös tolerant. Das konnte von den meisten Einrichtungen des Kaiserreichs nicht gesagt werden. Immer wieder erlebten bürgerliche Juden das, was ein Zeitzeuge „den Verlust der Harmlosigkeit“ nannte, mit dem jeder Jude und jede Jüdin irgendwann unmissverständlich darauf gestoßen wurde, anders zu sein als die Mehrheitsgesellschaft. Das in der Verfassung des Deutschen Reiches verankerte Versprechen der Gleichstellung griff nicht in allen Lebensbereichen. Der Antisemitismus durchzog die Gesellschaft bis in ihre Eliten hinein. Insbesondere ein Aufstieg in der Armee war für Juden unerreichbar.
Als am 4. August 1914 Kaiser Wilhelm das Volk mit einer viel beachteten Rede auf den Eintritt in den Krieg einschwor, schien sich für die Minderheit der Bürger jüdischen Glaubens alles zu ändern. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche! Zum Zeichen dessen, dass Sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschied, ohne Stammesunterschied, ohne Konfessionsunterschied durchzuhalten mit mir durch dick und dünn, durch Not und Tod, fordere ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und mir das in die Hand zu geloben.“
Die zentrale Aussage der Thronrede nahmen die deutschen Juden bereitwillig für sich in Anspruch und verstanden sie als Ermutigung, nun mit den christlichen Brüdern gemeinsam und uneingeschränkt das Vaterland verteidigen zu dürfen.
Die „Jüdische Rundschau“ schrieb dazu im August: „Wir deutschen Juden kennen trotz aller Anfeindungen in den Zeiten des Friedens heute keinen Unterschied gegenüber anderen Deutschen. Brüderlich stehen wir mit allen im Kampfe zusammen.“ Doch die Hoffnung auf Gleichstellung wurde sehr schnell eingetrübt. 1916 verfügte das Kriegsministerium die Registrierung aller Soldaten mit „israelitischem Bekenntnis“. Im deutschen Offizierskorps war gemunkelt worden, Juden seien Drückeberger und Kriegsgewinnler. Angeblich wollte das Ministerium mit der Registrierung diesen Gerüchten mit Zahlen und Fakten entgegentreten. Die meisten jüdischen Soldaten begriffen die Maßnahme als das, was sie im Kern war: eine erneute Ausgrenzung und Beleidigung.
Else Ury, die sich offensichtlich entschieden hatte, ihre kleinen Helden ohne bestimmte Religionszugehörigkeit darzustellen und so die Identifikation der Kinder aller Bekenntnisse mit ihnen zu ermöglichen, erwähnt solche Art Demütigung einer Minderheit, der sie selbst angehörte, mit keinem Wort. Lieber beschwor sie „die neue Volksgemeinschaft, dieses enge Band zwischen Arm und Reich, das sich allmählich schmiedete“ und das der Kaiser mit seiner Schlossrede so intensiv unterstützt hatte. Auch wenn der Krieg länger dauerte als gehofft, auch wenn die Unbequemlichkeiten des Alltags zunahmen, Else Ury vertraute weiter „auf die weise Führung des Kaisers“ und ein siegreiches Ende des Krieges, eine Hoffnung, die sie sicher mit Millionen Deutschen teilte.
Der patriotische Einsatz der Frauen und Mädchen in den Kriegsjahren galt der „Heimatfront“. Fast alle Frauenverbände, einschließlich des Jüdischen, hatten sich zusammengeschlossen. Gertrud Bäumer, Helene Lange, Bertha Pappenheim, Alice Salomon, Marie-Luise Lüders, um die Angesehensten unter den öffentlich wirkenden Frauen zu nennen, riefen den „Nationalen Frauendienst“ als gewaltige Kriegsorganisation aus, die alle Frauen, unabhängig von Partei und Konfession, umfassen sollte. „Staatssozialismus mit weiblichem Antlitz“ nannten manche Propagandistinnen die organisierte Einbeziehung der Frauen in die Kriegsmaschinerie. Gertrud Bäumer und Helene Lange feierten den Krieg als Geburtsstunde der staatlichen Wohlfahrtspflege in Deutschland. Fürsorge sollte nicht mehr länger eine veredelnde Tat der Damen der Oberschicht sein; sie wurde in diesen Jahren systematisch professionalisiert. Der Beruf der Fürsorgerin mit einem Ausbildungsgang an staatlichen Schulen hat hier seine Wurzeln, eine Entwicklung, die die volle Billigung von Else Ury fand. Typischerweise besuchen zwei Enkelinnen von Nesthäkchen später eine Fürsorgerinnenschule. Ury war offensichtlich begeistert von der sozialen Aktivität der Frauen im Krieg und wahrscheinlich nahm die fast Vierzigjährige auch aktiv daran Anteil.
