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[Ökonomisierung der Innenwelt... (Notizen)]

Started by Textaris(txt*bot), June 25, 2005, 02:48:36 PM

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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Auch Manager sind nur Menschen und brauchen Freunde. Das ist eine banale Feststellung, und sie trifft auf alle Berufsgattungen und Lebenssituationen zu. Für eine Führungskraft, die einem internationalen Grosskonzern vorsteht, ist das Thema Freundschaft besonders heikel, denn es gibt diverse Fallgruben. Mit den steigenden Ansprüchen an die Compliance – darunter fällt nicht nur die Befolgung von Gesetzen und Richtlinien, sondern auch die Einhaltung von mehr oder weniger «freiwilligen» Verhaltensgrundsätzen – wird die Pflege geschäftlicher und privater Freundschaften für eine Führungskraft zu einem potenziellen Minenfeld. Schnell ist ein kapitaler Fehltritt passiert. Die Toleranzschwelle für juristisch und gesellschaftlich akzeptables Verhalten ist in der Tendenz gesunken. Für ein gesundes Seelenleben eines Managers sind dies denkbar schlechte Voraussetzungen.

Für den an dieser Stelle zu porträtierenden Schweizer Gesprächspartner, der eine Bilderbuchkarriere hinter sich hat, ist das Thema Freundschaft allgegenwärtig. Es birgt das Risiko, gegen die besonders strengen Compliance-Vorschriften seines Arbeitgebers und diejenigen der durchregulierten Branche zu verstossen. Um trotzdem offen darüber sprechen zu können, will der befragte Topmanager – nennen wir ihn Hugo Kussmann – nicht namentlich erwähnt werden. Von öffentlichem Interesse muss auch nicht sein, wen genau und wie viele Personen er zu seinem Freundeskreis zählt.

... Um persönlich gar nie in eine ungemütliche Lage zu geraten, in der er eine Freundschaft für einen geschäftlichen Vorteil missbrauchen könnte, distanziert sich Kussmann im Voraus bewusst. Unter guten Geschäftskollegen sei zwar eine gegenseitige Sympathie sicher von Vorteil, aber am Schluss müsse die Leistung stimmen. Eine solide Geschäftsbeziehung beruhe auf Vertrauen. Auch seine Geschäftspartner verhielten sich professionell, auch sie trügen eine Verantwortung für korrektes ethisches Verhalten. «Wenn sie mich bevorteilen und es klappt nicht, dann haben auch sie ein Problem und stehen am Pranger», spinnt er den Faden weiter. In der Liga der kotierten Firmen gingen solche Klüngeleien heute auch gar nicht mehr, weil zu viele Leute bei Geschäften involviert seien.

Ist es denn in dieser Konstellation überhaupt noch möglich, mit geschäftlichen Bekannten auch privat enge Freundschaften zu pflegen, ohne sich ständig über Abhängigkeiten und allfällige ethische Misstritte den Kopf zerbrechen zu müssen? Kussmann geht dieses Problem mit einer äusserst restriktiven Einschätzung, wo für ihn Freundschaft beginnt, an. In seiner Definition ist jemand ein Freund, den er jederzeit anrufen und mit dem er über alles sprechen könne. In diese Kategorie fielen nur ganz wenige Leute, sagt er, konkret nur seine Geschwister und ein Kollege aus der Privatschule.

Wegen der beruflichen und familiären Beanspruchungen sieht er selbst seinen engsten Freund nur ein- oder zweimal im Jahr. Aus den vielen geschäftlichen Beziehungen, die sein Job mit sich bringe, habe sich noch nie eine wirkliche Freundschaft entwickelt, hält Kussmann fest. Diese Kontakte pflege er, weil er sie brauche, um seine Arbeit zu erledigen. Dass sich dabei manchmal Sympathien entwickelten, komme immer wieder vor. Deshalb treffe er sich mit Geschäftspartnern auch ab und zu privat und gehe mit ihnen gemeinsam an Veranstaltungen. «Aber wirkliche Freundschaften haben sich daraus selten entwickelt.»

Hingegen sind im Zeitalter der sozialen Netzwerke – ob wie früher rein analog oder wie heute zunehmend digital – die Pflege und der Ausbau des persönlichen Beziehungsnetzes für das berufliche Vorwärtskommen unerlässlich geworden. Je intensiver dieses gepflegt wird, desto eher kann es in berufliche Vorteile umgemünzt werden. Und je höher jemand die Karriereleiter hinaufsteigt, desto wertvoller werden die Kontakte, könnte man meinen, denn diese Seilschaften sind Gold wert, wenn die Luft dünner wird. Auch für Kussmann ist klar, dass nicht allein sein grosser Einsatz und Fleiss seine Karriere beförderten, sondern er ebenso auch das nötige Glück brauchte, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein und den richtigen Mentor gehabt zu haben. «Wer bei uns Karriere machen will, kann zwar eine Superleistung erbringen und perfekt sein, aber er braucht einen Mentor», meint er.

... Je höher man auf der Karriereleiter hinaufsteigt, desto grösser wird auch die Zahl der Menschen, die sich mit einem anfreunden möchten. Auch Kussmann musste feststellen, dass die Frequenz der Besuche in seinem Büro schlagartig zunahm, nachdem er zum Konzernchef befördert worden war. Anfällig dafür, auf opportunistische Freundschaften hereinzufallen, ist er offenbar nicht. Irgendwie spreche er nicht darauf an, er habe bei diesem Thema eine gewisse Hornhaut, meint er. Zudem sei es wohl normal, dass es immer wieder Leute gebe, die sich beim Chef anbiedern wollten.

...  «Hätte ich einen anderen Job, hätte ich vielleicht meine Freundschaften intensiver pflegen können», gibt Kussmann zu.  ...  «Ich stehe um 5 Uhr 15 auf, und um 6 Uhr steht das von mir zubereitete Frühstück auf dem Tisch», sagt er. Er nehme sich auch die Zeit, mit seinem Jüngsten regelmässig die Hausaufgaben zu machen. Dank geschickter Zeiteinteilung und seinem unermüdlichen Elan findet er sogar Zeitfenster in seiner reich befrachteten Agenda, um Flugstunden zu absolvieren oder noch vor der Arbeit eine Stunde auf dem Wasser zu verbringen. «Das tönt vielleicht alles etwas langweilig, aber es ist nun mal so», sagt er, Bilanz ziehend, schon fast entschuldigend.


Aus: "Freundschaft – ein Minenfeld für Manager" Giorgio V. Müller (20.4.2018)
Quelle: https://www.nzz.ch/wirtschaft/freundschaft-ein-minenfeld-fuer-manager-ld.1379076

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Jenny Simanowitz ist Kommunikationstrainerin und Autorin von "Performance Coaching – kreative Rollen- und Statusspiele im Job" (Beltz 2016).

Das Wort authentisch wurde ursprünglich verwendet, um ein Kunstwerk zu bezeichnen, das keine Kopie, sondern das originale Werk war. Heutzutage ist dieser Begriff der Ausdruck einer Gesellschaft, in der Individualismus die höchste Stelle einnimmt. Parallel zu dieser Entwicklung hat sich die Ideologie entwickelt, dass das Individuum "frei" und "sich selbst treu" sein soll. Es soll sich nicht selbst verleugnen müssen – und seine Selbstentwicklung ohne die Belastung durch soziale Anpassung entfalten können. Okay.

Aber stellen Sie sich eine Führungsperson vor, die ihr "wahres Selbst" permanent zeigt: Ich glaube nicht, dass diese Selbstpräsentation für Mitarbeiter oder Kollegen immer von Vorteil ist. Authentizität kann nämlich auch eine Lizenz dafür sein, autoritär, unnachgiebig oder unemphatisch aufzutreten. Auch absolute Transparenz kann leicht zu einer Falle werden, in der Ehrlichkeit als Schwäche angesehen wird.

Außerdem verändern sich Menschen aufgrund ihrer Lebenserfahrungen – was bedeutet, dass sich immer wieder die Frage stellt, welchem "Selbst" wir treu bleiben wollen. Denn letztendlich geht es nicht um Authentizität, sondern um Glaubwürdigkeit. In seinem 1956 veröffentlichten bahnbrechenden Buch Wir alle spielen Theater (engl.: "Selfpresentation in everyday life"), behauptete Erving Goffman erstmals, dass jede Kommunikation "eine Performance" sei. Er definierte sie als "die Gesamttätigkeit eines bestimmten Teilnehmers in einer bestimmten Situation, die dazu dient, die anderen TeilnehmerInnen in irgendeiner Weise zu beeinflussen". Mit "beeinflussen" ist aber nicht "manipulieren" gemeint, sondern die Tatsache, dass unser Verhalten darauf abzielt, auf unsere Kommunikationspartner einzuwirken. Goffman vergleicht unsere tägliche Kommunikation mit einer Serie von Theaterauftritten, jeder mit seiner eigenen Kulisse, Fassade und Darstellung. Er analysiert, warum manche Performances "aufrichtig" wirken und andere "falsch". "Aufrichtige" Performances sind für Goffman diejenigen, in denen die Akteure von ihrer Performance selbst überzeugt sind. "Rollenspiel" und "Authentizität" sind also keine Gegensätze. Denn Authentizität heißt, unsere Rolle überzeugend zu spielen.

"Rollenspiel" in diesem Sinn heißt außerdem, nicht aufgesetzt-theatralisch zu sein, sondern aus dem Rollenrepertoire, das zu unserer Persönlichkeit gehört, zu schöpfen – um je nach Situation die passendste Darstellung zu präsentieren. Bewusst oder unbewusst tun wir das in unseren Alltagsrollen, ohne viel darüber nachzudenken. Wir gehen einkaufen und lächeln die Verkäufer an (freundliche Rolle). Wir ertappen unsere Katze auf dem Tisch und rufen mit scharfer Stimme: "Runter!" (" böse" Rolle). Auch die Art und Weise, wie wir unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern begegnen, unterscheidet sich grundsätzlich von unserem Umgang mit der besten Freundin. Wir nehmen jeweils andere Rollenmuster ein, wenn wir ein Seminar leiten oder daran teilnehmen. Wir schlüpfen fast unmerkbar in eine andere Rolle, weil jedes Szenario nach einer differenzierten Performance verlangt. Und wir präsentieren uns, wie wir das über die Jahre hinweg erlernt haben – nach Goffman unsere "gelernten Verhaltensmuster". Was sich für uns "authentisch" anfühlt, ist in Wirklichkeit ein geprägtes Verhalten. Probieren wir etwas anderes aus, fühlt sich das oft eher komisch an.

Die meisten Leute – wenn sie nicht gerade Schauspieler sind oder sich auf andere Weise professionell mit Rollenspiel beschäftigen – denken nicht viel darüber nach, welche Gestalt sie in ihren verschiedenen Funktionen ausüben. Das trifft leider auch auf Menschen zu, die in ihrer Funktion eine Autorität sind und deren Verhalten einen großen psychischen Einfluss hat: Lehrer, Eltern, Führungskräfte ... Wenn wir eine bestimmte Rolle spielen, das heißt, uns die Sprache, Körpersprache und Stimme, die zu dieser Rolle gehören, aneignen, bekommen wir meistens dadurch die dazugehörige Vorstellung und die entsprechenden Gefühle. Ein Beispiel: In meinen Seminaren lade ich manchmal Frauen ein, sich für wenige Minuten mit gespreizten Beinen zurückzulehnen, und zwar in einer Haltung, die für Männer typisch ist, aber für Frauen meistens ungewohnt. Viele sind erstaunt darüber, wie bequem und entspannend die "neue" Sitzhaltung wirkt. Auch in einem oft wiederholten Experiment der Columbia University in New York wurden die Teilnehmenden dazu aufgefordert, zwei Minuten lang anders zu sitzen als gewohnt. Dabei ging es hauptsächlich um Sitzhaltungen, die entweder Hochstatus (Macht) oder Tiefstatus (Unterwürfigkeit) darstellen. Die Teilnehmenden berichteten, nach dieser kurzen Zeit ein erhöhtes oder ein vermindertes Machtgefühl zu spüren. Interessant war auch, dass sogar der Testosteronspiegel davon beeinflusst wurde! Bei denjenigen, die eine Machtposition eingenommen hatten, war er leicht gestiegen, bei den "Machtlosen" hingegen gesunken (eine Studie der Harvard Business School 2012). Mit dem Wechselspiel zwischen Rolle und Vorstellung arbeiten Schauspielerinnen und Schauspieler täglich. Je mehr wir in einer bestimmten Rolle agieren, desto mehr identifizieren wir uns mit ihr. Oft sehen wir, dass eine Berufsrolle zur Lebensrolle wird. Ein Arzt geht mit Menschen, denen er in seiner Freizeit begegnet, vielleicht genauso um, als wären es seine Patienten, und Lehrer als auch Lehrerinnen laufen bekanntlich Gefahr, immer und überall alles besser zu wissen.

