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[Ökonomisierung der Innenwelt... (Notizen)]

Started by Textaris(txt*bot), June 25, 2005, 02:48:36 PM

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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Herr Klare, Ihr Buch ,,Was bin ich wert?" liest sich wie der handfeste Beweis für die Beobachtung der Soziologen, dass die marktökonomischen Mechanismen sich auf alle Bereiche des Sozialen ausdehnen. War dieser Verdacht auch für Sie der Anfang Ihrer Recherche?

Jörn Klare: Es war etwas mehr als ein Verdacht. Ich hatte die Rede vom ,,Wert eines statistischen Lebens", kurz WSL, gehört und ahnte, dass es dabei um Kosten-Nutzen-Rechnungen geht. Ich wollte es genauer wissen: Wie werden Menschenleben berechnet? Wozu werden die Berechnungen genutzt? Und konkret: Was könnte ich, Jörn Klare, wert sein?

Bei Ihren Interviewpartnern fällt auf, dass sie Ihre Fragestellung in der Regel spontan abwehren, egal ob Versicherungsagent oder Personalmanager.

Jörn Klare: Ich nenne es einen ,,ethischen Reflex", dass man sagt: Das darf man nicht, den Menschenwert knallhart in Geld berechnen. Den spüren auch die Leute, die genau das tun.

War diese Abwehrhaltung für Sie moralisch beruhigend?

Jörn Klare: In den Gesprächen war sie für mich eher eine Hürde. Ich wusste, jetzt kommt wieder dieser Reflex. Aber ich wollte ja an die Methoden und Zahlen. Welche Bedeutung hat denn dieser Reflex? Wenn er einen nicht daran hindert, zum Taschenrechner zu greifen und eine Eurozahl für ein Menschenleben zu errechnen?

Man könnte sich dem Politiker Hermann Scheer anschließen, mit dem Sie auch gesprochen haben. Er sagt: ,,Ich wende mich nicht gegen rationale Berechnungen. Aber sie müssen die richtigen Prämissen haben."

Jörn Klare: Um es grundsätzlich zu sagen, ist ein historischer Rückblick sinnvoll. Zunächst wurden Menschenwertberechnungen immer positiv begründet, zum Vorteil der Menschen. Medizinhistoriker sind jedoch zu dem Schluss gekommen, dass daraus eigentlich immer Unglück entstanden ist. In Deutschland fing man im 19. Jahrhundert damit an, um argumentieren zu können: Menschen haben einen bestimmten, auch monetären Wert. Es lohnt sich ökonomisch, den zu erhalten – also investiert! Baut Krankenhäuser und Klärwerke. Man brauchte Industriearbeiter und Soldaten. Aber es gibt Menschen, die haben nach dieser Auffassung null Wert. Oder einen negativen Wert, so wurden Behinderte betrachtet. Die sorgen für Kosten und sind für die Volkswirtschaft ein Verlustgeschäft. So entwickelte sich aus der Sozialhygiene die Rassenhygiene. Mit den bekannten Folgen.

Wenn Sie die Rechnung der SS-Führung für die industrielle Verwertung eines KZ-Opfers ,,abzüglich Verbrennungskosten" zitieren, ist das ein Punkt, an dem sich jede Diskussion erübrigt. Heute sind moralische Fragen viel weniger eindeutig zu beantworten. Beispiel: ,,Humankapital". Der Begriff wurde zum Unwort des Jahres 2004.

Jörn Klare: Ich lehne den Begriff ab. Aber es fällt mir schwer, die Sache absolut zu verdammen. Die Ökonomen, die das ,,Humankapital" einer Firma berechnen, argumentieren auch mit guten Absichten: Damit das Unternehmen, bevor es seine Belegschaft entlässt, genauer hinguckt und die Leistung der Leute zu schätzen weiß.

Das ist das Problem der Ambivalenz, es fehlt der eindeutige Standpunkt.

Jörn Klare: Den gibt es aber. Sobald diese Menschenwertberechnungen vom Staat angestellt werden, sind sie verwerflich. Der Staat hat uns nicht wie ein Unternehmen nach Kosten-Nutzen zu beurteilen, um zu prüfen, ob es sich noch lohnt, in den einen oder anderen zu investieren. Der Staat hat seine Bürger als Rechtssubjekte zu schützen; ob sie nun Rentner sind oder junge, gut ausgebildete Wissenschaftler.

Für den Staat sollte der Kompass der Gleichheit gelten?

Jörn Klare: Genau, da müssen alle gleich sein. Bleiben wir beim klassischen Beispiel einer Kosten-Nutzen-Rechnung, um zu entscheiden, ob sich eine Ampel an einer bestimmten Kreuzung lohnt. Die Bundesanstalt für Straßenwesen gehört zu den Behörden, die mit monetären Menschenwerten arbeiten. Und die Kalkulationen, um festzustellen, dass der Volkswirtschaft durch jeden Verkehrstoten ein Wert von 1,2 Millionen Euro verloren geht, sind sehr fragwürdig. Alter und Leistungsmöglichkeit spielen dabei eine große Rolle. Man rettet sich damit, dass zuguterletzt der Durchschnittswert gilt. Sonst könnte man zu dem Schluss kommen, dass es volkswirtschaftlich sinnvoll ist, Ampeln nicht an sozialen Brennpunkten, sondern nur vor Universitäten und in Bankenvierteln zu bauen.

Man könnte sagen: Wie gut, dass der Mensch hinter der Zahl verschwindet.

Jörn Klare: Ein Menschenleben ist für Ökonomen als solches nichts wert. Es muss einen berechenbaren Geldwert haben. Erst dann fängt mit den Kosten-Nutzen-Rechnungen möglicherweise auch die Verantwortung an. Aber sobald gerechnet und die Rechnung genutzt wird, gibt es Gewinner und Verlierer. Damit ist die Frage der Solidarität auf dem Tisch.

Könnte es sein, dass Zahlen Halt und Sicherheit vermitteln? Und dass sie uns dadurch von den Diskussionen, die eigentlich zu führen sind, entlasten?

Jörn Klare: Deswegen halte ich sie für gefährlich. Diese Berechnungen sind verführerisch. Sie erscheinen objektiv und rational. Es geht jedoch um die Prämissen. Unter welchen Vorgaben wird gerechnet? Die Ökonomie hat eine Grenze. Sie ist keine Wissenschaft wie die Mathematik. Ihre Modelle sind nicht die Wirklichkeit.

Sie zitieren einen Wirtschaftswissenschaftler: ,,Ökonomie ist angewandte Ethik."

Jörn Klare: Fürchterlich! Es gibt Ökonomen, die sich anmaßen, mit dem Taschenrechner in der Hand das Geschäft der Ethik gleich mit zu übernehmen. Nach dem Motto: Es ist richtig gerechnet. Einen ihrer Vertreter habe ich mit dem Bericht des Weltklimarates konfrontiert, in dem sich die wahnsinnige Behauptung findet, das Leben des Bewohners eines Industriestaates habe den 15-fachen Wert des Lebens eines Bangladeschis. ,,Klar ist das zynisch", sagte er dazu. ,,Aber es ist richtig gerechnet, also stimmt es." Bizarre Unterschiede finden sich auch bei den Berechnungen des Werts für einen gefallenen Soldaten. Während man für einen Amerikaner 6,5 Millionen veranschlagt, ,,kostet" ein Bulgare, Ukrainer oder Salvadorianer noch nicht einmal halb so viel. Das war für mich bei der Recherche der Punkt, an dem mir klar wurde, wie wichtig ein Bewusstsein ist – nicht für Zahlen, sondern für Zusammenhänge und Hintergründe.

Trotzdem ist der Sog der Zahlen offenbar so stark, dass es bei einem folgenlosen Unbehagen bleibt, weil man sich nicht mehr traut zu sagen: die ökonomische Menschenwertberechnung ist tabu!

Jörn Klare: Man muss es sich trauen. Umso mehr, je deutlicher die Tendenz wird, dieses Tabu aufzuweichen. Philipp Mißfelders Plädoyer, Menschen über 85 keine künstliche Hüfte mehr zu finanzieren, war nur der Auftakt. Es wird immer mehr darauf ankommen, den Sieg der Ökonomie zu verhindern – mit der Verteidigung von Werten, die nicht berechenbar sind.


Quote*  von KalAua
    * 05.09.2010 10:59 Uhr
   
Wir sind aktiver Teil des Systems

Richtig ist, dass unser Leben immer mehr durchökonomisiert wird. Trotzdem muss immer im einzelnen betrachtet werden, weshalb eine Berechnung stattfindet. Dazu einige Beispiele:
- Wenn den Sozialhilfeempfängern die kostenlosen Implantate beim Zahnarzt gestrichen werden, dann heißt das nicht, dass sie weniger wert sind als andere, sondern dass es sich um sehr teuere medizinische Leistungen handelt, die sich ein Großteil der arbeitenden und Beiträge zahlenden Bevölkerung nicht leisten kann.
- Wenn junge Menschen in ihren Heimatländern studieren, dann aber zu großen Teilen nicht dort arbeiten, spricht man von Braindrain, zurecht - denn die Ausgaben, die ein Land in die gesamte Ausbildung gesteckt hat, kommt ihm nicht zugute.
- Wenn wir billige Kleidung aus Bangladesch kaufen und behaupten, wir könnten uns nichts teureres leisten, behaupten wir auch, dass Bangladeschis weniger wert sind, weil sie unseren Bedarf zu inhumanen Bedingungen versorgen müssen.
- Wenn Teile der Kriegführung privatisiert werden, dann weil Nepalis in Afghanistan für billiges Geld gefährliche Jobs machen und so den US-Haushalt entlasten - Outsourcing eben.

Eigentlich kennen wir alle diese und noch viele andere Beispiele. Wir entrüsten uns moralisch-ethisch, kaufen aber am Ende immer das, was am billigsten zu bekommen ist. Wir sind selbst auch aktiver Teil der "Durchökonomisierung". Wir sind Teil des Systems Kinderarbeit, Zwangsprostitution (Flatrate), Bürgerkriege um Rohstoffe, Umweltzerstörung ... Wir rechnen sehr genau, ohne uns um den Wert der Opfer unseres Lebensstandards zu scheren.


Quote*  von rivka
    * 05.09.2010 15:43 Uhr
   
Die ökonomisierung des Braindrain lässt allerdings auf sich warten; es ökonomisiert sich wohl leichter im unteren Drittel der Gesellschaft.

Wollte man den Braindrain ökonomisieren - was man sollte - dann müssten alle, die in Deutschland kostenlos oder zu sehr geringen Kosten studiert haben, weil der Staat - die Allgemeinheit also - ihnen das Studium finaziert hat, eben diese Kosten in voller Höhe zurückerstatten, da der Staat, mithin die Gesellschaft, ja von seiner bzw. ihrer Investition nicht profitiert.

...





Aus: "Ökonomisierung: Wie viel ein Mensch kostet" (04.09.2010)
Das Gespräch führte Angelika Brauer. Jörn Klares Buch ,,Was bin ich wert? – Eine Preisermittlung" ist im Suhrkamp Verlag erschienen ...
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/kultur/wie-viel-ein-mensch-kostet/1918348.html


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Wirtschaftswachstum bleibt notwendige Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt.

Quote* 05.10.2010 um 20:58 Uhr
    * Jahiro

Weniger ist Mehr.

"Wirtschaftswachstum bleibt notwendige Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt."

Was für ein Unsinn. Eine Gesellschaft kann sich auch ohne Wirtschaftswachstum entwickeln. [...] Denn ewiges Wachstum kann es in einer endlichen Welt nicht geben.

[...] Hier singt jemand das Hohe Lied des Wachstums, ohne sich die geringsten Fragen zu stellen, ob dies überhaupt sein kann, geschweige denn wünschenswert ist:

- Will jemand noch mehr essen? Wir sind schon zu fett.
- Will jemand noch mehr Medien konsumieren? Wir verbringen schon viel zu viel Zeit vor dem Fernseher/ Computer.
- Will jemand noch mehr Autos? Hier gibt es ein Verteilungsproblem, aber mehr Autos auf den Strassen will keiner.
- Will jemand noch mehr Kleidung? Die Schränke der meisten Bürger sind brechend voll.
- Will jemand noch größere Wohnungen? Wer soll die denn bezahlen? Von den Nebenkosten ganz zu schweigen.

Wir haben ein enormes Verteilungsproblem - sonst nichts.

...


Quote* 05.10.2010 um 21:08 Uhr
    * PGMN

... Seien Sie so gut und sprechen Sie nur für sich selbst.

Btw.: Wer sind Sie, zu entscheiden, wieviel, oder was, eine Andere Person braucht?



Quote* 05.10.2010 um 21:16 Uhr
    * VertigoEchos

Wir können es uns leisten Arme zu haben!

Die Thesen interessieren, aber nur um als Negativbeispiel einer unvollständigen Ursachenforschung zu dienen. Es wird zwar sehr wohl auf die Ungleichverteilung der wirtschaftlichen Partizipation hingewiesen, die Ursache der geltenden Machtverhältnisse bleibt aber unangetastet. Statt dessen wird wieder einmal die seichte Forderung nach noch mehr Wirtschaftswachstum gestellt, obwohl schon genügend Wirtschaftsleistung vorhanden ist, um allen einen angemessenen Lebensstandard zu garantieren. Die Armut ist keine, sie ist lediglich die Verweigerung einer Minderheit die von der Mehrheit erarbeiteten Ressourcen gerecht zu verteilen. Um das Leistungsbild der Wirtschaft noch zu erweitern sei gesagt, dass sich das BIP seit 1990 um 50% gesteigert hat, bei gleichbleibender Bevölkerungszahl. Die Wirtschaftsleisung hat real um 900 Milliarden zugenommen. Die Alimentierung mit hartz IV beträgt 5 Mia. bzw. 0.5 %. wer bedient sich also an den restlichen 99.5%?
Ist unter dieser Faktenlage die Armut ein unausweichliches Übel, oder doch nur ein Instrument politischen Missbrauchs. Die These lautet überspitzt: Wirtschaftswachstum unter diesen Verhältnissen bringt neue Armut. Der Wirtschaftstransfer aus den Entwicklungsländern beschönigt schon seit Jahrzehnten (Jahrhunderten) das BIP der entwickelten Nationen. Auf den CO2 Verbrauch bezogen: welche Bilanz erfasst die importierte Umweltzerstörung?

Tja.


Quote* 05.10.2010 um 22:42 Uhr
    * welu

meiner Meinung...

Wachstum kommt häufig nicht beim Arbeitnehmer an sondern beim Unternehmer, diese zahlen zunehmend schlechtere Löhne und lassen sich so Ihr Unternehmen vom Staat subventionieren indem dieser die Löhne aufstockt und die Menschen auch noch zwingt diese Angebote anzunehmen!

... Heute war ein ganz interessanter Bericht bei Plusminus. Um später nicht in die Altersarmut zu fallen müsste man 45 Jahre am Stück einen Stundenlohn von 9,50 haben. Bei Stundenlöhnen von 7,50 zum Beispiel ist man im Alter auf Grundsicherung angewiesen.

...


Quote* 06.10.2010 um 0:16 Uhr
    * profprom

Die gesamte Diskussion ist völlig verlogen

Ich und andere Unnternehmer in Bad.-Württ. haben für Hilfsarbeiten 1986 DM 15/h, umgerechnet 7,62 €/h, bezahlt. Diese Stundenlöhne waren zumindest auch in den grossen Städten in Bayern und Hessen gleich hoch.
Wenn ich eine Inflation in Höhe von etwa 2,3% jährlich in Rechnung stelle, bei 24 Jahren , müsste der damalige Stundenlohn heute etwa 13 Euro/h betragen. Wo liegt er heute? Bei 5 bis 8 €/h.

...


Quote* 06.10.2010 um 0:21 Uhr
    * Wahrsprecher

20. Eine Hohepriester hat gesprochen

Wenn andere Kommentatoren sich über das Gedankengebäude und seltsame Fehlleistungen des Autors wundern, haben sie wohl vergessen, dass hier jemand spricht, der seine Ansichten zur Profession erhob und dabei völlig integriert in das von ihm geliebte System ist. Blindheit muss hier zwangsläufig folgen.

Mich erinneren solche Ansprachen stets an die energischsten Prediger. Ich sehe dann vor mir einen auf einem steinernen Tempel stehenden, reich geschmückten Priester am Nil oder Euphrat vor Jahrtausenden, der unberührt von den Massen zu seinen Füßen mit weit ausgebreiteten Armen über deren Armut und das Ausbleiben der Flut spricht: Ihr müsst mehr glauben, Ihr habt noch zu wenig zu unserem Gott Mammon gebetet, so dass er Euch noch nicht hören konnte; ehrt ihn, opfert ihm noch mehr und Ihr werdet seinen Segen erhalten!

Verblüffend ist für mich das intellektuelle Versagen dieser hochbezahlten Führungskräfte und Titelträger. Sie drehen sich im Kreis, innerhalb ihrer selbst erstellten Systeme, sehen kein Außen, nicht einmal die Widersprüche in ihrem eigenem "Heim" und nichts ficht sie an. Es sind eben nur wahre Gläubige und als solche verdient.

...





Aus: "Konjunktur: Wir müssen wachsen" Sebastian Dullien (4.10.2010)
Quelle: http://www.zeit.de/2010/40/Wirtschaftswachstum-Wirtschaftsleistung

http://de.wikipedia.org/wiki/Sebastian_Dullien


Textaris(txt*bot)

#37
Quote[...] Der Widerspruch zwischen Macht und Sexualität offenbart sich in immer neuen Formen, und es ist daher alles andere als ein Wunder, dass wir in der Zeit des Neoliberalismus eine Art der sexuellen Ich-AG beobachten können, die sich nicht mehr nach abstrakter Moral und nicht mehr nach "patriarchaler" Hierarchie, sondern nach dem Prinzip von Investition und Verkauf orientiert.
Die "Verlierer" dieses Prozesses sind die gleichen wie die Verlierer im neoliberalen System überhaupt; die Liberalisierung hat hier zu einer radikalen Entwertung geführt. Die Medien haben sich nicht nur auf einem allgemeinen Niveau "pornographisiert", sondern sie führen mehr noch einen Diskurs der sexuellen Gewinner und Verlierer. [...] Die radikal ökonomisierte Herrschaft funktioniert nicht entgegen, sondern gerade durch die Sexualisierung der Diskurse, so dass die Idee einer "Befreiung" zumindest ihre naive Euphorie verloren hat.

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Aus: ""Man würde Pornographie erfinden, wenn es sie nicht gäbe"
Ein Interview mit Georg Seeßlen" (Phase 2.13; Nummer:13/2004)
Quelle: http://phase2.nadir.org/rechts.php?artikel=232&print=



Textaris(txt*bot)

Quote... Auch das Eingehen emotionaler Beziehungen wird zunehmend nach dem Vorbild von Marktverhältnissen organisiert. Das Verfahren basiert darauf, dass die Leute sich selbst zur Ware machen: Für die Partnersuche im Internet und über Vermittlungsagenturen präsentieren sie sich als Ware, indem sie ihre Vorzüge auflisten und Fotos ins Netz stellen. Hier fehlt das, was Freud den "einzigen Zug" genannt hat, der einzigartige Impuls, der sofort entscheidet, ob ich jemanden sympathisch finde oder nicht. Liebe ist eine Wahl, die als Unumgänglichkeit erfahren wird. An einem bestimmten Punkt ist man überwältigt von dem Gefühl, zu lieben und gar nicht anders zu können. Die Vorzüge von Kandidaten zu vergleichen und sich dann zu entscheiden, in wen man sich verlieben will, kann also per definitionem nicht Liebe sein. Deshalb sind Partneragenturen Liebestöter par excellence.

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Aus: Zeit der Monster - Ein Aufruf zur Radikalität"" von Slavoj Zizek (monde-diplomatique.de, Ausgabe vom 12.11.2010)
Quelle: http://www.monde-diplomatique.de/pm/2010/11/12.mondeText1.artikel,a0048.idx,14


Textaris(txt*bot)

Quote[...] BERLIN taz |  Seit anderthalb Jahren geht Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) mit diesem Vorschlag hausieren: Langjährig geduldete Jugendliche sollen unabhängig von ihren Eltern ein Aufenthaltsrecht bekommen, wenn sie gut integriert sind. Die Eltern sollen bis zur Volljährigkeit der Kinder bleiben dürfen, ihr Aufenthalt dann noch einmal überprüft werden.

