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[Thanatos (Todestrieb Notizen) ... ]

Started by Textaris(txt*bot), June 15, 2006, 09:46:23 AM

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Textaris(txt*bot)

QuoteMit dem Todestrieb oder Thanatos führte Sigmund Freud einen seiner umstrittensten Begriffe in die psychoanalytische Literatur ein, der die destruktive Aggressivität des Menschen bezeichnet, der sich gegen diesen selbst richtet.

Als Namensgeber fungierte dabei der Todesgott Thanatos der griechischen Mythologie.

Im ,,psychischen Apparat" der Psychoanalyse handelt es sich – gemeinsam mit dem Destruktionstrieb – um einen dem Lustprinzip, der Libido, entgegengesetzten Trieb. Die Störung des Gleichgewichts dieser Triebe führt zu psychischer Erkrankung.

Der Todestrieb steht dem Lebenstrieb entgegen und hat die Auflösung bzw. Zurückführung des Lebens in den anorganischen Zustand und somit dessen Vernichtung zum Ziel. Destruktivität, Aggression oder Lust am Zerstören und Vernichten sind folglich Äußerungsformen des Todestriebs. Seine psychische Energie bzw. Antriebskraft wird als Destrudo bezeichnet. Sie ist entweder in Form von Selbsthass und Selbstvernichtung nach innen, also gegen die eigene Person gerichtet, oder sie wendet sich als Aggression, Hass, Zerstörungs- oder Vernichtungswille nach außen, also gegen andere Personen, -gruppen und/oder Gegenstände.


Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Todestrieb (06/2006)

-.-

Quote[...] Tübingen, 14. Juni 2006. Mehr als zehntausend Menschen bringen sich in Deutschland Jahr für Jahr um ihr Leben. Damit liegt die Zahl der Selbsttötungen nahezu doppelt so hoch wie die der im Straßenverkehr zu Tode gekommenen Menschen.

[...] Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Menschen dank des medizinischen Fortschritts immer älter werden, scheinen immer mehr von ihnen dies nicht als Segen sondern als Last zu empfinden, die sie nicht mehr zu tragen vermögen. Carola Schnurr: ,,Von 10.733 Suizidtoten in Deutschland im Jahr 2004 waren 4.490 60 Jahre und älter, das entspricht rund 42 Prozent aller Selbsttötungen." Zum Vergleich: Dieselbe Bevölkerungsgruppe stellt mit rund 20,5 Millionen Menschen lediglich ein knappes Viertel der Gesamtbevölkerung (82,5 Millionen) in Deutschland.
Damit liegt die Selbsttötungsrate bei den Senioren mehr als doppelt so hoch wie beim Rest der Bevölkerung.


Aus: "Immer mehr ältere Menschen nehmen sich das Leben" (Veröffentlicht auf openPR am: 14.06.2006)
Quelle: http://openpr.de/news/90169.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Die Augsburger Staatsanwaltschaft ermittelt einem Medienbericht zufolge gegen acht zum Teil ehemalige Beschäftigte des Roten Kreuzes im Landkreis Augsburg.

Die Mitarbeiter sollen sich in den Jahren 2002 und 2003 mehrfach gegenseitig Beruhigungsmittel in Überdosis gespritzt haben, um todesähnliche ,,Grenzerfahrungen" zu machen, wie die Augsburger Allgemeine berichtete.


Aus: "Augsburg: Todesspiele beim Roten Kreuz" (03.06.2007)
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/,tt6m4/bayern/artikel/860/116744/

Textaris(txt*bot)

Quote[...] In Japan verabreden sich immer wieder Menschen über das Internet, um kollektiv Selbstmord zu begehen. Das Land hat weltweit eine der höchsten Selbstmordraten. Von den über 30.000 Menschen, die sich 2006 selbst umgebracht haben, sollen sich dafür knapp über 100 im Internet mit Gleichgesinnten verabredet haben. Seit 2005 kontrolliert die japanische Polizei solche Webseiten. Wenn dort über Möglichkeiten informiert wird, wie man Selbstmord begehen kann, und Mittel zum Selbstmord angeboten werden, nehmen die Internetprovider sie vom Netz.


Aus: "Yahoo Japan versucht, Internetnutzer von Selbstmordabsichten abzubringen" (02.12.2007)
Quelle: http://www.heise.de/newsticker/meldung/99876

Textaris(txt*bot)

Quote[...] "Es muss ein ganzes Bündel von Gründen sein", sagt Torsten Wittke, Leiter des Rauschgiftdezernats vom Bayerischen Landeskriminalamt.