In ihrem Buch „Nesthäkchen und der Weltkrieg“ beschreibt sie ausführlich diese Aktivitäten, ob es nun die Flüchtlingsbetreuung durch die Pfadfinder oder die Strickarbeiten des Junghellferinnenbundes ist. Es geht um echte Opfer, wie den Kindern immer wieder vorgehalten wird. So lässt sie die Großmutter sagen: „Mit Geld und Waren allein ist es nicht getan. Opfern heißt, etwas hingeben, was einem schwer wird. Unsere Zeit und unsere Arbeit wollen wir dem Vaterlande opfern. Nicht, was dir Spaß macht, sollst du tun, sondern das, was am nutzbringendsten für unsere Krieger ist.“ Und Nesthäkchen fügt sich nach anfänglichem Sträuben gegen das verhasste Stricken dem Gebot der Stunde. Belohnt wird sie durch die Siege der deutschen Truppen.
„Unvergessliche Tage, dieses herrlichen Augusttage des ersten siegreichen Vordringens der deutschen Truppen, der großen opferfreudigen Begeisterung der Daheimgebliebenen. Jedem der jungen Kinder, die da für das Vaterland schafften, gruben sie sich unauslöschlich für das ganze Leben in die Seele.“ Der Krieg als Erziehungsinstrument für die Jugend ist ein Motiv, das in dem Band immer wieder beschworen wird. Zum Glück für ihre Leserinnen hat Else Ury über so viel patriotischem Hochgefühl den Humor und leisen Spott nicht ganz verloren. So betet Annemarie Braun, wie das Nesthäkchen mit richtigem Namen heißt, am Abend des ersten großen Sieges, als „die Festung Lüttich im Sturm genommen wurde: „Lieber Gott, lass doch meine Mutti bald wieder nach Berlin kommen, aber nicht die ollen Russen. (…) Und schick uns doch wieder solch einen Sieg wie heute, ja? Bitte hilf uns Deutschen doch lieber Gott. (…) Und wenn du uns nicht helfen willst, dann hilf bitte, den anderen auch nicht – bleibe wenigstens neutral, lieber Gott.“
So ein Neutralitätsgebet wurde 1914 sicher weder in den christlichen Kirchen noch in den Synagogen gesprochen. Else Ury hält trotz aller Wünsche auf einen deutschen Sieg eine gewisse Distanz zu den vaterländischen Aufwallungen. Das zeigt sich auch, als Nesthäkchen entschieden behauptet, nun kein Französisch mehr lernen zu wollen, weil sie die „Sprache der Feinde“ nicht sprechen will. Dazu sei sie viel zu patriotisch. Die kindliche Entschlossenheit wird schnell ad absurdum geführt, ebenso wie das Bestreben, keine Fremdworte mehr zu benutzen. Jedes Fremdwort wird in der Schulklasse von Nesthäkchen, aber auch zu Hause, mit einer kleinen Geldstrafe belegt. Absurde deutsche Varianten kommen ins Spiel: aus der Jalousie über dem Balkon wird das Zeltdach über dem Vorbau, aus Soße Tunke, aus Serviette Mundtuch. Bei Else Ury wird die Umbenennung der Fremdworte zum lustigen Spiel. In den großen deutschen Zeitungen aber wurde die Sache sehr ernst genommen. Dort gab es täglich eine Rubik: Deutsche sprecht Deutsch!
Einen großen und bestimmenden Raum nimmt die Geschichte der Vera ein. Vera stammt aus Czernowitz und kommt in die Schulklasse von Nesthäkchen, ohne Deutsch sprechen zu können. Das bringt die Klassenkameradinnen auf die Idee, Vera sei eine „Feindin“, später wird sie gar als Spionin verdächtigt. Sie grenzen sie mit allen Mitteln aus der Klassengemeinschaft aus. Das privilegierte Bürgermädchen Annemarie Braun erweist sich als Wortführerin bei diesem grausamen Spiel. „Wer mit Vera Burkhard in den Pausen geht oder überhaupt mit ihr spricht, verrät sein Vaterland,“ lässt Annemarie die Kameradinnen wissen und die halten sich an die Anweisung. Annemarie genießt die volle Autorität in ihrer Klasse. Keine will es mit ihr verderben.
Obwohl im Buch immer wieder behauptet wird, der Krieg erziehe die Kinder zu sozialem Verhalten und Mitgefühl, ist im Fall der Vera davon keine Spur zu merken. Im Gegenteil: „Annemarie war noch äußerst stolz darauf, ihre Klasse vor einem Vaterlandsverrat errettet zu haben“ und trieb es am Schlimmsten mit ihrer Feindschaft gegen die „Polnische“, die sich verzweifelt bemühte, die Sympathie der Wortführerin zu gewinnen. Vera tat alles, um Annemarie gnädig zu stimmen. Sie sparte sich einen wunderbaren Apfel vom Mund ab, bot ihn der Peinigerin zum Geschenk, die ihn verschmähte.Annemarie ließ sich auch nicht mit unter den Regenschirm nehmen, half ihr nicht mit Fahrgeld aus. Ihr Bruder Klaus, der, wie es heißt, „die Spionenkrankheit hat“, bestärkte sie noch in ihrem Verhalten und brachte sie auf die verrückte Idee, dass Vera wahrscheinlich eine russische Spionin sei. Überall wurde in Berlin damals vor Spionen gewarnt. So konnte das Mädchen sich schnell dazu überreden lassen, auch Vera für eine Spionin zu halten und sie von der Mitgliedschaft im Junghelferinnenbund auszuschließen.