Früher wurden Frauen zur "Tiefstatusrolle" erzogen, die sie von der gesellschaftlichen Vorstellung, wie eine Frau zu agieren hatte, übernommen hatten. Tendenziell übernehmen viele Frauen noch immer diese Rolle, obwohl sie in Wandlung begriffen ist. Wir könnten also fragen, ob eine Frau, die noch immer diese untergeordnete Rolle spielt, "authentisch" ist. Überzeugende Rollenspieler wirken glaubwürdig, weil sie von echten Emotionen bewegt werden. Solche Persönlichkeiten sind zum Beispiel ausgezeichnete Geschichtenerzähler, denen das Publikum gebannt zuhört. Diese Fähigkeit kann man trainieren, um sein Auftreten leichter, spannender und interessanter zu gestalten. Wir variieren vielleicht ein wenig unsere Sprache, Körpersprache oder Stimmvolumen. Wir können lernen, brachliegende Teile unseres Selbst in der täglichen Kommunikation zu nutzen, ohne unsere Bedürfnisse oder unsere "Identität" aufzugeben. Bewusste Variationen in unseren "Darstellungen" machen paradoxerweise unsere Kommunikation reicher, unterhaltsamer, farbiger und authentischer, weil sie uns ermöglichen, näher an unseren Gefühlen zu bleiben und sie zu gestalten. Wie viel Kreativität würde freigesetzt werden, wenn wir es wagten, uns manchmal von unseren antrainierten Verhaltensmustern zu befreien! (23.4.2018)

Quote
Stingadsguck

Der Begriff Authentizität im Zusammenhang mit Persönlichkeit und Lebensphilosophie stammt aus dem Existentzialismus (Satre etc.)
Und heute ist er praktisch, mangels anderer Identifikationssysteme (Religion, Nation, Natur etc.), ein Verkaufsschmäh bzw. Marketing für die eigene Persönlichkeit auf Instagramm.
Es weiß sowieso niemand was das heißt authentisch zu sein und meistens kommt dann irgendwas peinlich banales raus und die Betroffenen können dann gar nicht mehr aufhören über sich selbst zu reden und müssen dauernd ihre Gefühle als Beurteilungssmaßstab für alles heranziehen.
Und was dabei rauskommt gleicht dann dem Verhalten eines verzogenen Kindes.
Im Grunde sind wir ja alle authentisch und genau deswegen unausstehlich.


...


Aus: "Warum immer authentisch meistens falsch ist" Jenny Simanowitz (23. April 2018)
Quelle: https://derstandard.at/2000078450356/Warum-immer-authentisch-meistens-falsch-ist

Textaris(txt*bot)

Quote[...] ...

Seebrügge #1.1

Investitionen in eine gute Beziehung sind gut angelegt. ...


Kommentar zu:  ""Ich zahle die Miete für mich und meine Freundin"" (Protokoll: Inga Pöting, 17. Juni 2018)
https://www.zeit.de/arbeit/2018-06/gesundheits-krankenpfleger-einnahmen-ausgaben-kontoauszug?cid=20645396#cid-20645396

Textaris(txt*bot)

Quote[...] ,,Potente" Unternehmen ,,befriedigen" ihre Gläubiger – allein die Sprache mache deutlich, welche Rolle Sexualität und Religion in unserem Verhältnis zum Geld spielen, sagt der Philologe Jochen Hörisch. Auch die Wirtschaftswissenschaft sei höchst irrational.

...

Rabhansl: 20.000 Euro auf dem Konto oder nicht 20.000 Euro – man könnte denken, das ist eine höchst rationale Zahl. Aber genau mit einem solchen Gedankenexperiment beginnen Sie Ihren Text und sagen ,,Stimmt nicht". Warum nicht?

Hörisch: Man muss nicht Philologe sein, um auf die Idee zu kommen, dass das, was da liegt, eine ganz seltsame Zeichenqualität hat. Man fragt sich ja immer, ist an diesem Kontoauszug irgendetwas dran, ist das gedeckt? Und schon der Begriff der Deckung – ein Hengst kann eine Stute decken – ist eigentlich ganz eigentümlich. Und wenn man sich näher heranzoomt, merkt man, dass das Geld mit sehr irrationalen Grundbegrifflichkeiten aus der sexuellen oder aus der religiösen Sphäre, also aus Sphären, die wir ja nicht als sonderlich rational begreifen, verbunden ist. Dann hat man ein Unternehmen, das ,,potent" ist. Und wenn es potent ist, dann kann ich meine Gläubiger ,,befriedigen".

Was sollen solche Begriffe wie ,,Potenz" oder ,,Gläubiger befriedigen"? Wir merken sehr schnell, auch in der Art und Weise, wie wir psychologisch das Geld besetzen, dass wir ein nicht rationales, ein gieriges, ein eher sexualisiertes, ein gläubiges, ein verrücktes Verhältnis zum Geld haben. Insofern sind die 20.000 nicht bloß eine Ziffer, sondern auch die Bezeichnung für eine eher magische Potenz.

Rabhansl: Zwischen Geld und Schuld, zwischen Schuld und Sünde, da steckt, wie Sie gerade schon gesagt haben, diese Sexualität drin, aber eben auch dieses fast religiöse Verhältnis. Und in Ihrem Text lese ich den bemerkenswerten Satz: ,,Geld ist gedeckt durch den Glauben an Geld". Also, wenn Geld nur so lange etwas wert ist, wie wir dran glauben, dass das Geld etwas wert ist, dann müssten wir ja auch eigentlich anders mit Geld umgehen, oder?

Hörisch: Nein. Wir glauben ja auch daran, dass andere an Geld glauben und dann funktioniert. Zoomen wir uns zurück in das Jahr 2008 – und die Älteren unter uns haben gewiss noch in Erinnerung, wie die Bundeskanzlerin, die damals schon Merkel hieß, und der Finanzminister, der Steinbück hieß, vor die Presse traten und die Medien, und sagten, wir garantieren euch, liebe Deutsche, dass eure Einlagen bei den Banken gedeckt sind. Und das hat funktioniert, es gab keinen Bank-Run, weil alle dran geglaubt haben, dass auch andere mitmachen bei diesem Spiel. Ansonsten hätten wir natürlich einen Bankzusammenbruch im allergrößten Maßstab gehabt.

Man muss also dran glauben, dass dieses Geld eine Macht besitzt, sich in etwas anderes zu transformieren, zu wandeln. Solange ich merke, ich schieb einen 50-Euro-Schein rüber und dann ist der Tank voll, merke ich, dass aus der Zeichenhaftigkeit des Geldes was anderes geworden ist. Und das ist den Theologen ein sehr vertrautes Denkmotiv. Es ist das der Transsubstantiation, aus Zeichen, aus einer Oblate, aus Wein wird Christi Leib und Blut. Das wandelt sich, das konvertiert sich, wenn man denn daran glaubt. Und wenn wir daran glauben, dass das Geld wandelnde Kraft hat, dann funktioniert es. Wenn wir nicht dran glauben, siehe im Augenblick etwa Venezuela, dann hat das Geld seine sexuelle und eben auch seine religiöse Kompetenz und Macht eindeutig verloren.

Rabhansl: Dass Geld funktioniert, wenn wir dran glauben, das erleben wir als finanzpolitische Laien im Alltag jeden Augenblick. Aber sieht das bei den Ökonomen, den Wirtschaftswissenschaftlern, wie sie sich nennen, genauso aus?

Hörisch: Die Wirtschaftswissenschaftler werden ja nicht schamrot, wenn sie etwa als Wirtschafts-,,Weise" bezeichnet werden – ein Begriff, der ja heute ganz unzeitgemäß ist. Ich nehme viele, nicht alle, um Gottes Willen, Wirtschaftsweise als diejenigen wahr, die so irrational sind, an ihre eigenen rationalen Modelle zu glauben. Damit das mehr als ein Aperçu ist, will ich einfach erinnern, wie etwa Schrempp, der damals Vorstandssprecher war bei Daimler, mit glänzenden Augen auftrat und sagte, wir haben jetzt eine Hochzeit im Himmel, Daimler und Chrysler machen ein Joint-Venture und vereinen sich. ,,Hochzeit" ist ein sexueller Begriff, ,,Himmel" ist ein religiöser Begriff. Dann kommen die Wirtschaftswissenschaftler und sagen, wir haben eine Agentur eingeschaltet, nennen wir sie McKinsey oder Hayek, die haben das durchgerechnet, es gibt Skalen, Effekte, das ist eine ganz rationale Geschichte. Man muss nur hinhören und merken, da ist einer mit glänzenden Augen, der sagt ,,Hochzeit" und ,,Himmel".

Wir merken also, wie viel an Verrücktheit, an Fantasien, an Erlösungshoffnungen da drinsteckt. Und denken Sie an so ein Wort wie ,,Erlösung". Noch im ökonomischen Wort ,,Erlös", ich erziele einen Erlös, steckt ja was Religiöses. Und auch ,,Kredit" und ,,Schuldner" sind ja theologische Begriffe. Man hat dann eine Wert-,,Schöpfungs"-Kette. Wenn man pleite ist, macht man einen ,,Offenbarungseid". Man geht mit den Autos, die man produziert, zur ,,Messe", und dann meint man nicht mehr das Hochamt, sondern man meint eben die Industriemesse. Wohin wir also gucken und spucken, merken wir, dass wir religiöse Begrifflichkeit haben in der ökonomischen Sphäre. Und genau das wollen eigentlich viele Wirtschaftswissenschaftler nicht zur Kenntnis nehmen.

Rabhansl: Obwohl es ja weit über solche reine Wortwahl hinausgeht. Wenn zum Beispiel Ökonomen ganz ernsthaft an die berühmte ,,unsichtbare Hand des Marktes" glauben, da lese ich bei Ihnen, dass die ökonomische Aufklärung weit hinter den Stand der religiös-theologischen Aufklärung zurückfalle. Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet in der Ökonomie solche Glaubenssätze bestehen bleiben?

Hörisch: Eben damit, dass man Rationalität und Irrationalität verwechselt, also ernsthaft glaubt, wenn man Mathematik als die Leitwissenschaft einsetzt in einem Bereich, wo sie eigentlich nicht funktioniert, dann verfällt man einem Irrglauben. Das ist so wie das Hexeneinmaleins in Goethes ,,Faust". Faust wird ja auch zu einer großen Figur, die ökonomische Reformen voranbringt. Die ,,Invisible hand", das ist jedem einigermaßen historisch Gebildeten bei Adam Smith klar, ist die Übersetzung der Hand Gottes, in der wir alle sind, in die ökonomische Sphäre. Es ist also für Adam Smith noch vollkommen klar, dass da eine religiöse Metapher ins Ökonomische fällt, hineinkopiert worden ist.

Rabhansl: Das ist aber ein paar Jahre her.

Hörisch: Das ist aber ein paar Jahre her, aber das ist ein Glaube, der bis heute gilt. Versuchen Sie mal in sich als aufgeklärt begreifenden ökonomischen Milieus zu sagen, Leute, ihr glaubt so an die Invisible hand wie religiöse Leute an die Hand Gottes glauben. Ihr seid die letzten Theologen und die letzten religiösen Fundamentalisten in der wissenschaftlichen Sphäre, dann werden sie nicht auf viel Sympathie treffen. Aber genauso ist das Wort gemeint, das die ökonomische Aufklärung weit hinter der theologischen Aufklärung her ist. Man kann drauf verzichten, auf den lieben Gott zu setzen und an ihn zu glauben. Wer aber nicht an die Invisible hand des Marktes glaubt, der wird keinen Lehrstuhl in der VWL oder in der BWL bekommen.

...


Aus: "Die Irrationalität in der Ökonomie,,Wir haben ein sexualisiertes, ein gläubiges Verhältnis zum Geld""
Jochen Hörisch im Gespräch mit Christian Rabhansl (20.01.2018)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-irrationalitaet-in-der-oekonomie-wir-haben-ein.1270.de.html?dram:article_id=408796


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Dass das Liebesverständnis eines Menschen von der Kultur abhängt, in der er lebt, ist eine Binse. Durch die Jahrhunderte wurde es wahlweise romantisiert, psychologisiert und sexualisiert. ,,Wer zwei Mal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment", stand 1968 auf den Häuserwänden. Und heute scheint die moderne Umdeutung der Liebe daran anzuknüpfen.

Denn mit dem modernen Datingverhalten ändert sich das Beziehungsverständnis radikal. Nie war es einfacher, in kurzer Zeit viele Menschen kennenzulernen. Früher beschränkte sich die Partnerwahl meist auf das Herkunftsdorf, heute hat man potenziell die ganze Welt auf dem Bildschirm. Drum prüfe, wer sich ewig bindet...

Dabei befragten Forscher vor Kurzem junge Menschen rund um das Thema Sex und Beziehungen und fanden heraus, dass Treue und Beständigkeit noch immer zentrale Wünsche sind. Gleichzeitig ermittelten sie, dass es dieser Generation aber immer schwerer fällt, eine feste Beziehung zu führen.

Viele Enkel der 68er erklären die klassische Zweierbeziehung kurzerhand wieder zu kleinbürgerlichem Besitzdenken. Die Monogamie entspreche der kapitalistischen Eigentumsordnung. Gleichzeitig werden die häufig wechselnden Geschlechtspartner wie Trophäen präsentiert, was mehr von narzisstischer Selbstbespiegelung zeugt als von der Suche nach echter zwischenmenschlicher Verbundenheit. Entgegen ihrer Illusion von Selbstbestimmtheit unterliegen die modernen Flirtnomaden dabei der Marktlogik mehr, als ihnen gewahr ist.

Alles sein können, sich permanent wandeln können, ist die Losung dieser Tage. Man lebt nicht mehr permanent an einem Ort, übt nicht mehr sein ganzes Leben den gleichen Beruf aus. Es scheint also nur folgerichtig, dass man sich auch in der Partnerwahl nicht mehr festlegen muss. Konsequenter Ausdruck davon ist der Typus des zwanglosen Singles, dessen vermeintliche, verteidigte Freiheit in Wahrheit oft eine Angst vor der Entscheidung ist. Der ewige Griff nach dem Besseren. Tendenziell nähert sich die Partnersuche dabei dem Shoppingverhalten an. Was nicht gefällt, wird ausgetauscht.

Es gab Zeiten, da handelte nahezu jede Liebeskomödie davon, wie zwei Menschen allen Unwahrscheinlichkeiten zum Trotz zueinanderfinden. Heute werben Elite-Plattformen mit detaillierten Suchmasken, die nur die Schönsten, Reichsten und Bestgebildeten vermitteln. ,,Du bist eine Zehn. Also date auch eine Zehn". Das Exklusivitätsversprechen wird durch das Abfragen von Parametern wie Ausbildung, Beruf und Körperform abgesichert. Nicht nur ist die Suchmaske ein soziales Ausschlusskriterium - sie tilgt ausgerechnet jenes irrationale und unberechenbare Element, das doch ausgerechnet den Zauber des Kennenlernens ausmacht.


