• Welcome to COMMUNICATIONS LASER #17. Please log in.

[Realitäten pro Linienbus... (KVG Geschichten)]

Started by lemonhorse, March 07, 2006, 11:44:38 AM

Previous topic - Next topic

0 Members and 2 Guests are viewing this topic.

lemonhorse


27.11.2002 - terra.log :: Linie11

Zu einer Zeit als da noch die Mobiltelefone die Cockpit Apparatur der Busfahrer stören und lahmlegen konnte...

Don (mit Microphon und Kopfhörer): "...Ja, hallo - ich begrüße all die einheimischen neurologischen Schicksale und natürlich auch unsere außerirdischen Freunde, Mutanten und Freaks die da irgendwo draußen sich tummeln - schön das ihr euch alle eingeschaltet habt - und natürlich nicht zu vergessen: hallo Sanjopansa! - nun ich will nicht viele Worte machen ich ähm..."

Sanjopansa: "Wir hoffen dir geht es gut Don - Worum geht es den überhaupt genau?"

Don "Also ich befinde mich gerade auf Terra - jedenfalls glauben die einheimischen Wesen überwiegend das sie auf Terra sind - Terra ist nach ihrer Vorstellungswelt ein Planet - wie soll ich sagen - sie glauben Terra ist so eine große Kugel im Weltraum - und den Weltraum - den stellen sie sich ungeheuer groß vor - ja so richtig riesig groß - und also ich bin hier unten bei ihnen - mit ihnen - mitten in der Vorstellungswelt von ihnen - ich bin sozusagen hinein gestiegen in diese Realität welche sie hier kollektiv erleben - in eben dieser Vorstellung - ich ähhm - ich hoffe ich konnte mich verständlich machen - also ich befinde gemäß ihrer Vorstellung mitten in der undurchdringlichen Wildnis des Nahverkehrs - genauer gesagt befinde ich mich in der nicht so leicht zu durchschauenden Realitäts-Sphäre der Linie11 - kannst du mich noch hören Sanjopansa?!? ..."

Sanjopansa: "Wir hören Dich klar und deutlich Don - aber es scheint eine ganz schön vertrackte Sache zu sein die du da berichtest..."

Don "...ja, die Linie11 ist um diese Uhrzeit gelegentlich recht überfüllt - so auch heute - und der Busfahrer will partout nicht weiterfahren - das ist ungewöhnlich - ja, das ist sogar ein Problem - die hier Einheimischen - sie haben gewisser maßen mehr oder weniger die Vorstellung das Zeit Geld ist - und Geld ist ihnen oftmals wichtig weil sie ähm - sie können sich damit etwas kaufen - und kaufen das ist ähm - das finden sie gut - ja das finden sie richtig toll - und das hat sich hier auf diesem Planeten so entwickelt - und ähm da kann man erstmal nichts machen - so ist die Situation - und der Busfahrer will also nicht weiterfahren - das hat er gerade über die Buslautsprecher bekannt gegeben - er hat Probleme mit seiner Apparatur da vorn - es gibt Störungen - Störungen wegen den Funkwellen des mobilen Telefons - die Situation ist ähm - er will nicht weiterfahren wenn die junge Frau in der vorletzten Reihe nicht ihr Handy abschaltet - so ist nun mal die Situation - aber sein wir mal ganz ehrlich - so etwas kann ja schon mal passieren - aber manche Fahrgäste sind dadurch emotional etwas ähm ungehalten - die meisten Fahrgäste sind meistens nicht so gut drauf - weil es so voll ist und weil die Leute eben nach Hause wollen - hier in der Linie11 wollen immer viele Leute abends nach hause - so ist die Situation - und da die junge Frau sich nicht beirren lässt und ihre Konversation immer weiter fort führt - da sie die ganze zeit in ihr Handy redet - und der Busfahrer das nicht will - ist es vielleicht gut für das Verständnis wenn ich hier ein Ausschnitt der Worte von der jungen Frau mit dem Handy im Original weitergebe: "...ja, ok bis dann nachher dann im Festnetz - ja - nee - der Busfahrer sagt das ich das Handy ausmachen soll - nee - ich ruf Dich dann wieder an - ja ok - ja mach ich..." - all das lässt eine Art Spannung im Bus entstehen - aber moment - es scheint sich gerade etwas zu tun - ja die Spannung scheint sich zu entladen, wie ich gerade beobachten kann - ja, durch eine sichtlich vom Alkohol beeinflusste Person einer - ja es ist auch eine Frau - diese Frau - sie redet recht laut in einem durchdringenden wie auch rauhen Tonfall - man könnte auch sagen sie schreit oder brüllt - ich gebe das einfach mal weiter: "kannste mal dein scheiß Handy ausmachen - ich hab Kinder zu hause die warten!" so weit ihre Worte - aber der Bus steht noch immer still - das Mädchen mit dem Handy sieht nach dieser nicht so netten Anrede der anderen Frau - sie ist jetzt behaftet mit einem demonstrativ gelangweilten Gesichtsausdruck - und sieht aus dem Fenster und - ja es sieht gut aus - sie hat es ausgemacht! - und sie legt das Handy jetzt gaaaanz langsam - in die Tasche. Somit scheint es hier gleich weiter zugehen mit der Fahrt - so viel erst mal von der Linie11 - ich gebe zurück zu Sanjopansa!..."