Ausführlich schildert Else Ury das Hin- und Her in Annemaries Gewissen. Manchmal kamen dem Kind Zweifel an seiner Hartherzigkeit, doch ließ sie sich dann erneut von irgendwelchen scheinbar patriotischen Überlegungen beschwichtigen. Dann wieder wurde sie, wie die Ury schreibt „an sich selbst zweifelhaft“, aber das hielt nicht lange vor. Ury sucht nach Gründen für Nesthäkchen Grausamkeit. Im Grunde, so ihr Befund, ist Annemarie ja ein mitfühlendes, gutes Mädchen. „Nur falsche Vaterlandsliebe hatte ihr Herz gegen Vera verhärtet.“
Diese Analyse ist nach allem, was Else Ury vorher über den segensreichen Einfluss des Krieges auf die Jugend geschrieben hat, erstaunlich. Bisher hieß es, dass der Krieg die Kinder zu Opferbereitschaft und Mitgefühl erzog. Nun steht die Vaterlandsliebe selbst am Pranger. Offensichtlich gibt es für die Autorin eine richtig und eine falsche Vaterlandsliebe und das Nesthäkchen ist leider eine Zeitlang der falschen gefolgt und hat sich mit einer Mauer der Verachtung gegen die „Polnische“ umgeben. Else Ury hält die Spannung, wie das Dilemma zu lösen sei, über mehrere Kapitel aufrecht, um schließlich aus Annemarie Braun und Vera Burkhard Freundinnen fürs Leben zu machen.
Die Geschichte der Ausgrenzung von Vera findet ein sehr patriotisches Ende. Der Vater des Mädchens stirbt den „Heldentod“ für Deutschland und Annemarie Braun entschließt sich endlich, ihr Unrecht wieder gut zu machen und sich bei Vera zu entschuldigen. Vera wird ihre „beste“ Freundin, ein Leben lang. Doch Else Ury gesteht ein, dass diese Wendung „teuer erkauft“ ist.
Else Ury gelingt mit der Geschichte der Vera ein genaues Bild einer Ausgrenzung, bei dem sowohl die Täterin und ihre Maßnahmen als auch das Opfer und seine Verzweiflung präzise beschrieben sind. Mit heutigen Worten ist es die Chronik einer Mobbing-Aktion, bei der das Mitglied der Gruppe, das am meisten privilegiert ist, keinen Widerspruch duldet und alle anderen die Angst umtreibt, selber Opfer zu werden.
Woher, so frage ich mich, kannte Else Ury so genau die Gefühle einer Ausgegrenzten? Meine Vermutung ist, dass sie als Jüdin immer wieder derartiges Verhalten erlebte, den „Verlust der Harmlosigkeit“, der auch an ihr nicht vorbei gegangen sein wird. Als Kind, als Erwachsene? Davon wissen wir leider nichts.
Doch ist bekannt, dass es ab 1916 die „Judenzählung“ in der Armee gab, obwohl es anfangs geheißen hatte: wir kennen keine Konfessionen mehr. Es ist anzunehmen, dass ein Grundgefühl ihrer Existenz in der Vera-Geschichte seinen Ausdruck findet.
Mit Pathos beschreibt Else Ury, wie die englische Blockade mit Tapferkeit und Opferfreudigkeit bewältigt wird, „alle von demselben Willen beseelt: Wir müssen siegen.“ Die angeblich glänzende Einteilung und sparsame Fürsorge der Regierung wird gelobt und der Eindruck vermittelt, alles sei zum Besten bestellt, sparen und haushalten müssten doch alle gleichermaßen. Diese Beschreibung stimmte schon 1916 nicht mehr mit der realen Stimmung in der Bevölkerung überein. Jedermann wusste, dass es weiterhin Arme und Reiche gab, dass die Offiziere andere Verpflegung bekamen als die Mannschaften, und es einen entwickelten Schwarzen Markt gab, an dem sich die Reichen mit allen Luxusgütern bedienen konnten. Else Ury vermittelt jedoch das Bild einer harmonischen Volksgemeinschaft, in der die Führenden „weise haushalten“ und alles gerecht verteilt wird. So steht Nesthäkchen begeistert Schlange bei der „Butterpolonaise“, wo die Menschen in langen Schlangen aufgereiht warteten, dass sie wenigstens ein halbes Pfund Butter bekamen, manchmal gingen sie auch leer aus. Doch: „Trotz all dieser Schwierigkeiten und Opfer erlahmte der Wille zum ‚Durchhalten‘ im deutschen Volke nicht.“
Wie immer bei Else Ury wird nach allen Regeln der Kunst Weihnachten gefeiert. Endlich gibt es auch Post von der Mutter aus England. Diese war vor Ausbruch des Krieges zu Verwandten nach England gefahren und saß dort fest, durfte nicht ausreisen. Der Brief der Mutter, sehnlichst erwartet, enthüllt, dass sie schon viele Briefe geschrieben hatte, diese aber von der Zensur festgehalten wurden, weil sie darin England heftig kritisiert und ihren patriotischen Gefühlen unmissverständlich Ausdruck verliehen hatte.