Aus: "Die Liebe gehorcht dem Gesetz des Marktes" Hannes Soltau (14.02.2019)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/valentinstag-2019-die-liebe-gehorcht-dem-gesetz-des-marktes/23982466.html

QuoteZunke 08:53 Uhr

...  Konsequenter Ausdruck davon ist der Typus des zwanglosen Singles, dessen vermeintliche, verteidigte Freiheit in Wahrheit oft eine Angst vor der
    Entscheidung ist.


Nein es ist fehlende Eigenliebe! Wer nicht in der Lage ist, sich selbst zu akzeptieren wie er ist, also permanent an sich selbst zweifelt, der wird auch an entgegen gebrachter Liebe zweifeln, weil er schlicht nicht verstehen kann, das es Jemanden gibt, der ihn ohne wenn und aber, liebt wie er ist. Es ist der permanente innere Druck sich beweisen zu müssen, der sich immer mehr Bahn bricht, im ständigem Kampf mit der Sehnsucht nach Geborgenheit, die zum Glück irgendwann die Oberhand behält.


QuoteTheodosius 13.02.2019, 20:39 Uhr

    Es gab Zeiten, da handelte nahezu jede Liebeskomödie davon, wie zwei Menschen allen Unwahrscheinlichkeiten zum Trotz zueinander finden.

Ein treffender Hinweis. Denn unser aller Vorstellungen von Liebe (oder was man dafür hält) sind natürlich geprägt durch die Medien, namentlich etwa 100 Jahre triviale Liebesschnulzen oder künstlerisch anspruchsvollere Filme. Schon im Kindheitsalter sind wir Hollywoodfilmen ausgesetzt und deren Botschaft, es gäbe den/die Richtige, den/die man nur finden müsse. Nach dem Überwinden aller Hindernisse fällt sich das Paar in die Arme - und dann wird abgeblendet, worauf schon Tucholsky maliziös hinwies. Was danach kommt, ist dann viel weniger romantisch.

Dabei war die Paarfindung eigentlich immer ein ökonomisches Geschäft. Heute wird ein Partner mit möglichst hoher optischer, finanzieller, beruflicher usw. Attraktivität oder Status gesucht - die Person selbst wird ökonomisch bewertet.

Früher wurde nicht die Person als solche ökonomisch bewertet, sondern ihr funktioneller Nutzen. Da musste die Hoferbin dann einen fähigen Verwalter heiraten. Oder die reiche Witwe ihren ledigen Schwager, damit das Geld in der Familie blieb. Oder zwei Bäckerfamilien haben ihre Kinder miteinander verheiratet und daraus einen grossen und konkurrenzlosen Bäckerbetrieb gemacht.

Die Zeiten sind diesbezüglich heute nicht schlechter als früher und waren früher nicht schlechter als heute - nur anders.

Goethe hat dazu eine ewige Weisheit parat: Liebe ist etwas Ideales, Ehe etwas Reales - und niemand verwechselt ungestraft das Ideale mit dem Realen.


QuoteUrbanJazz 13.02.2019, 20:01 Uhr

    Alles sein können, sich permanent wandeln können, ist die Losung dieser Tage. Man lebt nicht mehr permanent an einem Ort, übt nicht mehr sein ganzes Leben den gleichen Beruf aus. Es scheint also nur folgerichtig, dass man sich auch in der Partnerwahl nicht mehr festlegen muss.
    Konsequenter Ausdruck davon ist der Typus des zwanglosen Singles, dessen vermeintliche, verteidigte Freiheit in Wahrheit oft eine Angst vor der
    Entscheidung ist. Der ewige Griff nach dem Besseren.


Die Scheinfreiheiten der Postmoderne. Nur ein Schein. Zum einen gibt es vielfältige Hinderungsgründe. Manch einem fehlt es an Geld, manch einem an Schönheit, bei anderen gibt es innere Hemmnisse.
Das Problem für viele ist, dass Altern und Sterben immer noch Folge der rein biologischen Existenz sind. Zwar wird heftig an deren Abschaffung gearbeitet, aber ein paar Jährchen wird es noch dauern. Und alle werden mutmaßlich nicht in den Genuss entsprechender Selbstoptimierungsmöglichkeiten kommen. So bleibt ein metaphysisches Unbehagen an der eigenen Existenz. Die einen versuchen, es mit viel Konsum und vielen Erlebnissen zu bekämpfen, andere fallen religiösen und ideologischen Heilslehren anheim.
Dabei wäre es gar nicht so schwer, ein bisschen zufriedener zu sein... Ein bisschen mehr Bescheidenheit, Demut, gepaart mit einer Prise Humor, wäre ein Anfang.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Auch der Begriff der Charaktermaske wurde ausgelöscht, hinter den Masken stecken keine Gesichter mehr ... So gesehen kopuliert der funktionelle Psychopath energisch energetisch und endlos gern mit seinen Wünschen, um schließlich zur lebenden Konsumtionsmaschine zu gerinnen, die die Usurpation des Freizeit-Arbeitsmenschen durch den Kapitalapparat vervollständigt. Durch mein Talent zur Cleverness, durch mein Yoga, durch mein Faible für französischen Wein und durch das ausgezeichnete singuläre Thai-Food, durch mein Gender-Verhalten und das meiner Freunde, durch meine Erfolgskarriere bei der Deutschen Bank gewinne ich, so Reckwitz, an Eigenkomplexität und werde besonders, wobei aber das Besondere gerade jenes Produkt des Allgemeinen ist, sodass die Besonderen fast schon zu riechen sind, tauchen mehr als zwei von ihnen in ihren Szene-Restaurants oder Bars auf, in denen sie nicht das Angebot kuratieren, sondern durch das Angebot kuratiert und gesteuert werden, im Konsum noch kreativ gemacht werden, indem sich ein Modul ins andere fügt, das Food, der Drink, die Designerfrauen, das Ambiente. Der funktionelle Psychopath erscheint als der Bandenführer seiner selbst, der vom Unbewussten den Befehl erhält, zu siegen, koste es, was es wolle, und aus dessen Gesicht anerkennung leuchtet, für die vielen zu sprechen, die er selbst ist. Je mehr einer sein Leben so auf sich selbst eingerichtet hat, um so vollkommener repräsentiert die systemische Logik.

... Die nie enden wollende Karriere des funktionellen Psychopathen ist nicht in erster Linie das kontingente Ergebnis der permanent variierenden Zusammensetzung eines Profils oder der geschickten Adaption an den Markt, der Vernetzung und Kapitalisierung des eigenen Potenzials und der Aneignung verschiedener Kapitalsorten, vom ökonomischen über das soziale bis hin zum kulturellen Kapital, vielmehr gehorcht sie zuallererst den Erfordernissen einer hyperkompetitiven Kapitalisierungsökonomie, die den funktionellen Psychopathen von der subjektiven Seite an die Spitze dessen setzt, was aus den gnadenlosen Profilisierungsspielen der vernetzten Subjekte herausgezogen werden kann. Um es kurz zusammenzufassen, der funktionelle Psychopath – nicht als ein klinisches Symptom, sondern als der gegenwärtige dominante soziale Habitus verstanden – ist ein Zustand, mit dem Wunsch und Wirklichkeit, Wille und Welt identisch werden sollen, es aber doch nicht können, weil das sich selbst optimierende Subjekt im Sog einer permanent zu bearbeitenden Fitness, Resilienz und Therapeutik nach wie vor den Optimierungsanforderungen des Kapitals unterworfen bleibt.

... Je gefaketer die Existenz des psychopathischen Menschen, desto freier wird er. Es sind diejenigen hier im Spiel, die sich denken, kaputt ist sowieso kaputt, also lieber meine Schäfchen noch ins Trockene bringen, solange es mich noch gibt, viel mehr noch, noch einmal den Karrieristen und Hedonisten spielen, denn wer am liebsten zwischen Tabledance-Bar, Upperclass-Büro im Bankentower, gepanzerten Limousinen und kokainhaltigen Casinos hin und her pendelt, der kann einfach nicht daneben liegen. Wir bekommen es jetzt auf allen Ebenen mit Phänomenen einer dynamischen Entgrenzung zu tun, die einerseits zu deutlichen kollektiven Überschreitungen der Intimitätsschwellen, andererseits zum ständigen Vergleich der Verhaltensweisen mit denen relevanten Anderen führt. Es scheint nun so, dass kollektive Psychopolitiken Dividuen gebären, die fortwährend Selbstverbesserungsanstrengungen unternehmen, welche zum Schluss allerdings an Lächerlichkeit, Peinlichkeit und Taktlosigkeit kaum noch zu überbieten sind. Paradigmatisch stehen dafür Unternehmen, die professionelle Coachs engagieren und selbst noch den höheren Angestellten bunte Pappnasen aufsetzen, um sie mittels eines gruppendynamischen Settings, in dem man lernt, wie man den Anderen auf die softe Tour fertig macht, auf die Umsetzung und Steigerung ihrer eigenen Performance zu trimmen, investive Statusarbeit zu betreiben, in den Märkten aller Art, vom Partnerschafts- über den Derivate-Markt bis zum Bildungsmarkt erfolgreich zu navigieren, den Glauben an sich selbst in jeder noch so prekären Situation zu stärken und vor allem positiv und vernetzt zu denken, und gerade darin besteht die Freiheit des Exzesses am zu kapitalisierenden und kapitalisierten Selbst, das aber stets durch einen höhergestellten Manager, einen Plan, eine Uhr, ein Smartphone oder ein anderes digitales Gerät, von einer Institution oder Behörde kontrolliert werden muss. (Der funktionelle Psychopath lebt nicht im luftleeren Raum, sondern er ist in den Wohnungen und Büros ständig an Gadgets und digitale Geräte angeschlossen, hauptsächlich in der Funktion, sich selbst und andere dafür fit zu machen, die algorithmische Metrik erfolgreich zu bedienen.) Am besten natürlich durch sich selbst, wie es jener verbissene Jogger tut, der sich durch die dreckige Stadtluft quält und seine Leistungsaffinität bis zum Kotzen übersteigern will.

...


Aus: "Der funktionelle Psychopath – der Wahn von der Stange" Achim Szepanski (26.02.2019)
Quelle: https://non.copyriot.com/der-funktionelle-psychopath-der-wahn-von-der-stange/

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Sein eigener Geschmack sei bei der Auswahl der Bücher, die er ins Verlagsprogramm aufnehme, wichtig, aber letztlich habe er immer den Markt und die Leser im Kopf, erzählt Cukoski im Arbeitspodcast. ...


Aus: "Anvar Cukoski: "Ein Buch ist eine Art Wette"" Daniel Erk (14. April 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/arbeit/2020-04/anvar-cukoski-lektor-arbeit-podcast


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Die Soziologen Hartmut Rosa und Vera King über die Lehren, die wir aus der Corona Krise ziehen können.

In den letzten Wochen hat sich für viele Menschen etwas Einzigartiges vollzogen: Wie von Geisterhand haben sich ihre Terminkalender geleert. Geschäftstermine, Reisen, Familienfeiern und Veranstaltungen wurden abgesagt. Auch wenn dabei für manche Berufsgruppen und für viele Eltern ganz neuer Stress entstand, noch dazu überlagert von existenziellen gesundheitlichen und ökonomischen Ängsten, bedeutet dies doch einen tiefen kulturellen Einschnitt in die Erfahrungswelt der Spätmoderne: einen Einschnitt, indem sich der Blick auf das, was wichtig und von Bedeutung ist, teils radikal verschoben hat.

Denn Covid-19 hat etablierte Handlungsroutinen an vielen Stellen unterbrochen und ein Innehalten erzwungen. Die Krise hat die explodierenden To-do-Listen, deren verzweifeltes Abarbeiten den Alltag der meisten Menschen bestimmt, zwar teils ins Digitale verschoben, aber doch auch vorübergehend entrümpelt und die Frage nach dem Unterschied zwischen dem wirklich Wichtigen und dem nur Dringlichen aufgeworfen.

Das ist bemerkenswert, weil Dringlichkeiten den Takt im spätmodernen Alltag jenseits der Krise immer stärker vorgeben. Wettbewerbsdruck und der Zwang zu Beschleunigung und Effizienzsteigerung verändern nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch den Familienalltag und die individuelle Lebensführung. Weshalb aber gewinnen im Umgang mit der Zeit Kriterien der Effizienz und ,,Rendite" selbst in ,,privaten" Bereichen, die vom ökonomischen Druck entlastet scheinen, so durchschlagend an Bedeutung?

In unseren Forschungsprojekten zeigt sich, dass das, was soziologisch als erzwungene Anpassung an systemische Steigerungs-Imperative beschrieben werden kann, keineswegs immer nur als leidvoll erlebt wird. So beschreibt etwa der 35-jährige Angestellte Paul S. auf die Frage nach seiner Zeitgestaltung einen inneren Zwiespalt: ,,Ich habe auch dieses Jahr, wie jedes Jahr, den Entschluss gefasst, mehr Freizeit zu haben, merke aber auch, wie schnell dieser Vorsatz kippen kann: Wenn ich mir noch so fest vornehme, diesen Samstag halte ich mir frei und treffe mich mit einer Freundin, dann hält das so lange, bis ich gefragt werde, ob ich am Samstag nicht was machen kann, und obwohl ich genau weiß, ich will nicht, höre ich im gleichen Moment, wie ich sage: Ja klar, mache ich."

