[...] Nordkorea, Irak und der Iran bilden gemäss Bush eine „Achse des Bösen“. Tony Blair findet das auch. Ronald Reagan nannte früher die Sowjetunion ein „Imperium des Bösen“. Bush und Reagan haben sich öffentlich zum Christentum bekannt, und beide folgten einer bestimmten Interpretation der christlichen Sündenlehre. Sie legt ihnen einen unerbittlichen, ja gnadenlosen Kampf zwischen Gut und Böse nahe. Der amerikanische Film (von dem her Reagan kam), vom klassischen Western bis zum „Krieg der Sterne“, baut auf diesem Gegensatz von Gut und Böse auf und gipfelt regelmässig in der unausweichlichen Konfrontation zwischen dem guten Helden und den Mächten der Finsternis. Diese Ideologie verfolgt den Anspruch, das Gute habe zu siegen. Sie bestärkt die Krieger mental, möglichst bedingungslos an das Gute zu glauben.
Sie gibt die reine Lehre vor, die Reinheit des Guten, das wir anstreben sollen. Wer vom Bösen befallen ist, muss von einem Exorzisten behandelt werden, auch er eine beliebte Filmfigur in Hollywood.
Im Zusammenhang mit der Achse des Bösen ist von neuen Kreuzzügen gesprochen worden, ausgerechnet von einem Europäer, von Berlusconi. Wieder wollen Ritter ohne Furcht und Tadel die Welt erlösen von allem Bösen.
Einmal abgesehen davon, dass diese Kreuzzüge schon einmal verloren wurden: Lehren uns die Erfahrungen mit den Religionskriegen nicht, dass Kreuzzüge grundsätzlich verwerflich sind? All die Religionskriege brachten und bringen bis heute unendlich viel Leid und konnten kaum je von innen heraus, von religiösen Führern, überwunden werden. Meist haben erst politische Herrscher sie beendet, Politiker, die Toleranz aushandelten oder verordneten, etwa 1598 im Edikt von Nantes nach dem Hugenottenkrieg, oder 1648 im Westfälischen Frieden nach 30-jährigem Krieg.
Der bedingungslose Glaube an das Gute und der Anspruch, auf der guten Seite zu sein, führen entweder zu einer Mauer zwischen Gut und Böse - oder zum Krieg.
Der Gute und der Böse spielen nicht miteinander Schach und anerkennen keine Spielregeln. Sie tauschen auch nicht die tieferen Gründe miteinander aus, warum sie je auf der einen oder anderen Seite, genauer, warum sie beide auf der guten Seite zu sein glauben. Jeder ist auf der guten Seite. Jeder ortet das Böse auf der anderen Seite, den Alkohol und die sexuelle Freizügigkeit, die andere Gesellschaftsordnung, den anderen Glauben. Jeder glaubt an das Gute.
Mit dem Glauben hat denn auch der Unterschied zwischen Gut und Böse sehr viel zu tun.
Es war das bedingungslose „Entweder – Oder“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus, welches zum eisernen Vorhang und zur Berliner Mauer führte. Ein Zaun wird derzeit im Nahen Osten errichtet.
Es war die Glaubensfrage zwischen Christen und Moslems, und innerhalb der Christen zwischen orthodoxen Serben und katholischen Kroaten, die zum Krieg auf dem Balkan führte. Es ist dieser heilige Glaube, welcher stets zu ausweglosen Feindschaften, zum Krieg und Gewalt führt, der Glaube, jemand, eine Religion, eine Weltanschauung, eine Politik sei ausschliesslich böse und die andere sei ausschliesslich gut. Es gibt Leute, in deren Köpfe brennt ein heiliger Scheiterhaufen, der ständig auf Opfer wartet. Sie wollen kein Gespräch, sondern nur deklarieren. Wenn der Gesprächspartner ihnen nicht beipflichtet oder ihrem Glauben nicht beitritt, ist er böse, unwert. Solch fromm-verblendeter Fanatismus betrachtet Menschen als Werkzeuge, als Instrumente, als Transportmittel für Selbstmordanschläge. Dort, wo der Mensch als Mittel zum Zweck eingesetzt wird, haben alle Totalitarismen ihre Wurzeln, und zwar in allen Kulturen. Das ist der gemeinsame Nenner von Fundamentalismus, Rassismus und Nationalismus.
Wenn es heute schon beinah antiamerikanisch, also böse ist, Kyoto zu erwähnen, oder wenn es als verdächtig gilt, historische Zusammenhänge aufzuzeigen oder auf die Verteilung des Reichtums in der Welt hinzuweisen, wenn als pazifistisch abqualifiziert wird, wer statt von einem gerechten Krieg gegen den Irak lieber von einem gerechten Frieden im nahen Osten spricht, so nähern wir uns wieder jenem bedingungslosen Entweder - Oder.
[...] Die angemasste Erkenntnis von Gut und Böse verführt dazu, sich als Herren über Gut und Böse zu fühlen, Götter zu spielen.
Der Kampf gegen das Böse ist die gefährliche Verführung gut gemeinter Politik. Der verheerendste Glaube ist, es sei gut, das Böse ausrotten zu wollen. Das Böse ausrotten wollen, heisst in letzter Konsequenz, die Freiheit auszurotten.
Diese Erkenntnis, die Warnung davor, Richter über Böse und Gut zu spielen, ist nicht gleich zu setzen mit einem pazifistischen Appell gegen Terrorismusbekämpfung. So wie die damalige NATO-Intervention im Balkan sehr wohl moralisch zu legitimieren war, ist der Kampf gegen Terror auch eine Notwendigkeit für Menschlichkeit in allen Kulturen und Religionen. Ein „Kampf gegen das Böse“ mit seiner absoluten moralischen Motivation und Ueberheblichkeit ist jedoch etwas anderes und hat auch andere Konsequenzen.
Nicht die reine Güte wollen wir anstreben, weil wir es nicht können, sondern zu unserer Unvollkommenheit stehen, müssen wir. Wir sind unserem Wesen nach fehlerhaft und müssen daher fehlerfreundlich sein. Wir können das Gute nicht erreichen; wir müssen uns mit dem Besseren begnügen. Diese Erkenntnis könnte zumindest eine Voraussetzung für Frieden sein.
In das Paradies gelangen wir nicht mehr. Der Apfel ist gepflückt. Aber wenn wir uns dem paradiesischen Frieden wenigstens nähern wollen, sollten wir den Apfel vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen wieder zurück in die Tiefkühltruhe legen.
Es bleibt uns die Gewissheit, dass er von dort ja doch wieder herausgeholt wird. Denn ewig bleibt die Verführung.
Aus: "Das Böse, das Gute, die Politik" - Rede am Symposium des Lucerne Festival zum Thema «Verführung» - Die Verführung als Thema einer Rede liess mich spontan an Willhelm Reich denken, an Elias Canetti, „Masse und Macht“, an.... Von Moritz Leuenberger (06.09.2002)
Quelle:
http://www.uvek.admin.ch/dokumentation/reden/chef/20020906/01151/index.html?lang=de