Jetzt steht Schünemanns Vorschlag unter der Überschrift "Modernisierung des Ausländerrechts" auf der Tagesordnung der Innenministerkonferenz, die ab Donnerstag in Hamburg tagt. Und hat Chancen, angenommen zu werden.
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Gelten soll die Neuregelung für Jugendliche, die seit mindestens acht Jahren in Deutschland mit einer Duldung leben. Die also kein Aufenthaltsrecht haben, aber auch nicht abgeschoben werden können. Derzeit gilt dies für über 86.000 Menschen, zwei Drittel von ihnen leben bereits länger als sechs Jahre hier.

Nach Schünemanns Vorstellungen müssen die Jugendlichen straffrei sein und "die Prognose für eine gute Integration haben", sagt sein Sprecher. Das könne etwa ein guter Schulabschluss sein oder der Beginn einer Lehre. "Die Ausbildung dieser Jugendlichen hat viel Geld gekostet", sagt er, "wenn sie gehen, ist die Investition verloren."

Die unionsgeführten Bundesländer haben bereits Zustimmung signalisiert, die SPD-regierten Länder noch keinen einheitlichen Kurs.

...


Aus: "Bleiberecht für Jugendliche - Streber willkommen" VON SABINE AM ORDE (17.11.2010)
Quelle: http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/streber-willkommen/


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Felicitas Römer: Es sind immer mehr wirtschaftliche Interessen, die Einfluss auf die Bildung unserer Kinder nehmen. Und das wird derzeit von der Politik auch unterstützt. Das hat mit der Sorge um das Wirtschaftswachstum zu tun, das angesichts der demografischen Entwicklung und der Globalisierung nicht mehr dauerhaft gesichert zu sein scheint.

Ein gutes Beispiel dafür, wie Wirtschaft sich immer mehr in Bildung einmischt, sind die so genannten Kompetenzerfassungsbögen für Kita-Kinder: Hier werden schon bei Kleinkindern exakt die Schlüsselkompetenzen abgefragt, die die OECD - also eine hochrangige und international agierende Wirtschaftsinstitution - für Arbeitnehmer definiert hat. Und Unternehmensverbände und Handelskammern fordern ganz offen, dass Schule die Schüler maximal auf den Arbeitsmarkt vorbereiten soll. Auch die Schulzeitverkürzung war keine Idee von Lehrern und Pädagogen, sondern von der Wirtschaft. Hier geht es um Konkurrenzfähigkeit.

...

TP: Warum lassen sich Politiker hier vor den Karren der Wirtschaft spannen?

Felicitas Römer: Das verstehe ich, ehrlich gesagt, auch nicht so ganz. Ökonomie ist ja inzwischen in allen Lebensbereichen sehr dominant. Vielleicht hängt das mit der demographischen Entwicklung zusammen, die die Politiker vor neue Herausforderungen stellt und damit auch überfordert. Dann sind sie für solche Ideen wie 'Kinder müssen schneller mit der Schule fertig werden' etc. einfach anfällig. Es ist natürlich auch einfach eine Lobby-Frage. Die Wirtschaft hat halt eine starke Lobby. Kinder haben wenig Lobby.

...

TP: Dass die Wirtschaftsunternehmen sich den perfekten Arbeitnehmer formen wollen, ist aus ihrer Sicht ja verständlich. Doch warum nehmen Eltern das hin und setzen ihre Kinder selbst noch unter Druck?

Felicitas Römer: Das hat ganz viel mit der Sorge zu tun, also mit der Angst, dass es vielleicht später nicht genügen könnte, was man den Kindern mitgegeben hat. Ständig hören wir, welche Herausforderungen der globalisierte Arbeitsmarkt stellt und dass Minderqualifizierte auf der Strecke bleiben - und das hat einen ganz direkten Einfluss auf unser Erziehungsverhalten. Das Vertrauen darin, dass die Kinder sich gut entwickeln und es im Leben schaffen werden, dieses Vertrauen haben Eltern nicht mehr unbedingt. Der Druck von außen ist groß, es wird viel Angst produziert - und die macht natürlich auch gefügig. Denn wenn ich Angst habe, dass mein Kind auf der Strecke bleibt, bin ich sehr bereit, es so zu pushen, dass es die vorgegebenen Standards erfüllt. Das ist wenig kindorientiert, sondern zielt darauf ab, was Schule und Wirtschaft und der Arbeitsmarkt wünschen.

TP: Und warum machen Erzieher und Lehrer den ganzen Förderwahn so unkritisch mit?

Felicitas Römer: Ich denke, dass es zum einen etwas mit einem vermeintlichen professionellen Anspruch zu tun hat. Das ist ja meistens auch nicht böse, sondern durchaus positiv gemeint, sie wollen den Eltern helfen. Doch betrachten viele ihre Schützlinge heute immer mehr mit einem defizitorientierten Blick. Es wird vor allem auf das geguckt, was noch nicht so gut läuft. Zum anderen stehen Erzieher und Lehrer aber natürlich auch selber unter Erfolgsdruck. Sie haben Angst, dass sie vielleicht irgendetwas übersehen und nachher dafür verantwortlich gemacht werden. Andererseits gibt es natürlich auch Eltern, die den kritischen Blick einfordern, die wissen wollen, wo sie ihre Kinder noch ein bisschen 'verbessern' können.

...


Aus: ""Schon bei Kleinkindern werden Arbeitnehmer-Kompetenzen abgefragt"" Von Barbara Galaktionow (21.06.2011)
Wie die Wirtschaft Erziehung und Schulbildung steuert - ein Gespräch mit Autorin Felicitas Römer
Quelle: http://www.heise.de/tp/artikel/34/34820/1.html


Textaris(txt*bot)

Quote[...] die Ursachen für tiefe seelische Erschöpfung liegen nicht allein am Schreibtisch oder in der Fabrik - wenn sie auch dort besonders oft zu Tage treten. Der Zerfall von Familien und Gemeinschaften, Vereinsamung, fehlende Bindungen außerhalb der Erwerbsarbeit geben dem Job für viele Menschen eine überragende Bedeutung, ja die einzige Quelle für Lebenssinn. Läuft es dann dort nicht wie erwartet, lassen die Kräfte nach oder entwickelt sich übermäßige Konkurrenz, bricht so manch einer unter dem Druck zusammen.

Ein Rezept zum seelischen Gesundbleiben lässt sich deshalb bei den Vermögensberatern abschauen: diversifizieren. Wer neben der Arbeit Familie, Freunde und Hobbys pflegt und deren Bedeutung auch mal über die des nächsten Geschäftsabschlusses stellt, kann mit Rückschlägen in einem Bereich besser umgehen.

Auch ein zweites Rezept weist Parallelen zur guten Anlagestrategie auf: sich mal mit weniger zufriedengeben. So wie es selten ist, dass der Aktionär beim Verkauf seiner Papiere den höchsten Kurs erwischt oder der Immobilienkäufer die niedrigsten Bauzinsen, so hilft im Berufsalltag die Einsicht, dass niemand überall perfekt sein kann, und die wenigsten es bis ganz nach oben schaffen. Diese Erkenntnis ist für viele schwer zu verinnerlichen in einer Gesellschaft, in der schon Kindern suggeriert wird, dass jeder zum Superstar werden kann. Die Enttäuschung darüber, wenn das nicht klappt, kann der Seele zusetzen.

...

Quote20.07.2011 um 10:04 Uhr

Pimpernell schreibt

Macht kaputt, was Euch kaputt macht.



Aus: "Zukunft der Arbeit: Burn-out-Geschichten sind kein Märchen" Von Alexandra Borchardt  (19.07.2011)
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/karriere/zukunft-der-arbeit-burn-out-der-naechste-zusammenbruch-kommt-bestimmt-1.1121927-2


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Wobei doch die Frage bleibt, ob Sonya Kraus mit ihrem sexy Outfit tatsächlich ein gesellschaftlich gezieltes, emanzipiertes Spiel mit ihrer Rolle treibt, oder ob sie einfach nur auf die Vermarktbarkeit ihrer Reize gegenüber dem männlichen Geschlecht setzt. Während Schwarzer, insgesamt gewohnt altersmilde, die TV-Figur Kraus für gut befindet, hat wenigstens Lady Bitch Ray was zu meckern: ,,Das ist auch eine Art von Unterwerfung, wenn ich die dumme Blondine spiele."

Sie selbst unterwirft sich indes nur ihrer eigenen Marke – in ihrem Kleid mit der Aufschrift "Vagina-Fotzen-Power", tiefstem Ausschnitt und viel, viel Bein setzt sie auf Provokation. Als Frau erlaubt sie sich eine Mimikry der einschlägigen männlichen Rap-Stars mit ihrem frauenverachtenden Kult.

...


Aus: "Wenn Emanzipation eine Frage des Dekolletés ist" Tim Farin (09/2011)
http://www.welt.de/fernsehen/article13629990/Wenn-Emanzipation-eine-Frage-des-Dekolletes-ist.html


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Derzeit stehen die wirtschaftlichen Aspekte zwischen Mann und Frau im Fokus der Wissenschaftler. So wird der Umgang mit Geld von Paaren untersucht, denn immerhin entscheide laut Jutta Allmendinger (Leiterin des Forschungsprojekts «Gemeinsam leben, getrennt wirtschaften – Grenzen der Individualisierung in Paarbeziehungen») der «Umgang mit Geld, ob sich Menschen ineinander verlieben». Und der aktuelle Bestseller «Erotisches Kapital» der britischen Soziologin Catherine Hakim zeigt auf, dass feministische Scheuklappen Frauen jahrzehntelang nicht weitergebracht haben und plädiert dafür, dass man mit gezielt eingesetzter Attraktivität den Weg an die Spitze der Gesellschaft schafft, wo ja schliesslich alle hin wollen. Dass Feministinnen bei erotischem Kapital «als Erfolgsgeheimnis im Leben und im Beruf» auf die Barrikaden gehen, liegt auf der Hand.

Nun ist aber eine weitere kontroverse Studie erschienen, die das Hakim-Bashing für eine Weile stoppen könnte: Der Wissenschaftler Roy F. Baumeister der Florida State University hat heterosexuelle Beziehungen von einem wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet und als einen Markplatz bezeichnet, «wo Männer versuchen, Sex von Frauen zu erhalten, indem sie ihnen andere Ressourcen anbieten». Als Basis für die vielbeachtete Studie («Sexual Economics: A Research-Based Theory of Sexual Interactions – or Why the Man Buys Dinner») diente dem Psychologen eine Befragung von über 300′000 Menschen aus 37 Ländern, die ihn zu folgendem Schluss brachte: Frauen sind Verkäuferinnen aber keine Konsumentinnen von Sex und Männer sind Käufer aber keine Produzenten. Im Klartext: Frauen regeln das Angebot, wobei verschiedene Faktoren den Sex-Preis beeinflussen.

Wertsteigernd sind etwa ein attraktives Aussehen, das Alter, die Kleidung aber auch die Tatsache, ob andere Männer hinter derselben Frau her sind. Auch das Umfeld des Sex-Marktes kann den Preis in die Höhe schnellen lassen, wenn etwa mehr Männer als Frauen vorhanden sind (Nachfrage ist höher als das Angebot) und vor allem keine oder nur wenige alternative Gelegenheiten für sexuelle Befriedigung vorhanden sind. In diesem Fall sieht es für die Männer nicht sehr gut aus, da sie den von Frauen definierten Verkaufsbedingungen ausgeliefert sind. Sprich: Es müssen schon sehr attraktive Ressourcen (Geschenke, Aufmerksamkeit, Exklusivität, Verpflichtungen, Verlobung, Ehe, Kinder) angeboten werden, damit der Handel überhaupt zustande kommt.

Umgekehrt haben Männer ein leichtes Spiel, wenn die Frau nicht sehr attraktiv ist, oder sich mehr Frauen als Männer auf dem Markt befinden (Angebot ist grösser als die Nachfrage). Am deutlichsten lasse sich das Angebot-Nachfrage-Modell an der Ehe messen. Der Zusammenbruch des sexuellen Handels in der Ehe sei darauf zurückzuführen, dass Frauen, weil sie alles erreicht hätten, was sie erreichen wollten, keinen Sex mehr anbieten. Diese doch sehr einseitige und auch sehr mathematische Analyse konnte die berühmte feministische US-Bloggerin Amanda Marcotte nicht unkommentiert lassen. Als störend empfindet die Bloggerin nicht unbedingt die Tatsache, dass Baumeister sexuelle Beziehungen anhand eines wirtschaftlichen Markplatzes erklärt, sondern vielmehr die Voraussetzung für seine Angebot-Nachfrage-Studie. Nämlich dass Frauen grundsätzlich nicht an Sex interessiert sind. «Baumeister behauptet, verheiratete Frauen sind nicht daran interessiert, er sagt aber auch, dass Single-Frauen nicht an Gelegenheitssex interessiert sind», schreibt Marcotte. «Ein Commitment törnt uns nicht an, etwas Neues törnt uns nicht an, scheint ganz so, als ob uns gar nichts antörnt.» Baumeister gestehe den Frauen keinerlei Motivation für Sex, kritisiert Marcotte. Nicht einmal für Gelegenheitssex. Baumeister argumentiere, dass Frauen weder diese Art von Sex wünschen, noch etwas im Gegenzug dafür verlangen können – denn bei Gelegenheitssex ist der Mann nicht bereit, seine Ressourcen anzubieten. «Ja, warum in aller Welt machen die Frauen es dann, wenn sie ja keine Lust haben?», bloggt Marcotte.

Marcotte liegt mit ihrer Kritik sicherlich richtig, doch sollte sie sich nicht zu sehr über Baumeisters Analyse ärgern. Denn wer die aktuellen wirtschaftlichen Märkte beobachtet, weiss, dass  jeder Markt von einem Tag auf den anderen auch wieder zusammenbrechen kann.

QuoteYves sagt:
29. September 2011 um 17:37

Das Sexleben mit einem Marktmodell zu erklären, das ist ungefähr so, wie man versuchen würde, meine Darmgeräusche ins Lateinische zu übersetzen...

Antworten

    *
      chris sagt:
      29. September 2011 um 17:39

      Flatus incarnatus?

Johnny Boy sagt:
29. September 2011 um 18:47

So einen Stuss kann nur jemand von sich geben der von Sex und Wirtschaft keine Ahnung hat.

Antworten

    *
      Aloha sagt:
      30. September 2011 um 08:30

      @ Roman: Naja, allein von Sex eine Ahnung zu haben genügt nicht, da müsste man auch Ahnung von Frau und Mann haben... Wenn ich als Frau Sex haben will, dann will ich Sex und nicht Hochzeit, Geld oder sonst was. Übringens, es gibt auch Frauen, die mehr Sex in de Ehe wollen als der Mann...
      Fazit: Auch ich sehe keinen Zusammenhang zwischen Sex und Wirtschaft, zum Glück, bei der heutigen Erkenntnis über Wirtschaft...

Katharina sagt:
29. September 2011 um 21:31

Ach ja, die weibliche Lust sei nur ein völlig überflüssiges evolutionäres Nebenprodukt. Nun denn, dann sollen die Evolutionsbiologen erklären, warum die Natur (aka Evolution) uns Frauen ein Organ gegeben hat, das ausschliesslich der Lust dient, wesentlich komplexer und grösser ist als das männliche Pendant:. Die Klitoris.

Und sicher, menschliche Sexualität soll dann ausschliesslich von den paar Jahrzehnten Oekonomismus (oder genauer Konsumismus) geprägt sein.

Oekonomie des Sexes ist nur ein obskures Meme und fällt zusammen, wenn bedacht wird dass Frauen sehr wohl an Sex Interessiert sind.



Aus: "Der Sexmarkt" Nina Merli (29. September 2011)
Quelle: http://blog.bazonline.ch/mamablog/index.php/19379/der-sexmarkt/


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Was man früher Sex-Appeal nannte, heißt unter Forschern heute erotisches Kapital.

...


Aus: "Was die Macht des erotischen Kapitals bewirken kann" Roland Mischke (10/2011)
Quelle: http://www.welt.de/vermischtes/partnerschaft/article13676658/Was-die-Macht-des-erotischen-Kapitals-bewirken-kann.html


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Die Kälte des menschlichen Miteinanders spiegelt sich auch darin, wie häufig die Entwicklung ,,social media" von irgendwelchen ,,Experten" als reines Marketinginstrument betrachtet wird.

...


Aus: "social" Dunkle Gedanken by Nachtwaechter
https://tamagothi.wordpress.com/2012/01/21/social/

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Hamburg - Bundesbank-Vorstand Joachim Nagel hat vor der Bildung von Spekulationsblasen durch die extrem expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) gewarnt. ... Nagel hat nach eigener Aussage den Glauben an die Effizienz der Finanzmärkte verloren. "Wir dachten, die Risiken wären kontrollierbar", sagte er mit Blick auf die seit Jahren dauernde Krise. "Wir haben an die Effizienz der Finanzmärkte geglaubt. Die Theorie, dass jeder Investor immer rational entscheidet, hat uns geprägt. Heute wissen wir, dass das alles nicht stimmt." (APA/red, 19.3.2012)

...

Quotehiggs, 19.03.2012
klingt so, als würd bayer vor aspirin warnen


Aus: "Notenbanker warnen vor Euro-Geldschwemme" (19. März 2012)
Quelle: http://derstandard.at/1331779999058/Gehaeuft-Notenbanker-warnen-vor-Euro-Geldschwemme


Textaris(txt*bot)

Quote[...]  Eine paar Männer sitzen im Kreis. Sie haben die Augen geschlossen, sie atmen. "Schaut euch eure Erkenntnisse an", sagt einer. Doch die meditative Übung ist nicht Teil einer Yogastunde. Zuvor haben sich die Männer aus Bäumen abgeseilt und sind mit verbundenen Augen durch einen unterirdischen Gang gekrabbelt. Sie trugen Helme mit Namensaufklebern, und wer etwas sagen wollte, musste vorher in eine Kindertröte pusten. Sie mussten einander Versprechen geben: "Ich werde demnächst noch mehr und besser und verstärkt kommunizieren, um Prozesse und Aufgaben schneller und zielführender erledigen zu können, was am Ende heißt: mehr Umsatz." Jetzt ruhen sich die Männer aus und schauen mit geschlossenen Augen ihre Erkenntnisse an. Ihr Arbeitgeber war der Meinung, dass ihre Teamfähigkeiten optimiert werden müssten. Deswegen sind sie hier, in einem Hochseilgarten in der Lüneburger Heide.

Reise durch deutsche Unternehmen, durch Konferenzräume und karge Empfangshallen, hinter orangene Stellwände und zu abgezirkelten Coffee Points, in denen Privatgespräche über Fußballergebnisse durchaus erwünscht sind. Die junge Dokumentarfilmerin hat etwa Architekten dabei beobachtet, wie sie die neue Firmenzentrale von Unilever in Hamburg entwerfen. Die Mitarbeiter sollten "auf keinen Fall daran erinnert werden, dass sie arbeiten", sagt einer der Planer. Das Ergebnis ist im Film zu sehen. Über große Flachbildschirme flimmern seelenlose Landschaftsaufnahmen, ansonsten sieht es so aus wie bei Ikea, mit einer Menge bunter Polstermöbel. Darunter liegt doch nur grauer Industrieteppich, und Arbeit ist Arbeit geblieben, auch wenn man sich müht, sie hübscher aussehen zu lassen.

Würde man die hohlen Phrasen und Worthülsen streichen, die all die Change Management Meetings und Mitarbeitergesprächen füllen, bliebe kaum etwas Fassbares übrig. Losmanns Film ist eine so sehenswerte wie betrübliche Reise in der Endlosschleife des Optimierungs- und Nachhaltigkeitsgequatsches, in dem der Mensch am Ende nur noch ein Diagramm in einer SAP-Software namens Human Capital Management ist. Bei all dem Gerede fragt man sich mitunter, womit manche Unternehmen eigentlich Geld verdienen.

Kreativität scheint es nur im Erdenken immer neuer Euphemismen der mentalen Versklavung zu geben. Hat ein Angestellter keinen festen Arbeitsplatz mehr und darf er keine persönlichen Gegenstände im Büro verwahren, nennt man das bei der Unternehmensberatung Accenture "nonterritoriales Arbeitsplatzkonzept", lernt der Zuschauer.

Anzeichen menschlichen Lebens gibt es kaum in diesem Film. Hier und da meint man Ratlosigkeit in den Gesichtern zu entdecken, etwa als Mitarbeitern der Deutschen Post gesagt wird, sie müssten sich jetzt als Team fühlen und ein "gemeinschaftliches Performanceboard" pflegen.