Anders als die meisten anderen Bände der Serie ist die Geschichte vom Weltkrieg hochpolitisch und in keiner Weise das, was oft Else Urys Büchern angelastet wurde: eine ‚heile‘ Welt darzustellen. Aus der Erfahrungswelt des ersten Weltkriegs schrieb Else Ury zwei weitere Bücher. „Flüchtlingskinder“ (1918) und „Lieb Heimatland“ (1919 – 1920). Der Kriegsroman „Lieb Heimatland“ wurde bereits 1916 im „Kränzchen“, einer Zeitschrift für junge Mädchen, als Fortsetzungsgeschichte abgedruckt. Es ist eine Geschichte über Familienglück und Familienleid bei der Vertreibung aus der geliebten Heimat Ostpreußen. Wieder ist es Hindenburg, der der jungen Heldin Ruth Hoffnung macht, bald in ihre angestammte Heimat zurückzukehren. Wieder ist Recht und Wahrheit auf der Seite der deutschen Soldaten und die Hoffnung der Ury, die sie den jungen Leserinnen vermittelt, ist ganz auf nationalem Kurs: Größer und herrlicher wird Deutschland aus diesem Krieg hervorgehen! 1920 kam die Geschichte auch als Buch auf den Markt. Da blieb es bei Kriegsbegeisterung, kaisertreuer, naiver Parteilichkeit für die armen Ostpreußen und gegen die „Kosakenhorden“.
„Flüchtlingskinder“, eine Erzählung für Kinder von sieben bis elf Jahren, ist auch ein sehr patriotisches Buch. Zwei ostpreußische Kinder verlieren in den Kriegswirren ihre Eltern und müssen getrennt in fremden Familien die Kriegszeit durchleben. Der kleine Junge knetet im Kriegskinderhort „unseren Kaiser“ und das Mädchen erzählt freudestrahlend, dass Hindenburg die ganze Ostmark schützt. Der Junge wird auch noch ein richtiger Held: Er belauscht russische Kriegsgefangene und erfährt dabei von einer Sabotageaktion an einem deutschen Militärtransport. Hans, so heißt der Held einmal wieder (wie Else Urys Bruder), läuft todesmutig dem gefährdeten Zug entgegen und rettet die deutschen Soldaten. Seine Heldentat verbreitet sich in ganz Deutschland und die nach Sibirien verschleppte Mutter erfährt auf der Flucht von ihrem tapferen Sohn. Dank der großzügigen Hilfe des Prinzen bekommt die Familie Haus und Hof zurück und ist wieder glücklich vereint. Über das Schicksal der russischen Kriegsgefangenen – sicher werden sie zu Tode geprügelt, aufgehängt oder erschossen worden sein – erfahren die zarten Seelen der siebenjährigen Kinder selbstverständlich nichts.
Else Ury befand sich 1914 mit ihrer Kriegsbegeisterung in „guter“ Gesellschaft. 92 Berliner Professoren, Künstler und Wissenschaftler unterzeichnen im August 1914 einen Aufruf „an die Kulturwelt“, nennen den Kaiser den Schirmherrn des Friedens und verkünden, dass nur ein siegreicher Friede den Weiterbestand der deutschen Kultur gewährleisten werde. Sozialdemokratische Zeitungen jubeln, dass der Krieg Arm und Reich zusammenschmiede und man Sozialismus sehe, wohin man nur blicke. Auf Emanzipation bedachte Frauen gründen den „Nationalen Frauendienst“. Jubelnden Menschen begleiten die lachenden Soldaten mit Blumen an die Züge zum Kriegseinsatz.
Wir kennen diese Bilder und wissen inzwischen, dass diese Begeisterung im Deutschen Reich gar nicht so einhellig und nicht überall derart überschäumend war. Else Ury hatte die Soldatenzüge, die zum Bahnhof Zoo marschierten, direkt vor ihrer Haustür. Der naiven Menschlichkeit der Ury haben die Ereignisse sicher zugesagt. Sie hat – wie viele andere auch – den imperialistischen Zweck der Kriegsführung und die Absichten der Unterdrückung jeder Opposition nicht durchschaut. 1914 nicht und später auch nicht.
Nach 1918 veröffentlichte sie weitere Nesthäkchen-Bücher, verfasste die Serie von Professors Zwillingen und eine große Anzahl anderer Bücher für Kinder und Jugendliche. Teilweise öffnete sie sich modernen Strömungen der Frauenemanzipation und Pädagogik, doch ist mein Eindruck, dass sie gedanklich weiter im Kaiserreich verwurzelt blieb, demokratische Entwicklungen ihr eher fremd waren. Vielleicht liegen in den Erfahrungen des Weltkriegs auch die Wurzeln für Else Urys Verkennung ihrer Lage nach 1933. Noch im Sommer des selben Jahres, als der Reichstag schon brannte und die ersten Konzentrationslager errichtet waren, veröffentlichte sie ein Buch mit dem Titel Jugend voraus, in dem sie behauptet, mit Hitler würde der „politische Vorfrühling“ in Deutschlands Staatsregierung Einzug halten und die „aufbauwilligen Deutschen“ schlössen sich „unter Führung des Reichskanzlers Hitler“ zusammen. Wieder diese absurde Hoffnung, dass alles gut wird, wenn das Volk sich unter einer starken Führung zusammenschließt.