Aus: " Bayerns Polizei rätselt über starken Anstieg der Zahl der Drogentoten" - 36 Opfer mehr als im Vorjahr. Experten beklagen mangelnde Chancen ehemals Abhängiger am Arbeitsmarkt (2. Dezember 2007)
Quelle: http://www.welt.de/wams_print/article1421362/Bayerns_Polizei_rtselt_ber_starken_Anstieg_der_Zahl_der_Drogentoten.html


Textaris(txt*bot)

Quote[...] In den nackten Zahlen des Statistischen Bundesamtes bietet sich jedenfalls folgendes Bild: 2006 fielen 9.765 Todesfälle in die Kategorie "vorsätzliche Selbstbeschädigung", wie der Suizid amtlich heißt. Betroffen waren 7.225 Männer und 2.540 Frauen. Insgesamt führt der Selbstmord fast doppelt so häufig zum Tod wie ein Verkehrsunfall: Dort wurden 5.339 Fälle gezählt.

Allerdings ist jede Statistik zwangsläufig ungenau, kommen doch auf einen Suizid noch ungefähr zehn gescheiterte Selbstmordversuche. Jeder dürfte sich schon einmal ausgemalt haben, wie es wäre, sich umzubringen, manche nur spielerisch, andere ernsthaft.

Lange war Selbstmord ein Tabu, doch nun beginnt es sich auszuzahlen, dass die Gesellschaft einen pragmatisch-medizinischen Umgang damit sucht. Die Zahl der erfolgreichen Suizide geht zurück - 1980 brachten sich noch fast doppelt so viele Menschen in Deutschland um. Manche Präventionsstrategien waren simpel: Haushaltsgas ist inzwischen giftfrei, und in Überdosis tödliche Medikamente werden nur noch in Minipackungen verschrieben. Außerdem wurde die psychologische Betreuung deutlich besser: Krisentelefone stehen rund um die Uhr bereit, und Depressionen werden als Krankheit ernster genommen.

Für Medien nie leicht einzugestehen: Auch sie mussten ihre Rolle überdenken. Wurde früher noch jeder Selbstmord gemeldet, gilt nun eine Art Selbstverpflichtung, weitgehendes Stillschweigen zu bewahren, um keine Nachahmertaten zu provozieren. Insofern ist dieser Text also ein gewisser Selbstwiderspruch - und nur zu rechtfertigen, weil der Tod eines Konzernlenkers mit 100.000 Beschäftigten sowieso ein Politikum ist.

...

Quote

08.01.2009 11:56 Uhr:
Von Lars:

Es gibt weitaus interessantere Fälle von Hartz 4 Empfängern, die Suizid begehen weil sie von dem wenigen Geld sich und ihre Familie nicht ernähren können.

Es gibt weitaus interessantere Fälle von Flüchtlingen, die sich in deutschen Abschiebeknästen das Leben nehmen aus Angst vor wiederkehrender Folter in ihren Heimatländern.

Es gibt weitaus interessantere Fälle von drangsalierten Jugendlichen, die von Hochhäusern springen weil die Gesellschaft ihr Anderssein nicht akzeptiert weil sie ihr gefestigtes Bild eines normalen Jugendlichen hat.


Quote

08.01.2009 11:44 Uhr:
Von Amos:

Jeder nach seinem Geschmack: Der eine 'gibt sich
die Kugel'- Merckle hat eben den Zug genommen.


Quote

08.01.2009 11:16 Uhr:
Von René Artois:

Wie auch immer: Bahnselbstmörder sind höchst asoziale Zeitgenossen, denn sie stürzen die von ihnen instrumentalisierten Triebfahrzeugführer in tiefe seelische Krisen, über die viele ihr Leben lang nicht mehr hinwegkommen.


Quote08.01.2009 07:51 Uhr:
Von Bernhard:

So tragisch der Fall für die Angehörigen sein mag- ganz der Brachialunternehmer, der er war, ließ Merckle selbst in seiner letzten Stunde noch die anderen den Dreck wegräumen. Und die sollen mit den psychischen Folgen schauen, wo sie bleiben. Sehr bezeichnend.