Lebendig wirkt nur die Angestellte eines hessischen Solarunternehmens, die durch eine Unternehmensberaterin von Kienbaum einer "Potenzialanalyse" ausgesetzt wird. Während der Befragung zu ihren Stärken und Schwächen lacht sie häufig. Später wird sie dafür gerügt. Ihr Lachen könne auf andere irritierend wirken, sagt die Beraterin. Zuvor hat die Angestellte gut gelaunt gesagt, sie betrachte das Berufsleben auch als Spiel. Jetzt schaut sie, als wolle sie die Unternehmensberaterin am liebsten zerfleischen.

Neben beklemmenden, langen Einstellungen leerer Büroräume und Flure hat Losmann auch ganz wunderbare Details eingefangen. Etwa eine Landkarte, die bei der Deutschen Post an der Wand hängt. Darauf ist das Unternehmen als Insel dargestellt. Es gibt eine "Bucht der zufriedenen Investoren", eine "Wüste der Unattraktivität" und einen "Sumpf der Verschwendung". Der "Berg der Veränderungsangst" ist mehr als ein Berg, er ist ein großes Gebirge. Doch das Change Management ist auch bei der Deutschen Post längst am Werk.

Losmann hat mit klugem, nüchternem Blick einen Gruselfilm erster Güte geschaffen. Die grauen Herren sind längst da. Sie tragen bunte Designerbrillen und stellen überall Polstermöbel auf.

Quotejörg Heinrich
    10.04.2012 um 23:40 Uhr

"softskils" sind wie Inovationen
wo viel darüber geredet wird ist von beidem wenig zu finden.
Modernes Personalmanagement wirkt auf mich wie eine Mischung von Kasperletheater mit Irrenhaus.


QuoteFrank Drebin
    11.04.2012 um 3:25 Uhr

Optimierungsgequatsche, Euphemismen, Seminare

Irgendwie muss man den Menschen ja die zunehmend monotone, profitorientierte, unmenschliche Arbeitswelt schmackhaft machen. Nicht dass man die Arbeitswelt ansich mal kritisch hinterfragt und ggf. verändert. Nein, es muss reichen die Verpackung zu ändern und den Mitarbeitern mit Motivationsseminaren die Hirne zu vernebeln. Hinzu kommen dieses widerlichen Euphemismen. Da wird die Putzfrau zur Raumpflegerin, der Hausmeister zum Facility Manager, die Müllkippe zum Entsorgungspark und die Massenentlassung zur Restrukurierung.


QuoteHafensänger
    11.04.2012 um 6:37 Uhr

...Das schlimme ist, dass anscheinend etliche führende Mitarbeiter an diesen Unfug zu glauben scheinen.



QuoteSilvia Lisowski
    11.04.2012 um 9:41 Uhr

1984: ein zeitgemäßes Beispiel
Lügen, Heucheln, Schauspielern, das sind die Wesensmerkmale dieser neuen schönen Arbeitswelt.
Die totalitäre und faschistoide Hölle dieser Hirnwäsche durchdringt die gesamte Arbeitswelt.
Der große Schaden: Zersetzung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit.




Aus: "In der Endlosschleife des Optimierungsgequatsches" Von Meike Fries (10.04.2012)
Quelle: http://www.zeit.de/kultur/film/2012-04/work-hard-film


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Quote[...] Auf den Internetseiten, die er ins Leben gerufen hat, buhlt man mit dem Geldbeutel ums Herz. Seekingmillionaire.com ist eine Partnerbörse für Wohlbetuchte; auf whatsyourprice.com feilschen Singles um den Preis, den man zahlen muss, um mit ihnen auszugehen. Wades erfolgreichstes Projekt ist seekingarrangement.com - eine Plattform für Sugardaddys und Sugarmommys - vermögende Gönner, die bereit sind, für attraktive Gesellschaft in die Tasche zu greifen - und Sugarbabys - männliche und weibliche "Zuckerpüppchen" mit genauen Vorstellungen vom eigenen Marktwert.

Die Seite hat nach eigenen Angaben mehr als 900.000 Mitglieder. Und die haben ziemlich konkrete Ansprüche: Eine 25-Jährige aus London, nach eigenen Angaben Model, mit blonder Mähne und weißem Badeanzug, sucht einen Mann, der ihr monatlich zwischen 5000 und 10.000 Euro Unterhalt zahlt. Ein sonnengebräunter 59-Jähriger möchte "eine leidenschaftliche Prinzessin, die er verwöhnen und verziehen kann". Der Geldbetrag sei Verhandlungssache.

Man kann die Seite als Marktplatz sehen, auf dem die Werte ausgetauscht werden, nach denen unserer Gesellschaft lechzt: Vermögen, Jugend, Schönheit. Die Kritiker sprechen von einem virtuellen Bordell. Brandon Wade spricht von "beidseitig profitablen Beziehungen".

...

SPIEGEL ONLINE: Jack Nicholson hat einmal gesagt: "Dass man Liebe nicht mit Geld kaufen kann, glaubt man erst dann, wenn man genug Geld hat." Was glauben Sie?

Wade: Liebe ist unbezahlbar. Aber Geld kann die Chancen steigern, sie zu finden. Man kann Aufmerksamkeit kaufen. Und Umgebungen, die es einfacher machen, sich zu verlieben. Es ist leichter, ein Herz in einem Fünf-Sterne-Restaurant zu erobern, als bei McDonald's. Männer reagieren auf Schönheit, Frauen auf Großzügigkeit. Sie suchen unbewusst nach jemanden, der ausstrahlt, dass er sie und ihre Kinder versorgen kann.

SPIEGEL ONLINE: Wir leben doch nicht mehr in der Steinzeit oder in den fünfziger Jahren.

Wade: Frauen wollen keine Loser. Das gilt für alle Zeiten.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie schon einmal ausgerechnet, was teurer ist: eine Ehefrau, ein Sugarbaby oder eine Freundin?

Wade: Ja, das habe ich. Freundinnen sind am preiswertesten. Pro Stunde sind Geliebte am teuersten, aufs Jahr gerechnet Ehefrauen. Wer wenig verdient, für den sind Ehefrauen die billigere Variante. Ein Sugarbaby kostet ja mindestens ein bis zwei tausend Dollar pro Monat. Ab einer gewissen Einkommensgrenze lohnt es sich aber. Tiger Woods hat für seine Scheidung 50 Millionen Dollar bezahlt. Wäre seine Ex-Frau ein Sugarbaby mit einem Unterhalt von 20.000 Dollar gewesen - die fünf Jahre mit ihr hätten Woods nur 1,2 Millionen gekostet.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie seekingarrangement.com gegründet, um zu sparen?

Wade: Ich habe die Plattform ins Leben gerufen, um überhaupt Frauen kennenzulernen. Früher war ich ein typischer asiatischer Nerd: Gut mit Zahlen, ungeschickt mit Frauen. Ich trug Harry-Potter-Brillen, sackartige Klamotten und war wahnsinnig schüchtern. Meinen ersten Kuss habe ich mit 21 bekommen. Meine Mutter sagte immer: Das Wichtigste ist, dass du auf eine gute Uni gehst und viel Geld verdienst, dann stehen die Frauen Schlange.

SPIEGEL ONLINE: Hatte sie recht?

Wade: Kein bisschen. Auch nach einem Wirtschaftsabschluss wurde es nicht besser. Traditionelle Datingseiten waren keine Abhilfe. Ich dachte: Warum ist es legitim, mit deinem Sixpack um ein Mädchen zu werben, aber nicht mit deinem Kontostand? Auf seekingarrangement.com geht es um Austausch, genau wie überall sonst im Leben. Du überlegst dir, was du zu bieten hast, und versuchst, das Bestmögliche dafür zu bekommen.

SPIEGEL ONLINE: Mich befremdet die Auffassung, dass menschliche Beziehungen ein kalkulierter Ressourcenaustausch sind. Das Ganze ist doch mehr als die Summe seiner Teile.

Wade: Das stimmt für die Partnerschaft. Für die Partnerfindung gelten die Gesetze des Marktes. Bevor all die Magie passiert, müssen zwei Menschen sich erst einmal kennenlernen. Bei uns sagen beide Seiten ehrlich, was sie vom anderen erwarten. Und Ehrlichkeit ist ein guter Anfang jeder Beziehung.

SPIEGEL ONLINE: Aber Geld gibt nicht nur schüchternen, reichen Männer eine Chance auf ein Date. Man kann sich von emotionaler Verantwortung für die Geliebten freikaufen. 40 Prozent der Männer auf seekingarrangement.com sind schließlich verheiratet.

Wade: Warum wird der schwarze Peter immer den Herren zugeschoben? Oft genug werden die armen, reichen Männer ausgenutzt und fallengelassen. Junge Frauen haben Macht - die Macht der Schönheit und des Sexappeals. Und sie sind sich dessen bewusst. Auf seekingarrangement.com sind zehnmal so viele Sugarbabys wie Sugardaddys angemeldet. Oft sind es Frauen, die überhaupt keine finanzielle Hilfe brauchen. Das Geld, das Männer für sie ausgeben, ist für sie der Beweis ihrer Anziehungskraft.

SPIEGEL ONLINE: Warum gibt es eigentlich so wenig Sugarmommys? Momentan machen sie nur ein Prozent der Mitglieder aus.

Wade: Unsere Gesellschaft ist noch nicht bereit für Frauen, die für Männer bezahlen. Und selbst wenn Frauen mehr Geld haben, haben sie das Gefühl, dass sie diejenigen sind, die verwöhnt werden sollten. Viele Anwältinnen und Ärztinnen melden sich als Sugarbabys ein. Sie wollen Gewinnertypen und nutzen die Plattform als normale Datingseite, auf der sie ablesen können, wie finanziell erfolgreich ein Mann ist.

SPIEGEL ONLINE: Worin liegt der Unterschied zur Prostitution?

Wade: Wer unsere Seite als einen Escort-Service sieht, hat vieles nicht verstanden. Es geht um eine Beziehung. Der Mann sollte eher ein Sponsor sein, bestenfalls ein Mentor und auf alle Fälle ein Gentleman. Frauen wissen das und weisen all die ab, die nur auf der Suche nach schnellem Sex sind. Wer die Seite "virtuelles Bordell" schimpft, müsste auch die Ehen zwischen reichen Männern und Trophäenfrauen als Prostitution bezeichnen.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben vor zwei Monaten geheiratet. Haben Sie Ihre Ehefrau auf einer Ihrer Seiten kennengelernt?

Wade: Nein, sie ist eine Mitarbeiterin. Ich habe sie zum ersten Mal bei ihrem Vorstellungsgespräch gesehen. Ich habe alle meine Accounts geschlossen, seit wir angefangen haben, uns zu treffen. Die Liebe zu finden ist eine lange Reise, vielleicht die wichtigste Reise im Leben. Meine Seite kann helfen, das Ziel schneller zu erreichen. Aber du lässt den Motor ja auch nicht laufen, wenn du dort angekommen bist, wo du sein möchtest.



Aus: "Reicher Mann sucht schönes Mädchen für gemeinsame Stunden" Von Wlada Kolosowa (10.07.2012)
Quelle: http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/sugardaddy-plattform-auf-seekingarrangement-com-trifft-geld-auf-liebe-a-829925.html


Textaris(txt*bot)

#49
Quote[...] Susanne Schneider erinnert sich noch gut an den Tag, als ihr Chef das Plakat im Aufenthaltsraum anbrachte. Vor zwei Monaten war das. Auf dem Plakat waren zwei Strichmännchen zu sehen, die sich anlächeln. Darunter standen Sätze, die Schneider, 50 Jahre alt, Kassiererin beim Einzelhandelskonzern Netto in Essen, fortan zu den Kunden sagen soll. "Danke, dass sie uns darauf ansprechen", stand da. Und: "Tut mir Leid, diese Frage entzieht sich meiner Kenntnis".

Dazu gab ihr Arbeitgeber ein paar grundsätzliche Tipps. Schneider, die eigentlich anders heißt und ihren Namen nicht im Netz lesen will, solle sich dem Kunden "ganz widmen", "ihn freundlich anlächeln" und stets "ruhig sein und bleiben". In einigen Filialen, auch in ihrer, kam ein Vertriebsleiter und machte Rollenspiele und Trainingsgespräche mit den Mitarbeitern. Jeder sollte mitmachen. Qualitätsmanagement nennt das Netto.

Schneider nennt das "eine Farce". Die festgelegten, auf Höflichkeit getrimmten Sätze passen nicht in ihre Welt. In der herrscht Personalnot, es fehlt immer an irgendeiner Stelle an etwas: an Zeit und Geduld. Oft wird Schneider während der Arbeit nervös, etwa dann, wenn sich ein sechster Kunde in die Schlange an der Kasse stellt. Netto will, dass nur fünf Kunden warten müssen, sonst muss eine weitere Kasse öffnen. Oft geht das nicht, weil die anderen Mitarbeiter eine Lieferung annehmen oder die Regale einräumen. "Wir sind oft nur zu zweit im Laden, da bleibt keine Zeit, um so nett zu sein, wie Netto es sich wünscht", sagt Schneider. Die Kunden würden manchmal sehr unfreundlich und ungeduldig. Schneider hält sich dann tapfer an ihre Sätze, aber in Wahrheit ist sie wütend. "Es macht keinen Spaß mehr", sagt sie.

Schneider ist nicht die einzige Netto-Mitarbeiterin, die sich an den neuen Höflichkeitsfloskeln stört. Auch eine andere Kassiererin aus einer nordrhein-westfälischen Filiale erzählt, wie sehr sich manchmal zusammenreiße müsse, um die freundlichen Sätze über die Lippen zu bekommen. "Das ist schwierig, denn viele Kunden werden persönlich." Oft merkten die Kunden, dass die Mitarbeiterin nur Floskeln aufsage, statt sich ernsthaft um sie zu kümmern. "Viele werden wütend, wenn man sie mit 08-15-Sätzen abspeisen will". Ihr fällt es schwer, sich zu entschuldigen, wenn sie es nicht so meint. Oft beißt sie dann auf die Zähne und lächelt.

Die Einzelhandelskette Netto gehört seit 2007 zu einem Großteil zum Edeka-Konzern. Eine Sprecherin des Unternehmens sagt auf Anfrage, dass sie die beiden Geschichten für "Einzelfälle" hält.

Netto ist bei Weitem nicht das einzige Unternehmen, das seine Mitarbeiter auffordert, Freundlichkeitsfloskeln zu verwenden. Die Supermarktkette Kaufland verlangt von ihren Kassierern, dass sie bei jedem Einkauf nachfragen, ob alles in Ordnung war. Auch die Mitarbeiter des Unternehmens Karl's Hof, die an mobilen Ständen Erdbeeren verkaufen, bekommen einen fertigen Kundendialog vorgegeben. Das berichtete zumindest die taz. Ein neuer Zwang zur Freundlichkeit hält im Einzelhandel Einzug, und dieser Zwang verändert den Arbeitsalltag in einer Weise, wie es viele Mitarbeiter in Deutschland noch nicht kannten.

Dieter Zapf weiß, was die neuen Regeln mit den Mitarbeitern machen. Zapf ist Arbeitspsychologe und untersucht, wie sich die Arbeitswelt auf unsere Persönlichkeit und unser Wohlbefinden auswirken. Er sagt: "Die Kundenbindung geht in einigen Fällen zulasten der Mitarbeiter." Wer von seinem Chef in seinem Handeln eingeschränkt werde, erfahre oft einen zusätzlichen Druck – über das bisherige Maß hinaus, sagt Zapf. Das sei besonders bei Vorgaben so, an die man sich als Mitarbeiter sklavisch halten muss: an Sätze und Verhaltensmuster etwa, die vorgegeben werden, und bei denen die eigenen Emotionen unterdrückt werden. Wer auf Dauer Emotionen zeigen müsse, die er nicht empfindet, könne diese irgendwann gar nicht mehr empfinden.

Zapf hat dazu ein Experiment gemacht. Die Teilnehmer mussten sich dabei in die Rolle eines Servicemitarbeiters der Deutschen Bahn versetzen. Die eine Gruppe durfte authentisch auf die Kunden reagieren, die andere Gruppe bekam die Vorgabe, stets freundlich zu bleiben. Die Teilnehmer, die den Freundlichkeitsregeln folgten, zeigten anschließend höhere Anzeichen von Stress als andere. "Menschen, die viel mit ihren Gefühlen arbeiten müssen, versteinern irgendwann", sagt Zapf.

Auch die Gewerkschaften haben das Problem erkannt. "Der Keepsmiling-Befehl von Unternehmen ist eine Zumutung für die Mitarbeiter", sagt Ulrich Dalibor von der Gewerkschaft ver.di. Viele Mitarbeiter im Einzelhandel stünden unter großem Zeitdruck. Da auch noch freundliche, vorgestanzte Sätze und dauerhafte Nettigkeit zu erwarten, sei einfach zu viel.

Für Unternehmen wie Netto bedeuten die Freundlichkeitsfloskeln jedoch etwas Gutes. Der Kunde soll sich wohl und ernst genommen fühlen. Das Unternehmen hat deshalb damit begonnen, unregelmäßig Testkunden in die Filialen zu schicken – unangemeldet und geheim. Die Tester sollen herausfinden, ob sich die Mitarbeiter an die Regeln halten, ob sie Augenkontakt halten, ob sie gepflegt sind und höflich. Netto betont zwar, dass die Probeeinkäufe nur dazu da seien, um den Kundenservice zu verbessern. Kassiererinnen bei Netto berichten jedoch, dass es schon Abmahnungen gegeben habe, wenn Mitarbeiter bei den Testkäufen mehrmals durchgefallen seien. Das Unternehmen dementiert das zwar, schränkt aber ein: "Bei so vielen Mitarbeitern könnten Sanktionen nicht ausgeschlossen werden."

Die Netto-Kassiererin Susanne Schneider sagt, dass sie gerne höflich und nett zu den Kunden sein würde. Was sie sich wünscht, ist mehr Zeit. Dann gäbe es auch mehr Gelegenheiten für Freundlichkeit. Für ernst gemeinte.

Quote

   Chladek
   11.10.2012 um 11:06 Uhr

Zwang oder einfach nur Professionalität

Als Kunde erwarte ich eine unbedingte professionelle Bedienung und dazu gehört auch ein bewusster und gekonnter Umgang mit Sprache und Emotionen - auch und gerade unter Druck. Natürlich handelt es sich bei Höflichkeitsformeln oftmals um Floskeln - wie sollte es denn auch anders gehen? Es sind Konventionen. Ferner ist man schließlich am Arbeitsplatz und nicht im privaten Bereich, wo ich über meinen Sprachgebrauch und den Grad der Veräußerlichung meiner Emotionen selbst entscheide. Dieses wiederkehrende und weinerliche Lamento bestimmter Arbeitsereiche ist unerträglich. Zur Professionalität eines jeden Bereiches mit Öffentlichkeitsverkehr gehört es selbstredend, dass die dort tätigen Mitarbeiter/innen bestimmte ritualisierte und von Entgegenkommen geprägte Formeln verwenden - unabhängig vom Aufgabengebiet; alles andere wäre unangemessen.



Quote
   energyturnaround
   11.10.2012 um 10:47 Uhr

Völliger Unsinn

Ich als Kunde möchte keine künstlichen Floskeln hören, sondern einfach eine ehrliche Antwort mit einem Mindestmaß an Freundlichkeit. Das ist aber eine sehr individuelle Sache: Die einen sind von Natur aus sehr aufgeschlossen und andere wirken beim gleichen Verhalten "arschkriecherisch".

Deswegen: Lasst die Leute in Frieden!


Quote
   dachsus
   11.10.2012 um 10:54 Uhr

Wenn ich in den USA bin sind die Menschen in den Läden (und auch sonst) dort dermaßen ultrafreundlich, das mir die ersten Tage immer nur ein Gedanke durch den Kopf geistert : ,,Schulden die mir noch Geld , oder warum sind die so freundlich?" Will sagen, der Grad an Freundlichkeit in einem Kaufhaus, sollte schon zum gesamtgesellschaftlichen Freundlichkeitsgrad passen, ansonsten fühle ich mich unwohl, und werde misstrauisch. ...


Quote
    Girolamo1453
    11.10.2012 um 11:28 Uhr

Als ich das erste Mal in USA war, war ich nur angenervt von dem ständigen "Have a nice day and thanks for shopping at K-Mart" mit festgeschraubtem Begleitgrinsen.

Das Gegenteil konnte man in der alten Sovjetunion erleben. Authentische Verkäuferinnen, die einem deutlich zeigten, daß man ihre Gespräche störte.


Quote
   sumisusmi
   11.10.2012 um 10:54 Uhr

Zwangsfreundlichkeit

Es ist nicht nur eine Zumutung für die Verkäufer(innen) sondern auch für mich als Kunden.