Else Ury musste bitter erfahren, dass nichts gut wurde für sie, dass sie nun einer verfemten Minderheit angehörte und die Herrschenden sie mit allen Mitteln aus der Volksgemeinschaft ausschließen und vertreiben werden. Erst 1938, nachdem ihr Bruder Hans durch die Naziverordnungen in den Tod getrieben worden war, sie selbst Schreibverbot erhalten hatte und ihre Bücher aus den Bibliotheken als „jüdisches Gift“ gesäubert wurden, als Familie und Freunde ins Exil gegangen waren, entwickelte sie eine andere Identität als die deutsche.
Auf die Empfehlung eines Bekannten, das Land zu verlassen, soll sie gesagt haben: „Wenn meine Glaubensgenossen bleiben, dann habe ich so viel Mut, Charakter und die feste Entschlossenheit, ihr Los zu teilen.“
Dieses Los ist ihr 1943 zuteil geworden. Sie wird am 6. Januar 1943 in die Deportationssammelstelle Große Hamburger Straße gebracht. Dort wird ihr die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt und ihr Vermögen zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen. Am 12. Januar wird sie zusammen mit circa 1100 Berliner Juden im Güterwaggon nach Auschwitz deportiert. Nach 20 Stunden Bahnfahrt kommt der Zug in Auschwitz an. Noch am gleichen Tag wird sie in Auschwitz-Birkenau in die Gaskammer getrieben und ermordet.
Nachbemerkung:
Ihren Tod vorausahnend, hatte Else Ury im Herbst 1942 ein Testament gemacht und ihren Lieblingsneffen, Klaus Heymann in London, als Alleinerben eingesetzt. Sie vererbt in ihrem Testament Dinge, die längst ihrer Verfügungsgewalt entzogen, enteignet und verboten waren, und ging offensichtlich davon aus, dass auch ihre Bücher wieder erscheinen und die Zukunft ein anderes Gesicht haben werde. Klaus Heymann, Soldat der britischen Armee, hat dieses Testament bekommen und dafür gesorgt, dass die Nesthäkchen-Serie und andere Ury-Bände wieder erscheinen. Heute lebt er mit seiner Frau Lilo im Londoner Norden und hat im Januar 2014 seinen 96. Geburtstag gefeiert. Else Ury war für ihn „seine zweite Mutter.“ Dass der Band vom Weltkrieg wieder erscheint, findet seine volle Zustimmung.
Quellen:
Marianne Brentzel: Mir kann doch nichts geschehen. Eine zweite Annäherung an Else Ury nach Nesthäkchen kommt ins KZ. Berlin 2007.
Else Ury: Nesthäkchen and the Word War. A Novel. Translated, introduced and annotated by Steven Lehrer. New York 2006.
Zitate aus: Else Ury: Nesthäkchen und der Weltkrieg. Berlin 1922 und Vechta 2014 mit einem Vorwort von Marianne Brentzel.
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Else Ury: Nesthäkchen und der Weltkrieg . Neuauflage mit einem Vorwort von Marianne Brentzel.
Geest Verlag, Vechta 2014. 228 Seiten, ISBN-13: 9783866854680
Aus: "Nesthäkchen im Ersten Weltkrieg: Über die Kinder- und Jugendbuchautorin Else Ury"
Marianne Brentzel, Nr. 8, August 2014, Archiv / Frühere Ausgaben / Schwerpunkt I: Erster Weltkrieg / Essays und Erinnerungen
Quelle:
https://literaturkritik.de/id/19515Johanna Else Ury (* 1. November 1877 in Berlin; ermordet am 13. Januar 1943 im Konzentrationslager Auschwitz)
https://de.wikipedia.org/wiki/Else_Ury-
[...] Bis vor wenigen Jahren begeisterte die Geschichte Millionen von Mädchen. Die Bände, zwischen 1912 und 1925 geschrieben, wurden immer wieder aufgelegt. Sie haben ihre Autorin Else Ury reich gemacht. „Nesthäkchen“ könnte für eine ganz harmlose Erfolgsgeschichte stehen. Doch hinter der heilen Kinderbuch-Welt verbergen sich Abgründe.
Die Bücher besaßen so viel Sprengstoff, dass sie in zwei deutschen Diktaturen verboten waren. Bei den Nazis wegen der jüdischen Herkunft der Autorin, der SED war das Milieu zu bourgeois. Und nun, rund 100 Jahre nach seiner Erfindung, sorgt „Nesthäkchen“ für eine kleine Sensation. In diesem Jahr ist ein Band neu aufgelegt worden, den selbst glühende „Nesthäkchen“-Fans von einst nicht kennen können.