Sanjopansa: "Danke Don! Das ist großartig! - da sieht es so aus als wäre noch mal alles gut gegangen - so viel erstmal aus der Linie11"...

-.-

Nr.137
egg.log :: 31.10.2002

"...es gibt Religionen, die halten das Ei für ein Symbol der Seele, wußten Sie das?" - "Nein, das wußte ich nicht." (Angel Heart)

Spontane Egg-Smashing Art im öffentlichen Raum

Heute kommt die erweiterte Berichterstattung aus der Linie 12 - wieder ist es bereits dunkel - der Bus befindet sich in der letzten Kurve vor der Haltestelle an welcher es mir beliebt auszusteigen - ich habe mich bereits aus dem Sitz erhoben und mein Finger auf den "STOP-Knopf" gepresst - dann knallt es - er ist ein unerwarteter wie eigentümlich dumpfer aber auch durchdringender Knall - deutlich wird nun am Seitenfenster sichtbar wie sich das Eiweiß und Eigelb genussvoll vermischend die Scheibe herunterrutschten - hier und da werden gesprenkelte Eierschalen Stücke sichtbar, welche das neu entstandene "act on impulse-painting" zu einem Meisterwerk vervollständigen.

-.-

Vorbeilaufen am Vienetaplatz. In der einen Hand die alte Ledertasche. Kurz die Erinnerung wie am Samstag um 5:45 der Wochenmarkt aufgebaut wird während noch ein Rest Rotwein durch die Gehirnwindungen läuft. Der Fischwagen mit der Theke voller Eis auf dem die aufgebarten Fische liegen. Der Käsewagen samt dem freundlichen Kerl mit seiner weißen Stoffjacke. Die Schreie wie "3 Kilo Tomaten sonso sonso viel Euro!!!..." - Dann das Ende der Erinnerung kurz vor der Haltestelle Karlstal. Die Anzeige zeigt, dass in 3 Minuten die Linie 31 kommt. Ein Dienstag im März 2006. Es ist kurz nach 7:15 - im Halbschlaf Fliegen ich durch Zeit und Raum. Alle Plätze sind besetzt. Beim Anfahren wackeln die dicht an dicht stehenden Menschen. Blicke, Gerüche, Stimmen, jeder Mensch mindestens eine Realität pro Linienbus.


lemonhorse

#1
Die Linie 31 überrascht mit ungezwungener direkter Kommunikation. Es laufen 4 ca. 12-14 jährige nette Jungs an mir vorbei - abwesend träumte ich noch durch das Seitenfenster, als mich einer der vorbeiläufenden Jungs spontan anspricht und hohnvoll folgende Rede an mich richtet:

"Na Fakka?! - wie geht's?"