Quote
   Ffm74
   11.10.2012 um 10:56 Uhr

Es ist echt peinlich, dass man hier die Leute zur Freundlichkeit zwingen muss. Ich habe noch in keinem anderen (westl.) Land so viele unfreundliche Verkäufer und Bedienungen erlebt, wie hier bei uns.


Quote
   DetlevCM
   11.10.2012 um 11:02 Uhr

Verrückte Welt...

Diesen Unsinn gibt es in England - und ich kann diese gespielte Hofflichkeit nicht ausstehen.
Wenn man vom Personal bedient wird als ob es unter Drogen steht die die ganze Welt rosarot erscheinen lassen, dann kommt man sich irgendwie vor wie in einem Irrnehaus - erst Recht wenn es dazu noch eine seltsamme Stimmlage gibt...

Auch Verkaufspersonal besteht nur aus Menschen - diese haben mal eine gute Laune, mal eine schlechte. Dass man erwartet dass Verkäufer einen nicht grimmig anstarren kann ich verstehen - aber alles was über eine grundsätzliche Hoeflichkeit hinausgeht sollte nicht vom Managment verlangt werden. Auch Fragen wie es einem geht oder ähnliches (Sainsbury in England) will ich nicht hören - innerlihc denkt man bei so etwas "Halt die Klappe und mach deinen Job" - erst recht wenn es sich um einen Supermarkt oder eine Kaffeekette a la Starbucks handelt. Bei einem privaten Geschäft bei dem man Stammkunde ist wuerde ich so etwas verstehen - aber eben auch nach Jahren wenn man sich irgendwann etwas kennt...


Quote
   bemerker
   11.10.2012 um 11:02 Uhr

Zum Heulen

Hab eine ähnliche Umgangsanweisung auch schon bei Lidl an der Kasse gesehen. Ich finde sowas traurig - zu aller erst für das Personal, dem Freundlichkeit diktiert wird und dann auch für den Kunden, der nicht weiß, wann man es ehrlich mit ihm meint, und wann er gerade im Zeichen der herrschenden Corporate Identity verschaukelt wird.
Wenn ich hinsichtlich Umgangsmodi zwischen dem geschleckten, serviceorientierten, angelsächsisch geprägtem Gehabe und dem bodenständigen, ehrlichen Umgang wählen kann (den man vorzugsweise bei alten Handwerksmeistern antrifft), dann muss ich nicht lange überlegen. Lieber eine sparsam dosierte Freundlichkeit, die ehrlich gemeint ist. Ich halte es schlichtweg für utopisch, mehrere Stunden an der Kasse zu sitzen und gegenüber dem unhöflichsten Kunden einen Auftritt hinzulegen, als ob sich die Welt ohne dessen Zuneigung nicht mehr weiterdrehen würde. ...


Quote
   2eco
   11.10.2012 um 11:03 Uhr

Falscher Job?

Ganz im Ernst, wer Höflichkeit als Zwang empfindet, hat in einem Verkäufer/Vertriebs Job absolut nichts verloren! So etwas sollte selbstverständlich sein.

Wenn ich teilweise Verkaufspersonal sehe, dass einen weder begrüßt, ansieht oder verabschiedet, sondern den Kunden wie die Ware im Regal behandelt ist das keine schöne Atmosphäre. Dass solche Leute, denen die Mundwinkel bis zum Boden hängen, einen freundlichen Kundenumgang für skandalös halten, verwundert kaum.


Quote
   Zeitenwandlung
   11.10.2012 um 11:08 Uhr

Das ist an Dreistigkeit kaum mehr zu überbieten.

Die Mitarbeiter im Einzelhandel werden ausgebeutet und ausgepresst wie Zitronen. Und der Ausbeuter, dessen Vermögen hierdurch immer weiter steigt, verlangt von den Ausgebeuteten auch noch Freundlichkeit. Das ist unerträglich! ...


Quote
   daniel73
   11.10.2012 um 11:12 Uhr

Gesamtgesellschaftlicher Freundlichkeitsgrad

Ich finde Ihre Bezeichnung trifft den Nagel auf den Kopf.
Ich komme auch gerade aus den USA und dieser Unterschied zu der gelebten Freundlichkeit in der Öffentlichkeit dort ist schon bezeichnend.
Deutschland blegt hier bestimmt einen der hinteren Ränge.
Aber nichts anderes erwarte ich auch, wenn ich in den Laden gehe. Ich möchte als Kunde keine drittklassige Schauspielkunst sehen, denn das ist der beste Beweis dafür, dass man mich eigentlich nicht ernst nimmt.


Quote
   Blitzschlag
   11.10.2012 um 11:12 Uhr

Völlig weltfremd

Wenn ich als fünfter Kunde in der Kassenschlange auch zum fünften Mal den Satz "Vielen Dank, dass Sie bei uns eingekauft haben" höre, weiß ich, dass das nicht echt ist. Wenn ein Mitarbeiter auf eine Frage mit "Tut mir Leid, diese Frage entzieht sich meiner Kenntnis" anstatt mit "Sorry, aber das weiß ich nicht" antwortet, ebenso.

So einen gestelzten Quatsch kann sich m. M. nach nur ein abgehobener Manager/Unternehmer oder einer dieser unsäglichen "Coaches" (bei dem Wort bekomme ich schon Pickel) einfallen lassen.

Im Supermarkt - zumal im Discounter - kaufen wohl zu 95 Prozent einfache Leute ein. Und die wollen mit einfachem Personal einfach reden - und keine plüschig-leeren Phrasen, mit denen sich höchstens die Besser-/Bestverdiener in der standesgemäßen Delikatessen-Boutique ihres Vertrauens wohlfühlen.


Quote
   PeterTuch
   11.10.2012 um 10:54 Uhr

Freundlichkeit ist selbstverständlich

Dass Freundlichkeit als Zwang empfunden wird und Lächeln als Zumutung, ist hoffentlich nur eine deutsche Eigenart. Es sollte im Dienstleistungsgewerbe eine Selbstverständlichkeit sein, dass Mitarbeiter zu den Kunden höflich, zuvorkommend und freundlich sind. Das Problem ist doch ein ganz anderes: die Mitarbeiter stehen unter einem starken Druck, mehrere Aufgaben in den Einzelhandelsfilialen gleichzeitig erfüllen zu müssen, das nervt. Das spricht aber weder gegen Freundlichkeit noch Kundenorientierung. Die Stresssituation kann nur mit mehr Personal abgebaut werden, nicht durch den Abbau der Freundlichkeit. Weder den Mitarbeitern noch den Kunden noch den Arbeitgebern ist damit geholfen, wenn man auf Freundlichkeit verzichtet und nur noch genervt grantelt.


Quote
   gnaddrig
   11.10.2012 um 11:17 Uhr

Roboter oder Personen?

Was Sie schreiben stimmt schon, ein gewisses Maß an Freundlichkeit gehört dazu, und dagegen ist auch nichts einzuwenden. Problematisch wird es, wenn systematisch überarbeiteten und unterbezahlten Mitarbeitern bestimmte Floskeln vorgeschrieben werden, von denen sie nicht abweichen dürfen. Man sollte den Mitarbeitern zutrauen, dass sie selbständig angemessen freundlich sein können, ohne dass man ihnen solche Floskeln vorschreibt.

Außerdem: Wenn Kunden unverschämt werden und persönliche Beleidigungen von sich geben (und das passiert oft genug) muss man auch darauf angemessen reagieren, aber ganz bestimmt nicht mit einem künstlichen Lächeln und "Vielen Dank für Ihren Einkauf bei Netto" oder so.

Man versucht hier doch letztlich, die Mitarbeiter zu Robotern zu machen, die das vorgegebene Programm abspulen, egal was kommt. Ich persönlich habe im Supermarkt lieber mit Personen zu tun, die ihr Verhalten selbst steuern und in der Lage sind, angemessen auf Kunden zu reagieren. Mit dem einen machen sie Witze, den anderen lassen sie in Frieden, sie kennen ihre Kunden und begegnen ihnen von Mensch zu Mensch. Hier wird dagegen versucht, eine künstliche Fassade hinzustellen, die normale menschliche Interaktion nach Möglichkeit unterbindet. Und das hat mit Freundlichkeit nichts mehr zu tun.


Quote
    gnaddrig
    11.10.2012 um 11:33 Uhr

Ich stell mir das so vor

Kunde: "Guten Tag, können Sie mir sagen wo ich hier xy finde?"
Verkäufer_in: "Herzlich willkommen im Z-Markt. Ich führe Sie jetzt zu xy..."
K: "Dan..."
V: "Darf ich Ihnen noch unsere Sonderangebote a, b und c vorstellen: Nehmen Sie drei a, bezahlen Sie zwei. Die Aktion läuft noch bis zum x.y."
K: "...ke."
V: "Wenn Sie weitere Hilfe benötigen, sprechen Sie mich oder eine meiner Kolleginnen an, wir helfen Ihnen gerne weiter."
K: "Ja, vielen Dank."
V: "Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Einkauf im Z-Markt." [alternativ: "in unserem Z-Markt" oder noch besser: "in Ihrem Z-Markt"]

Und dann an der Kasse
...
Verkäuferin: "Hatten Sie einen angenehmen Einkauf. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Heimweg und einen schönen Tag. Auf Wiedersehen."
Kunde: "... Wiedersehen."

*geht schaudernd ab*



Quote
    KarlHammer
    11.10.2012 um 11:35 Uhr

Der Skandal sind die Manieren der Arbeitnehmer!

Das einzig bemerkenswerte an der Sache ist, dass man seinen Angestellten Höflichkeit und Freundlichkeit verordnen muss und ihnen auch noch beibringen muss, was zu sagen ist! Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, ist aber vom Durchschnittsdeutschen wohl nicht zu erwarten. Meine südamerikanischen Geschäftsfreunde sind jeweils nur solange in Deutschland, wie zwingend notwendig. Einkaufen möchten sie hier wegen der unverschämten Verkäufer schon gar nicht. Sobald sie in Deutschland fertig sind "flüchten" sie nach Luxemburg und Frankreich zum Shoppen und nett ausgehen. Das ist sehr peinlich für uns. Aber vielleicht ändert sich das jetzt endlich.


Quote
    gnaddrig
    11.10.2012 um 11:41 Uhr

Falsch verstanden

Es geht doch hier nicht um freundlich oder unfreundlich! Niemand redet der Unfreundlichkeit das Wort. Es geht darum, dass normales, menschliches, selbstverantwortetes Verhalten (das kann durchaus auch freundlich sein, erlebe ich jeden Tag!) durch eine künstliche Fassade aus albernen Floskeln ersetzt werden soll. Wenn ich künstliche Schleimigkeit will, kann ich mich auch mit meinem Navi unterhalten. Wenn echte Menschen von ihrem Arbeitgeber dazu gezwungen werden, ist das unangenehm für alle Beteiligten, irgendwo zwischen lächerlich und gruselig.

Ich bin sicher, die Mitarbeiter_innen von Diskountern, die sich gegen diese Verhaltensregeln aussprechen, haben nicht vor, nach Herzenslust unfreundlich zu sein.


Quote
    anarc
    11.10.2012 um 11:38 Uhr

Arbeitsroboter

Netto verfolgt eine Personalpolitik, die bei dem Mindestmaß an gezahlten Löhnen ein Maximum an Produktivität herausholen soll. Leerlauf darf es nicht geben, wenn mal Zeit ist um mit Kunden ein Schwätzchen zu halten und einen persönlichen Bezug aufzubauen, dann ist das die Zeit wo eine Verkäuferin wieder heimgeschickt werden kann. Arbeitstempo ist der Laufschritt. Bei Netto ist das besonders schlimm, weil die aufgeblähte Produktpalette in den dafür zu kleinen Märkten ein ständiges Bestellen und Einräumen von Lieferungen erfordert. Genauso wird mit dem Personal verfahren, das nur im Kern aus festen Leuten besteht und mit einer hohen Zahl flexibler Zuarbeiter aufgestockt wird. Da die Märkte also hauptsächlich aus dequalifizierten und meist auch demotivierten Zuarbeitern und einer völlig überlasteten Kernmannschaft besteht, ist jeder Handgriff vorgegeben - sogar das Betätigen von Lichtschaltern und Klospülung. Das mit dem Schild, das bei 5 Kunden die Leute meckern sollen, hat den Hintergrund, das die Kassiererin bei wenig Kundenandrang ihren Platz verlassen soll und beim Einräumen tätig werden muß. Die meckernden Kunden werden neuerdings durch ein elektronisches System ersetzt. Um zu sehen, wie sehr das Arbeiten bei Netto die Hölle ist, muß man den Leuten hinten auf der Rampe mal beim Rauchen zuschauen. Da ist nichts mehr von einem kurzen Durchschnaufen mehr erhalten, was eine kleine Pause ausmacht, da wird im Dauerlauftempo auch die halbe Kippe eingezogen.


Quote
    PhilipJFry
    11.10.2012 um 11:38 Uhr

88. Der Schriftsteller...

...David Foster Wallace schrieb einmal von der deprimierenden, bestürzenden Wirkung, die die leeren, zur Maske erstarrten "professional smiles" von mit Verhaltensmaßregeln und Höflichkeitsfloskeln zugekleistertem Verkaufspersonal auf ihn hatten.

... Die Leute tun mir leid.


Quote
    madmeyer
    11.10.2012 um 11:53 Uhr

Zeit für Änderungen?

Auch ich habe in den USA die Erfahrung gemacht, daß die Grundfreundlichkeit dort deutlich höher ist als bei uns. Und dennoch ist die Oberflächlichkeit der Floskeln dort kaum noch zu überbieten. Man antworte in den USA mal auf die Frage: "How are you?" mit einem ehrlichen und ausführlichen Zustandsbericht, der womöglich noch negativ ausfällt. Man wird angeschaut, als käme man von einem anderen Stern. Die Höflichkeit dort ist genauso oberflächlich und gespielt, wie sie es hier in Deutschland wäre. Keiner erwartet eine ehrliche Antwort. Und trotzdem erscheint es uns höflicher. Der Grund liegt im wesentlichen darin, daß sich dort (fast) alle an die Spielregeln der oberflächlichen Freundlichkeit halten.
Nach anfänglicher Irritation habe ich mich in den USA schnell dran gewöhnt und als angenehm empfunden.

...


Quote
    DAS BÖSE
    11.10.2012 um 11:54 Uhr

Ein weiterer Schritt zur Totalausbeutung des Menschen!


Quote
    Generation Y
    11.10.2012 um 11:57 Uhr

... Wenn Sie schreiben: "Ich würde sterben vor Selbstverleugnung."
Ich habe schon im Servicebereich gearbeitet und ich sage zu Ihrer Aussage: Professionalität ist das A und O. Die hat rein gar nichts mit Ihrer Gemütsverfassung zu tun.

Keine Grundschullehrerin darf miese Laune an Schülern auslassen. Kein Servicemitarbeiter darf seine miese Laune an Kunden auslassen, keine Krankenschwester darf ihren Frust an Patienten auslassen!

Es ist hier mal aufzuspalten zwischen Arbeit und persönlicher Laune! Niemand verleugnet sich selbst, wenn er anständig arbeitet! Wenn er allerdings glaubt, er sei der Nabel der Welt und die Kunden hätten das gefälligst zu akzeptieren, dann kann ich nur sagen: Völlig falsche Einstellung von Ihnen. Es ist ihr JOB und den sollte man anständig machen.





Aus: "Der neue Zwang zur Freundlichkeit" Sophie Schimansky (11.10.2012)
Quelle: http://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2012-10/einzelhandel-umsatz-mitarbeiter-nettigkeit


Textaris(txt*bot)

Florian Wilhelm Jürgen Homm (* 7. Oktober 1959 in Oberursel) ist ein deutscher Börsenspekulant und Gründer mehrerer Investmentunternehmen. ... Am 25. Februar 2011 erhob die US-amerikanische Börsenaufsicht (SEC) Anklage gegen Florian Homm und Todd M. Ficeto. Nach Angaben eines Privatermittlers haben betrogene Anleger ein Kopfgeld auf Homm ausgesetzt. Hinweise, die zu seiner Ergreifung führen, sollen mit inzwischen 1,5 Millionen Euro belohnt werden. Ermittler gehen diversen Hinweisen nach, unter anderem wird vermutet, dass Homm in Venezuela sei, denn wenige Monate vor seiner Flucht wurde er in Caracas angeschossen. Offiziell hieß es, Straßenräuber hätten versucht, seine Uhr zu stehlen. ... (11/2012)
https://de.wikipedia.org/wiki/Florian_Homm

-.-

Quote[...]  SPIEGEL ONLINE: Kannten Sie Skrupel?

Homm: Meine Skrupel waren total unterentwickelt. Und Skrupel schaden ja auch der Gewinnmaximierung. Beim Versuch, schnell ein Vermögen zu schaffen, habe ich sicherlich viele Menschen verletzt. ...

SPIEGEL ONLINE: Sie sprechen im Buch vom Kick, den Sie damals brauchten und den Ihnen Ihre riskanten Finanzgeschäfte gegeben haben. Brauchen Sie diesen Kick heute nicht mehr, oder werden Sie bald rückfällig?

Homm: Seitdem das Kopfgeld auf mich ausgesetzt wurde, habe ich genug Kick. Ich würde mich irrsinnig freuen, wenn mein Leben die nächsten drei Jahrzehnte etwas ruhiger ablaufen würde. Ich habe erkannt, dass ich an einer Sucht leide, nennen wir sie mal Abenteuersucht. Aber ich glaube, ich habe diese Sucht auch ziemlich ausgereizt.

QuoteDrummer heute, 09:00 Uhr

Sehr verachteter Herr Homm,
Sie haben durch Ihr damaliges Handeln unzählige Menschen in die Arbeitslosigkeit, den finanziellen Ruin, in zerrüttete Familienverhältnisse, in die Drogensucht und vielleicht sogar in den Suizid getrieben. Diese Menschen, so sie denn noch leben, haben heute keine "lächerlichen" 8 Millionen Euro mehr, um sich wie Sie, irgendwo in einem Hotel niederzulassen und über den (Un-)Sinn ihres Lebens nachzudenken. ...

http://forum.spiegel.de/f22/interview-mit-florian-homm-sie-haben-sich-mit-einem-pitbull-angelegt-75029-2.html#post11301057


Quoteoptional
Rahvin heute, 09:51 Uhr
Beim Lesen erkenne ich keine Reue, nur Selbstmitleid. Natürlich sehnt sich Herr Homm danach, seine verbliebenen 8 Millionen ("Der Rest ging für Lifestyle (...) drauf...") in Ruhe genießen zu können, während er das Privileg auskostet, sich mit seinen Kindern zu versöhnen, die mit ihren Hedgefonds ebenfalls schon ausgesorgt haben. Es fällt mir zunehmend schwerer, mit irgendeinem Mitglied der Geldverbrennmaschinerie Mitleid zu empfinden, denn diese zeigen keines mit ihren Opfern. Es reicht nicht, sich selbst als Arschloch zu bezeichnen, und damit ist alles vom Tisch, viel eher müsste man sich mit dem Leid der Geschädigten auseinandersetzen - doch auch hier hält sich mein Mitleid in Grenzen, denn diejenigen, die sich gedankenlos auf mögliche Gewinne konzentrierten, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass damit auch hohe Risiken verbunden sind, sind für mich keinen Deut besser als Herr Homm. Dieser möge sich bitte den Behörden stellen, sein Buch verkaufen und sämtliche Gewinne an karitative Einrichtungen in Deutschland spenden. ...

http://forum.spiegel.de/f22/interview-mit-florian-homm-sie-haben-sich-mit-einem-pitbull-angelegt-75029-3.html#post11301362


QuoteSelbstverliebter Krimineller
sohst heute, 10:01 Uhr
Schönes Interview. Klar, alle Verbrecher halten sich selbst für Engel, die vor allem karitativ tätig sind, nur ein ganz bischen "Lifestyle" pflegen und dafür auch noch angeschossen werden. ... Der lernt's nicht mehr.

http://forum.spiegel.de/f22/interview-mit-florian-homm-sie-haben-sich-mit-einem-pitbull-angelegt-75029-3.html#post11301430



Aus: ""Sie haben sich mit einem Pitbull angelegt" Stefan Kaiser (08.11.2012)
Quelle: http://www.spiegel.de/wirtschaft/interview-mit-florian-homm-a-865880-2.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] ZEIT: Ich bin die Marke, und die Firma soll mich kaufen...