Solche Erfahrungen dürften auch vielen Leserinnen und Lesern gut bekannt sein: ein Lebensalltag, bei dem Dringlichkeiten den Takt und die Entscheidung vorgeben. Aus soziologischer Perspektive drückt sich darin eine Folge der Veränderung gesellschaftlicher Zeitregime aus. Diese Veränderung lässt sich unter den Oberbegriff der Beschleunigung bringen, die wiederum eine unabweisbare Konsequenz dessen ist, dass moderne kapitalistische Gesellschaften sich nur dynamisch zu stabilisieren vermögen. Das bedeutet, dass sie unaufhörlich wachsen, innovieren und eben beschleunigen müssen, um ihre institutionelle Struktur – die Arbeitsplätze, das Gesundheits- und Rentensystem, den Kulturbetrieb und so weiter – aufrechtzuerhalten.

Im Zuge der ökonomischen, technischen und politischen Veränderungen der neoliberalen Globalisierung, welche die so erzeugten Steigerungs-Imperative umsetzte, nahmen die Prozess-, Kommunikations- und Informationsgeschwindigkeiten noch einmal rasant zu. Die kleinsten zeitlichen Unterschiede wiegen schwer im Wettbewerb. Dies befördert entgrenzte Arbeitszeiten, wenn Beschäftigte kurzfristig verfügbar sein sollen.

Paul stellt fest, dass er im Grunde die ganze Woche im ,,Arbeitsmodus" lebt, und ist damit nicht ganz einverstanden, aber auch nicht wirklich unglücklich: Die Arbeit sei eben doch das, was ihn am meisten befriedige. Es sind die anderen, die ihn manchmal an etwas erinnern, das anders sein könnte. Zeitrhythmen, die – wie das freie Wochenende – vielen gemeinsam sind, nehmen dann sukzessive ab. Es gilt, Optionen offenzuhalten und flexibel zu bleiben. Dies bleibt nicht ohne Folgen für die Muster der Lebensführung, die Gestaltung von Beziehungen, Selbst- und Körperbilder, das Verhältnis zur Welt; es färbt gleichsam ab und wird von den Subjekten so internalisiert, dass es sich mit eigenen Antriebsimpulsen verbindet.

Dabei sind die sich wandelnden Muster der Lebensführung geprägt durch veränderte Produktions- und Arbeitsverhältnisse. Sie gehen überdies jedoch mit neuen Formen der Verinnerlichung von Machtverhältnissen einher. Gerade bei Individuen mit passförmigen biografischen oder psychischen Dispositionen verbinden sich die ,,von außen" nahegelegten Steigerungs-Imperative und die gleichsam ,,von innen" drängenden Bedürfnisse zu einer beständigen Optimierungsorientierung in nahezu allen für sie relevanten Lebensdimensionen. Die so erzeugten Veränderungen der Lebensführung haben weitere Folgen: Sie prägen die Art und Weise, wie soziale Beziehungen gestaltet und gelebt werden, und wirken sich nicht zuletzt auf die Entwicklungsbedingungen der Nachkommen aus.

Von besonderer kultureller Bedeutung scheint dabei eine unbemerkte, schleichende Umwertung der Werte zu sein, die sich als Nebenfolge der explodierenden To-do-Listen ergibt. Die alltägliche Agenda vieler Menschen wird nach der Dringlichkeit der zu erledigenden Aufgaben geordnet, nicht nach ihrer empfundenen Wichtigkeit. Dinge, die keine Frist oder ,,Deadline" haben, aber als subjektiv wertvoll wahrgenommen werden – in Pauls Fall etwa das Treffen mit der Freundin –, bleiben dabei auf der Strecke, wie schon Niklas Luhmann beobachtete: ,,Aufgaben, die immer zu kurz kommen, müssen schließlich abgewertet werden [...]. So kann sich allein aus Zeitproblemen eine Umstrukturierung der Wertordnung ergeben", schlussfolgerte er. Das Dringliche gewinnt gegenüber dem Wichtigen also schleichend, aber wirkungsvoll an Bedeutung. Diese Verschiebung beinhaltet ein erhebliches Potenzial der Selbst-Entfremdung wie auch des Bedeutungsverlusts von sozialen Beziehungen.

Die Auswirkungen lassen sich auch in Familien beobachten. ,,Wenn wir unsere Termine erst einmal aufeinander abgestimmt haben, werden wir alle zusammen ein ganz entspanntes Essen machen", diese typische Äußerung zitiert die Soziologin Arlie Hochschild in einer Studie aus den USA, bei der sie Beschäftigte einer Firma bei der Arbeit und im Familienalltag untersuchte. Das zunächst als wichtig Erachtete – gemeinsam verbrachte Zeit und Muße mit den Kindern – wurde aufgrund von dringlichen Anforderungen bei der Arbeit oft ,,vertagt" und schließlich ,vergessen'.

Gerade über das, was in der Familie gelebt wird, übersetzt sich sozialer Wandel dann aber in veränderte psychische Dispositionen der Folgegeneration. Ein Kernelement sorgender Beziehungen ist die ,,Gabe von Zeit" und mit ihr die zweckfreie leibliche, mentale und emotionale Ko-Präsenz des Anderen; diese wird durch die Vorherrschaft von Dringlichkeit und Zeitknappheit erschwert.

Die Dominanz dieser Logik beruht nicht nur darauf, dass ein Ausstieg lediglich um den Preis des Misserfolgs oder des Zurückfallens gegenüber anderen möglich ist. Ein Arbeitskontext, der von den Individuen ,,alles fordert", kann auch die Hoffnung auf ersehnte umfassende Bestätigung nähren. Leistungssteigerung und Selbstoptimierung werden dann nicht einfach durch wettbewerbsbedingten äußeren Druck, sondern auch von der Verheißung angetrieben, über Begrenztheit und Vergänglichkeit zu triumphieren. Beschleunigung dient hier dem Ziel, Zeit zu gewinnen, um mehr von der Welt zu haben, um die kurze Lebenszeit der stets weiterreichenden Weltzeit anzupassen, wie Hans Blumenberg dies formulierte.

Gerade dieses Motiv kann die Bereitschaft verstärken, sich dem Zeitdruck zu unterwerfen. Was aus soziologischer Perspektive als struktureller Zwang erscheint, wird dann als lustvoller ,,Kick" erlebt, die Anforderungen der Dringlichkeiten zu meistern. Die Individuen erfahren es als innere Befriedigung, die eigene Leistungsfähigkeit oder den Köper immer weiter zu optimieren.

Wie bestimmend dieser Drang für die Lebensführung werden kann, zeigt sich am Beispiel des Ernährungsberaters Florian K., Mitte dreißig. Auch bei ihm erscheint das unmittelbar Dringliche immer wieder als dominant, während etwa Beziehungen eher störend wirken und schattenhaft bleiben. Er beschreibt sein Leben in den Formeln der Betriebswirtschaftslehre und der Sprache der Produkt- und Prozessoptimierung. Zeit ist dabei stets Thema und Ziel: ,,Daten sammeln, analysieren, Kennzahlen rausfinden, ins Verhältnis setzen, um eben daraus Rückschlüsse ziehen: Diese Prinzipien reizen mich und ich hab sie dann an vielen Stellen eins zu eins aufs Training und auf das Selbstmanagement übertragen." Deshalb habe er, ähnlich wie Paul S., letztlich keine Zeit für Beziehungen, für Freundschaften: ,,Aber ich habe deswegen auch kein Mangelgefühl oder bin jetzt deswegen traurig."

In vielen Studien zu Erschöpfung oder Burnout werden Konstellationen betont, bei denen die Einzelnen hohen Anforderungen und Überforderungen passiv leidend ausgesetzt sind. Die Fälle von Paul und Florian verdeutlichen demgegenüber, dass Anpassung an die Logik der Dringlichkeiten und der Optimierung auch innere Befriedigung verspricht. Zeitverdichtete, entgrenzte Arbeits- und Projektwelten können gerade für Menschen, die psychosoziale Defizite durch erhöhte Ansprüche kompensieren, attraktiv sein und ihre psychischen Dispositionen verstärken.

Dabei entstehen neue, kollektiv bedeutsame Bewältigungs- und Abwehrmuster im Umgang mit Begrenztheit. Das Leben im Modus der Dringlichkeit und der Beschleunigung schafft neue Phantasmen der Befriedigung und des Umgangs mit Endlichkeit. Das äußere Zwangsmoment, dass bei Nichterfüllung drängender Aufgaben die Gefahr droht, zurückzufallen und ausgeschlossen zu werden, kann aus solchen Motivlagen heraus in bejahende Selbstdisziplinierung übersetzt werden. Es kann in eine psychische Anpassung an das Geforderte münden, die die Spuren des Zwangs nur noch in Fragmenten, in Selbsttäuschungen, scheinbar unerklärlichen Erschöpfungen oder Beziehungsarmut sichtbar werden lässt.

Vielleicht lässt sich die gegenwärtige Stillstellung der materiellen und physischen Bewegung in vielen sozialen Bereichen als eine Art Moratorium nutzen, um über die Schieflage im Verhältnis von Wichtigem und Dringlichem nachzudenken. Sie lässt sich nicht einfach durch eine Korrektur der Lebensführung beheben, weil sie systemische Ursachen hat. Aber auch auf der Systemebene zwingt Corona gerade dazu, die wirklich wichtigen Bereiche des öffentlichen Lebens von den nur dringlichen zu trennen.

Angesichts der problematischen Steigerungslogik der Spätmoderne sollte dabei nicht System-, sondern ,,Lebensrelevanz" das Kriterium sein. Die Analyse der systemischen Dringlichkeits- und Optimierungszwänge verdeutlicht: Es sollte nicht einfach um ,,Exit" aus dem ,,Lockdown" und rasche Rückkehr zur Normalität gehen – vielmehr wäre ein systemischer Wandel zugunsten des Wichtigen angezeigt.


Aus: "Die Corona-Krise könnte unsere Prioritäten ändern" Vera King, Hartmut Rosa (22.04.2020)
Quelle: https://www.fr.de/politik/hartmut-rosa-vera-king-corona-krise-koennte-unsere-prioritaeten-aendern-13685349.html


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Quote[...] Ein profunder Beratungsansatz ist das eine. Etwas anderes ist die Kunst, mit ihm populär zu werden. Für Newcomer im Beratungsgeschäft gehören Selbstmarketing und Eigen-PR heute zum Joballtag wie Powerpoint und Beamer. ... Wenn man dann aber Kompetenzfeld und Persönlichkeitsprofil geschärft hat: Wie erfährt der Markt von einem? Und zwar so, dass es nicht allzu unverblümt nach Verkaufe aussieht? ... René Borbonus beispielsweise habe den Schwerpunkt seiner Markenpositionierung nach dem Erfolg von ,,Respekt" spürbar umgestellt, erzählt sein Verleger. Denn während Rhetorik-Workshops vor allem von Vertrieblern gebucht und bezahlt werden, ist das Metathema ,,Respekt" ein ideales Vortragssujet für die Chefetage. Ein Marktsegment also, in dem man als Vortragender honorarmäßig gleich ein paar Etagen höher einsteigt. ... Wer nach oben wolle, solle jene ,,goldenen Regeln" beherzigen, ... : ... Sei möglichst teuer. Es gibt nichts Erotischeres als hohe Leistung zu sündhaft teuren Preisen. ...


Aus: "Let me consultain you" Harald Willenbrock (2020)
Quelle: https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-thema/unternehmensberater-2020/let-me-consultain-you

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Quote[...] In Manhattan lief einmal ein Trickbetrüger herum, der den Namen Confidence Man bekommen hatte. Seine Masche bestand darin, auf Menschen zuzugehen und sie zu fragen: "Würden Sie mir bis morgen Ihre Armbanduhr anvertrauen?" Gaben sie ihm die Uhr, tauchte er ab, und bis er eines Tages gefasst wurde, waren erstaunlich viele Menschen darauf hereingefallen.

Nach seiner Verhaftung konnte man im New York Herald eine sarkastische Beileidsbekundung lesen, dass diesem Confidence Man die Chance entgangen war, für die Wall Street zu arbeiten. "Seine Genialität ist im Kleinen auf dem Broadway zum Einsatz gekommen. Die ihre an der Wall Street. Das ist der einzige Unterschied", hieß es. "Ihm legt die Polizei Handschellen an. Ihnen bringt die Gesellschaft Wertschätzung entgegen. Lang lebe der wahre Confidence Man! – der Confidence Man der Wall Street."

Jia Tolentino, Journalistin des New Yorker und als eine der besten jungen Essayistinnen der USA gefeiert, erzählt diese Geschichte in ihrem Essayband Trick Mirror, der jetzt auf Deutsch erscheint. Sie erzählt sie, weil sie glaubt, jegliche Art von Trickserei sei ihrer Generation, den Millennials, zur "allumfassenden Realität" geworden. Und die Finanzkrise 2008, ausgelöst durch die Confidence Men der Wall Street, sei eine Art Startschuss gewesen für das Erwachsenwerden einer Generation entlang der Betrugsmaschen.

Nach dem Crash folgten soziale Medien wie Facebook, schreibt Tolentino, die Verbundenheit versprachen und stattdessen eine Welt erschufen, in der wir permanent an der Vermarktung unseres Ichs und unserer Beziehungen arbeiten. Es folgte ein marktkonformer Feminismus, der Gleichberechtigung für alle versprach und sich dann darauf beschränkte, den Erfolg einzelner "Girlbosse" als progressive Politik zu verkaufen.