...eine Antwort wird nicht abgewartet sondern schallendes Gelächter der Vorbeiläufer folgt sogleich. Mein Unterbewusstsein nimmt folgerichtig die Kommunikationsaufforderung als nicht wirklich gegeben hin. Es geht um eine Aussage und nicht um eine Frage.
Somit: der Fakka antwortet nicht. Nachdem sich meine Gedanken wieder etwas sortiert haben, zugleich die kognitiven Deutungsmodule wieder Daten aufnehmen, kommt mir erstaunt der Gedanke, dass ich des öfteren den gleichen Gedanken gepflegt habe. Der Gedanke heisst übersetzt: in der Linie 31 sitzen viele stumme blöde Fakka. Ich bin also einer davon. Es gibt nur den entscheidenen Unterschied, ob man sich selbst als passives Objekt, oder als aktives Subjekt einer Situation der berechtigten Kritik der Alltäglichkeit wiederfindet. Leben oder gelebt werden.



lemonhorse

#2
Linie 31:
1) Drei 12-14 jährige Mädchen hören auf ihrem Handy-Lautsprecher deutsch-türkischen Hip-Hop-Pop. Der Song wird auf Wunsch immer wieder wiederholt. Ich kann textlich nur "nichts zu rauchen" und "...verpiss Dich!" verstehen. Zwischen zu lautem Lachen gibt es hin und wieder verstohlene Blicke ob der Wirksamkeit der eigenen Wirkung. [fade out]

-.-

Linie 11:
2) Ich sitze ganz hinten im Bus. 6 von 10 Menschen haben Kopfhörer auf. Ein interessanter Mix aus hohen Frequenzen und leeren Blicken. [fade out]

-.-

Linie 34:
3) Mein Blick gleitet über die Gesichter. Bleibt dann ein Sekundenbruchteil zu lange haften.
Der Zwiespalt von Sommergeilheit in Liaison mit unbewusster Selbsthypnose ergreifen mein Empfinden.
Ob diese Frau sich ihrer Wirkung bewusst ist? - Natürlich. Der Lustimpuls schiesst sanft aber dominant in meine Blutbahn.
Als Handlungsoption ergreigfe ich ein dezentes Abwenden mit einer kleinen Portion gespieltem Desinteresse im Blick, was für eine Frau!
Es bleibt die ruhige Gewissheit sich nicht näher zu wissen, sich nicht kennen zu müssen, im Bewusstsein der selbstgesteckten Grenzen, in dem Gewahrsein, dass die eigene Phantasie aus kleinsten unterschwelligen Reizen bereit ist, jegliche sexuelle Ausschweifung ungefragt bildergewaltig zu konstruieren, sehe ich aus dem Fenster.
Mögen mich ihre Beine verschlingen, möge das plötzliche Stöhnen die gedankliche Stille durchbrechen, mögen die Hände wild den Körper umfassen, einfach ficken! - so will es sich fiebergleich mir kundtun. Virtuelle Lustverfangenheit, durch automatisch inszenierte Gedankenpornos. Sonst nichts. [fade out]



lemonhorse

#3


8:32 Uhr

Die Line 41 fährt gerade am Hauptbahnhof ein. Vor mir in nur ein paar Metern entfernung steht ein alter Mann in zerschlissenen Kleidern. Er hat einen weissem Bart. Er steht isoliert in der Sonne und beschimpft dabei wüst alle Menschen um ihn herum, welche ihn augenscheinlich nicht bemerken wollen. Der grosse Plastikbecher, noch halb voll mit Bier, wird alsdann gegen einen Mülleimer geschleudert. Das Bier entleert sich fontänengleich zu allen Seiten und in einem hohen Bogen schwappt es zurück. Ein paar Wartende bekommen wenige Tropfen ab. Das meiste Bier ergiesst sich auf den Verursacher selbst, der wiederum die nur teilweise heimlichen Häme seiner Mitmenschen ignoriert. Sein faltiges Gesicht glitzert jetzt feucht im Sonnenlicht. Noch bevor alle Biertropfen den Boden erreicht haben werden weitere unverständlich knorrige Worte an die dumpfe Umgebung ausgeteilt. Der kurze Auftritt ist beendet - der alte Mann verlässt die Bühne am Hauptbahnhof, während wir Alltagshypnotisierten, in die Linienbusse steigen.



lemonhorse

#4
In Gaarden gibt es eine solide gewachsene Tradition des freien Urinierens unter offenem Himmel - bei so mancher Straßenecke - und Hauswand kommt es so zu konzentrierter Urin-Akkumulation (Anhäufung) mit Evaporation (Verdunstung) bzw. der dazugehörigen Geruchsbildung. Wenn es länger nicht regnet, kann auch eine ungeübte Nase eine urinale Ortskunde mit treffsicherer leichtigkeit durchführen.