Aus: "Die Rolle von Suizid in der Gesellschaft - Selbstmord als letzte Waffe" VON ULRIKE HERRMANN (07.01.2009)
Quelle: http://www.taz.de/1/leben/alltag/artikel/1/selbstmord-als-letzte-waffe/


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Die Serie von Selbstmorden unter Mitarbeitern des französischen Telekommunikationskonzern France Telecom reißt nicht ab. Ein 51 Jahre alter Beschäftigter eines Callcenters stürzte sich am Montag bei Annecy von einer Brücke in den Tod. In einem Abschiedsbrief habe der Familienvater das Arbeitsklima in dem Konzern als Motiv für die Tat genannt, berichtete der französische Radiosender France Info. Nach Gewerkschaftsangaben nahmen sich in den vergangenen eineinhalb Jahren 24 Beschäftigte des Konzerns das Leben.

Die Arbeitnehmervertreter gehen davon aus, dass ein Teil der Selbstmorde direkt auf die Arbeitsbedingungen und den Konzernumbau zurückzuführen ist. In den vergangenen Jahren wurden 22.000 Stellen gestrichen und 7000 Mitarbeiter versetzt. Sogar die Regierung schaltete sich schon ein. Sie forderte die Unternehmensleitung zum Dialog mit den Mitarbeitern auf. Künftig sollen die Betriebsärzte – soweit es die Schweigepflicht erlaubt – psychisch labile Mitarbeiter melden. (dpa) /  (anw/c't) 

Quote29. September 2009 10:07
Aha.....
BOFH (951 Beiträge seit 07.01.00)

...
>>Künftig sollen die Betriebsärzte – soweit es die Schweigepflicht
erlaubt – psychisch labile Mitarbeiter melden.<<

... damit man die noch schnell kuendigt, bevor sie zur Bruecke gehen.
Dann is es nur ein arbeitsloser Selbstmoerder.
Schon klar.


Quote29. September 2009 10:41
@heise: ihr seid peinlich. Ich erwarte hier wirklcih mehr als Bildzeitungsniveau
Elegon (288 Beiträge seit 28.11.00)

Statistisch gesehen müsste es korrekt heissen:
Selbstmorde in Frankreich immernoch auf gleichhohem Niveau wie in den
vergangenen Jahren.

Aber das hätte ja keinen interessiert.

> http://www.heise.de/newsticker/foren/S-Normal-Nur-23-Tote-auf-187-000-Mitarbeiter/forum-165701/msg-17361123/read/

Peinlich, ich schäme mich für euch.


Quote29. September 2009 11:14
Im Callcenter zu landen, hat ja eine Vorgeschichte
squuq (799 Beiträge seit 15.02.04)

Im Callcenter zu landen (ich stelle das mal als den Job in
Unternehmen hin, auf den man nicht hinarbeitet) hat ja eine
Vorgeschichte. Ich meine Callcenter als endgültige Arbeitsstätte,
nicht Studijob.
Die ist oft sogar relativ leicht einzuordnen. Ansätze: Man hat gar
keine Ahnung, man kann von vielem ein bißchen, man kann etwas, weiß
aber nicht, wo man hingehört, man kann sich nicht durchsetzen, man
beherrscht "Politik und Umgang" nicht... Es gibt viele Faktoren, die
einen da landen lassen.

Lösung: Daran arbeiten! Erkennen, dass man selbst etwas mit dem
eigenen Schicksal zu tun hat, nicht nur andere.

Quote29. September 2009 11:52
Re: Ja so wie die Telekom Techniker
bnash (mehr als 1000 Beiträge seit 03.10.02)

die Jahrelang ihre Arbeit im technischen Aussendienst oder
Störungsbeseitigung nachgegangen sind, jetzt durch Niedriglöhner oder
durch modernere Technik ersetzt wurden und dann im Callcenter
landeten. Aber wir wissen das dies eben alles Dumme und Bescheuerte
für euch sind. Aber ich werde dir mal einen Tip geben, ist zwar
eigentlich zwecklos aber: Es werden immer mehr.

Quote29. September 2009 12:06
Re: Ja so wie die Telekom Techniker
Affenfreund (mehr als 1000 Beiträge seit 11.05.04)

Auch dieser BWL-Student wird dort landen.




Quote29. September 2009 12:40
Re: Ja so wie die Telekom Techniker
squuq (800 Beiträge seit 15.02.04)

Ich sage nicht, dass da nur Dumme oder Bescheuerte sind. Da hast Du
mich nicht verstanden. Es gibt auch das weite Feld der Ausnutzung der
schlechten Position desjenigen, der im CC arbeiten muß, um seine
Brötchen zu verdienen. Das ist eben die andere Seite.