Berg: Genau. Als Kommunikationsberater würde ich sagen, das Unternehmen ist in diesem Fall die Zielgruppe. Man muss genau wissen, was sie bewegt und welches Bedürfnis sie hat. Und dann überlegt man sich: Was in meinem Leben ist dazu geeignet, dieses Bedürfnis zu erfüllen.

Quote
    efünf
    28.01.2013 um 7:25 Uhr

Abstoßend, wie sich die Menschen mittlerweile prostituieren müssen, um einen Job zu bekommen. Menschen sind keine Marken sondern Menschen sind Menschen.

http://www.zeit.de/2013/02/bewerbungen-anschreiben-tipps/seite-2?commentstart=1#cid-2569581


Quote
    TheMaster
    28.01.2013 um 7:51 Uhr

Als Marke verkaufen

Warum muss oder sollte sich ein Mensch im 21. Jahrhundert als Marke verkaufen?

Der geistige Faden der hier so schamlos gesponnen wird, dass ein Mensch prinzipiell mit einem Produkt vergleichbar ist offenbart teifste gesellschaftliche Abgründe.

Eine Marke die nicht überzeugt wirft man weg. Ein Mensch bleibt und es gibt keine Gesellschaft die es sich leisten kann auch nur einen Menschen wegzuwerfen denn die Folgen wiegen schwerer als der kurzfristige Profit.

http://www.zeit.de/2013/02/bewerbungen-anschreiben-tipps/seite-2?commentstart=1#cid-2569602


Quote
    raffaelp
    28.01.2013 um 9:25 Uhr
Täglich grüßt die Grundsatzdiskussion der empörungsfreudigen Zeit-Online-Kommentatoren.

Klar sind Menschen Menschen und Marken sind Marken, aber wenn Sie für Gedeih und Verderb eines Betriebs verantwortlich sind, dann entscheiden Sie wie ich hoffe wirtschaftlich vernünftig und geben eben nicht jedem x-beliegen Bewerber eine Chance. Schließlich hängt von solchen Entscheidungen der Unterscheid zwischen Erfolg und Niedergang Ihrer Firma ab. Und damit auch weitere Arbeitsplätze, also weitere Schicksale von Familien und deren Kinder und deren Zukunft und Würde ...

... es ist ja schön, wenn man auch Grundsätzliches in Frage stellt, aber wer gleich alles ins Extreme zieht (Gedanke Menschen=Marken offenbart tiefste Abgründe, Arbeit ist gleich Prostitution usw.) der lebt wird wenig bewirken, denn er lebt in seiner eigenen Welt. Ich denke grundsätzlich ist ein wenig Pragmatismus im Einzelnen dem Wohl der Allgemeinheit durchaus förderlich. Mit dieser blumigen Arbeitsmoral (jeder soll machen dürfen was er will und dafür ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten denn das Geld wächst bekanntlich auf den Bäumen...) werden uns die huetigen Schwellenländer in kürzester Zeit den Rang abgelaufen haben und dann wird man in Deutschland wieder schuften müssen, dass keine Zeit zum Debattieren bleibt.

http://www.zeit.de/2013/02/bewerbungen-anschreiben-tipps/seite-2?commentstart=1#cid-2569701


...


Aus: "Der Bewerber als Marke" Von Ariane Breyer (28.01.2013)
Quelle: http://www.zeit.de/2013/02/bewerbungen-anschreiben-tipps


Textaris(txt*bot)

#52
Quote[...] Düsseldorf - Der Mensch ist egoistisch. Ist es so einfach? Nein sagt Frank Schirrmacher in seinem Buch ,,Ego. Das Spiel des Lebens". Seine Ideen gehen weit über die Unterm-Strich-Zähl-Ich-Argumentationen hinaus. Der Mensch ist programmiert worden, egoistisch zu sein – eine seit Jahrzehnten entwickelte Marionette des Kapitalismus. Schirrmacher trennt, was Konservative und Neoliberale bisher verbunden hat. Das Buch ist beachtenswert, gerade weil es in seiner Konsequenz so verstörend ist.

Frank Schirrmacher konnte man jahrelang auf der liberal-konservativen Seite verorten – wie es sich für einen Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gehört. Konservativ ist er immer noch, aber gegenüber dem neoliberalen Denken sind seine jüngsten Thesen ein Affront sondergleichen. Schirrmacher hatte sich im Feuilleton der FAZ seit der Finanzkrise immer kapitalismuskritisch geäußert. Aber die wuchtige Systemkritik dieses Buches erstaunt dann doch. ...

... Der moderne Mensch wisse ,,selbst nicht mehr genau, was seine Identität ist, ob er eine oder viele oder gar keine hat". Weil der Mensch mit all seinen Widersprüchen so störend ist, macht man ihn berechenbar. Und das geht von Jahr zu Jahr besser. Die technische Entwicklung macht es möglich. Er wird vermessen via Facebook, Twitter oder Google. Und das geht richtig los beim Konsum – ein Thema, das bei Schirrmacher sogar noch ein wenig zu kurz kommt. Er endet zu oft bei der Finanzbranche – als ob andere Zweige der Wirtschaft für den einzelnen Menschen nicht ähnlich schädlich wären.

Denn das Vermessen klappt ja auch, wenn der Mensch seinem Verstand gar nicht folgt, sondern den Emotionen. Neue Erkenntnisse der Hirnforschung machen auch die irrationalen Verhaltensweisen berechenbar. Dank der Mathematik weiß ein Supermarktbetreiber, dass wir mehr einkaufen, wenn wir im Laden gegen den Uhrzeigersinn marschieren. Es ist etwas entfesselt worden, was die Menschen nicht mehr beherrschen.

Schirrmachers Analyse ist beeindruckend intelligent und gradlinig. Und genau das ist das Problem: Sie ist zu gradlinig. Der Autor lässt Punkte heraus, die seiner Argumentation entgegenlaufen. Er beschneidet die doch so vielfältige Wirklichkeit der Ökonomie so lange, bis sie in sein Argumentationskorsett passt.

...


Aus: "Provokation für liberale Denker" Thorsten Giersch (18.02.2013)
Quelle: http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/schirrmacher-buch-provokation-fuer-liberale-denker/7803038.html
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Quote[...] Darin finden sich Sätze wie: ,,Umgeben von einer Welt, in der Informationen nicht nur an Börsen, sondern am Arbeitsplatz, in der Kommunikation und sogar bei Freundschaften von logisch arbeitenden Rechenmaschinen organisiert werden, die nach den Gesetzen der persönlichen Profitmaximierung den menschlichen Charakter kalkulieren, verändern sich gesellschaftliche Wertvorstellungen in staunenswerter Geschwindigkeit."

...  Im Märzheft des Merkur findet sich ein bereits vorab im Internet veröffentlichter Aufsatz von Joachim Rohloff mit dem Titel ,,Sorgfaltspflichten. Wenn Frank Schirrmacher einen Bestseller schreibt". In diesem untersucht Rohloff Schirrmachers letztes Buch, ,,Payback", das voller grammatikalischer und orthografischer Fehler stecke.

,,Viele Sätze muss man zwei- oder dreimal lesen, bevor man den Fehler entdeckt und beheben kann. Dann erst stellt ein Sinn sich ein, von dem man aber nie mit Gewissheit annehmen darf, er treffe das, was der Autor sagen wollte," schreibt Rohloff. Um dann aber Schwerwiegenderes festzustellen als Rechtschreibschwächen und mangelhaftes Lektorat: Er weist en detail nach, wie Schirrmacher Aussagen falsch zitiert und wie er absichtlich falsch aus dem Englischen übersetzt.

Ähnliches behauptet nun auch Cornelius Tittel in der Welt und Alan Posener auf Welt Online für das Buch ,,Ego". Tittel schreibt auch, dass der FAZ-Herausgeber den Mathematiker und Moralphilosophen Kenneth Binmore ungerechtfertigterweise als kaltherzigen Dunkelmann stilisiere. Und Posener kritisiert, dass Schirrmacher die These vom ,,egoistischen Gen", die der Biologe und Religionskritiker Richard Dawkins aufbrachte, offensichtlich zu seinen Zwecken ummünzte, um Dawkins verteufeln zu können.

Gregor Dotzauer konstatierte gestern im Tagesspiegel, Schirrmachers Stil sei ,,von einer Wiederholungsfrequenz, die schreiberischer Sorglosigkeit wie einem Einhämmerungsgestus geschuldet sein mag – und eingepasst ist in eine narrativ bis zur Absurdität festgezurrte Abfolge des Schon, Dann und Worauf". Um dann allerdings das Buch als Pamphlet zu empfehlen.

Der Spiegel gab Schirrmacher in Form eines Interviews und eines Essays genügend Raum, seine Thesen selbst darzustellen, auf Spiegel Online sekundierte der unglückliche Jakob Augstein dem Kollegen und sah Schirrmacher ,,ohne Zweifel" aufseiten der Linken angekommen. Als sei eine Kapitalismuskritik von rechts undenkbar – die Konservative Revolution und die Neue Rechte waren wohl auch Linke.

Und viele andere hatten gar keine Meinung zu dem Buch, hinterfragten es nicht kritisch, sondern plapperten gleich den Klappentext nach und glaubten der Verlagswerbung, die das Buch vollmundig schon vor Erscheinen als neuen Bestseller pries.

Josef Joffe verriss es vorgestern im Handelsblatt, Andreas Zielcke lobte es am Freitag in der Süddeutschen Zeitung. In einigen Redaktionen kursiert die These, Schirrmacher habe sich von der verschwörungstheoretischen TV-Serie ,,The Trap" von Adam Curtis zu seinem Buch inspirieren lassen.

Doch alle Texte, auch dieser hier, machen sich zum Helfershelfer einer Strategie, deren sich das Medium Schirrmacher bedient. Es geht bei ,,Ego" nicht um Ideologie, auch will Schirrmacher nicht sagen, dass er Angst hat vor Finanzmarkt, Globalisierung, den Amerikanern und dem Internet. Nein, er reizt gern, er genießt die Reflexe.

So reiht sich ,,Ego" in die Reihe der Bücher ein, deren prominente Autorinnen und Autoren Themen nutzen, künstlich aufblasen, willkürlich Belege zusammensuchen, mit einer schwurbeligen Sprache hantieren und Missverständnisse in Kauf nehmen. Denn es geht vor allem darum, sich wichtig zu machen. Wir, die wir darüber schreiben, spielen dieses Spiel mit.

Quote20.02.2013 20:23 Uhr
von julia seeliger:

Ja, und was ist jetzt mit der konservativen Revolution und der Kapitalismuskritik von Rechts? Hätte mich irgendwie mehr interessiert als so ne Presseschau.



Aus: "Schirrmacher genießt die Reflexe" (20.02.2013)
Quelle: https://www.taz.de/Ego-des-FAZ-Mitherausgebers/!111441/

-.-

Quote[...] Was treibt unser Zeitalter an, was ist sein "Wesen"? Ist es die Beschleunigung von allem und jedem? Oder das Kapital? Oder die Globalisierung der Demokratie?

Schirrmachers Antwort ist, moderat formuliert, eindrucksvoll. Für ihn sind wir Zeugen davon, wie gerade ein neuer Mensch programmiert wird, eine neue Gesellschaft oder, um für Soziologen verständlich zu bleiben: eine neue Kodierung des Sozialen. Alles, in dem ein Funke menschlichen Lebens steckt, wird auf Marktförmigkeit umgestellt – die Herrschaft des "Informationskapitalismus" legt ein Raster über die Welt, dem niemand entkommt. In diesem Raster gibt es nur eine Vernunft, nämlich den Eigennutz, und es existiert nur ein Sozialcharakter, der rationale Egoist. In der neuen Welt des Informationskapitalismus ist alles ein Investment, und alles, von den Träumereien eines einsamen Spaziergängers bis zum Kinderkriegen, muss sich rechnen, alles Tun und Trachten folgt der Ökonomie des selbstsüchtigen Herzens. Und wer bei der Totalbewirtschaftung des Lebens nicht mitspielt, landet in der Gosse.

Lesern von Wirtschaftsteilen in Zeitungen kennen diesen Typus als Homo oeconomicus, als eine Kopfgeburt aus den Ideenlabors von Wissenschaftlern. Gegen diesen blutleeren Modellmenschen, für den das Leben eine einzige Gewinn- und Verlustrechnung ist, war bislang wenig zu sagen. Es war ja nur ein stubenbleiches Artefakt zur Berechnung von Marktverhalten, ein mathematischer Schatten aus den Denkerstuben der Ökonomen.

Damit ist es vorbei. Im Informationskapitalismus, schreibt Schirrmacher in seinem Buch Ego: Das Spiel des Lebens, gilt das nicht mehr. Der Homo oeconomicus hat das Labor verlassen und ersetzt den naturbelassenen Altmenschen auch in der Wirklichkeit. Der normale Bürger denkt, fühlt und handelt genau so, wie es sich die Wissenschaftler für ihn ausgedacht haben, er verwandelt sich in ein Rechenmodell und verschmilzt mit seinem theoretischen Schatten. Das wahrhaft "Menschliche" ist jetzt das Ökonomische ("Unterm Strich zähl ich"), oder etwas eleganter mit Michel Foucault gesagt: Der (alte) Mensch "verschwindet wie ein Gesicht im Sand", er verwandelt sich in den rationalen Spieler. Er lächelt, um zu gewinnen, er kooperiert, um den anderen auszutricksen, er ist ehrlich, um zu betrügen. Wenn er spricht, weiß niemand, ob er blufft oder die Wahrheit sagt. Schön ist das Leben in der Gesellschaft der ökonomischen Menschen nicht, denn das Leben ist Krieg, und Krieg ist Leben. Like it!

... Wenn Angela Merkel, wie Schirrmacher entgeistert bemerkt, die "marktkonforme Demokratie" lobt, dann hat sie bereits kapituliert. "Bürger und Staat haben keine Souveränität, sondern ›spielen‹ sie nur. Darum werden Parlamente zu Staffagen und Öffentlichkeiten zu Echoräumen, die man anspricht, um Märkte zu beeinflussen." Der Staat "spielt" gegen den Markt, und die Öffentlichkeit ist die Bühne, auf der er seine Spielzüge publik macht. "Regierungen reden nur noch taktisch mit ihrer eigenen Öffentlichkeit, sie übergehen Parlamente und Gesetze, sie müssen falsche Fährten legen und widersprüchliche Erwartungen hegen, Regulierungen ankündigen, durchsetzen, verwerfen – alles nur, um im Rüstungswettlauf mit den Märkten den Gegenspieler zu verwirren."

Zugegeben: In diesen Beschreibungen steckt ein missverständlicher, sehr deutsch klingender Unterton: Alles Übel kommt aus dem Westen, es kommt aus England und Amerika, Wall Street und Silicon Valley haben sich gegen Europa verschworen, sie rupfen die blaue Blume der deutschen Romantik von den blühenden Wiesen der Kultur, sie zerstören den Sozialstaat und das Politische gleich mit. Anderseits macht Schirrmacher dem Leser klar, dass Europa seit zweihundert Jahren vom Maschinenwesen fasziniert ist und sich bis auf wenige Ausnahmen in die Automatenmenschen hineingeträumt hat, in den kalt kalkulierenden Spieler, den rationalen Egoisten.

Dieser Traum von der menschlichen Maschine geht nun in Erfüllung, aber für Schirrmacher ist es ein Albtraum, eine große Säuberung und vielleicht auch der Untergang des Abendlandes. Der Informationskapitalismus installiert nämlich nicht nur den Kalten Krieg im Sozialen; er bereinigt das alte Menschenbild und macht es semantisch nackt. Wörter sind nur noch Information, und Information ist Geld, und Geld ist das Maß der Vernunft. Seele, Moral, Liebe, Leidenschaft, Gott – die Pathosformeln einer abgelaufenen Epoche werden nun liquide, und was früher ganze Bibliotheken über die Wahrheit des Menschenwesens gefüllt hat, das passt heute auf einen Bierdeckel: "Der Mensch ist ein Ökonom", er ist Kalkül, ein Vorteilnehmer und Selbstvermarkter.

Wer es unbedingt im Links-rechts-Schema sagen will: Jetzt bekommt es das konservative Bürgertum mit sich selbst zu tun. Schirrmacher versucht, die bürgerlich-konservative Intelligenz auf die Höhe der Zeit zu bringen, all jene Denker, die schöne, kostbare Jahre mit Gezeter ("Kapitalismus oder Barbarei") vergeudet haben, mit Spiegelfechtereien gegen Gutmenschen und Moralapostel.

Quote
   Guenni_1
   21.02.2013 um 10:36 Uhr

Oder mit ganz einfachen Worten gesagt
Er versucht die angeblich bürgerlich konservativen aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. ...


Quote
   titanicus
   21.02.2013 um 10:58 Uhr

Bedrohung des Bürgertums

Ohne das Buch gelesen zu haben und mich nur auf den Artikel beziehend: Das klingt so, als wäre Walter Benjamins Fragment "Kapitalismus als Religion" wieder aktuell. Diese neue Form des digital gestützten Informationskapitalismus durchdringt den einzelnen bis in die letzte Gehirnzelle und übt mehr Macht über ihn aus als es jemals eine Weltreligion gekonnt hätte. (Die Zustände, aus denen Benjamin seine Erkenntnisse zog, waren vergleichsweise noch idyllisch.) Diese neue Form des Kapitalismus zieht alles in ihren Sog, woraus auch zu erklären wäre, dass Parteien, die diese -- ja, zweifelhafte Ummodelung des Menschen propagieren, mit ansehnlichen Stimmzuwächsen bedacht werden. ...



Aus: "Unterm Strich zähl ich" Thomas Assheuer (21.02.2013)
Quelle: http://www.zeit.de/2013/08/Frank-Schirrmacher-Ego-Das-Spiel-des-Lebens


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Quote[...] Als Clarisse Thorn an diesem Mittwochabend in einer Bar in Berlin Mitte Platz nahm, blickte sie in 60 fragende, mehrheitlich weibliche Gesichter und gibt direkt Entwarnung: "Pick-Up-Artists sind Männer, die sehr viel Zeit mit anderen Männern verbringen, um darüber zu sprechen, wie man am besten mit Frauen spricht." Die 28-Jährige kassiert nach zwei Minuten den ersten Lacher – ihre Männerfreunde aus der PUA-Szene wären stolz. Von den sieben Kategorien, in die Thorn die PUAs, die ihr begegneten, unterteilt, stelle nur eine wirklich ein Problem dar: Die "Darth Vaders" wollen sich für erfahrenes Leid an Frauen rächen oder ergötzen sich schlicht an der eigenen Dominanz. Der Rest der Bande ist eher soziologisch interessiert, wirklich schlimm verklemmt oder hat vor allem Spaß daran, die Gruppentreffen mit den anderen Jungs zu organisieren.     

Neben Thorn und der Verlegerin sitzt ein schlanker Mittzwanziger mit weichen Gesichtszügen über hohen Wangenknochen und nickt zu all dem. Nils aus München ist selbst Aufreiß-Profi und -Coach und extra zur Buchvorstellung angereist. Gemeinsam mit einer weiblichen Co-Trainerin unterrichtet er deutsche Männer in der amerikanischen PUA-Kunst, je nach Bedarf und Kaufkraft in Einzel- oder Gruppenseminaren.

Thorn erzählt von ihren Begegnungen in der Szene, von Männern, die selbst bei ihr – der selbstbewussten Feministin und Sex-Aktivistin – nicht von ihren rhetorischen Tricks lassen konnten. Nils sitzt daneben wie ein Mathematikstudent, der stolz den Theorien lauscht, die er gerade erst selbst durchdrungen hat. Zur Veranschaulichung führt er zwischendurch einige Annäherungsversuche vor und spricht dazu in schönster Du-musst-dein-Leben-ändern-Manier: "Du musst lernen, deine Emotionen zu kontrollieren. Beug' Dich im Gespräch nicht zu ihr herunter, bleib aufrecht. Gib' ihr das Gefühl, so gut wie wieder weg zu sein."   

Je länger die beiden so reden, desto deutlicher wird: Der Erfolg von Aufreiß-Coaches wie Neill und Nils ist das Versagen alter Kennenlern- und Bindungsmodelle. In einer auf Leistung und Aussehen getrimmten Gesellschaft, ist der Misserfolg beim anderen Geschlecht ein kaum zu ertragender persönlicher Makel. Der Frust darüber entlädt sich in einem pseudowissenschaftlichen Expertensprech, das mal an Baseballkommentar und mal an die Mantras der New Economy erinnert. "Es geht darum, weniger in die Frau zu investieren, als sie in Dich." Die positivistischen Denkmuster der PUAs sind zutiefst amerikanisch. Erfüllende Sexualität und Anerkennung wird errechnet wie die Kalorienzahl auf der Diet-Coke.