Dem Vorurteil entsprechend, vermeinen die meisten Menschen womöglich, dass die urinale Geruchsüberflutung von ungenierten, hirnzellenreduzierten, saufenden, ignoranten Schwanzbesitzern herrühren mag. Dem ist wohl auch so, doch nun ist es mir ganz unverhofft vergönnt gewesen, eine mir bis dahin noch nicht so bekannten Vertreter aus der Familie der Freilicht-Urinierer in aller entwaffnenden Faktizität bestaunen zu dürfen.

Es ereignet sich in der Linie 34 direkt an der Bushaltestelle Karlstal: die Busse sind überfüllt, es ist heiss und stickig. An der Kieler Förde wird die 125. Kieler Woche gefeiert. Die Busse sind allerorten überfüllt, doch hier in Gaarden ist es erstaunlich ruhig.
Zwei Menschen nähern sich der Bushaltestelle. Der alte Mann bleibt stehen, er blickt in ein imaginäres Nichts, um dann drei Schritte zur linken Seite zu kippen. Dann obsiegt wieder die aufrechte Haltung. Auch die Dame steht jetzt ruhig und besonnen in der Nachmittagssonne. Beide sammeln ihre Kräfte, um sich dann gemeinsam weiterhin der Bushaltestelle zu nähern. Schon während sie noch einige Meter von mir entfernt sind - und in einer weiteren Pause verweilen - kommt mir, getragen von einem sanften Windhauch, der stechende Geruch entgegen. Die gute Frau hat sich nicht nur in die Hose gepisst, nein, vom Geruch her zu urteilen dürfte sie schon eine durchaus lange Zeit in eben dieser Hose verlebt haben.
Ich bin beeindruckt - ihre Gesten, ihr freundliches lächeln gegen alles und jeden - sie scheint von innerer Liebe getragen - ja mir ist, als sei ich Zeuge von einer geheimen Zeremonie einer Abgesanten der Päpstin aller Alkoholiker.
Die Linie 34 steht bereit. Faltig und hold lächelnd setzt sie sich, wie von Engeln geleitet, auf den nun urinal zu befeuchtenden Sitz - und der Begleiter sitzt treu ergeben neben ihr. Es stinkt so unglaublich, dass ich erstaunt bin, dass viele Fahrgäste zwar die Augen verdrehen, jedoch NICHT aussteigen. Der deutsche Fahrgast erträgt mehr als ich geneigt war anzunehmen. Sie streichelt ein kleines Mädchen, was sich verzweifelt am Fahrkartenentwerter festzuhalten sucht und sagt: "Süß, nech? - einfach süß!"
Als die dicke Gabi (Der Name ist frei erfunden, die Person jedoch nicht), dann später einsteigt und den Geruch betreffend etwas irritiert auf den vollurinierten Sitzplatz fallen lässt, bemerke ich hier und da hämisches Grinsen von machem Fahrgast. Auch Michael (auch dieser Name ist frei erfunden) empfängt nahe meiner Zielhaltestelle noch die Segnung des feuchten Stuhls. Derweil bin ich immer noch ganz ergriffen, ob all der nonverbalen Unantastbarkeit der gebotenen Darstellung.


lemonhorse

#5
Linie 34, 8:22

Unbekannte#1: "Und wohin so früh?"...

Unbekannte#2: (dick anfang 30, muffig) "Am Hafen noch'n Kaffe schlabbern - wir müssen noch zum Jugendamt - 'n Termin - is' aber nicht so schlimm"...


Unbekannter#3: (klein, anfang 30, kuzhaarig, Turnschuhe, steht direkt vor der mittleren Bustür und blickt nach draussen) "Er hat wieder Scheiß gebaut"...