Und dann sind da natürlich die ganz offensichtlichen scams. Ernährungsmythen wie das angeblich gesunde, in Wahrheit aber nur schmutzige raw water. Oder das von berühmten Models wie Kendall Jenner und Emily Ratajkowski beworbene Fyre Festival, das dann gar nicht existierte. Das Gefühl, irgendwie verarscht zu werden, wechselt sich ab mit der Bewunderung für Menschen, die in einer Welt der Taschenspieler einen funktionierenden Trick gefunden haben. Menschen, die etwa 1,5 Millionen Dollar Kapital für eine App eintreiben können, die nur eine Sache macht: das Wort "Yo" unter seinen Usern zu verschicken.

Tolentino beobachtet die feinen Linien, die sich durch unsere Gegenwartskultur ziehen, mit analytischem Gespür und einem bewundernswerten Hintergrundwissen. Sie gilt als manische Leserin, die oft ein halbes Buch vor dem Schlafengehen liest. Und sie ist gleichzeitig very online, wie man auf Englisch so gut sagt. Mit zehn Jahren hatte sie sich eine eigene Website gebaut, auf der sie gleich einen Text einbaute: Wie Jia internetsüchtig wurde. Sie schrieb diverse Blogs voll, diskutiert auf Twitter und geht für Interviews live auf Instagram.

Diese Kombination hat sie bekannt gemacht. Als Susan Sontag der Millennials oder Joan Didion des Internets wird sie immer wieder bezeichnet, was vielleicht weniger fachlich passende Urteile sind als Zeugnisse der schieren Bewunderung für Tolentino. Sie schrieb früh die Art kluger und meinungsstarker Texte, die sich im Netz gut verbreiten. Zunächst für den Blog The Hairpin und später beim feministischen Onlinemagazin Jezebel, dessen stellvertretende Chefredakteurin sie wurde, bevor das Angebot vom New Yorker kam. Sie schrieb über Schwangerschaftsabbruch, über Vaping, über identitätspolitische Fragen im Publishingbusiness oder über die Frage, warum Millenials eigentlich den Ruf haben, alles zu zerstören, von der Autoindustrie bis zu Hotelbranche. Durch Trick Mirror, da sind sich viele Kritikerinnen einig, etabliere sie sich nun endgültig als eine der wichtigsten Stimmen ihrer Generation. Und was normalerweise verdächtig nach Hype klingen würde, ist in diesem Fall völlig angemessen.

Wer Jia Tolentino liest, hat das Gefühl, für einen Moment klarer zu sehen durch den Nebel der Gegenwart, in der so viele Dinge gleichzeitig verwirrend und absolut selbstverständlich scheinen. Sie selbst sei eigentlich ständig verwirrt, schreibt Tolentino. Und wenn "mich etwas verwirrt, dann schreibe ich darüber". Und ihre Suche nach Antworten besteht zu einem großen Teil darin, die eigenen Selbsttäuschungen abzuschütteln, und das ist oft witzig, mutig, überraschend und scharfsinnig.

Dabei hilft ihr besonderes Talent, persönliche Geschichten mit Gedanken zu verweben. Sie scheut sich etwa nicht, über die Zeit zu sprechen, in der sie als Teenagerin an einer Reality-TV-Sendung namens Girls v. Boys: Puerto Rico teilnahm. Aber ihre Erzählung gerät nie zur Nabelschau. Jedes Detail führt zu einem Gedanken. Wenn sie zum Beispiel über ihrem Auftritt am Strand vom Puerto Rico die verschiedenen Schichten der Selbstinszenierung freilegt. Wie etwa die ständige Selbstanalyse aufhörte in dem Moment, in dem sie vor der Kamera stand. Wie es unmöglich wird, bewusst zu performen, wenn alles eine Performance ist. "Das war eine nützliche, wenn auch fragwürdige Vorbereitung auf ein Leben in den Fängen des Internets", schreibt sie.

In einem der stärksten Essays, Ekstase, erzählt sie von ihrer Kindheit und Jugend in der Gemeinde einer evangelikalen Megakirche im texanischen Houston. Sie erzählt von Bibelstunden, von dieser riesigen Stadt, deren Highways eigentlich die einzigen öffentlichen Orte sind, und von "chopped and screwed", einer Remixtechnik, die Hip-Hop-Songs stark verlangsamt und das Gefühl nachahmt, high auf Hustensaft zu sein. Aber vor allem geht es darum, wie sie ihren Glauben verliert, weil das, was sie für Gott hielt, ihr im Drogenrausch ebenso begegnet. Auf Ecstasy fühlt sie sich, "als würde Gott meine Lunge ersetzen", schreibt sie und versucht daraufhin, mit der Literatur der Mystikerin Marguerite Porète und der Philosophin Simone Weil die Formen der Ekstase besser zu verstehen.

Zwei Themen ziehen sich durch fast alle neun Essays des Buches: der Feminismus und das Internet. Und Tolentinos Beobachtungen dazu gehören zu den genauesten, die man in den letzten Jahren dazu gelesen hat. In Optimierung ohne Ende untersucht sie etwa das Bild der perfekten Frau. Mit zunehmender Emanzipation scheinen sich wie zum Ausgleich die Ansprüche an ihr Äußeres zu steigern, beobachtet Tolentino. Die perfekte Frau trägt heute kein Make-up mehr oder Spanx-Wäsche, um kleine Makel verschwinden zu lassen, denn sie hat keine. Mit teurer Skincare ist ihre Haut selbst perfekt so wie ihr Körper, der nicht geformt werden muss, weil er bis auf jeden Muskel schlank und fit ist, wie sie durch ihre enge Yogaleggings beweist. Sich in diesem Sinne "um sich selbst zu kümmern", schreibt Tolentino, ist heute nicht nur eine ästhetische, sondern eine ethische Frage für Frauen geworden.

Tolentino analysiert das, während sie selbst mittendrin steckt. Auch sie besucht teure und seltsam sexualisierte Fitnesskurse. Und während sie die Aufmerksamkeitsspiralen des Internets kritisiert, schaltet auch sie abends die Apps aus, die ihre Bildschirmzeit reduzieren sollen, um weiterscrollen zu können. Das ist nicht nur die millennialtypische Selbstreflexion. Es ist eine Reflexion über Komplizenschaft, die sich durchs ganze Buch zieht. Auch ihre Karriere habe von der "ungesunden Fokussierung des Internets auf Meinungsäußerungen profitiert", schreibt sie, sowie davon, dass sich Feminismus derzeit so gut verkauft.

Es geht um die Komplizinnenschaft, in die ein extrem ungleiches System zwingt, die Komplizinnenschaft, wenn man Dinge einfach will, wie Schönheit, Komfort, Freiheit. Die Komplizenschaft mit den Confidence Men nicht nur an der Wall Street: "Der Hochstapler und sein Opfer wollen beide von einer Situation profitieren; der Unterschied besteht darin, dass der Hochstapler erfolgreich ist."

Was sie wirklich fertigmache in der Ära von Trump und einer ganzen Schwindlerkultur, schreibt Tolentino, sei, dass die beste Strategie, sie zu überstehen, darin bestehe, nur an sich selbst zu denken. Da sei ein Druck, "uns moralisch zu kompromittieren, um weiterhin zu funktionieren". So sucht sie nicht nur Klarheit, sondern noch etwas anderes, das schwierig zu finden scheint – Integrität: "Ich glaube noch immer, in einem unbelehrbaren Winkel meines Ichs, dass ich es hier herausschaffen kann. Schließlich hat es nur etwa sieben Jahre, in denen ich meine eigene Persönlichkeit im Internet verhökert habe, gedauert, an einen Punkt zu gelangen, an dem ich es mir problemlos leisten kann, auf Amazon zu verzichten, um 15 Minuten und fünf Dollar zu sparen."

Diese Treffsicherheit ihrer Gedanken hat etwas Tröstliches. Auch wenn Tolentino keine Lösungen anbietet für die Risse, die sie aufzeigt, meistens nicht einmal abschließende Erklärungen. Aber es gibt diesen Punkt beim Lesen ihrer Essays, da verschiebt sich etwas in einem, als hätte man einen Funken Realität besser verstanden. Zwischen all den Absurditäten hofft Tolentino darauf, dass sich "kleine Wahrheiten" auftun, und das ist vielleicht die treffendste Beschreibung dessen, was man heute von Gegenwartsbeobachtungen erwarten kann. Und davon bekommt man in diesem Buch ganz schön viel.

Jia Tolentino: "Trick Mirror. Über das inszenierte Ich". S. Fischer, 368 Seiten


Aus: "Jia Tolentino: Überall Schwindler" Eine Rezension von Maja Beckers (23. Februar 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2021-02/jia-tolentino-trick-mirror-kritik/komplettansicht

QuoteThomas_SF #4

Verarscht worden sind die Menschen immer schon.

Allerdings wird es heute schwieriger, ein Gespür für das Reale zu finden, weil die Welt um uns herum immer künstlicher wird, und wir das, was uns umgibt zunehmend durch Bildschirme und Filter erfahren.


QuoteKassandra 1 #4.1

"Allerdings wird es heute schwieriger, ein Gespür für das Reale zu finden, weil die Welt um uns herum immer künstlicher wird"

Kurz gedacht mag das stimmen, doch wer sorgt dafür, dass die Welt immer künstlicher wird...das sind doch wohl wir Menschen mit unserer grotesken Technikabhängigkeit, unserer Denkfaulheit, unserem Allmachtswahn, der Allen Alles zugänglich machen will und das Individuum zum Zentrum der Universums erklärt.


QuoteOneTrickPony #6

Eine Kritik zu Tolentinos neuem Buch, in dem nicht ein einziges Mal das Wort "Kapitalismus" fällt. Das muss man erst mal schaffen.

Zwei Schlussfolgerungen: Entweder Frau Beckers unterschlägt die Kapitalismuskritik in dem Buch, die sich, wenn man diese angerissenen Themen richtig angehen würde, eigentlich wie ein roter Faden durch dieses Buch ziehen müsste. Müsste.

Oder aber Frau Tolentino kratzt tatsächlich nur an der Oberfläche ...


Quoteihrfodsn #11

Ich bin im gleichen Jahr geboren wie Frau Tolentino. Hab noch nie von ihr gehört. Weder ist sie die Stimme der Generation Y, noch besonders bekannt. Und als ehemalige Jezebel-Autorin (wer es nicht kennt, Hengameh in noch arroganter) wundert mich das auch nicht wirklich.

Mir scheint, Maja Beckers ist der wahre Confidence Man hier.


Quotelosgehen #17

Das Problem ist doch nicht neu. Erich Fromm, Theodor Adorno, Hannah Arendt, Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche, Seneca, Aristoteles, Platon usw. usf. haben schon über die (zeitlosen) Probleme der menschlichen Gesellschaft geschrieben, über Lug und Trug, Selbstfindung und Lebensglück durch Wahrhaftigkeit und Selbstliebe. Lösungsansätze für die Menschheit als Ganzes sind auf theoretischer Ebene nicht zu erarbeiten. Lösungsansätze für das Individuum dagegen schon (s.o.)

Das scheint dem Zeit online Leser von heute aber zu hoch und deshalb werden ihm Bücher vorgestellt, die eben keine Lösungsansätze bieten, sondern eine "Gesellschaftsanalyse" liefern, die man als Betroffenheitsliteratur bezeichnen könnte. Mag diese auch wortgewandt daher kommen, sie bleibt genau das, was die Autorin in ihrem Buch kritisiert: Selbstvermarktung.


Quotejack_carlton #18.2

... wie ein Forist hier schrieb, wenn dies eine Kritik am Leben IM Kapitalismus sein soll, UNTER kapitalistischen Bedingungen, und es fällt nicht ein einziges Mal das K-Wort, dann springt die Autorin zu kurz. (Wie gesagt, ich kenne das Buch nicht, aber die Rezension lässt vermuten...)


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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Das belegen die lange Geschichte der Prostitution und die durchgängige Existenz von Heiratsmärkten. Das grundlegend Neue an unserer sexualisierten Gegenwart sehen die beiden Autorinnern vielmehr darin, dass private Erfahrungen der Lust zur Voraussetzung für den Erfolg im ökonomischen Sinne geworden sind. Das gegenwärtige sexuelle Kapital basiert aus ihrer Sicht auf den vielfältigen neuen Möglichkeiten, die ein liberales Sexualleben eröffnet hat:
,,Das neoliberale Sexualkapital, wie wir es nennen, beruht auf der Fähigkeit, aus sexuellen Begegnungen Selbstwertgefühl zu beziehen und diesen Selbstwert in die eigenen Beschäftigungschancen zu investieren."

... Aus der Sicht einer liberalen Welt ist Sex weder gut noch schlecht, weder geboten noch verwerflich, sondern wird vor allem als persönliche Erfahrung geschätzt. Das ist die frohe Botschaft der sexuellen Revolution und zugleich die neue Ökonomisierung der Lust. Erst wenn das breite Spektrum der Sexualität vornehmlich als interessant gilt, können daraus gewinnbringende Erfahrungen für ihre ökonomische Verwertung werden:
,,Der Begriff des sexuellen Kapitals wird genau deshalb nützlich, weil er zugleich die (wahrgenommene) Möglichkeit sexueller Freiheit und die Tatsache anerkennt, dass die individuelle Freiheit in der Spätmoderne nicht nur mit der Marktfreiheit vereinbar geworden ist, sondern sogar eine Verlängerung von ihr darstellt."

... ,,Der Blick aufs sexuelle Kapital eröffnet uns eine einzigartige Einsicht in die Bedeutung, die subjektive Erfahrungen und Seelenzustände für die Arbeitsmarktfähigkeit und Klassenreproduktion (der Mittelschicht) erlangt haben. Gefühlslagen und sexuelle Neigungen spielen nicht nur für Strategien der sozialen Mobilität eine wichtige Rolle, sondern auch für das individuelle Selbstverständnis am Arbeitsplatz."