...


Aus: "Der Zweifel an der Natur des Mannes" Maria Exner (26.04.2013)
Quelle: http://www.zeit.de/lebensart/partnerschaft/2013-04/pick-up-artists-clarisse-thorn-maennlichkeit


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Quote[...] Weder eine andere Politik noch eine andere Wirtschaft ist möglich ohne eine andere Subjektivität, ein anderes Selbstverständnis. Der Kapitalismus dauert an, weil er ein mentaler Zustand ist.


Aus: "Die Zurichtung des Homo Oeconomicus" le Bohémien (Walter Beutler, 30. April 2013)
Quelle: http://le-bohemien.net/2013/04/30/die-zurichtung-des-menschen-durch-den-neoliberalismus/




Textaris(txt*bot)

Quote[...] "Es erwartet mich schlechte Musik", sagt Joel. "Aber wahrscheinlich auch eine Menge Spaß." Joel jubelt und klatscht auf Veranstaltungen, wenn man ihn dafür bezahlt. Als Claqueur soll er für gute Stimmung sorgen, aber auch im richtigen Moment still sein. Keiner darf wissen, dass er gekauft wurde. Wenn das bekannt würde, wäre der Ruf der Veranstaltung und des Künstlers ruiniert.

Vor ein paar Jahren hat er sich im Internet nach Minijobs umgesehen. Er stieß auf die Möglichkeit, mit Applaus Geld zu verdienen. 2012 hat er zum ersten Mal als Claqueur gearbeitet. Seitdem ist er auf vier Schlagerkonzerte gegangen und hat jedes Mal in drei Stunden etwa 25 Euro verdient. Das ist nicht viel, geht für ihn aber in Ordnung – schließlich genießt er die Kuriosität der Auftritte, und ein paar seiner Freunde gehen oft mit.

... Eine Agentur, die Claqueure für Konzerte, Firmenveranstaltungen, Flashmobs und andere Events bereitstellt, ist Rent A Fan aus Schwabach in Mittelfranken. Seit der Gründung vor zehn Jahren haben sich online über 6 000 Menschen als mietbare Klatscher registriert. Auch die Auftraggeber melden sich über das Internet bei Klaus Bernhard, dem Chef von Rent A Fan. Der IT-Fachmann betreibt seinen Claqueur-Verleih nebenberuflich. Er träumt davon, einmal ein ganzes Fußballstadion mit gekauften Klatschern zu füllen. Nach der Besprechung mit einem Auftraggeber durchsucht er seine Datenbank nach möglichen Fans und wählt aus – ganz nach den Wünschen des Kunden, der  zum Beispiel "100 Menschen unter 40 Jahren" bestellt.

Bis zu 200 Leute hat Bernhard schon zu einer einzigen Veranstaltung geschickt, 20 sind das Minimum. Im Jahr versorgt er um die zwei Dutzend Events mit gekauftem Publikum. So wird dem Künstler und dem Publikum suggeriert, an einer erfolgreichen Veranstaltung teilzunehmen. Oft wüssten die Künstler selbst nicht, dass gemietete Fans ihnen zujubeln, sagt Bernhard. In den meisten Fällen heuere das Management oder der Veranstalter die Miet-Fans an. Betrug sei das nicht, eher ein Marketing-Instrument.

... Die gefälschte Begeisterung hat aber auch Grenzen. Anfragen für politische Aktionen lehnt er ab. "Von uns wird es keine bezahlten Demonstranten geben. Ein Produkt zu verkaufen ist etwas anderes, als eine Meinung zu verkaufen." Und jeder Künstler gehe mit einem besseren Gefühl von der Bühne, wenn der Applaus größer sei.

Dass die Musiker den bezahlten Jubel genießen, bezweifelt der Veranstalter und Musiker Albert Ruppelt. Er bezweifelt es sogar sehr: "Die Künstler würden sich sicher veräppelt fühlen, wenn ich denen da Fans hinstelle, die die Musik überhaupt nicht fühlen und verstehen."

... Dem Hardrock-Fan Joel ist das ziemlich egal. Vor der heutigen Show wird er wohl, wie sonst auch, eine Trillerpfeife und andere Utensilien bekommen, mit denen er die Stimmung für den geheimnisvollen Schlagerkünstler anheizen soll. Ob neben ihm und seinen Freunden auch andere Claqueure vor Ort sein werden, weiß er nicht. "Man wird ja dafür bezahlt, möglichst echt und authentisch rüberzukommen", sagt er. "In einer perfekten Welt kann ich echte von gekauften Fans nicht unterscheiden."

...

Quote21.05.2013 - 12:40 Uhr
loboconsusbolsas

Wo sind wir eigentlich? Ätzendes Konzept, das die Welt noch ein bisschen ekliger macht, als sie es ohnehin schon ist. "Betrug ist das nicht, eher ein Marketing-Instrument" bringt es auf den Punkt. Marketing ist Betrug für Leute, die betrogen werden wollen. Für Leute, die ihr Empfinden chronisch von dem der anderen abhängig machen. Steuerbare Konsumentenmasse, von der Gchäftlesmacher träumen. Unsere Gehirne in die Kochwäsche. Vor diesem Artikel habe ich noch auf SPON über eine Elite-Uni in Monaco gelesen. Einer der Lieblingssätze des Dozenten für Marketing-Management lautet: "What have you done today for your personal brand" – was soll ich sagen ...



Aus: "Der Miet-Klatscher" Sebastian-Witte (20.05.2013)
Quelle: http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/571694/Der-Miet-Klatscher


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Um es gleich klarzustellen: Im Stein, der neue Roman von Clemens Meyer, ist eine Zumutung – aber eine, der man sich unbedingt aussetzen sollte.  ... Meyer arrangiert die vielen Stimmen zu einem großen Chor, der davon erzählt, wie der Kapitalismus nach dem Mauerfall im Osten auch im Sexuellen Einzug hält. Aufbau Ost im Horizontalen, die Durchökonomisierung der Verhältnisse bis ins Bett. Und auf diesem Markt der Körper hat jede Zuwendung, jede Aufmerksamkeit ihren exakt benennbaren Preis. Hauptort der Handlung ist ,,die große Stadt", ein ins metropolishaft Phantastische überzeichnetes Leipzig. Knallhartes Monopoly wird hier um Territorien, Einfluss und Immobilien gespielt. In der Nachwendezeit probieren sich viele aus. Mit zunehmender Professionalisierung der Geschäftsstrukturen ziehen viele Prostituierte dann ,,weg von der Straße, rein in den Stein", wie ein Zuhälter die entsprechenden Wohnungen nennt. Und damit den Buchtitel erklärt.

...


Aus: "In der großen Stadt" Jan Pfaff (05.10.2013)
Quelle: http://www.freitag.de/autoren/jan-pfaff/in-der-grossen-stadt


Textaris(txt*bot)

Quote[...] das ständige Gefühl, gemessen und beobachtet zu werden, erzeugt eine Paranoia, die uns zu kafkaesken Sklaven unseres eigenen oder besser: fremdbestimmten Anspruchs macht. Damit sind wir längst in der "Kontrollgesellschaft" angekommen, ein Begriff mit dem der Philosoph Gilles Deleuze eine Zeit beschrieb, in der die politischen und wirtschaftlichen Kontrollinstanzen weitgehend unsichtbar bleiben, dabei aber kaum an Macht einbüßen.

Dass eine wirksame Kritik etwa am Bildungsbetrieb kaum stattfindet, liegt auch an der Schwierigkeit, einen Schuldigen zu finden, was zu einer "distanzierten Zuschauerhaltung" führt, die schon Nietzsche kritisierte. Das lähmende Gefühl der Alternativlosigkeit ist dabei vor allem dem "großen Anderen" (so der Kulturkritiker Slavoj Žižek) geschuldet, also dem bürokratischen Unbekannten, auf den etwa Beamte mit dem allseits bekannten Satz verweisen, man würde lediglich Anweisungen "von oben" befolgen. Anstatt jedoch aktiven Widerstand zu leisten, reagieren viele mit Zynismus, der die Konformität jedoch nur verstärke. Mit fatalen Folgen ...

So hängt der Anstieg von psychischen Krankheiten eng mit immer höheren Leistungserwartungen zusammen. Hier setzt Fishers zentrale These an, die ihn von anderen Zeitdiagnosen unterscheidet. Dass die Medizin Depressionen stets auf individuelle und biologische Prozesse verkürzt, bewirke eine "Privatisierung von Stress", die den Verkauf von Antidepressiva als kurzfristige Symptomunterdrückung fördert. Da Depressive die Ursachen immer nur bei sich selbst suchen anstatt in ökonomischen Bedingungen, kommt es zu einer "Entpolitisierung von Gesundheit", die gesellschaftliche Solidarität durch individuelle Verantwortung ersetzt.

...


Aus: "Krank in der Leistungsgesellschaft: Wie der Kapitalismus den Stress privatisiert" Von Philipp Rhensius (16.10.2013)
Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/mark-fisher-kapitalistischer-realismus-ohne-alternative-a-928145.html


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Quote[...] Sabine Grenz: Jemandem Geld zu geben, ist auch eine Form der Fürsorge. Der Widerspruch zwischen Geld und Intimität ist nur ein scheinbarer, sonst würden sicher viele Ehen nicht funktionieren.


Aus: "Prostitutionsdebatte: "Sexarbeit wegen fehlender Perspektiven"" (25. November 2013 )
Quelle: http://www.zeit.de/wirtschaft/2013-11/prostitution-freier-zwang-interview


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Vor ein paar Stunden haben wir, zwei ZEIT-Autorinnen, uns in das Dating-Portal "Shop a Man" eingeloggt. Wir haben uns mit Foto und Echtnamen angemeldet, seitdem werden uns Männer angeboten wie Biersorten im Supermarkt. In unseren Postfächern gehen Dutzende Mails ein mit der Nachricht: "Ein neues Produkt hat sich Dir vorgestellt".

Die Produkte sind Männer. Wir können Sie sehen in der Fotogalerie des Portals. Neben den Bildern steht eine Tabelle, die uns unter der Überschrift "Marktwert" über den Anklang informiert, den sie bei der Kundschaft finden. Der Marktwert hängt davon ab, wie viele Frauen sich das Profil der Männer im Detail angesehen haben, wie viele danach das "Like"-Zeichen anklickten und wie viele davon tatsächlich zuletzt "shoppen" gingen, das heißt: den Mann kennenlernen wollten. Bei Shop a Man können nur Frauen Kundinnen werden.

Auch wir könnten jetzt Charly oder Holger in unseren virtuellen Einkaufswagen packen. "Entscheide, ob er ein Must-have ist oder nur ein Ladenhüter", fordert man uns auf.

Während wir die Männergalerie checken, werden wir laufend über unsere eigene Attraktivität informiert. "34 Prozent der Frauen haben einen höheren Marktwert als Du", erfährt eine von uns. Ist das jetzt ein Kompliment? Wir beschließen, dass Holger, Marcus und Charly ohne uns glücklich werden müssen.

Ein Besuch bei Shop a Man fühlt sich an wie ein Gastauftritt in einer Satireshow, unwirklich und schrill. Doch Marcus und Holger gibt es tatsächlich. Und die Liebe, das lehren zumindest ganz unterschiedliche soziologische Untersuchungen, funktioniert teilweise wie ein Markt, mit Rankings nach den Gesetzen des Kapitalismus. "Menschen wägen Alternativen ab und sind sich ihres Tauschwertes stets bewusst", sagt der Familiensoziologe Norbert Schneider, Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. Die israelische Soziologin Eva Illouz hat für diese Entwicklung den Begriff des "emotionalen Kapitalismus" erfunden. Ihr großes Thema ist, wie sich die Grenzen zwischen Business und Privatleben auflösen. Waren werden mit emotionalen Botschaften verkauft, Paare handeln nach ökonomischen Gesetzen. Sie vermarkten sich und kalkulieren den eigenen Nutzen und den des anderen härter denn je.

Unter Soziologen und Ökonomen, die sich mit Partnerschaften beschäftigen, ist unbestritten, dass Geld, Besitz und Status für Bindungen nach wie vor eine große Rolle spielen – auch wenn frisch Verliebte sich das oft nicht eingestehen. Nichts senkt das Scheidungsrisiko so sehr wie gemeinsamer Immobilienbesitz, hat der Kölner Soziologe Michael Wagner festgestellt: Selbst Paare mit gemeinsamen Kindern trennen sich öfter als Männer und Frauen, die sich Häuser oder Eigentumswohnungen teilen.

Dabei war die Freiheit, ohne gesellschaftlichen und ökonomischen Druck einen Partner zu wählen, nie so groß wie heute. Jahrhundertelang wurden Ehen ganz selbstverständlich allein aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen. Man heiratete so, dass die Höfe der Eltern zusammenpassten oder ein Geschäft erfolgreich weitergeführt werden konnte. Männer suchten sich ihre Bräute nach deren Mitgift aus, Frauen hielten Ausschau nach einem Familienernährer. Geld und Liebe ist eigentlich ein Begriffspaar aus Romanen versunkener Zeiten, als Frauen sich für die gute Partie entscheiden mussten anstatt für das große Gefühl. Das war Stoff für die ganz großen Dramen im alten Europa.

... Nicht mehr verfeindete Familien wie bei Romeo und Julia oder verfeindete Religionen wie bei Nathan dem Weisen oder unterschiedliche Hautfarben wie bei der West Side Story stehen den Partnern im Wege – nein, heute trennen sie Labels.

"Die wichtigste Entscheidung für eure Karriere ist nicht euer Studiengebiet, es ist die Wahl des richtigen Ehemanns", schärft Sheryl Sandberg daher jungen Frauen ein. Die Facebook-Managerin empfiehlt in ihrem Karriere-Ratgeber Lean In, einen Partner zu suchen, der sich in der Familie engagiert. "Ihr werdet nie wieder einen Mann so sexy finden wie den, der die Windeln eurer Kinder wechselt", ruft sie den Frauen zu. Ist das pragmatisch – oder ein Rückfall in Rollenmodelle der fünfziger Jahre, nur unter umgekehrten Vorzeichen? Jedenfalls erreichte Sandberg mit ihren Tipps weltweit ein Millionenpublikum.

...


Aus: "Geliebter Konkurrent" Dorit Kowitz und Elisabeth Niejahr ( DIE ZEIT Nº 13/2014, 27. März 2014)
Quelle: http://www.zeit.de/2014/13/liebe-geld-oekonomie-partnerwahl

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Quote[...]  Warum ist das neoliberale Herrschaftssystem so stabil? Warum gibt es so wenig Widerstände dagegen? Warum werden sie alle so schnell ins Leere geführt? Warum ist heute keine Revolution mehr möglich trotz immer größer werdender Schere zwischen Reichen und Armen? Für eine Erklärung ist ein genaues Verständnis notwendig, wie die Macht und Herrschaft heute funktioniert. ... 

Es ist bekannt, dass Margaret Thatcher als Vorkämpferin des Neoliberalismus die Gewerkschaften als "Feind im Inneren" behandelte und sie gewaltsam bekämpfte. Gewaltsamer Eingriff zur Durchsetzung der neoliberalen Agenda ist jedoch nicht jene systemerhaltende Macht.

Die systemerhaltende Macht der Disziplinar- und Industriegesellschaft war repressiv. Fabrikarbeiter wurden durch Fabrikeigentümer brutal ausgebeutet. So führte die gewaltsame Fremd-Ausbeutung der Fabrikarbeiter zu Protesten und Widerständen. Möglich war hier eine Revolution, die das herrschende Produktionsverhältnis umstürzen würde. In diesem repressiven System sind sowohl die Unterdrückung als auch die Unterdrücker sichtbar. Es gibt ein konkretes Gegenüber, einen sichtbaren Feind, dem der Widerstand gilt.

Das neoliberale Herrschaftssystem ist ganz anders strukturiert. Hier ist die systemerhaltende Macht nicht mehr repressiv, sondern seduktiv, das heißt, verführend. Sie ist nicht mehr so sichtbar wie in dem disziplinarischen Regime. Es gibt kein konkretes Gegenüber mehr, keinen Feind, der die Freiheit unterdrückt und gegen den ein Widerstand möglich wäre.

Der Neoliberalismus formt aus dem unterdrückten Arbeiter einen freien Unternehmer, einen Unternehmer seiner selbst. Jeder ist heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmers. Jeder ist Herr und Knecht in einer Person. Auch der Klassenkampf verwandelt sich in einen inneren Kampf mit sich selbst. Wer heute scheitert, beschuldigt sich selbst und schämt sich. Man problematisiert sich selbst statt [die] Gesellschaft.

Ineffizient ist jene disziplinarische Macht, die mit einem großen Kraftaufwand Menschen gewaltsam in ein Korsett von Geboten und Verboten einzwängt. Wesentlich effizienter ist die Machttechnik, die dafür sorgt, dass sich Menschen von sich aus dem Herrschaftszusammenhang unterordnen. Ihre besondere Effizienz rührt daher, dass sie nicht durch Verbot und Entzug, sondern durch Gefallen und Erfüllen wirkt. Statt Menschen gefügig zu machen, versucht sie, sie abhängig zu machen.

... Es ist wichtig, zwischen setzender und erhaltender Macht zu unterscheiden. Die systemerhaltende Macht nimmt heute eine smarte, freundliche Form an und macht sich dadurch unsichtbar und unangreifbar. Das unterworfene Subjekt ist sich hier nicht einmal seiner Unterworfenheit bewusst. Es wähnt sich in Freiheit. Diese Herrschaftstechnik neutralisiert den Widerstand auf eine sehr effektive Art und Weise. Die Herrschaft, die Freiheit unterdrückt und angreift, ist nicht stabil. Das neoliberale Regime ist deshalb so stabil, immunisiert sich gegen jeden Widerstand, weil es von der Freiheit Gebrauch macht, statt sie zu unterdrücken. Die Unterdrückung der Freiheit provoziert schnell Widerstand. Die Ausbeutung der Freiheit dagegen nicht.

... Die Ideologie der Community oder der kollaborativen Commons führt zur Totalkapitalisierung der Gemeinschaft. Es ist keine zweckfreie Freundlichkeit mehr möglich. In einer Gesellschaft wechselseitiger Bewertung wird auch die Freundlichkeit kommerzialisiert. Man wird freundlich, um bessere Bewertungen zu erhalten. Auch mitten in der kollaborativen Ökonomie herrscht die harte Logik des Kapitalismus. Bei diesem schönen "Teilen" gibt paradoxerweise niemand etwas freiwillig ab. Der Kapitalismus vollendet sich in dem Moment, in dem er den Kommunismus als Ware verkauft. Der Kommunismus als Ware, das ist das Ende der Revolution.

QuoteAlexander Silkin

Reine typische linke Bla-bla-bla.
2. Sep. 2014 vor 13 Stunden



QuoteStefan Wanzl-Lawrence

... Disney-Gesellschaft. Wir sind zufrieden, weil wir unterhalten werden ohne dabei etwas aktiv tun zu müssen. Uns geht es gut und das ist bequem. Ideologie all inclusive. Da schließ ich mich selbst oft nicht aus.
2 Sep. 2014 vor 16 Stunden


QuoteSascha Rusicke

Es kann keine Revolution geben, weil sie derzeit nicht einmal gedacht werden kann. Religiös betrachtet ist der Kapitalismus der einzige wirklich wahre und globale Monotheismus, weil wir alle an ihn glauben. Es gibt zwar verschiedene Religionen, aber nur einen Kapitalismus der für alle gilt. Wir müssen unser Verhältnis zum Kapitalismus so sehen wie es der Mensch im Mittelalter zu Gott hatte und es wird noch viel Zeit vergehen, bis wir wieder so nah an eine fast glaubwürdige Kritik am Kapitalismus kommen, wie Marx sie formuliert hat (das Manifest mal ausgenommen), um diese aufzunehmen um die Welt konstruktiv und vernünftig zu verändern. Wichtig ist den Gedanken daran bis dahin nicht aussterben zu lassen.
2. Sep. 2014 vor 15 Stunden



QuoteHelene Zakorzki

Der Kernsatz lautet in der Tat: "Das unterworfene Subjekt ist sich nicht einmal seiner Unterworfenheit bewusst." Man möge kurz innehalten und diesen Satz verinnerlichen. Dann versteht man die Statements der meisten Politiker besser.
2. Sep. 2014 vor 14 Stunden




...

http://rivva.de/245262790


Aus: "Warum heute keine Revolution möglich ist" Byung-Chul Han (2. September 2014)
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/politik/neoliberales-herrschaftssystem-warum-heute-keine-revolution-moeglich-ist-1.2110256


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Quote[...] Der Kapitalismus-Kritiker Byung-Chul Han klagt in der "Süddeutschen Zeitung" [http://www.sueddeutsche.de/politik/neoliberales-herrschaftssystem-warum-heute-keine-revolution-moeglich-ist-1.2110256], dass durch die neoliberale Gesellschaftsordnung inzwischen keine Revolution mehr möglich sei. Als eine der treibenden Kräfte sieht er das Internet: "Die Sharing-Ökonomie führt letzten Endes zu einer Totalkommerzialisierung des Lebens." Diese Einschätzung basiert auf einem begrifflichen Missverständnis. "Sharing-Ökonomie" ist ein verschleierndes Paradoxon, das ursprüngliche Verständnis des Wortes "Teilen" (Sharing) hat gerade nichts mit Geld zu tun. Niemand spricht davon, dass der Maler seine Dienstleistung mit den Kunden "teilt", wenn er sie verkauft. Ebenso wenig hat es mit "Sharing" zu tun, wenn (schein-)selbstständige Fahrer ihre Transportleistung per Uber-App verkaufen. Was man Sharing-Ökonomie nennt, ist nur ein Aspekt einer viel größeren Entwicklung, einer neuen Form des digitalen Kapitalismus: Plattform-Kapitalismus.