Ich habe nur die Seite angesprochen, die man selbst beeinflussen
kann. Und oft kann man eben an sich arbeiten. Glaube mir, ich habe
genug Leute gesehen, die wenig Clue haben, aber wie Graf Rotz
auftreten. Die werden auch oft was! Nicht, dass das schön wäre, aber
so ist es nun mal.

Ein weites Feld.


Quote29. September 2009 12:05
Re: Im Callcenter zu landen, hat ja eine Vorgeschichte
Affenfreund (mehr als 1000 Beiträge seit 11.05.04)

Es reicht 1x arbeitslos zu werden. Schon ist man im Callcenter,
zwangsvermittelt. Wenn Du dein BWL-Studium abgeschlossen hast und in
die reale Welt entlassen wurdest, sprechen wir uns wieder.

Quote29. September 2009 12:11
Re: Im Callcenter zu landen, hat ja eine Vorgeschichte
xICEWINDx (mehr als 1000 Beiträge seit 09.08.04)

Affenfreund schrieb am 29. September 2009 12:05
> Schon ist man im Callcenter, zwangsvermittelt.

Eben. Das ist das Problem. Zwangsarbeit. Das wird in Frankreich nicht
anders sein, als in Deutschland. Man wird einfach von Sesselfurzern
hinter Massiven Schreibtischen (wie Bollwerke) in Callcenter
weg-geschönt. Die Sklavenhändler wissen ganz genau, was das für Jobs
sind, aber egal, Hauptsache, die Statistik stimmt.

,,Ach, sie können das mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren? Schön, Wie
können sie dann die Beihilfekürzung mit ihrem Gewissen vereinbaren,
die ich dann veranlassen werde?"



Quote29. September 2009 16:02
Re: Im Callcenter zu landen, hat ja eine Vorgeschichte
mirfälltnichtsein (57 Beiträge seit 17.04.09)

> Im Callcenter zu landen (ich stelle das mal als den Job in
> Unternehmen hin, auf den man nicht hinarbeitet) hat ja eine
> Vorgeschichte. Ich meine Callcenter als endgültige Arbeitsstätte,
> nicht Studijob.

Manchmal frage ich mich echt, wie Leute mit solchem Gedankengut frei
herumlaufen können. In der Klappse sind mehr Normalos als "hier"
draußen!

Zur Vorgeschichte:

Schonmal in einem großen Unternehmen gearbeitet, wo alle halbe Jahre
eine Neuorganistation statt findet?

Wo sich Leute um immer weniger Jobs "streiten". (Stichwort Mobbing,
einschleimen beim Chef...)

Wo man dann irgendwann nicht mehr in "seiner" Position arbeiten kann,
weil einfach kein Job mehr dafür da ist?

Wo man dann zig Kilometer fahren muss (gibts noch nen T-Punkt in der
Nähe?), um einen Job zu machen der eigentlich weit "unter" dem ist,
was man gelernt hat und in den letzten Jahrzehnten (gut?) gearbeitet
hat?

Wo man dann irgendwann auf dem Abstellgleis landet (Arbeit auf Abruf,
Callcenter oder anderweitige, der Laufbahn nicht "angemessene"
Arbeit) - ohne eine Aussicht auf Verbesserung - eher Verschlechterung
(nächste Neuorganistation)?

Ich verstehe, dass das manche nicht aushalten und sich deswegen das
Leben nehmen. Arbeit alleine ist nicht alles - irgendwo muss es auch
einn Sinn haben was man macht.

Vielleicht kommt der Poster des Ursprungbeitrages auch mal in die
Situation. Mal sehen, ob er sich dann daran erinnert, was er hier
geschrieben hat.




Aus: "Selbstmordserie bei France Telecom geht weiter" (29.09.2009)
Quelle: http://www.heise.de/newsticker/Selbstmordserie-bei-France-Telecom-geht-weiter--/meldung/146060


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Immer heftiger und quälender wird Isoldes Sicht auf die Begleitumstände, warum sie die Verheiratung mit Marke als demütigend empfinden muss. Bis Tristans undurchdringlicher Psycho-Panzer sich in einem Tränensee löst. Trotzdem reden beide ständig aneinander vorbei: Isolde ist wild entschlossen zum Seitensprung aus der Ehe mit dem schwulen Marke. Aber für Tristan bedeutet Vereinigung im Idealfall Doppelselbstmord. Zur hernieder sinkenden Nacht der Liebe packt er den sorgfältig in ein Taschentuch gehüllten Revolver aus. Seine Beziehung zur Waffe ist erotischer als die zu Isolde. Er fügt sich selbst den Schulterschuss zu, der fast verheilt und deshalb nicht Todesursache sein kann. Isolde singt den Liebestod für Marke quasi mit – ihr und sein erschütterndes Schluchzen breitet sich über Wagners seraphische Schlussakkorde. So liefert die Chemnitzer Aufführung eine ebenso unliebsame wie massive Auslotung Wagners, bei der das Orchester immer dicht dran bleibt an den physisch-psychotischen Prankenschlägen. Bei Stöppler und García Calvo stimmen alle Proportionen. Nichts wirkt aufgesetzt, übertrieben oder fehlinterpretiert – der lange Abend wird zur kriminologisch zugespitzten Folge von Erkenntnissen über Eros und Thanatos. ...