Unbekannte#2: "Is' nich' schlimm - sie haben gesagt, er hat die Haare rot gefärbt. Er ruft an und sagt: "Mutti, hat sich was verändert, wenn ich komm..." (kurze Pause) ...ich schieß ihn ab, wenn er die Haare rot hat!"...

Unbekannter#3: "Ich färb' sie ihm schwarz-rot-gold, dass kannst' glauben!"...


lemonhorse

#6
Ich habe ja noch gar nicht vom Taschenrechner-Monster erzählt. Seltsam, dass er es immer wieder schafft, sich neben einen ganz bestimmten Typus von Frau zu platzieren. Mit einem Taschenrechner in der rechten Hand hält er seinen Mund ständig in Redefluss, leise unverständige Worte, unnachgiebig. Manchmal tippt er übertrieben gestikulierend auf den Taschenrechner ein. Er lehnt sich schräg zur Frau hinüber. Sein Blick heftet felsenfest an ihrem Gesicht. Kleine Zuckungen durchfahren permanent seinen Körper in kurzen Abständen.
Die Frau wirkt, als hätte sie mit ihm eine geheime Übereinkunft ob ihrer Linienbus Aufführung. Sie hat eine art Sekretärin-Brille auf, wirkt "underfucked and oversexed" (wie es die Amerikaner sagen würden), ihre Blicke stechen wirr durch den Raum.

Mein Blick hingegen kann sich kaum von den beiden lösen. Sie gibt sich nun angeekelt durch das endlos in sich hineinplappernde, zuckende, übergeile Taschenrechner-Monster neben ihr. Vielleicht möchten sie fliehen, kann sich aber aus unerfindlichen Gründen nicht dazu entschließen ihren heiklen Platz zu verlassen. Er hingegen will endlich mit seiner Hand zu ihrem Arsch schnellen. Er möchte höchstwahrscheinlich von ihr kräftig eine schallende Ohrfeige bekommen - darauf mit offenem Mund und ihrem surrealen Einverständnis im Mittelgang der Linie 11 einen Purzelbaum schlagen. Ihre Brille ablecken, seine Schuhe ausziehen und allen Menschen im Linienbus seine Löcher in den Socken des Wahnsinns zeigen.


lemonhorse

#7
Ich bin spät dran, statt der Linie 34 habe ich nur noch Linie 11 erwischt. Eine Frau, vielleicht ende 40, roten spitzen Schuhen und einer leuchtend pinken Kunstlederjacke beginnt um 8:47 mir gegenüber lasziv die Beine auszustrecken und mit den Fußgelenken leichte kreisende Bewegungen zu machen. Dann sucht sie etwas hektisch in der roten Handtasche, als nächstes wird der Kopf auffällig langsam hin und her gedreht. Nun ist die Zunge dran - sie öffnet den Mund und leckt übertrieben über ihre viel zu dunkelrot bemalten Lippen, zudem gibt sie leise Stöhngeräusche von sich. An der Gablenzbrücke kippt ihre Pornostimmung - es entfährt ihr ein traurig hysterischer Lachschrei. Ihr Blick schwirrt unruhig umher, sie beginnt ein leises Selbstgespräch und trägt sich selbst in innere Ferne.

lemonhorse

#8
Astrid liegt als Meisterspion der Realitätskonvergenz in der Linie 11 auf der Lauer - eine Reihe hinter ihr:

Sie (sehr füllig um die 50):
"Vielleicht hab' ich bald einen Job bei Rossmann hinter der Kasse, 400 Euro."

(kurze Pause)

Er (sehr krause Harre, dünn, auch um die 50):
"Eine Frau im Haus ist totes Kapital."