... Das Problem mit der "Sharing-Ökonomie" ist nicht ein eklig agierendes Start-up wie Uber. Es ist die Transformation des digitalen Wirtschaftssystems zum Plattform-Kapitalismus und die mangelnde Vorbereitung von Politik und Gesellschaft darauf. ...

QuoteRichtig,
curiosus_ heute, 14:21 Uhr

... ein weiterer Schritt in Richtung prekärer Arbeit. Der Preis für Taxifahrten ermöglicht, nach Abzug aller Unkosten (Fzg.-Abschreibung, Versicherung, Fzg.-Unterhaltung etc.), nur einen höchst bescheidenen Lohn für den Fahrer. Kaum ausreichend um davon zu leben. Wenn die Uber-Taxis nun noch billiger sind, auf wessen Kosten geht das dann? Auf Kosten der Allgemeinheit (Steuerzahlerkosten), da Aufstocker am Steuer sitzen? Oder Hartz-4-Schwarzarbeiter? In meinen Augen ist das der total falsche Weg, aber leider der Zug der Zeit.

http://www.spiegel.de/forum/netzwelt/sharing-economy-auf-dem-weg-die-dumpinghoelle-thread-143662-4.html#postbit_17226189




Aus: "Sharing Economy: Auf dem Weg in die Dumpinghölle" Sascha Lobo (03.09.2014)
Quelle: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/sascha-lobo-sharing-economy-wie-bei-uber-ist-plattform-kapitalismus-a-989584.html


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Quote[...] In den medialen Aufmerksamkeits- und Sensationsspiralen fantasieren viele davon, wenigstens einen Moment lang ein Held zu sein. Als Lachnummer bei Dieter Bohlen, als Stuntnummer bei Thomas Gottschalk – oder eben als Massenmörder, mit vorfabriziertem Manifest, Pressemappe und Videos im Internet für die Ewigkeit.

,,Helden" nennt der marxistische Philosoph Franco ,,Bifo" Berardi seine Studie über ,,Massenmord und Suizid". Den Titel meint er weder ironisch noch zynisch, sondern bitter und ernst. Der 66-jährige Italiener, ein Vordenker der autonomen Linken, spricht von ,,Helden eines nihilistischen Zeitalters" und dessen ,,Pathologie". Er interessiert sich für Menschen, die leiden und aufgrund ihres eigenen Leidens zu Verbrechern werden.

Berardi unterzieht unsere Gesellschaft einer Radikalkritik. Der ,,Drang zum Selbstmord" entspreche dem ,,Triumph des neoliberalen Wettbewerbszwangs", behauptet er. Der ,,Finanzkapitalismus" begründe ein nihilistisches Zeitalter, der Profit um jeden Preis vernichte jeden Wert. Die Werbung dröhnt aus allen Kanälen und suggeriert quietschende Fröhlichkeit. ,,Täuschung, Betrug und Gewalt zählen zu den Erfolgsgarantien im ,,kapitalistischen Absolutismus". Es wird auf den Niedergang ganzer Staaten gewettet, über Rohstoffpreise auf Hunger und Elend in Afrika.

Die Gier nach Geld ist zur Ersatzwährung für verloren gegangene Werte geworden. ,,Wenn das Finanzspiel auf der Prämisse gründet, dass der investierte Geldwert steigt, je mehr zerstört wird", schreibt Berardi, ,,so gründet diese Form des finanziellen Profitstrebens im Grunde auf einer Wette auf die Verschlechterung der Welt." Verlierer haben in dieser Welt nichts zu suchen. Es gewinnt immer derjenige, der andere Leben zerstört. Und die digitale Einsamkeit steigt vor ,,den Käfigen unserer Bildschirme". Die Folge sind Depressionen und Krankheiten.

In seiner düsteren Bestandsaufnahme sieht er mittlerweile alle sozialen Errungenschaften ,,den religiösen Dogmen des Markt-Gottes geopfert" Die Fähigkeit zu Solidarität, Empathie und Autonomie, klagt er, sei im schwarzen Loch eines ,,Nichts in Geldform" verschwunden. Politisches Bewusstsein und politische Strategie sind in seinen Augen verdrängt. Die Verbrechen der ,,neoliberalen Theologie" liegen für ihn auf der Hand: ,,Ich weiß wirklich nicht, ob es jenseits dieses schwarzen Lochs noch Hoffnung gibt; ob es jenseits der uns unmittelbar bevorstehenden Zukunft noch eine Zukunft gibt." Freundschaften im Privaten und Verweigerung im großen Zusammenhang sind für ihn die letzten Posten der Freiheit.

Aus dieser Sicht entwickelt Berardi Analysen der Massenmorde von Amokläufern und der Selbstmordwellen in Korea oder Japan. Er analysiert Ereignisse wie das Schulmassaker in Columbine, das Kino-Massaker in Aurora, Nine-Eleven, Breivik in Norwegen. Massenselbstmorde bei France Télécom; Massenselbstmorde indischer Bauern; Massenselbstmorde in Taiwan. Die Ursachen für Letztere erkennt er in den mörderischen Hierarchien und Renditeerwartungen von Finanzinstituten und Konzernen.

Amokläufer und Selbstmörder, behauptetet er, nehmen Rache an einer Gesellschaft, in der nur noch das Gesetz des Stärkeren gelten soll. Berardi zeigt, wie mit der Regierung Thatcher ein sozialer Darwinismus aufgekommen sei: Es überleben jene, die andere aus dem Weg räumen. Die ethische Grundlage der modernen Gesellschaft – ,,das Verantwortungsbewusstsein der bürgerlichen Klasse und die Solidarität unter den Arbeitern" – hat sich aufgelöst. Demokratie, Arbeitssicherheit und Gesetzestreue sind immer weniger wert. Die Verlierer aber, die Gemobbten, die Unterdrückten, die Gedemütigten, die Seelen ohne Empathie, werden zu mörderischen Helden eines nihilistischen Zeitalters.

Franco Berardi hat ein provozierend finsteres Buch verfasst, dessen Hoffnungslosigkeit vielleicht gerade die Hoffnung ist, die er vermitteln will: Ohne einen grundlegenden Wandel unseres Zusammenlebens, ohne einen ,,ethischen Rückzug aus der Barbarei unserer Zeit" werden wir weiter von Katastrophe zu Katastrophe taumeln.

Franco ,,Bifo" Berardi: Helden. Über Massenmord und Suizid. Aus dem Englischen von Kevin Vennemann. Verlag Matthes & Seitz, Berlin, 288 Seiten (2016)


Aus: "Franco Berardi über Amokläufe und Finanzkapitalismus ,,Sie sehen sich als Helden eines nihilistischen Zeitalters"" Stefan Berkholz (27.07.2016)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/kultur/franco-berardi-ueber-amoklaeufe-und-finanzkapitalismus-sie-sehen-sich-als-helden-eines-nihilistischen-zeitalters/13930020.html

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Quote[...] Bernhard Heinzlmaiers neues Buch "Anpassen, Mitmachen, Abkassieren" ist von Milde befreit – stellenweise auch von Differenzierung

STANDARD: Nach dem Lesen Ihres neuen Buches will man das Wort "Elite" wirklich nicht mehr aussprechen. Ihnen zufolge ruinieren diese "unsere Gesellschaft". Was regt Sie dermaßen auf?

Heinzlmaier: Die Politik ist zu einer Ansammlung von handlungsunfähigen hohlen Gefäßen verkommen. Das Äußere der Parteien sieht adrett und artig aus, innen sind sie verrottet und heruntergekommen. Rückgratlos mit perverser Lust an der Subordination unter die Macht des Mainstreams. Die Milieus der Ober- und Mittelschicht passen sich der politischen Kultur der Unaufrichtigkeit opportunistisch an und lügen im Privat- und Berufsleben zum eigenen Vorteil, dass sich die Balken biegen. Sie haben jede Verbindung zu den klassischen bürgerlichen Tugenden wie Ehrlichkeit, Treue und Anständigkeit gekappt.

STANDARD: Total amoralisch?

Heinzlmaier: Ob Mensch oder Natur – alles wird den Ego-Eliten unserer Tage zum Mittel für den persönlichen Zweck. Rücksicht nehmen sie nur auf sich selbst.

STANDARD: Überspitzt gesagt ...

Heinzlmaier: Ja, auch auf ihre Familien, Lebenspartnerinnen – aber die werden irgendwann auch getauscht gegen attraktivere Varianten. Solcher Wert des Lebens orientiert sich halt primär an Äußerlichkeiten. Schöner Schein, egozentrischer Lustgewinn, wirtschaftlicher Erfolg.

STANDARD: Rührt daher die große Schadenfreude, wenn es einmal einen "erwischt"?

Heinzlmaier: Ja, die Zusammenbrüche und Niederlagen der dekadenten Wirtschaftswelt sind unsere kleinen Freuden des Alltags, die uns gleichzeitig das Gefühl geben, dass es doch eine höhere Gerechtigkeit gibt. Wir normalen Bürger, die in der Regel zu den Opfern dieser überheblichen und gewissenlosen Eliten gehören, gönnen ihnen jede Niederlage, jede Qual von Herzen. Es meldet sich ja auch das Gewissen – viele Spitzenrepräsentanten in Politik und Wirtschaft leiden unter Depressionen. Wer nicht zum Neurologen geht, versucht sich zu betäuben, ständig abzulenken, im Zirkel seinesgleichen zu bestätigen.

STANDARD: Auch nicht moralisch vorbildlich. Ist in den Milieus "unterhalb" der Mittelschicht etwas besser?

Heinzlmaier: Die reagieren anders auf den Niedergang der Moral in Politik und Wirtschaft und auf die gleichzeitige Erhebung von Manierismen zu den bestimmenden Kriterien für persönlichen Erfolg und gesellschaftlichen Status, und zwar nicht mit Anpassung, sondern mit radikaler Abgrenzung.

STANDARD: Das Potenzial für die rechtspopulistische Gegenöffentlichkeit?

Heinzlmaier: Mit der Pegida-Bewegung und der AfD, der FPÖ: ja – um nichts weniger widerlich als verlogene Wirtschafts- und Kultureliten, positioniert allerdings radikal gegen das oberlehrerhafte Beschönigungs- und Wahrheitsverdrehungskartell in Politik und Medien. Der Begriff "Lügenpresse" ist das Symbolwort, mit dem sozial unterprivilegierte Gruppen der Gesellschaft ihre Elitenkritik zum Ausdruck bringen. Sucht man nach Gemeinsamkeiten zwischen Eliten und dem Volk, dann sieht man eine optimale Ergänzung zweier ängstlicher, mutloser, dekadenter Formationen. Als Entschädigung für ihre Selbstunterdrückungsleistung gönnen sie sich den Luxus, sozial Schwächere, Migranten, Flüchtlinge abzuwerten, wo es geht.

STANDARD: Der "durchschnittliche Businessmensch" kriegt im neuen Buch auch gehörig Fett ab.

Heinzlmaier: Weil er und sie die Autonomieansprüche weitgehend aufgegeben haben. Das ist das Elend. Sie lassen sich freudig fernsteuern, durch Arbeitgeber, Modeindustrie, Filmindustrie, Freizeitindustrie. Die Identität des Businessmenschen ist ein Puzzle aus Abziehbildern, die den Funktionen entsprechen. Faszinierend, in welcher Gleichförmigkeit sie sich kleiden, denken, verhalten. Gleiche Wohnungen, Autos, Anzüge, Parfums. Langweilig. Das geht mit dem Grundproblem in Politik und Wirtschaft zusammen, dass Führungskräfte meinen, sie müssten selber nicht mehr denken, weil sie eh Berater haben. Aber die sind oft Scharlatane.

STANDARD: Liegt die Hoffnung also auf den Jungen, auf dem Nachwuchs, auf der aufbegehrenden Generation Y?

Heinzlmaier: Also erstens: Es gibt keine Generation Y oder Generation Z. Das ist eine Dummheit der Wirtschaft – es gibt ihn nicht, den Arbeitnehmer der Zukunft, der Arbeitsmarkt ist heterogener denn je. Das Spektrum ist sehr breit, von Durchreisenden, die lediglich Kohle wollen, bis zu Loyalen, Sicherheitsgetriebenen. Was es aber leider gibt, ist eine einseitige Ausbildung auf den Wirtschaftsunis ohne menschenbildende Fächer. Denken wird nicht gelehrt, nur mehr vermeintlich nützliches Wissen, die Ausbildungen werden mutloser, enger. Alles folgt dem Imperativ des am persönlichen Erfolg ausgerichteten Handelns.

STANDARD: Dazwischen gibt es aber schon ein paar "normale" Menschen.

Heinzlmaier: Ja, die gibt es. Aber die interessieren die Eliten nicht. Sie werden tendenziell verachtet, sind suspekt, weil sie in diesem Gefüge keine Ambitionen haben, sich so nicht anpassen wollen.

Bernhard Heinzlmaier ist seit über 20 Jahren in der Jugendkulturforschung tätig. Er gründete das Institut für Jugendkulturforschung, leitet tfactory in Hamburg. Sein Essay "Anpassen, mitmachen, Abkassieren – wie dekadente Eliten unsere Gesellschaft ruinieren" ist im September im Verlag Hirnkost erschienen.

QuoteOscar für das Posting-Lebenswerk

Man kann hier sicher etwas mehr differenzieren, es ist schon klar dass es immer auch Ausnahmen gibt. Aber in der Grundtendenz hat er es auf den Punkt gebracht.

Es ist ein Teufelskreislauf. Je mehr die politischen und wirtschaftlichen Sitten verfallen, desto weniger pfeifen sich die nächsten, denn "wenn ich es nicht mache, macht es ein anderer". Und so wird abkassiert, wo es nur geht, und wenn der Regenwald, das Meer, die Tierwelt, die Bergwelt, die sozial Schwächeren, die Kinder, die Finanzwelt, die Firma, die Demokratie ... dabei dran glauben muss, dann ist das halt so. Da kann man nichts machen. Hauptsache "ich" bin im Trockenen.

Kann noch lustig werden.


QuoteSalz Burger

Also ich finde die Welt heute besser und freier als je zuvor. Noch nie waren die Möglichkeiten so groß und vielfältig.


QuoteFart N. Burp

... der Autor vermischt leider zwei sehr unterschiedliche Dinge: nämlich den tatsächlichen Schaden an der Umwelt und am Gemeinwesen, der durch geld- und egogetriebene Menschen verursacht wird im Gegensatz zum Erscheinungsbild und quasi persönlichem Lebenswandel. in puncto Erscheinungsbild und Lebenswandel klingt der Artikel ungefähr so unreflektiert pseudo-individualistisch wie ein 16 Jähriger, der grad ein erstes Hermann Hesse Buch gelesen hat. [Der Artikel klingt exakt nach der Lebenseinstellung im ersten Semester Philosophie (Hauptfach). -- Ab dem fünften, sechsten Semester ist es dann aber besser geworden...]


QuoteABC2000

Das Ergebnis des radikalen Marktes

Eine treffende Beschreibung für die Talfahrt einer Gesellschaft, die einer neoliberalen Ideologie und den daraus hervorgehenden "Sekten" das Steuer auf allen Ebenen überlassen hat oder überlassen musste. Am Ende dieses Weges beutet jeder jeden aus, betrügt, heuchelt,, lügt und bereichert sich, als ob es kein Morgen und keine Zukunft gäbe, weil das eben der "Markt" verlange. Am Beispiel der USA sieht man, dass sich die Eliten an der Spitze halten können, wenn sie Medien, Politik, Ideologien und Wertesysteme kontrollieren können und den Menschen ein System an Unterhaltung, Sündenböcken und Identität anbieten. Sollte das nicht reichen wird mit institutioneller, rechtlicher und militärischer Gewalt vorgegangen.


QuoteZinsenfeger

In meiner Schulzeit haben wir im Unterricht noch diskutiert und sind von den Lehrern auch dazu ausdrücklich angehalten worden. Auch darüber, nicht einfach nur Klischeephrasen und Allgemeinplätze zu verwenden und wirklich über ein Thema in allen Facetten nachzudenken. - Im Elternhaus wurde dagegen gar nicht diskutiert, da herrschte noch "alter Stil".
Allerdings habe ich auch sehr viel gelesen, und es hat die Welt für mich geweitet. - Übrigens,Kinder machen nicht automatisch alles nach, was Eltern und Lehrer vorgepredigt haben. Das stimmt zwar in vielen Fällen, heutzutage ist die junge Generation verblüffend brav und angepasst. - ABER - in der Geschichte gab es immer Revolten der jungen gegen die Welt der Väter. Wird schon wieder kommen.

QuoteDerStandardName

Das ist und war nie die Regel. Lehrer haben sich perfekt dem System angepasst - es sind meist die Streber schlecht hin. Und eben jene erwarten sich 'Standard-Diskussionen', die Mainstraem antworten produzieren. Genau das, was sie selber Antworten würden. Natürlich gibt es Ausnahmen, Sie können sich dann glücklich schätzen, auf so einen Lehrer getroffen zu haben. Aber die Regel lässt sich leicht bestätigen.



...


Aus: ""Businessmenschen lassen sich freudig fernsteuern"" Interview Karin Bauer (27. September 2016)
Quelle: http://derstandard.at/2000044824818/Businessmenschen-lassen-sich-freudig-fernsteuern

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Quote[...] ,,American Honey" porträtiert oft uneindeutig und vage eine in vielerlei Hinsicht gespaltene US-amerikanische Gesellschaft. Doch scheint hier ein kritischer Geist durch, denn die Gemeinschaft der Ausgestoßenen, die der Film zeigt, ist trotz aller Rand- und Widerständigkeit der Figuren in ein neoliberales Leistungsmodell eingegliedert. Selbst wenn du ein junger Punk bist, musst du liefern, könnte das Credo hier lauten. ...


Aus: "Poetische Bilder, offene Fragen" Toby Ashraf (12.10.2016)
Quelle: https://www.taz.de/Cannes-Gewinner-American-Honey/!5344427/

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Quote[...] Der Sozialpsychologe Erich Fromm (1900-1980) konnte von den Turbulenzen und Gewaltausbrüchen, die wir heute erleben, kaum etwas ahnen. Aber seine Überlegungen über die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und dem ,,Seelenhaushalt" der einzelnen Menschen haben an Aktualität nichts eingebüßt – ging es ihm doch ganz allgemein um die Frage, ,,in welcher Weise bestimmte ökonomische Bedingungen auf den seelischen Apparat des Menschen einwirken und bestimmte ideologische Resultate erzeugen". Die Antwort: ,,Die sozio-ökonomische Struktur der Gesellschaft formt den Gesellschafts-Charakter ihrer Mitglieder dergestalt, dass sie tun wollen, was sie tun sollen."

Natürlich hätte Erich Fromm nicht bestritten, dass es sowohl bestimmte Anlagen von Geburt als auch zahlreiche Spielräume für autonome Entscheidungen des einzelnen Menschen gibt. Im Gegenteil: ,,Es stimmt zwar, dass der Mensch sich an beinahe alle Lebensbedingungen gewöhnen kann, trotzdem ist er kein leeres Blatt Papier, auf welches die Kultur ihren Text schreibt." Aber ebenso fahrlässig wäre es, die Prägungen, die dieses ,,Blatt Papier" eben auch enthält, zu ignorieren. Wir sind sowohl Produkt unserer eigenen Lebensentscheidungen als auch der Gesellschaft, in der wir leben.