Aus: "Wagner-Eldorado Chemnitz" (Roland H. Dippel, 24. Oktober 2021)
Quelle: https://www.concerti.de/oper/opern-kritiken/theater-chemnitz-tristan-und-isolde-23-10-2021/

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Nationales Heiligtum oder Tierquälerei? Am Stierkampf scheiden sich die Geister. Vermehrt wünschen Spanier das Ende dieser Tradition. Der Freiburger Kirchenhistoriker Mariano Delgado spricht von einem Ritual zur Todesbedrohung zwischen Tier und Mensch. Im Zug einer Humanisierung droht die Gesellschaft sich von diesem zu entfremden, sagt der gebürtige Spanier.

...

Die «Corrida», der Stierkampf, ist tatsächlich kein Sport, sondern ein Ritual mit religioiden Elementen: mit einem eigenen Heiligenkult, etwa wenn berühmte Toreros in der Arena sterben oder Stiere so brav kämpfen, dass sie am Ende von den Zuschauern begnadigt und zurück auf die Weide geschickt werden.

Das Volk merkt sich die Namen dieser Toreros und Stiere im kollektiven Gedächtnis. Mit einer sorgsam inszenierten Liturgie, mit Einzug, Ritus, Musik und Auszug, wird alles von einem Präsidenten mit Assistenten, der dem Kampf vorsteht, überwacht.

Aber die Corrida ist meines Erachtens nicht geprägt von Tod, Todesmut oder Todesverachtung, sondern vom Zusammenspiel zwischen Eros und Thanatos (Lebens- beziehungsweise Liebens- und Todestrieb). Die Corrida in der heutigen Form ist, wenn wir von den modernen Empfindungen gegenüber dem zum Tode praktisch verurteilten Stier absehen, so etwas wie ein kommerzialisiertes Überbleibsel der alten Religion im Mittelmeerraum, etwa auf Kreta, wo wir im Knossos Bilder von Frauen sehen, die mit Stieren kämpfen beziehungsweise spielen.

Der Stier ist dabei natürlich das Männliche, während der Torero oder Matador, auch wenn er ein Mann ist, das Weibliche verkörpert, was man auch an seinem Auftreten sieht: Strümpfe und enge Kleidung, die runde Formen betonen, ein fast weiblicher Gang, wenn er den Stier zu sich zu lockern versucht; früher trugen die Stierkämpfer auch lange Haare zu einem Zopf zusammengeflochten, der beim Rücktritt symbolisch geschnitten und aufbewahrt wurde.

... Eros und Thanatos ... Auch die Beziehung zwischen Don José und Carmen ist davon geprägt, wie übrigens allgemein die menschlichen Beziehungen, der Kampf der Geschlechter.

... Wir sind heute vielleicht «zu zivilisiert», um das vordergründige Zusammenspiel von Eros und Thanatos im Stierkampf zu ertragen, nicht nur, wie Gumbrecht sagt, weil wir uns daran gewöhnt haben, den Tod zu verdrängen oder aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Auch weil wir in unserer Zeit andere Ersatzformen für dieses Zusammenspiel haben, bei denen das geflossene Blut oder der Todeskampf nicht zu sehen ist.

Diese «Ersatzformen» werden nicht immer so kritisch hinterfragt wie der Stierkampf: etwa das Töten auf Knopfdruck aus dem Boden oder der Luft, waghalsige Sportarten, manche Veranstaltungen der Unterhaltungsindustrie.

...


Aus: "«Zu zivilisiert, um das Spiel von Eros und Thanatos im Stierkampf zu ertragen.»" Georges Scherrer (10. März 2021)
Quelle: https://www.kath.ch/newsd/wir-sind-zu-zivilisiert-um-das-spiel-von-eros-und-tanatos-im-stierkampf-zu-ertragen/