Es ist der vierte der zehn Bände umfassenden Geschichte. Er erschien um 1916, sein Titel: „Nesthäkchen und der Weltkrieg“. Das Buch, das im Ersten Weltkrieg spielt und Kaiser, Armee und Vaterland hochleben lässt, stand nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Zensurliste der Kontrollbehörde der Alliierten. Anders als die anderen neun Bände wurde es in der Bundesrepublik nicht mehr veröffentlicht. Wer die neu aufgelegte Kindergeschichte liest und vor allem das Vorwort dazu, erfährt mehr über „Nesthäkchen“ als in den anderen Bänden: eine Wahrheit, die jahrzehntelang verschwiegen wurde.
Es war einmal eine Kinderbuchautorin, die wuchs in einer Zeit auf, die noch keine professionellen Kinderbuchautorinnen kannte. Else Ury, geboren 1877, Tochter eines jüdischen Tabakfabrikanten in Berlin, schrieb erst nur zum Zeitvertreib und unter falschem Namen Kindergeschichten, bis ein Verlag sie aufforderte, richtige Mädchenbücher zu verfassen.
Mit „Nesthäkchen und ihre Puppen“ begann sie die Lebensgeschichte der Berliner Arzttochter Annemarie Braun, die eigentlich mit deren Hochzeit enden sollte. Weil Ury jedoch immer wieder Briefe von jungen Leserinnen erhielt, die wissen wollten, wie es mit Annemarie weiterging, schrieb sie schließlich zehn Bände, Titel des letzten: „Nesthäkchen im weißen Haar“.
Die Reihe wurde zum Mädchenbuch-Klassiker. Und Else Ury, die unverheiratet blieb und ihr Leben lang mit ihren Eltern zusammenwohnte, machte eine Erfahrung, die Frauen in jener Zeit selten vergönnt war: Sie wurde durch eigene Arbeit bekannt und wohlhabend. Als der Vater nichts mehr verdiente, konnte sie für die Familie eine komfortable Wohnung in Charlottenburg mieten und eine Ferienvilla in Schlesien kaufen, in der sie Eltern, Geschwister und deren Kinder um sich versammelte. Das Familienleben war ihr wichtig, die kranke Mutter sollte sie bis zu deren Tod pflegen – und deswegen darauf verzichten, sich vor den Nazis ins Ausland zu retten.
„Nesthäkchen“ spielt in dem wohlsituierten bildungsbürgerlichen Milieu, das Ury so gut kannte, wie sie hat auch Annemarie zwei Brüder, einen klugen und einen frechen. Annemarie ist, so heißt es in der „Nesthäkchen“-Sprache, „ein rechter Wildfang“, fröhlich, aber etwas „liederlich“ und aufmüpfig. Wie immer bei der „Backfisch-Literatur“ geht es auch hier um Bändigung, aus einem verwöhnten Spielkind muss eine umsichtige Ehefrau und Mutter werden.
Anders jedoch als etwa bei denen im Nationalsozialismus verfassten „Pucki“-Bänden von Magda Trott dürfen die Figuren ihre Eigenheiten behalten, Individualität ist kein Vergehen. Der Verzicht auf Zurichtung ist das Besondere an „Nesthäkchen“ und wohl der Grund dafür, warum die Reihe bei so vielen Generationen beliebt war: Menschen sind unterschiedlich und dürfen es sein. Kinder, die aus der Reihe tanzen, werden zwar getadelt, doch der Umgang ist liebevoll, empathisch, rohrstockfrei.
Das ist noch nicht Reformpädagogik – aber kurz davor. Weit entfernt von der damals herrschenden schwarzen Pädagogik, die mit Angst und Prügelstrafen arbeitete. Und, auch das eine damals ungewöhnliche Ausnahme: Die Ehe ist nicht das erste Ziel bei der Töchtererziehung, Bildung ist noch wichtiger. Zwei von Nesthäkchens Freundinnen arbeiten in angesehenen Berufen, bis sie – so viel heile Welt muss sein – doch noch den Richtigen finden. Die bildungsbürgerliche Ausrichtung, glaubt Urys Biografin Marianne Brentzel, war auch ein Grund, warum „Nesthäkchen“ in der NS-Zeit verboten wurde. Diese mehrsprachigen, schlagfertigen, humorvollen Frauenfiguren waren den Nazis zu selbstbewusst.
Moderner als seine Zeitgenossen aus dem Kinderzimmer wirkt „Nesthäkchen“ auch, weil es ein urbanes Buch ist, die Großstadt, in der es spielt, sorgt für spannende Kulissen. Zumal in „Nesthäkchen und der Weltkrieg“, das in vielen Szenen den Alltag in den ersten Kriegsjahren bis 1916 schildert.