Was aber hat das nun mit dem inneren Unfrieden unserer Zeit zu tun, dem individuellen wie dem sozialen?

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich in Westeuropa ein Modell herausgebildet, das man frei nach Rousseau als ,,Gesellschaftsvertrag" bezeichnen könnte. In einem überschaubaren ökonomischen Umfeld wurden ökonomische Verteilungskämpfe, aber auch religiöse, kulturelle oder lebensanschauliche Konflikte durch einigermaßen funktionierende Aushandlungsmechanismen sozusagen zivilisiert. Man lebte zwar keineswegs im Paradies, aber eben doch in einem einigermaßen verlässlichen, berechenbaren Umfeld. Und die Eruption des Protests von 1968 fügte nicht nur eine ordentliche Portion Liberalität und Toleranz hinzu. Sie besiegelte – jedenfalls in der Bundesrepublik – auch das historisch begründete Tabu, das Hass und Gewalt gegen Minderheiten zumindest im offiziellen und öffentlichen Diskurs verbot.

Doch spätestens 1989, als der Fall der Mauer dem Systemkonflikt ein Ende machte, war es auch mit diesem Modell vorbei. Die ,,Sieger der Geschichte" im westlichen Teil der Welt dachten gar nicht daran, einen neuen ,,Gesellschaftsvertrag" zu formen, der dem sich beschleunigenden weltweiten Austausch von Waren wie Menschen Rechnung getragen hätte. Die EU, die sich immer mehr zur Freihandelszone entwickelte, ohne sich auch nur annähernd ausreichende Regeln für ein solidarisches Zusammenleben zu geben, ist dafür nur das vertrauteste Beispiel. Die westlichen Eliten hielten sich mehr oder weniger radikal an den Satz, den die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1987 geprägt hatte: ,,There's no such thing as society", also: So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht, oder einfacher: Jeder ist sich selbst der Nächste.

Was wir heute erleben, lässt sich durchaus lesen als die Prägung, die diese Ideologie im ,,Gesellschaftscharakter" vieler Menschen hinterlassen hat. ...


Aus: "Kapitalismus: Der geformte Mensch" Stephan Hebel ( 21. Oktober 2016)
Quelle: http://www.fr-online.de/fr-serie--auf-die-fresse-/kapitalismus-der-geformte-mensch,34810614,34874314.html

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Quote[...] Wer sich den jüngsten Newsletter des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung GmbH (UFZ) anschaut, findet darin auch ein Interview mit dem Jenaer Soziologen Prof. Hartmut Rosa, der auch schon als Gastredner im UFZ war, der aber auch 2016 mit einem Buch an die Öffentlichkeit ging, in dem er dem Schlamassel unseres hyperbeschleunigten Lebens beizukommen versucht: ,,Resonanz. Eine Sozialogie der Weltbeziehung". Würden Sie nie kaufen, stimmt's? Haben Sie gar nicht die Zeit für.

Das Lesen ist eine der elementaren Tätigkeiten, die durch die Überladung unseres Alltags mit immer mehr Dingen und Zwängen an Boden verloren hat. Es zwingt zur Ruhe und zur Konzentration. Man muss sich einlassen auf das Buch und den Autor. Und es braucht Zeit – Zeit, die dann für die tausend anderen ach so dringenden Tätigkeiten nicht mehr zur Verfügung steht. Denn eigentlich kann man immer nur eins tun. Aber unsere Welt suggeriert uns, wir müssten immer mehr Dinge gleichzeitig tun und immer mehr Informationen aufnehmen und immer mehr Dinge kaufen, nutzen, ausprobieren.

Unser gewaltiges Ressourcenverschlingen hängt direkt mit der rasanten Beschleunigung unseres Tuns zusammen. Unser Leben selbst beschleunigt sich ja nicht. Nur füllen wir es mit immer mehr Dingen, auf die wir nicht glauben verzichten zu können. Denn dahinter steckt ein enormer Druck, dem wir alle unterliegen: Wer mithalten will, muss immer mehr in derselben knappen Ressource Zeit unterbringen.

Hartmut Rosa: ,,Ja, denn nicht alles lässt sich gleichermaßen synchronisieren. Wer oder was zu langsam ist, wird abgehängt, ist auf dem absteigenden Ast. Dies hat drastische Auswirkungen. Die Öko-Krise beispielsweise ist eine Desynchronisations-Krise. Die sozio-technischen Geschwindigkeiten sind zu groß geworden für die Eigenzeiten der Natur."

Wir überlasten uns selbst und unsere Umwelt dadurch, dass wir permanent das Neueste vom Neuen haben, wissen, tun müssen. Keine Mode, kein Trend, keine neue Geräteversion darf ausgelassen werden. Ganze Industrien haben sich darauf spezialisiert, Produkte herzustellen, die immer schneller veralten und immer schneller kaputtgehen. Was der Hamster im Laufrad meist gar nicht merkt, weil er darauf trainiert ist, dass Geräte nur noch eine Saison halten dürfen, dann müssen sie ersetzt werden, weil die neuen Geräte noch cleverer, schneller, leistungsstärker sind.

Dass die fast neuwertigen ausrangierten Dinge dann einen Riesenberg von kaum noch recyclebarem Schrott in Ländern der letzten Welt ergeben, nimmt man da gar nicht mehr wahr.

Aber das ist nur die eine Seite dessen, was das kapitalistische Wirtschaftssystem als Grundantrieb ausmacht.

Rosa nennt es ein ,,Programm der Weltreichweitenvergrößerung".

,,Für mich ist der kategorische Imperativ der Moderne: Handle jederzeit so, dass deine Weltreichweite größer wird. Dies erfolgt durch die Vermehrung von Gütern, Kontakten und Optionen", beschreibt er das Phänomen. ,,Alle modernen Ausformungen des Kapitalismus, sei es der rheinische, der angelsächsische oder der asiatische, teilen diesen Steigerungszwang. Wir sind aber nicht nur die Opfer der Entwicklung, die über uns hinweg geht, sondern wir bekommen ein kulturelles Versprechen, fast eine Verheißung. Denn uns wird ein Versprechen der Weltreichweitenvergrößerung gegeben."

Ein Kreislauf, der unsere Erde zu zerstören droht. Denn fast alle Ressourcen, die auf diese Weise in einem immerfort beschleunigten Verfahren gebraucht und verbraucht werden, sind endlich.

Auch unser Leben. ,,Die Produktion und die Konsumtion lassen sich aber nicht beliebig beschleunigen", sagt Rosa. ,,Schließlich sind auch Menschen zu langsam, was eine Psychokrise zur Folge hat. Der permanente Zwang zur Steigerung und zur Neuerfindung führt zu einer psychischen Überforderung. Dies wiederum birgt die Gefahr der Entfremdung. Die Idee der Moderne, mehr Welt in Reichweite zu bringen, mehr Welt verstehbar zu machen, geht einher mit einem progressiven Weltverlust."

Für Rosa ist es schlicht ein perverser Zustand, wenn eine Gesellschaft sich permanent beschleunigen muss, bloß um den Status quo zu erhalten.

In Wirklichkeit verlieren wir dabei Lebensqualität, den ganzen Reichtum, der menschliches Leben eigentlich ausmacht. Wie sind permanent überschüttet mit den Signalen der Beschleunigung. Aber wir nehmen nichts mehr wahr. Und das ist der Punkt, an dem Rosa seine ,,Resonanz"-Idee ins Spiel bringt (ganz abgesehen davon, dass er dafür plädiert, Bedingungen zu schaffen, mit denen Menschen aus dem Hamsterrad aussteigen können).

,,Resonanz bedeutet, dass beide Seiten mit eigener Stimme sprechen und sich jeweils vom anderen erreichen lassen", sagt er.

Das klingt sehr abstrakt. Aber wer sich umschaut, sieht, wie sich seine Mitmenschen in lächelnde Zombies verwandeln, weil sie nur noch in der Mühle des permanenten Beschäftigtseins stecken, auch nicht mehr runterkommen vom Suchtlevel. Wer sich nur einmal damit beschäftigt, sieht, dass diese Gesellschaft fortwährend Sucht produziert. ...

Unsere Welt ist voller Menschen, die sich nicht mehr ausklinken und öffnen können, nicht mehr richtig da sein können. Mit allen Sinnen. Und die auch wieder Zeit haben und Dinge in Ruhe und richtig tun können. Sie sind ständig zerfasert, unkonzentriert, können sich mit nichts mehr länger als 15 Sekunden beschäftigen, schon sind sie weitergehetzt. Eine ganze Gesellschaft unter ADHS.

Die sich nicht mal mehr auf sich selbst konzentrieren kann.

Das macht unsere Gesellschaft kaputt, denn auch deren eigentliche Verständigungsprozesse laufen langsamer ab als der irrwitzige Takt der Geräte, mit denen wir glauben, jederzeit im Datenstrom mitschwimmen zu müssen. Als wären wir Informationsjunkies, die sofort an Entzugserscheinungen leiden, wenn wir das Trommelfeuer einmal abstellen.

Ergebnis sind natürlich Tage, die bis zum Rand vollgestopft sind mit Dingen, die vor Wichtigkeit schreien. Aber wenn wir dann mal zur Ruhe kommen und den Tag resümieren, stellen wir fest: Wir hatten eigentlich nichts davon. Nichts davon war unser eigenes Leben, nichts hat uns wirklich berührt oder – um mit Rosa zu sprechen – echte Resonanz erzeugt.




Aus: "Wie das Immermehr und das Immerschneller unser Leben regelrecht entleert" Ralf Julke (10. Januar 2018)
Quelle: https://www.l-iz.de/leben/gesellschaft/2018/01/Wie-das-Immermehr-und-das-Immerschneller-unser-Leben-regelrecht-entleert-202585


Textaris(txt*bot)

Quote...

QuoteDer deutsche Leidindex Dachs #19 (24.01.2018)

Materialismus im Endstadium: Vor vielen, vielen Jahren versicherte ein recht betrunkener Partygast auf einer Studentenparty, er werde das Auto stehen lassen und stattdessen ein Taxi nehmen, denn: "Dafür haben meine Eltern nicht 40.000 Mark in mein Studium investiert, daß ich mich um den nächsten Straßenbaum wickele".

Abgründe tun sich auf...


http://www.zeit.de/zeit-wissen/2018/01/wert-menschen-gedankenexperiment-summe?cid=17667934#cid-17667934

QuoteLuckyPozzo #22

Interessantes Thema, wo doch so viele Menschen heutzutage nach einem halben Arbeitsleben für Chef oder Firma gerne mal outgesourced werden. Dazu all die verkannten Künstler und Genies, die es zu Lebzeiten halb tot und pleite kaum bis in den nächsten Tag schafften, aber nach ihrem Tod Millionen verdien(t)en, was die Erben nicht unbedingt schlecht finden mussten. Was die Fußballer oder andere Spitzensportler angeht, die haben das Glück in einer von Werbung finanzierten Zirkuswelt zu leben, die mit ihrer wahren Bedeutung für unseren Planeten gar nichts zu tun hat. Trifft auch, na klar, auf Schauspieler, Musiker etc. zu, die von der Reichweite moderner sozialer Medien profitieren. Alles nur austauschbare Figuren im Spiel der mächtigen Industrie.

Jemand hat hier geschrieben, es gibt keinen Wert für einen Menschen. Das ist richtig. Allerdings gibt es Menschen, die für die Menschheit unersetzlich sind.


http://www.zeit.de/zeit-wissen/2018/01/wert-menschen-gedankenexperiment-summe?cid=17668459#cid-17668459

QuoteDie Alternative zur Alternative #28

Kant hat den Begriff der Würde aus der christlichen Tradition übernommen. Er lässt sich mit der instrumentellen Vernunft nicht herleiten.
Heute regiert aber der enthemmte Kapitalismus und da gibt es selbst menschliche Leben, die weniger als Null wert sind, also nur Kosten verursachen und daher schleichend und möglichst unbewusst von der Bildfläche verschwinden sollen. Und eine "rationale" Begründung wird auch noch dazu geliefert: "Sie verursachen doch nur Kosten für die sozialen Systeme und fallen der Allgemeinheit zur Last."


http://www.zeit.de/zeit-wissen/2018/01/wert-menschen-gedankenexperiment-summe?cid=17668959#cid-17668959


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Kommentar zu: http://www.zeit.de/zeit-wissen/2018/01/wert-menschen-gedankenexperiment-summe

Textaris(txt*bot)

Quote[...] in der Arbeitswelt 2.0 müssen Berufstätige immer wieder Einzelaufträge ergattern - in der Wissenschaft, im Handwerk, im Gesundheitswesen, sogar im pädagogischen Bereich. "Wir können die Zukunft zwar nicht vorhersagen", sagt Simone Kimpeler, Studienleiterin des Karlsruher Fraunhofer-Instituts, "aber wir sehen zwei Entwicklungen, die mit großer Sicherheit das Berufsleben in den nächsten Jahren massiv beeinflussen werden: das Selbstmarketing wird wichtiger, und die Grenzen zwischen den Branchen verschwimmen."

... Um auf dem flexiblen Arbeitsmarkt der Zukunft gut mithalten zu können und für neue Auftraggeber sichtbar zu sein, wird der Fähigkeit zum digitalen Selbstmarketing eine Schlüsselrolle zukommen. Denn Auftraggeber und Auftragnehmer werden aller Voraussicht nach in erster Linie über die sozialen Medien zusammenfinden. Sie werden entweder anhand ihrer Internetprofile identifiziert oder sogar mittels intelligenter Algorithmen - wie Jobclipr, Skjlls, Talentsconnect oder Truffls - vollautomatisch gematcht.

Umso wichtiger wird es also, einen professionellen Internetauftritt hinzulegen, der vernetzt ist mit den wichtigsten Accounts, Portalen und Netzwerken, um eben eine schlüssige digitale Identität zu haben. Der freiberufliche Physiotherapeut sollte in Zukunft also nicht nur über eine eigene Homepage mit seinen wichtigsten Kompetenzen und beruflichen Stationen zu finden sein, sondern zugleich auf Xing, Linkedin, Facebook und Instagram sowie den relevantesten Job-Portalen, um dort ein stimmiges Netzwerk zu präsentieren und eine maximale Reichweite zu erlangen.

"Was mit analogen Mitteln nur schwerlich möglich ist, wird durch die neuen digitalen Kanäle einfacher und um ein Vielfaches schneller", sagt Holger Ahrens von der Hamburger Beratungsfirma "Die Profiloptimierer". Er rät: "Teilen Sie Informationen im Netzwerk und verbinden Sie sich vorausschauend und bewusst mit Kunden, Kollegen, Lieferanten und Organisationen." Auch Arbeitgeber profitierten von dem größer werdenden Fundus an Bewerbern, die man nicht nur nach klassischem Lebenslauf, sondern auch nach Aktivitäten im Zusammenspiel mit anderen erleben kann, so Ahrens.

Haben wir keine andere Wahl, als künftig zu unserer eigenen digitalen Marke zu werden? Es sieht ganz so aus. Randi Zuckerberg, die Schwester von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, pries bereits vor acht Jahren in einem Interview mit der ZDF-Sendung "Elektrischer Reporter" die Möglichkeit, dass jeder Mensch mithilfe von Diensten wie Facebook eine eigene öffentliche Marke werden könne.

Doch die Eigen-PR im Netz birgt auch Gefahren. Nicht nur Sicherheitslücken, Phishing, Identitätsdiebstahl mögen den Weg zum nächsten Auftrag verbauen, auch mangelhafte digitale Fähigkeiten oder sorglose Profilpflege (Katzen-Fotos, verwackelte Videos, alkoholreicher Junggesellenabschied) können dazu führen, dass man seine Chancen verspielt. Schließlich recherchieren die meisten Personalabteilungen längst online, viele Recruiter und Headhunter konzentrieren sich ausschließlich auf die Onlinesuche in Business-Portalen mittels spezieller Recherche-Accounts.

Klingt alles anstrengend und bedrohlich? Es sollte trotzdem kein Grund sein, den Kopf in den Sand stecken. Denn die Digitalisierung vernichtet nicht nur Jobs, sondern schafft auch neue Berufsbilder. Wie den Social-Media-Berater oder den Reputationsexperten. Ein Anruf, eine Beratung - und schon stimmt das Profil.




Aus: "Schaut, was ich kann!" Anne-Ev Ustorf (11. Februar 2018)
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/karriere/online-profil-schaut-was-ich-kann-1.3859128

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Quote[...] Am Samstag hat Wien seinen ersten Apple Store erhalten – endlich, wie viele Apple-Fans meinen. Der weltweit 501. Store wurde bei eisigen Temperaturen eröffnet. Das hielt aber weder Apple-Anhänger davon ab, sich stundenlang anzustellen – noch Apple-Mitarbeiter, in T-Shirts über die Kärntner Straße zu laufen.

Für alle hör- und sichtbar hielten die Apple-Verkäufer vor dem Startschuss noch Motivationsübungen ab; während vor dem Geschäft zwei Protestaktionen stattfanden. Ab dem Öffnen des Stores wurde jeder neue Kunde mit einer La Ola-Welle begrüßt.

... Frenetischer Jubel: "Sektenartige" Apple Store-Eröffnung irritiert
26. Februar 2018, 11:14
58 Postings
Das Verhalten der Apple Store-Mitarbeiter sorgt auf sozialen Medien für Verwunderung und Häme

Am Samstag hat Wien seinen ersten Apple Store erhalten – endlich, wie viele Apple-Fans meinen. Der weltweit 501. Store wurde bei eisigen Temperaturen eröffnet. Das hielt aber weder Apple-Anhänger davon ab, sich stundenlang anzustellen – noch Apple-Mitarbeiter, in T-Shirts über die Kärntner Straße zu laufen.

Für alle hör- und sichtbar hielten die Apple-Verkäufer vor dem Startschuss noch Motivationsübungen ab; während vor dem Geschäft zwei Protestaktionen stattfanden. Ab dem Öffnen des Stores wurde jeder neue Kunde mit einer La Ola-Welle begrüßt.

Im Netz sorgt das für Irritationen. "Oida", kommentiert Whatchado-Mitgründer Ali Mahlodji auf Twitter.

Andere Nutzer schreiben davon, dass die Eröffnung "richtig peinlich für alle Beteiligten" sei. Der PR-Berater und Journalist Nedad Memić schreibt, dass ihn Apple-Fans manchmal "an eine Sekte" erinnern.

Auf Instagram und Snapchat teilten zahlreiche User amüsierte Stories über das Verhalten der Apple-Mitarbeiter. ... Doch das Klatschen, Jubeln und Anfeuern ist kein "österreichisches" Phänomen. Apple-Stores sind weltweit für derartige Aktionen bekannt. Nicht nur bei Eröffnungen, sondern auch bei Produkteinführungen werden Kunden bejubelt. Verlässt ein Apple-Mitarbeiter seine Arbeitsstelle, um künftig woanders zu arbeiten, wird er mit einem sogenannten "Clap Out" bejubelt. Dabei stellen sich alle Mitarbeiter in einem Kreis auf, um ihren Kollegen mit Applaus zu verabschieden.

Auch Neuankömmlinge werden mit Jubel und Klatschen begrüßt. Ein Apple-Manager sagte zur New York Times, dass regelmäßig seine "Hände von dem ganzen Klatschen gebrannt haben". Apple-Mitarbeiter durchlaufen ein besonderes Training. So sollen sie Kunden stets bestätigen, dass ein Problem auf deren Gerät vorhanden sei, aber niemals versprechen, dass sie es lösen könnten. Store-Mitarbeiter sollen laut New York Times nicht das Gefühl haben, einfach nur Produkte zu verkaufen, sondern sie sollen "das Leben von Menschen bereichern".

In einem Interview mit Business Insider gab ein ehemaliger Apple-Mitarbeiter an, dass sich die Arbeit im Store "wie bei einem Kult" angefühlt habe. Viele Mitarbeiter in Großbritannien oder den USA könnten sich die eigenen Produkte nicht leisten. Sie werden angewiesen, auch miteinander nicht über ihre Arbeit oder schwierige Kunden zu reden. (red, 26.2.2018)


QuoteF Eck,  2018

Die Store-Mitarbeiter werden für den Blödsinn wenigstens bezahlt. Was die Fans betrifft finde ich das schon eher beängstigend als irritierend...


Quote
derglobus, 2018

schon bissl peinlich...


...



Aus: "Frenetischer Jubel: "Sektenartige" Apple Store-Eröffnung irritiert" (26. Februar 2018)()
Quelle: https://derstandard.at/2000075020447/Frenetischer-Jubel-Sektenartige-Apple-Store-Eroeffnung-irritiert