... Heute ist das sexuelle Begehren geradezu umstellt von zahlreichen Ratgebern und Anleitungen zum Training. Es gibt nicht nur ein großes Angebot an Sexspielzeugen und Kursen zur Atemtechnik, mit denen sich die Qualität der Orgasmen nachhaltig verbessern lässt. Die sexuellen Subjekte sind auch aufgefordert, sich selbst immer wieder Rechenschaft über ihr Begehren abzulegen und ihre Neigungen permanent in Frage zu stellen. Aus dem ehemaligen Wunsch nach Selbstverwirklichung ist eine Dauerwerbesendung für den Entwurf einer eigenen sexuellen Identität geworden.
Galt unter traditionellen Bedingungen der eheliche Sex als der einzig legitime, ist jetzt nichts so schlimm wie eingefahrene sexuelle Muster, die sich reproduzieren. Wie in der Wirtschaft wird Innovation zu einer dauernden Herausforderung des Sexuallebens und das eigene sexuelle Kapital zu einem Investment ins Ungewisse. Denn damit umzugehen gehört zu den neuen Kompetenzen des modernen Subjekts, das nun bei seinen sexuellen Abenteuern lernen kann, wie es sich im Berufsleben der neuen Ökonomie der Gefühle behaupten kann:
,,Arbeitssoziologen haben festgestellt, dass in der New Economy Privatsphäre und Öffentlichkeit endemisch verschwimmen. Dies bedeutet auch, dass die Arbeitnehmerinnen als Ein-Personen-Marken auftreten müssen. Sie verkaufen also nicht mehr nur ihre Arbeitskraft, sondern ihr ganzes existenzielles Sein."

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Zu: Dana Kaplan und Eva Illouz: ,,Was ist sexuelles Kapital?"
Aus dem Englischen von Michael Adrian
Suhrkamp Verlag, Berlin. 125 Seiten



Aus: "Dana Kaplan und Eva Illouz: ,,Was ist sexuelles Kapital?"Die Ökonomie der Lust" Leander Scholz (12.09.2021)
Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/dana-kaplan-und-eva-illouz-was-ist-sexuelles-kapital-die-100.html

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Quote[...] Sex steigert die Arbeitsmarktfähigkeit: Diese These erneuern Eva Illouz und Dana Kaplan in ihrem Buch «Was ist sexuelles Kapital?». Die israelischen Soziologinnen beschäftigen sich schon länger mit dem Verhältnis von Sexualität und Ökonomie. Eva Illouz wurde berühmt mit ihren Büchern mit den selbsterklärenden Titeln «Gefühle in Zeiten des Kapitalismus» oder «Der Konsum der Romantik». In ihrem letzten Buch, «Warum Liebe endet», zeigte sie anhand der heutigen Dating-Kultur, wie Liebe und Sex zunehmend nach einem Warenwert bemessen werden.

War der Umgang mit der Sexualität zu Zeiten Henry Fords noch moralisch-religiös geprägt, so hat die sexuelle Revolution zu deren totaler Liberalisierung geführt. Die Sexualität ist heute zentral für unser Selbsterleben. Dabei geht es nicht mehr bloss um den hedonistischen Lustgewinn, den die Hippies um seiner selbst willen anstrebten. Sondern darum, dass im Kapitalismus ein gnadenloser sexueller Markt entstanden ist, wo man sich beständig bewähren muss. Die Sexualität ist dabei eng mit der eigenen Identität verknüpft, die Arbeit an der sexuellen Persönlichkeit unabdingbar.

Zu begehren und begehrt zu werden – so lautet der Primat der Gegenwart. Ganze Industrien profitieren davon. Man geht zum Schönheitschirurgen, besucht den Sex-Workshop, kauft erotisches Zubehör fürs Bett. Man investiert in seine erotische Attraktivität und eignet sich so sexuelles Kapital an.

Und dieses kommt längst nicht mehr nur im Privatleben zum Einsatz, sondern wird auch in der Arbeitswelt wichtiger. Deshalb ergänzen Illouz und Kaplan den Begriff um ein Attribut: Es ist das neoliberale erotische Kapital, das heute gefragt ist.

Dabei war die Sexualität schon immer in die Sphäre der Wirtschaft eingebettet. Die beiden Autorinnen führen das in ihrer Analyse anschaulich aus. Im Bürgertum im 18. und im 19. Jahrhundert galt die Keuschheit der Frau bei der Heirat als ein Wert: Der Mann bot der jungfräulichen Braut im Gegenzug wirtschaftliche Sicherheit und Status.

Dann natürlich das älteste Gewerbe der Welt, die Prostitution: Menschen verkaufen ihren Körper. Dazu zählt die Pornografie, eine nach wie vor wachsende Branche. Die Internetplattform Pornhub verzeichnet inzwischen 115 Millionen Besucher pro Tag.

Nun kennt gerade der käufliche Sex Nuancen, und wo Prostitution beginnt, ist nicht immer klar; vor allem dort, wo Gefühle ins Spiel kommen. Ein schon fast stereotypes Beispiel ist die junge Frau, die mit dem um Jahrzehnte älteren reichen Mann zusammen ist und ihre Sexualität gegen Geschenke, Geld und ein gutes Leben tauscht. Solche Transaktionen müssen jedoch nicht frei von Liebe sein.

Diese «weiche Prostitution» breite sich in Teilen der Mittelklasse aus, stellen Eva Illouz und Dana Kaplan fest. Da sind die Klubs, in denen der internationale Jetset Partys feiert und wo nur Frauen unter 25 mit Modelmassen zugelassen werden. Die Nähe von Schönheit und Geld verspricht allen Prestige. Da sind die Edelrestaurants, in denen nur hübsche Kellnerinnen bedienen, weil in einer solchen Atmosphäre die männlichen Gäste ausgabefreudiger werden. Hübsche Kellnerinnen erhalten auch mehr Trinkgeld aufgrund ihres Aussehens.

Interessant ist dabei die Folgerung der Autorinnen: Heute bemühe man sich, die klassische Prostitution als reguläre Dienstleistung aufzuwerten – nicht jede Sexarbeiterin fühlt sich ausgebeutet. Umgekehrt würden unverdächtige Dienstleistungen sexualisiert, wie sich im Fall weiblicher Bedienungen zeige.

Nun sind gutes Aussehen und Sexyness aber nicht nur in bestimmten Berufen von Vorteil. Sondern schöne Menschen werden generell bei der Jobsuche bevorzugt, und sie verdienen mehr. Das ist wissenschaftlich erwiesen und kein neues Phänomen. Man kann dafür nicht die sexualisierte Gesellschaft verantwortlich machen. Was also ist mit dem neoliberalen sexuellen Kapital gemeint?

Laut Arbeitssoziologen verschwimmen im Neoliberalismus die Grenzen zwischen der Welt der Arbeit und den privaten Lebensbereichen. Man bringt sich in vielen Jobs mit seinem ganzen Wesen ein, stellt nicht mehr bloss seine Arbeitskraft zur Verfügung. Wenn nun die Sexualität ein so wichtiger Bestandteil der eigenen Identität geworden ist, so gilt als besonders arbeitsfähig, wer Sex positiv erlebt und sexuell voll entfaltet ist. In der New Economy gehen die zwei Dinge ineinander auf, die es laut Sigmund Freud zur psychischen Gesundheit braucht: lieben und arbeiten.

Für Sex braucht es allerdings keine Liebe, und deshalb ist auch Gelegenheitssex Teil des sexuellen Kapitals: Erfahrungen wie One-Night-Stands tragen zur Entspannung bei, steigern so das Ansehen und werden zum Wettbewerbsvorteil auf dem Arbeitsmarkt.

Eva Illouz und Dana Kaplan sagen selbst, dass ihre Thesen zunächst absurd erscheinen. «Schliesslich ist Sex immer noch etwas sehr Privates», schreiben sie. Auch ist man spätestens seit #MeToo sensibilisiert, so dass man die Themen Sexualität und Arbeitsplatz lieber nicht zusammendenkt. Die Autorinnen sind sich dessen bewusst. Es werde erwartet, «dass wir uns bei der Arbeit stets professionell verhalten und uns keinerlei Schlüpfrigkeiten oder Belästigungen zuschulden kommen lassen». Nur: Darum geht es ihnen nicht. Das sexuelle Kapital, wie sie es definieren, häuft man sich nicht an, um es zielgerichtet einzusetzen.

So kühn sie sind – Kaplans und Illouz' Überlegungen sind psychologisch durchaus plausibel. Sex steigert die Selbstachtung und damit das Selbstvertrauen, was sich in einem Auftreten äussert, als hätte man alles im Griff. Wer sich selber wertschätzt, wagt mehr, strebt nach mehr, probiert gerne aus. Alles Züge, die wiederum der neoliberalen Forderung zugutekommen, wonach jeder sein eigener Unternehmer ist.

Natürlich haben dennoch nicht alle gleichermassen Zugang zu sexuellem Kapital. Für die Autorinnen verläuft die Trennlinie eher zwischen den Klassen als zwischen den Geschlechtern. Man muss sich das Investment in sein sexuelles Profil leisten können. Hingegen gewinnen Frauen heute genauso Lust aus flüchtigen sexuellen Begegnungen und erleben Affären als selbstermächtigend. Es ist paradox: Das, was der Feminismus überwinden will, nämlich Sexyness und die Sexualisierung des Körpers, wird nun ökonomisch nützlich.

...


Aus: "Wer mehr Sex hat, macht den besseren Job" Birgit Schmid (22.10.2021)
Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/eva-illouz-und-dana-kaplan-schreiben-ueber-sexuelles-kapital-ld.1649816


Textaris(txt*bot)

#81

Zu: "OECD-Studie: Immer mehr Deutsche verlieren Anschluss an Mittelschicht" (1. Dezember 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-12/oecd-studie-mittelschicht-deutschland-abstieg-pandemie-bertelsmann


QuoteDr. Econ #41

Alle paar Monate kommt eine neue Studie, dass sich innerhalb der wohlhabenden, westlichen Leistungsgesellschaften die finanziellen und sozialen Ungleichgewichte bei Einkommen und Vermögen verstärken.

Und immer gibt es zwei vorhersehbare Reaktionen, ja fast Reflexe, die beide wie stumpfe Messer keinen Stich gegen das Problem haben:

1. Noch mehr davon. Mehr Konkurrenz, mehr Leistungsprinzip. Der Staat ist schuld, er soll weniger versuchen, die Ungleichgewichte abzumildern. Die Bürger sollen härter konkurrieren, mehr in ihr Humankapital investieren, um es dann später besser ausbeuten zu können.

Quintessenz: Die Religion verkündet die Wahrheit und bringt die Erlösung, du musst nur frommer werden und fester im Glauben. Umarme, lebe ihre Prinzipien - und so sollst auch du eines Tages ins Paradies geführt werden. Versprochen.

Das Problem ist nur: Auch die Nationen mit der niedrigsten Staatsquote und der konsequentesten Durchsetzung eines unerbittlichen Leistungsprinzips sehen Jahr um Jahr sich verschärfende soziale Umwuchten. Bis zu völlig entkoppelten Lebenswelten wo sich eine in Status, Selbstwert und wirtschaftlich völlig entkoppelte Mittelschicht nativistischen Populisten zuwendet - weil ihnen die Leistungsreligion sonst nichts mehr lässt, auch moralisch. Denn du bist ja selber schuld.

2. Wir brauchen mehr Sozialstaat. Mehr Almosen für die Armen und Abgehängten. Sonderrente, Sonderkindergeld, Sozialaufschlag, 50€ Bildungsgutscheine, sozialen Wohnungsbau etc.

Das Problem: Hier akzeptiert man schon, dass die Abgehängten abgehängt sind - man will es ihnen nur ein bisschen netter machen. Das hilft aber nicht dem Selbstwertgefühl. Das wahre Problem ist nicht die Umverteilung nach Almosenprinzip, sondern die Exklusivität der Leistungsgesellschaft.

Und daran rüttelt man nicht mit sozialem Wohnungsbau und Sondergeldern.

...

Wir müssen erst mal mit den Reflexen aus der Mottenkiste aufhören. Mit den vorbereiteten Antworten aus der jeweiligen ideologischen Schublade.

Und erkennen, dass weder "mehr davon", noch staatliche Alimentierung das Problem lösen. Wir haben beide Extreme in verschiedenen Nationen über Jahrzehnte ausprobiert aber sehen ähnliche strukturelle Entkopplungen und den Aufstieg des populistischen Nativismus.

Ich sehe in einer Zeit zunehmender Spreizung und Exklusivität die Leistungsreligion selbst als problematisch an.
Die Elite und die Mittelschicht kämpfen im Statuskampf mit ungleichen Waffen.

Das Versprechen des sozialen Aufstiegs durch Leistung ist daher bedroht.
Es galt am ehesten in der Phase der Nachkriegsjahre bis Ende der 70er - seitdem hat sich die wachsende Produktivität aller westlichen Volkswirtschaften von den Medianeinkommen immer weiter entkoppelt.

... Wir brauchen einen Kulturwandel: Wenn Karriereerfolg allein den sozialen Status bestimmt, der für viele aber immer öfter unerreichbar wird - die 60er sind vorbei - dann suchen sich die Leute ihr Selbstwertgefühl woanders. Deutsch zu sein, weiß zu sein, über den Zugewanderten zu stehen, einer wissenden Minderheit anzugehören, die die "wahren Pläne" der bösen Elite kennt, etc.
Das Problem wächst und wächst.

... Die Leistungsgesellschaft muss deutlich inklusiver werden. Muss immer lachen wenn die FDP von Chancengleichheit spricht: Echte Chancengleichheit wäre eine Revolution, die massivste Investitionen erfordern würd

Also kulturell abrüsten im Status-Wettkampf.

Das ist eine große Aufgabe und passt nicht zur derzeitigen Fetischisierung von Status, Erfolg und Berühmtheit auf Instagram, in Casting-Shows, in der Popkultur.