Annemaries Schule wird zum Lazarett umgewandelt, die Großmutter kommt mit den Lebensmittelkarten nicht zurecht, vor den Milchgeschäften bilden sich lange Schlangen, die „Butterpolonaisen“, und in allen Männerberufen sind nun Frauen unterwegs: Als Schaffnerinnen in der „Elektrischen“, als „Autoführerinnen“, sogar in der Müllabfuhr arbeiten nun Frauen. Annemarie hisst bei jeder Siegesmeldung die Fahnen auf dem Balkon, beteiligt sich an einer Kleidersammlung für die „Feldgrauen“ und besucht eine arme Familie in einer Mietskaserne.
Nur ein Lebensbereich kommt nicht vor, er fehlt in allen Nesthäkchen-Büchern: das jüdische Berlin, das Else Ury doch so vertraut war. Sie wuchs in einer Familie auf, die nicht streng religiös war, die jüdischen Festtage und Traditionen aber pflegte. In der „Nesthäkchen“-Welt spielt Religion keine Rolle. Das Weihnachtsfest ist mehr familiär als religiös geprägt, und es gibt einen überkonfessionellen Gott, an den Ury ihr Nesthäkchen kriegsaktuelle Gebete richten lässt: „,Bitte, hilf uns Deutschen doch, lieber Gott.‘
Da aber fiel Nesthäkchen plötzlich ein, dass vielleicht zur gleichen Stunde französische oder englische Kinder den lieben Gott ebenfalls um seine Hilfe anflehten. Darum setzte es schnell noch hinzu: ,Und wenn du uns nicht helfen willst, dann hilf bitte den anderen doch auch nicht – bleibe wenigstens neutral, lieber Gott. – Amen.‘“
Von Neutralität ist bei der Erzählerin nichts zu spüren. Das Buch, das mit Kriegsbeginn im August 1914 einsetzt, feiert einen „glänzenden Sieg“ nach dem nächsten („Bei Longwy, Namur und Maubeuge bekamen Belgier, Franzosen und Engländer die deutschen Fäuste zu spüren“). Zur Militärmusik wird gejubelt, mit Fahnen und Hurra. Der „Dienst an der Heimatfront“ bestimmt die Schulzeit. Da werden Pulswärmer gestrickt und Lebensmittel verteilt und im Deutschaufsatz das aktuelle Thema erörtert: „Welche Opfer fordert der Krieg von uns Kindern?“
Die vaterländische Inbrunst, die nur selten ironisch gebrochen wird, ist schwer erträglich, sie war für Alfred Büngen vom Geest-Verlag der Grund, die Neuauflage von „Nesthäkchen und der Weltkrieg“ in Fraktur zu drucken: „Damit das die Schulkinder von heute nicht lesen können.“ Als Cover haben er und Brentzel das Umschlagbild einer in den 1920er-Jahren erschienenen Ausgabe gewählt: „Das einzige, auf dem der Krieg bedrohlich wirkt.“
Zwar macht sich Ury über manchen patriotischen Eifer lustig, etwa den Versuch, alle Fremdwörter durch „echtes Deutsch“ zu ersetzen. Annemaries Weigerung, Französisch zu lernen, wird ausdrücklich getadelt: Nach dem Krieg brauche das Land eine gebildete Jugend. Doch generell gilt der Krieg als gerechte Sache, sein Grauen unabänderlich wie ein Naturereignis. Männer sterben Heldentode, Frauen und Kinder sind „tapfer und opferfreudig im Kampf gegen jederlei Entbehrungen“, „das deutsche Volk hielt durch“ und vertraut der weisen Führung des Kaisers, dessen Rede zum Kriegseintritt („Ich kenne nur noch Deutsche“) im Buch ehrfürchtig zitiert wird.
Marianne Brentzel weist im Vorwort darauf hin, wie bedeutsam diese Rede für die jüdischen Deutschen war, gab sie ihnen doch Hoffnung auf gesellschaftliche Anerkennung. Auch Ury beschwört „die neue Volksgemeinschaft“, obwohl sie mitbekommen haben muss, dass Juden im Fortgang des Krieges keineswegs mehr Akzeptanz erfuhren.
Davon, dass Ury Ausgrenzung und Verleumdung persönlich erlebt hat, ist ihre Biografin überzeugt. Brentzel sieht in der Vera-Geschichte, die in dem Band eine große Rolle spielt, Urys eigene Erfahrungen gespiegelt. Vera ist eine neue Klassenkameradin, die aus Polen stammt und von Annemarie in ihrem vaterländischen Eifer für eine Spionin gehalten wird. Annemarie bringt die ganze Klasse dazu, Vera auszugrenzen. Ein brutaler Fall von Mobbing, den Ury sehr realistisch beschreibt. Aber er erlaubt ihr nur Kritik an den verblendeten Kindern. An der Kriegspolitik, die zu solchem Fanatismus führt, wird nicht gezweifelt.
Else Ury war keine Intellektuelle. Mit der Avantgarde, die sich nahe ihrer Wohnung im „Romanischen Café“ traf, hatte sie nichts gemein. Von Kästners Jugendbuch „Emil und die Detektive“, das ebenfalls in der Weimarer Zeit erschien, ist „Nesthäkchen“ weit entfernt, nicht nur literarisch.