(Ende der Unterhaltung)

- - -

Definition #2

Totes Kapital (Börsen-, Bank- und Rechnungswesen) - Totes Kapital ist die Bezeichnung für Geld, das unproduktiv ist, weil es nicht investiert wird. Es ist deshalb unproduktiv, weil es keine Rendite erzielt ggf. sogar an Wert verliert. Ein Beispiel für totes Kapital ist ein Wohnmobil, dass nur im Sommerurlaub genutzt wird und den Rest des Jahres in einer Scheune untergestellt ist.
Aus: "T - Totes Kapital" (Onpulson.de, 2007)
Quelle: http://www.onpulson.de/lexikon/totes-kapital.htm

-.-


lemonhorse

#9
Die Linie 41 hat eigentlich selten Verspätung. Der Himmel ist auch am frühen Abend noch strahlend blau. Kalter Wind fegt an der Strasse entlang. Mittlerweile sind mir einige der Fahrgäste auf der Strecke bekannt. Manchmal überraschen mich neu zugestiegene Menschen. Es sind Kleinigkeiten die ich suche. Dinge, die mich irritieren. Die unpassende Jacke, die ausgetragene unförmige Hose, das leicht verwilderte Haar. Die abgetragenen Turnschuhe. Ihre Hände erscheinen mir leicht verkrampft aber sinnlich. Habe ich Blut an ihrem Daumen gesehen? - Hat sie sich geschnitten?
Sie wirkt auf mich leicht abwesend, aber nicht entrückt. Ich versuche über das Spiegelbild in der Glasscheibe kurzzeitig in den verschlungenen blauen Augen etwas zu entziffern. Es will mir nicht recht gelingen. Sie reibt sich die Nase mit ihren Fingern, wie ein kleines Mädchen. Es trifft sich für kurz unser Blick. Ich versuche mir still zu antworten, was ich sehe. Es gelingt mir nicht. An der Hummelwiese steige ich aus - zuvor vermutete ich vielleicht doch gespielte Raffinesse in einem 2. Zusammentreffen der Blicke - aber ich weiß einfach nicht, ob es nun doch die Wucht von Natürlichkeit war, die mich getroffen haben könnte - und laufe dann zum ersten mal in meinem Leben über die neu gebaute Gablenzbrücke. Oder war es das Echo in einem sich kulminierenden Drogenrausch in ihrem leicht verlangsamten Blick? - Der Wind ist noch stärker geworden. Warum spielen Vermutungen mit mir verstecken? Was ist Natürlichkeit? - Womöglich schlafende Verschlagenheit.