Und auch nicht zu den leeren Versprechen die wir schon unseren Kindern eintrichtern - du musst nur härter gegen die anderen konkurrieren, dann schaffst du den Aufstieg. Weil es nicht mehr so zutrifft wie vor 40, 50 Jahren und dann hast 95% die sich schuldig fühlen nicht genug getan zu haben obwohl sie in Wahrheit nie eine echte Chance hatten.

Oder anders gesagt: Endlich kapieren dass nicht alle Läufer eine Medaille bekommen, wenn alle 20% schneller laufen. Die Rangfolge bleibt gleich aber alle sind kaputter - auch die Gewinner. Nur gehts hier um mehr als nur einen Sprint. Um alles, die Identität, das Selbstwertgefühl, das Einkommen. Lebenslang.

Und dazu echte Chancengleichheit schaffen.

Was die FDP immer fordert aber eigentlich nicht wirklich zuende gedacht haben kann.

Denn das wäre ein gewaltiges Projekt, von dem ihre Wählerklientel definitiv nicht profitieren würde, sondern im Gegenteil.



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Textaris(txt*bot)

#82
... Die meisten gebildeten Menschen in großen russischen Städten haben jetzt eine ganz andere Vorstellung von der eigenen Subjektivität. Sie sind, wie Eva Illouz es nennt, individuelle emotionale Unternehmer. Ich bin das Produkt, ich muss mich verkaufen. ...

Quote[...] Zur Person - Polina Aronson aus Sankt Petersburg lebt seit 2008 in Berlin. Die Soziologin ist unter anderem Redakteurin bei Open Democracy. Auf Russisch erschien unter anderem das Buch Komplexe Gefühle: Sprachsuche der neuen Realität von Abuse bis Toxizität

Laura Graf: Warum ist die populäre Psychologie so wichtig in Russland?

Polina Aronson: Die Pop-Psychologie hat in Russland teilweise den Platz der Ideologie eingenommen. Sie ist zu einem Instrument für den Aufbau post-sowjetischer Subjektivität geworden und hat im gebildeten städtischen Milieu die Regeln für die Selbstentwicklung etabliert.

Was beobachten Sie bei diesen Debatten über das Verhältnis der Einzelnen zur Gesellschaft?

Polina Aronson: Es gibt bei den Leuten ein Gefühl, nicht über die Sprache zu verfügen, um mit den Machthabenden zu diskutieren. Die russischen Soziologen Nikolai Wachtin und Boris Firsow haben das als Syndrom des öffentlichen Schweigens bezeichnet, also das Ausbleiben von öffentlichem Diskurs in der Sowjetunion und auch im postsowjetischen Russland. Die Menschen haben leider nie gelernt, miteinander zu debattieren und die Macht zu adressieren. In den letzten zehn Jahren gab es immer weniger die Möglichkeit dazu. Dazu kommen die brutale neoliberale Wirtschaft und ein gnadenloser Arbeitsmarkt. Das Einzige, was den Staatsbürgern blieb, war das Selbst. So sind Selbstoptimierung und der Versuch, die eigenen Gefühle irgendwie zu sortieren, dieses ganz klassisch Neoliberale, in Russland sehr stark etabliert.

Welche Antworten liefert die Pop-Psychologie darauf?

Polina Aronson: Das hat sich in den letzten 20 Jahren dahin entwickelt, dass es inzwischen als quasi pathologisch gilt, etwas von der Welt zu erwarten. Es heißt: Sorge für dich, du musst so viele Ressourcen akkumulieren, bis du ein fast komplett wasserdichtes Leben hast. Wo nur du existierst und vielleicht noch deine Familie.

... Die meisten gebildeten Menschen in großen russischen Städten haben jetzt eine ganz andere Vorstellung von der eigenen Subjektivität. Sie sind, wie Eva Illouz es nennt, individuelle emotionale Unternehmer. Ich bin das Produkt, ich muss mich verkaufen. Wenn es mir schlecht geht, kann ich mich nicht investieren. Ich muss auf mich aufpassen, ich muss erfolgreich sein. Und hier ist wirklich Schluss mit dem Geplapper von der russischen Seele. Das ist wirklich sehr pragmatisch, sehr kapitalistisch. Die Kapazität zum Leiden ist minimal. Ich lasse nichts und niemanden an mich, was oder der mir irgendwelche Unannehmlichkeiten verursacht. Das traumatisiert mich sofort.

...



Aus: ",,Schluss mit dem Geplapper von der russischen Seele"" Laura Graf (28.05.2022)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-soziologin-polina-aronson-widerlegt-klischees-von-aufopferung-und-heroismus

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... Die Gespräche zwischen den Dreien drehen sich vor allem ums Geschäft. ...

Quote[...] Susanne Regina Meures folgt in ,,Girl Gang" einer Influencerin. ...

Die Frage, was ein gutes Leben ausmacht, hat über die Denkgeschichte hinweg ganz unterschiedliche Antworten zutage gefördert – ohne einen universal anzuerkennenden Lösungsansatz hervorzubringen. Wohl auch deswegen, weil das damit verbundene Glück eine sehr subjektive Angelegenheit und somit nicht allgemeingültig definierbar ist.

Die Welt, in die ,,Girl Gang" eintaucht, vermittelt einen konträren Eindruck. In ihr scheint sich durchaus bemessen zu lassen, wie gut ein Leben ist. Glück kann offenbar in numerische Werte übersetzt werden. Die Quantifizierung eines Daseins ist eigentlich die angestammte Sphäre der Dystopie. Man denke nur an literarische Klassiker wie Aldous Huxleys ,,Schöne neue Welt" oder Sci-Fi-Filme wie ,,Gattaca".

Susanne Regina Meures (,,Raving Iran") aber hat einen Dokumentarfilm gedreht. Er erkundet den Influencer-Kosmos und seine Spielregeln. Die besagen, dass wer besonders authentisch wirkt, die größte Community hinter sich versammeln kann. Authentizität, das wird schnell klar, ist ein Trugbild. Tatsächlich belohnt wird, wer besonders viel Aufwand in die authentisch anmutende Aufführung eines Lebens steckt, das ausnahmslos glücklich erscheint.

Wobei hier unter Glück eine recht schale Perfektion zu verstehen ist. Im Hinblick auf die Erfüllung von aktuellen beauty standards, etwa eine angesagte Garderobe, und eine aufregende Freizeitgestaltung. Je gekonnter diese zum Glück nach hedonistisch-konsumistischen Maßstäben uminterpretierte Makellosigkeit in den sozialen Medien präsentiert wird, desto mehr Menschen scheinen daran teilhaben zu wollen. Like- und Follower-Zahlen fungieren als eine Art Anzeiger für ein gutes Leben.

Über drei Jahre hinweg hat die Regisseurin die zu Beginn 14-jährige Leonie aus Berlin, im Netz als ,,Leoobalys" bekannt, mit der Kamera begleitet. Auf Tiktok und Instagram folgen ihren Accounts mittlerweile über 1,5 Millionen Menschen. Nach der Logik der Influencer-Welt muss Leonie also eine überaus seltene Erscheinung sein: eine Pubertierende, die richtig glücklich ist.

Dass dem so ist, davon ist die zum Start der Dreharbeiten 13-jährige Melanie aus Bayern überzeugt. ,,Leos Leben ist einfach perfekt", sagt sie als eine weitere Protagonistin des Films, die Meures über den gleichen Zeitraum begleitete. Sie zählt sich zu den größten Bewunderinnen von Leonie, betreibt sogar einen Fan-Account, der der nur unwesentlich älteren Influencerin gewidmet ist. Bis zu 17 Stunden verbringt sie täglich am Handy, um nichts von ihrem Idol zu verpassen und Inhalte zu produzieren, die sich um ,,Leoobalys" drehen.

Während der etwa anderthalbstündigen Spielzeit zeigt sich allerdings, mit wie vielen Entbehrungen Leonies Alltag verbunden ist, wie viel Zeit und Planung es wirklich braucht, um ,,Content" zu kreieren. Und wie wenig Platz für Freunde bleibt, wie wenig Raum solchen Aktivitäten vorbehalten ist, denen sie nur nachgeht, um Spaß daran zu haben – ohne dabei ,,instagrammable" zu wirken, ohne dass alles um sie herum zur Kulisse für ihre Social-Media-Erzählung wird.

Da überrascht es kaum, dass die Jugendliche in den meisten Sequenzen des Dokumentarfilms gestresst, gereizt, mitunter sogar zornig wirkt. Meures zeigt sie hauptsächlich mit ihren Eltern, Andreas und Sani, die das Management ihrer Tochter übernommen haben. Die Gespräche zwischen den Dreien drehen sich vor allem ums Geschäft. Ständig wird die Jugendliche ermahnt, dass sie sich noch um einen Post für Auftraggeber XY – darunter Kosmetikhersteller, Schuh- und Bekleidungsmarken sowie eine Fastfood-Kette – kümmern müsse.

,,Girl Gang" arbeitet mit Kommentaren aus dem Off, in denen die Eltern in verschiedenen Kontexten beteuern, dass sie der Tochter bei der Verwirklichung ihres Traums helfen wollen. Der Eindruck, dass es in erster Linie darum geht, möglichst viel Geld mit Werbepartnerschaften zu verdienen – durchaus auch um Leonies Zukunft zu sichern –, stellt sich dennoch ein. Dass Leonie von mehr träumen könnte als einem diffusen Gefühl von Ruhm, hingegen nicht. Eine Botschaft, jenseits von Kaufempfehlungen, vermittelt sie auf ihren Kanälen jedenfalls kaum.

Würde Meures eine bloße Randerscheinung betrachten, könnte man ,,Girl Gang" mit einem gewissen Erstaunen über ein skurriles, abseitiges Phänomen folgen. Leonie ist aber nur eine von vielen ihrer Art, die Zusammenarbeit mit Influencern längst zu einer der beliebtesten Werbeformen avanciert, insbesondere für sogenannte ,,Lifestyle-Marken".

So ermöglicht der Dokumentarfilm einen seltenen Einblick in die Abläufe einer Welt, die Ausdruck eines neoliberalen Zeitgeistes ist. In eine Welt, in der er auf die Spitze getrieben wird, sich quasi in Reinform präsentiert. Schließlich leben Influencer davon, sich im Alltag nahezu lückenlos in einer Weise zu verhalten, die ihren Marktwert – ausgedrückt in Follower- und Like-Zahlen – steigert. Damit wird beinahe jeder Bereich des eigenen Lebens ökonomischer Verwertbarkeit untergeordnet.

,,Girl Gang" ist daher nicht nur ein aufschlussreicher, sondern auch ein bestürzender Film. Gerade in Szenen, die verdeutlichen, welche Begeisterungsstürme Influencer wie Leonie, die letztlich nicht viel mehr als Werbung und damit einhergehende Aufforderungen zur Selbstoptimierung anzubieten haben, auslösen können. Einmal ist die Jugendliche bei einem Auftritt in einem Einkaufszentrum zu sehen. Die Menge kreischender, in Tränen aufgelöster junger Fans droht allein durch ihren Anblick außer Kontrolle zu geraten. Die religiös anmutenden Choräle, mit denen der Film unterlegt ist und die zu Beginn deplatziert wirken, ergeben plötzlich Sinn.


Aus: "Doku ,,Girl Gang" über junge In­flu­en­ce­r*in­nen: Leben für die Vermarktbarkeit" Arabella Wintermayr (19. 10. 2022)
Quelle: https://taz.de/Doku-Girl-Gang-ueber-junge-Influencerinnen/!5885618/


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Quote[...] Unbestreitbar schreibt sich neoliberales Denken in sämtliche Facetten unseres Lebens ein, gleichgültig, ob wir uns dessen bewusst sind oder es ablehnen. Patrick Schreiner untersucht in seinem aufschlussreichen Buch ,,Unterwerfung als Freiheit. Leben im Neoliberalismus" nicht den Neoliberalismus als wirtschafts- und gesellschaftspolitische Strömung, sondern seine alltäglichen Mechanismen, ,,durch die die Menschen diese Ansätze und Ideen als gut, als angemessen und als alternativlos kennenlernen" (S. 8). Die verheerenden sozialen und materiellen Folgen des Neoliberalismus für die arbeitende Bevölkerung sind dem Autor bewusst. Das Buch verfolgt hingegen das Ziel, neoliberale Ideologie und Herrschaft zu analysieren, indem die Untersuchung den Schwerpunkt auf die Entstehung neoliberaler Subjekte legt.

Der Begriff Neoliberalismus ist vielen vertraut, dennoch bleibt häufig unklar, welche Bedeutung sich dahinter genau verbirgt. Der Autor bietet einen grundlegenden Einstieg, indem er den Neoliberalismus allgemein betrachtet und definiert sowie seine historische Entwicklung darstellt. Dabei wird einerseits die Ideengeschichte mit zentralen Vordenkern und zum anderen die Um- und Durchsetzung mit ihren zentralen Entwicklungsschritten beschrieben.

Nach der Betrachtung der Pinochet-Diktatur in Chile zwischen 1973 und 1988, die zentral für die Durchsetzung des Neoliberalismus insgesamt war, räumt Schreiner mit einigen Mythen auf. Von einem schwachen Staat und gesellschaftlicher Freiheit, die oft mit dem Neoliberalismus in Verbindung gebracht werden, könne in der Militärdiktatur keine Rede sein. Der Neoliberalismus ist autoritär und repressiv in der Aufrechterhaltung und Durchsetzung der Marktordnung, was nicht zuletzt in linken und gewerkschaftlichen Kämpfen zu spüren ist.