Stramm patriotisch endet „Nesthäkchen und der Weltkrieg“: „Wenn das schwere Ringen zu Ende und ein siegreicher Frieden unserer teuren Heimat beschieden ist, dann erzähle ich Euch, was aus Doktors Nesthäkchen wurde.“ Dies schrieb Ury vermutlich zu einem Zeitpunkt, da das Massensterben in Verdun längst begonnen hatte.
Das Unversöhnliche konnte sich Else Ury nicht vorstellen. Oder sie wollte es nicht wahrhaben. Auch nicht, als die Nationalsozialisten kamen. 1933, nach dem Reichstagsbrand, veröffentlichte sie das Buch „Jugend voraus“, in dem sie Hitler zum Helden erklärt und hofft, „die aufbauwilligen Deutschen ... schlössen sich unter der Führung des Reichskanzlers Hitler“ zusammen.
Es ist nie geklärt worden, was Ury bewogen hat, sich so anzubiedern. Manche bezweifelten, dass sie es wirklich selbst geschrieben hat. Für den Kritiker Alfred Kerr, der ins Exil ging, wurde sie so zur Verräterin, wie seine Tochter Judith Kerr dem „Spiegel“ erzählte: „Er sagte: Else Ury ist ein Schwein.“ Ein Neffe Urys, der in London lebt, hat mittlerweile bestätigt, dass seine Tante das Buch selbst verfasst hat.
Falls sie sich damit schützen wollte, hat es nichts genützt. Statt Zusammenschluss erlebte sie Ausschluss, Erniedrigung und schließlich Verfolgung und Zerstörung fast der gesamten Familie. Das Vaterland, das sie so innig beschwor, stieß sie von sich. Urys Bücher wurden nicht mehr verlegt, sie erhielt Schreibverbot. Die Arbeitsmöglichkeiten ihrer Brüder, ein Arzt und ein Rechtsanwalt, wurden immer mehr eingeschränkt, Hans, der Arzt, nahm sich das Leben. Der andere Bruder rettete sich nach London. Die Schwester floh mit der Familie nach Amsterdam, sie wurde später deportiert und ermordet.
Else Ury blieb bei ihrer Mutter, verlor ihr Vermögen, ihr Ferienhaus, die Charlottenburger Wohnung. Sie wurden umquartiert in ein „Judenhaus“ in Moabit, dort starb die Mutter. Für Flucht war es zu spät. 65 Jahre war Else Ury, als im Januar 1943 der Bescheid kam, sich in der Deportationssammelstelle einzufinden. Am 12. Januar wurde sie mit tausend anderen Berliner Juden im Güterwagen nach Auschwitz transportiert. Direkt nach ihrer Ankunft dort am 13. Januar 1943 wurde sie in die Gaskammer getrieben.
Es waren einmal junge Leserinnen, die wuchsen mit „Nesthäkchen“ auf. Krieg kannten sie nur aus Erzählungen, spannender fanden sie die lustige Annemarie und ihre Puppe Gerda, die Streiche des wilden Klaus’ und die derben Berliner Sprüche von Hanne, der Köchin. All die Zeit, von den Nachkriegsjahren bis in die 1990er, in der „Nesthäkchen“ erneut millionenfach verkauft wurde, interessierte sich niemand für die Autorin.
Else Ury blieb unbekannt. Kein Hinweis auf dem Buchdeckel, keine literarische Würdigung, keine Ideologiekritik, nichts. Es war ja nur ein Mädchenbuch. Die Ausgrenzung, die Else Ury erfuhr, blieb wirksam über ihren Tod hinaus.
Das änderte sich erst, als Marianne Brentzel 1992 ihre erste Biografie von Else Ury veröffentlichte („Nesthäkchen kommt ins KZ“). Der Thienemann-Verlag lässt die „Nesthäkchen-Reihe“ zwar mittlerweile auslaufen, aber die letzten Ausgaben enthalten endlich einen Vermerk über die Autorin. Heute gibt es in Berlin eine Straße, die Else Urys Namen trägt, am ehemaligen Wohnhaus der Familie in Charlottenburg hängt eine Gedenktafel, am letzten Wohnort in Moabit liegt ein Stolperstein.
Eine Neuauflage von Brentzels Biografie ist in Vorbereitung, sie wird unter dem Titel „Mir kann doch nichts geschehen“ im März bei edition ebersbach erscheinen. Und weil in diesem Gedenkjahr so viel über den Ersten Weltkrieg geschrieben und nachgedacht wurde, fanden Brentzel und der Verleger Bünger, dass nun die Zeit reif sei, ein dreifach verbotenes Buch mit Verstand lesen zu können.
Es wird wieder Weihnachten. Und allen ehemaligen „Nesthäkchen“-Freundinnen möchte man „Nesthäkchen und der Weltkrieg“ auf den Gabentisch wünschen. Sie werden erschrecken.
Aus: "Entsetzliche Abgründe eines Mädchen-Bestsellers" Annette Prosinger (28.12.2014)
Quelle:
https://www.welt.de/geschichte/article135701385/Entsetzliche-Abgruende-eines-Maedchen-Bestsellers.html