lemonhorse

#10
Samstag morgen 9:16 - die Linie 31 setzt sich in Bewegung. Ich höre hinter mir eine reife Dame sagen: "Ja, ich muss oft an die Zeit zurück denken..." - unwillkürlich entsteht vor meinem inneren Auge das Bild eines Gehirns, welches in einer durchsichtigen Lösung von komprimierter Zeit schwimmt - drumherum stehen Damen mit weiß gelocktem Haar in weißen Kitteln. Sie nehmen das Gehirn genau in Augenschein - hin und wieder sagen sie: Was für eine Zeit!
Zurück in der Gegenwart schweift der Blick durch das Fenster nach draußen - Haltestelle Karlstal im Stadtteil Kiel Gaarden. Würde ich hier nicht um die Ecke wohnen, ich würde den Ort vermissen. Dieser Ort ist eine öffentliche Wunde, in der geschminkten Welt von Beauty-Tips und Diät-Vorschlägen. Ein Schützengraben zur Abwehr der durchtränkenden Harmlosigkeit von Produktbeschreibungen . Hier am SKY Supermarkt Karlstal logiert ein Hofstaat von Alkies und Junkies mit einem kleinen Tross von illustren Mitstreitern und verbreiten ihre Idee von Öffentlichkeit. Aufregung, Wut, Lügen, Hoffnung, Enttäuschung, hier ein dreckiges Lachen, dort ein hilfloser Blick, hier ein großes Versprechen, dort ein heimliches Verschwinden. Wer macht den Hofnarren und wer ist das Gesetz. Bei den regelmäßig anberaumten Polizeidurchsuchungen obliegt es ihnen dann, die verschwitzten Taschen auszulehren und den Inhalt eben dieser fein säuberlich - unter den unterschwellig genervten wie auch strengen und leicht angespannten Blicken der Gesetzeshüter - auf dem Bürgersteig auszubreiten. Trotz alledem, so scheint es mir, ergeht es ihnen an der Mauer wie einer zerrütteten Familie, die bei allem Ungemach und nackter Gewallt zum Trotz, soweit es irgend möglich ist, zusammenhält. Sollte nicht ein schwacher Moment der mächtigen Suchtkrankheit alle Bemühungen unnachgiebig hinwegspülen. Dort an der Mauer direkt am Supermarkt, dort wo der Zigarettenautomaten hängt - ist eine Zuflucht in mitten von zerklüfteter Seelenlandschaft.
Ich sehe eine müde junge Frau mit Kinderwagen und ihren 3 Kindern die sich ungeduldig hin und her bewegen, ein Typ mit dunkler Sonnenbrille neben ihr. Er gibt sich mühe unangreifbar zu wirken - die drei alten Männer weiter links mit Bierflaschen und grau melierten Bärten kaum noch.  Mittendrin laufen ein paar 1-Euro Arbeiter in neongelben Westen durch die Szenerie. Auf ihren Westen steht für alle gut sichtbar: Gaarden Aktiv. Sie laufen mit einer Mülltüte und einem Müllgreifer die Bürgersteige entlang. Manche haben sich aber auch einen Hackenporsche besorgt, auf dem sie die Mülltüte ziehen können. Es gibt verschiedenste Modelle - heute zum Beispiel sehe ich zum ersten mal das Model Umgebauter-Einkaufswagen.
Vorne beim Busfahrer gibt es wieder Ärger. Ein kleiner Mann mit osteuropäischen Akzent ist in einer mir unbekannten Angelegenheit ungehalten und macht sich verbal Luft. Der Busfahrer gibt noch ein "Das ist eben ihr Problem" zum Besten. Neben mir ein alter Mann sagt für alle hörbar: "Es hat doch keinen Zweck, sag' einfach Salemaleikum und vergiss die Sache..." - der kleine Mann schenkt meinem Sitznachbar keinerlei Aufmerksamkeit und setzt sich mit versteinertem Gesicht neben ein junges Mädchen das hypnotisiert mit ihrem Handy spielt. Jetzt kommt der Rentner in Fahrt: "Ich habe 25 Jahre gearbeitet - die Nachtschichten sind viel schneller rumgegangen - 20:00 uhr bis 6:00 uhr - die Kollegen kamen immer mit Kaffeedurst - ich hab ihnen immer den Kaffee hingestellt. So ging die Zeit viel schneller rum als am Tag."

lemonhorse

#11
Linie 34. Es riecht nach Arbeiterschweiß und Bierfahne. Vorn auf dem 4er-Sitz gibt es hier und da Seitenblicke irritierter Fahrgäste. Im Zentrum der Irritationen sitzt eine Frau. Sie presst die rechte Hand an das Ohr - sie redet laut und ununterbrochen, sie redet in einer fremden Sprache und gestikuliert konzentriert mit der Linken. Jeder der genau hinsieht kann bemerken, das dort an ihrem Ohr kein physisch vorhandenes Handy ist. Ich steige mit ihr zusammen an der Haltestelle Karlstal aus - auch hier draußen an einem dunklen, kalt-feuchten Novemberabend geht das Gespräch mit dem unsichtbaren Handy unentwegt weiter. Beim Vinetaplatz trennen sich unsere Wege.

lemonhorse

#12
Sommer 2010. Die Abgesandten der himmlischen Heerscharen kommen geflogen – und blicken von oben – erst auf die Kieler Förde, dann auf die kleinen Hausdächer Kiels hinab. Sie feixen ausgelassen und machen alberne Gesten. Lustig, wie kleine animierte Knetwachsfiguren sehen die Menschen da unten in den Straßen aus.

Die Luft ist schon früh morgens warm. Eine junge Frau sitzt träumend auf einer Holzbank an einer Haltestelle. Ein Gefühlsidiot taucht an der Haltestelle auf. Der Gefühlsidiot macht einen mittelgroßen Bogen um die Holzbank. Die Abgesandten stupsen sich gegenseitig an und einer von ihnen ruft triumphierend "Du bist unser Agent Provocateur" – "pssst!" mach ein anderer – und ist sich darauf hin dem heiteren Gelächter der anderen fliegenden Kumpanen sicher.