Ein weiterer historischer Meilenstein des Neoliberalismus ist zugleich ein trauriger Tiefpunkt der Sozialdemokratie. Seit den 1990er und 2000er Jahren sind sozialdemokratische Parteien in den westlichen Industriestaaten federführend bei der Umsetzung neoliberaler Reformen. ,,Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen" (S. 16), sagte beispielsweise nicht der Posterboy der neoliberalen Vorzeigepartei, sondern der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder im Bundestag 2003. Die SPD verabschiedet sich abschliessend von den letzten Resten ihrer linken Vergangenheit und verbleibt so bis heute.

Als Kern neoliberalen Denkens arbeitet der Autor idealisierte Vorstellungen von freien Märkten heraus, die nicht nur in Wirtschaft und Politik Einzug finden, sondern auch auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen werden. Unser gesellschaftliches Zusammenleben wird dadurch vielfach nach diesen Prinzipien strukturiert. Marktkonformes Verhalten zeige sich hierbei in der Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen, der Unterwerfung unter die Regeln des Marktes, dem aktiven Streben nach Erfolg und der Anpassungswilligkeit an immer neue Bedingungen. Für die einzelnen Subjekte ergibt sich dabei ein Dreischritt aus Selbstanalyse, Selbstoptimierung und Selbstdarstellung. Dass man bei diesen Schlagworten unweigerlich an Instagram und McFit denkt, verwundert nicht, denn Schreiner sieht darin Vehikel neoliberalen Denkens.

Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich mit solchen gesellschaftlichen Orten, an denen neoliberale Moral vermittelt und eingeübt wird. Einer der untersuchten Bereiche ist der Sport. Mit Blick auf die lange Tradition von Arbeiter*innensportvereinen wird deutlich, dass nicht alle Lebensbereiche per se neoliberal sind. Vorstellungen von Wettbewerb, individueller Leistung und attraktiven Körpern machen den Sport aber wie auch andere Bereiche oft anschlussfähig an neoliberales Denken. Gleiches gilt auch für verschiedene TV-Formate, in denen die Teilnehmer*innen um das Wohlwollen der Jury oder des Publikums ringen. Ziel ist die Selbstoptimierung und Unterwerfung unter die vorgegebenen Regeln, die oft proaktiv und reibungslos internalisiert werden. Kritisches Denken hat dabei weder im noch vor dem Fernseher Platz.

Der Blick auf Ratgeberliteratur und Esoterik macht deutlich, wie gesellschaftliche Fehlentwicklungen als individuelle Probleme dargestellt werden, die durch eine ,,positive Einstellung zu sich selbst" oder den Kauf der ,,richtigen" Produkte gelöst werden können. Dabei entstehen oft ganze Wirtschaftszweige, in denen viel Geld steckt. Eine wirkliche und ehrliche Auseinandersetzung mit den Problemen der Menschen sucht man hier jedoch vergeblich.

Der asketische Lebensstil einer ,,protestantischen Ethik", den Max Weber noch als zentrale Entstehungsbedingung des Kapitalismus beschrieb, hat sich spätestens in der Nachkriegszeit grundlegend gewandelt. Seither ist der Konsum zentraler Bestandteil und Motor des Kapitalismus, insbesondere in seiner neoliberalen Ausprägung. Auch Schreiner geht auf diesen zentralen Bestandteil des heutigen Lebens ein. Konsum dient dabei oft nicht der Befriedigung von Grundbedürfnissen. Vielmehr wird ein bestimmter ,,Lifestyle" angestrebt und inszeniert. Die Abgrenzung von den unteren Klassen durch Konsum war schon vor dem Neoliberalismus üblich, nun geht es auch um scheinbaren Individualismus, indem man sich innerhalb der eigenen Gruppe versucht, von den anderen abzuheben.

Insgesamt überzeugt die Argumentation des Autors, wobei die zahlreichen Praxisbeispiele einen anschaulichen Zugang bieten. Hierbei zeigt sich allerdings auch, dass das Buch schon einige Jahre alt ist und die jüngsten Entwicklungen der Pop-Kultur nicht berücksichtigt. Inzwischen ist nicht mehr der Fernseher das hiesige Leitmedium, sondern Netflix und TikTok. Die beschriebenen Mechanismen bleiben nichtsdestotrotz wirkmächtig.

Das Ausgreifen der Marktlogik auf neue Bereiche, wie den Gesundheits- und Bildungssektor, spüren wir bereits deutlich. Demgegenüber ist in den letzten Jahren auch eine Zunahme des Widerstands zu beobachten. Neben Streiks in Krankenhäusern und gewerkschaftlicher Organisierung an Universitäten gibt es starke und breite Initiativen gegen den privatisierten und enthemmten Wohnungsmarkt. Eine schlagkräftige Gegenstrategie gegen die Einübung neoliberalen Denkens ist hingegen bisher nicht zu beobachten.

Während Teile der Linken versuchen, sich in Landkommunen den Marktlogiken zu entziehen, geben sich andere den neoliberalen Angeboten hemmungslos hin. Neoliberale Herrschaft stellt uns vor ein Dilemma: Sie funktioniert oft nicht durch Zwang, sondern durch die Zustimmung des Einzelnen. Sie schafft Angebote, die viele Menschen mit relativer Zufriedenheit annehmen. ,,Freiheit" im Neoliberalismus bleibt ambivalent. Als negative Freiheit gedacht beschreibt sie die Freiheit vor staatlichen Eingriffen. Unterschlagen wird bei dieser Vorstellung die stetige abverlangte Unterwerfung unter die neoliberalen Marktmechanismen und entsprechenden Vorstellungen von Gesellschaft.

Wirkliche Freiheit ist das nicht, aber auch keine direkt erfahrbare Unfreiheit. Hier liegt die Schwierigkeit eines linken Auswegs, den auch der Autor nicht anbieten kann. Auch wenn die linke Strategieentwicklung noch einiges an Wegstrecke vor sich hat, ist mit den Einsichten durch Schreiners Band zumindest ein erster Schritt getan.

Patrick Schreiner: Unterwerfung als Freiheit. Leben im Neoliberalismus. PapyRossa Verlag, Köln 2020. 133 Seiten. ca. SFr. 16.00. ISBN: 978-3-89438-573-6.


Aus: "Unterwerfung als Freiheit – Dein Weg zur Knechtschaft" Untergrund-Blättle (17.01.24)
Quelle: https://www.pressenza.com/de/2024/01/unterwerfung-als-freiheit-dein-weg-zur-knechtschaft/

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Quote[...] Junge Frauen sollten ältere Männer kennenlernen, wohlhabende Männer. Das stärkere Geschlecht müsse Geld haben, sonst seien sie zu vernachlässigende "Staubkörner", mit denen man nicht seine Zeit verschwenden solle.

Auf Social Media macht sich gerade eine starke Bewegung breit: Jungen Frauen werden Ratschläge geben, wie man heute als Frau am besten leben könne. Als "Tradwife", also "traditionell wife", solle man es sich zu Hause gutgehen lassen. DIe "Housewife" der 1950er-Jahre sei "aus der Mode", wie es beispielsweise die Influencerin und selbsternannte "Finanzberaterin" SheraSeven beschreibt. Küche putzen und andere Haushaltstätigkeiten – dafür sei Personal anzustellen. Wenn es der Mann ernst meine, dann würde er dafür zahlen.

... Immer wieder betont die Influencerin, dass es ihr nicht um Tipps für "echte Beziehungen, die nicht auf Geld basieren", gehe. Jede Beziehung würde auf Macht beruhen. Man müsse sich aussuchen, auf welcher Seite dieser Macht man als Frau stehen möchte.

... Eine der bekanntesten im deutschsprachigen Bereich ist Malischka. Die Deutsch-Ukrainerin lebt mit ihrem Mann auf Mallorca und lässt regelmäßig in ihren Alltag blicken. Mit Blick aufs Meer bereitet sie ihm meist das Frühstück vor, bevor sie sich dem Haushalt widmet. Dann ist "meist schon Mittagszeit". Nach dem Kochen trinkt sie selbst einen Kaffee, während sie auf das Meer blickt und überlegt, ob sie nicht noch etwas "backen soll". Eine Million Likes hat Malischka mit solchen Videos bereits sammeln können. (red, 14.8.2023)

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Aus: "Männer ohne Geld sind vernachlässigbare "Staubkörner"" (14. August 2023)
Quelle: https://www.derstandard.de/story/3000000182864/maenner-ohne-geld-sind-staubkoerner

QuoteFrau Bärt

Diese Frauen finde ich genauso verachtenswert wie die Männer, für die eine Frau eine Trophäe sein muss. Damit tun sie jungen Frauen, die erst ihren Platz im Leben suchen, keinen Gefallen.


QuoteAdrian -S

Tja, ich frag mich nur, was diese geldgeilen jungen Ladies machen, wenn sie selbst mal in die Jahre kommen und mit der jüngeren Konkurrenz nimmer mithalten können und keinen Sugar-Daddy mehr abbekommen. Aber bis dahin haben sie finanziell wohl eh schon ausgesorgt und können sich dann einen jungen Toy-Boy leisten, der sie für Geld bumst! ;-)


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Quote[...] Die inoffizielle Anführerin [des ...] neuen [Sugar-Daddy] Kults heißt Leticia Padua. Die sogenannte sprinkle sprinkle lady beendet ihre Ratschläge stets mit ebendiesem Ausspruch. Unter dem Künstlernamen Shera Seven veröffentlicht die 45-jährige ehemalige Bestatterin seit rund zehn Jahren auf YouTube Videos zur "Finanzberatung" junger Frauen. Sie bewirbt das Konzept des Mannes als Versorger, aus dem Frauen herausholen sollten, was sie können, um sich selbst voranzubringen. Zulässige Mittel, um seine "finanzielle Großzügigkeit" zu steigern, seien das Vortäuschen von Zuneigung, umgekehrte Psychologie und Manipulation. Männer, die nicht zu zahlen bereit sind oder Frauen anderweitig schlecht behandeln, nennt Padua "Dusty", also "Staubiger". Sie seien aus Gründen des Selbstwertes unverzüglich zu verlassen.

Das alles hätte ebenso gut und genau wie die Jahre zuvor unbeachtetes Gerede im Internet bleiben können, wären da nicht Ausschnitte der stundenlangen Livestreams von der sprinkle sprinkle lady zuletzt auf TikTok geteilt worden. Seither gilt Padua als weibliches Pendant zu Andrew Tate, dem Online-Guru, der mit Frauenverachtung bekannt wurde. Paduas Gefolgschaft wäre dann die Antwort auf die mit Tate assoziierte Manosphere, eine lose Online-Gemeinschaft, die den Feminismus verachtet und hegemoniale Männlichkeit predigt.

Die von Padua angeleitete Gegenbewegung fügt sich in eine größere, vom Pop-Feminismus seit einiger Zeit bemühte Erzählung ein, die es als anerkannten und erstrebenswerten Lebensentwurf zelebriert, sich von einem Mann aushalten zu lassen. Genau so soll der vom Kapitalismus gleichermaßen erschöpfte und verblendete Traum dieser Frauen aussehen: ein schönes kleines Spiel, das mittlerweile, weil Einflusshaben zum Berufsbild des Influencers gehört, auch in die Gegenwartskultur eingesickert ist. Insbesondere Künstlerinnen erzählten zuletzt die Geschichten junger Frauen, die sich mit einem reichen Mann auch einen luxuriösen Lebensstil besorgten: Emma Seligman in ihrem Film Shiva Baby oder Coco Mellors und Emma Cline in ihren Romanen Cleopatra und Frankenstein und Die Einladung. Sie alle wurden von der jungen, weiblichen Internetgeneration gefeiert.

[...] Bei [ ] Frauen hat sich [ ] ein anderes Selbstverständnis entwickelt: Sie verharren nicht mehr aus Angst vor sozialem Abstieg in unglücklichen Partnerschaften, sondern sie empowern sich, jeden Mann, der ihrer persönlichen Entwicklung nicht dienlich ist, "wegzuwerfen". Dieser sogenannte Dump-him-Feminismus (namensgebend waren die Paparazzi-Bilder von Britney Spears, die 2002 nach ihrer Trennung von Justin Timberlake ein T-Shirt mit der Aufschrift "Dump him" trug) fordert Frauen auf, ihre Standards zu heben, ihre sexuelle Macht zum eigenen Vorteil zu nutzen und sich für ihr Leiden im Patriarchat finanziell entschädigen zu lassen.

Das ist die Abkehr vom neoliberalen Feminismus, der die Glasdecken durch immer härtere Arbeit durchbrechen wollte, um bei den Männern "mitzuspielen", und der auf diese Weise patriarchale Herrschaftsstrukturen anerkannte. Solche Phantasmen der Gleichberechtigung wurden in den vergangenen Jahrzehnten hinlänglich erprobt. Nun haben die sprinkle sprinkle-Frauen die für sie darin vorgesehene Vielfachbelastung als Zumutung erkannt und verweigern sich ihr. Was regressiv anmutet, ist die Emanzipation von einem männlichen Ideal: Bislang richteten sich alle Bemühungen der "Frauenbefreiung" auf die bestehenden Lebensrealitäten und auf die Rechte der Männer. Doch nun wird die Tatsache, dass Frauen sich männliche Pflichten auferlegten – Lohnarbeit im Spätkapitalismus –, hinterfragt und abgelehnt. Und so wird der Umstand, dass Männer bereit sind, für den Zugang zu weiblichen Körpern oder auch nur für die Illusion ihrer Gesellschaft zu bezahlen, mit zynischer Geringschätzung und in anarchokapitalistischer Manier ausgebeutet. Zwischenmenschliche Beziehungen existieren dabei nur noch als Verfallsform. In einem unfreien System ist die einzig wahre Freiheit der freiwillige Ausstieg. Und die einzig wahre Liebe ist die Selbstliebe.


Aus: "Himmel, was ist Sugardating?" Berit Dießelkämper (23. März 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/2024/13/dating-geld-sugardating-feminismus-kapitalismus-liebe