Der Gefühlsidiot blickt erstaunt nach oben. War da etwas zu hören? Er fühlt sich beinahe als Opfer einer Heimsuchung. Bloß nichts anmerken lassen. Er sieht sich um. Er weiß nicht recht, ob er selbst oder die Frau auf der Holzbank von denen, die da oben herum albern, gemeint worden war.

Der Gefühlsidiot steht jetzt am Straßenrand direkt neben dem Haltestellenschild. Auf dem Haltestellenschild steht Hummelwiese. Auf der Holzbank werden die Turnschuhe der jungen Frau von dem brauen Saum ihrer Hose ein Stück weit überdeckt.

Die Linie 41 kommt. Die Fahrt beginnt. Es wäre ein Leichtes für sie und ihn gewesen sich auf andere Plätze zu begeben – "doch nein" – rufen die da oben – "das Arrangement sollte nicht gestört werden!". So sitzen sie sich nun direkt gegenüber. Der Gürtel der schwarzen Cabanjacke ist geöffnet und das Sonnenlicht spielt in ihrem Haar. Er blickt verstohlen auf ihre lichthafte Silhouette. Sie hat alles minutiös auf ihrem seelischen Radar registriert während sie die Landschaft draußen äußerlich kühl an sich vorüberziehen lässt. Dann blickt sie wie zufällig auf seine Statur. Immerhin unschuldig ist hier niemand. Sie lächelt manchmal sacht in sich hinein – zu den absurden Gesprächsfetzen die heillos durch den Linienbus fliegen.

Der Gefühlsidiot ist magnetisch von ihrer Art und Weise angezogen. Sie hat es leicht, atmet quasi schon seine Seele ein – und aus. Er merkt es – will es sich nicht gestehen, will sich wehren, will erkalten. Es bereitet ihm eine leichte panische Unwilligkeit, da er um die unüberlegten Späße von den fliegenden Herren weiß.

Was denken die eigentlich? – Daß er ein leichtes Opfer wäre? – Das waren vielleicht ein paar vieldeutigen Gefühle zu viel in den letzten Monaten. Bin ich vielleicht liebeskrank? Süchtig nach fast jeder seelischen Hitze? Da lachen die Wolkentänzer draußen. Sie rufen ihm durch das aufgeklappte Fenster zu: "Dein Schiff hat Leck, da ist was defekt, das kannst'e nichts machen, das bringt uns zum Lachen!"
Eine reife Dame mit Hut und grauen Locken (ein paar Sitzreihen weiter hinten) nickt den fliegenden Wolkentänzern freundlich durch die Seitenscheiben zu und sagt: "Denn wir wissen, da helfen keine Ohrfeigen meine werten Herrn, da hilft auch kein Wachprügeln – es ist ja Sommer."

Die fliegenden Herren da draußen brüllen lauthals auf den Gefühlsidioten ein: "Stell dir vor, wie Du in einem alten Gemäuer vor einem aufgebahrten Sarg mit schlotternden Knien schluchzend stehst. Dort im Sarg sind vergangene Gefühle drin - und vergammeln. Nichts gelernt Gefühlsidiot?!" – Eine Windböe erfasst die fliegenden Herren da draußen am Seitenfenster und schleudert diese ein paar hundert Meter hinter den fahrenden Bus.

Endlich Ruhe. Der Gefühlsidiot wird kaum merklich etwas blass. Jetzt heißt es Stete zu bewahren. Er schließt seine Augen. Ein leichter Überschuss an Tränenflüssigkeit. Irgendwo im Kopf erahnt er sich dumm, verblendet und leicht betäubt.

Der Busfahrer ist eingeschlafen und vom Sitz gerutscht. Die Wolkenläufer haben aufgepasst, sind rein durch das Seitenfenster. Lenken jetzt den Linienbus.

Die strahlenden Augen der jungen Frau sind noch nach draußen auf die Straße gerichtet. Nun wendet sie ganz sacht ihren Kopf. Der Gefühlsidiot sieht sie vorsichtig an. Ihr Blick trifft ganz gezielt den seinigen. In ihrem Blick ist etwas lautloses, mutiges, zart gewalttätiges. Der Blick ist vorüber. Erst im Nachhinein kann er vor dieser Übermacht der weiblichen Wahrheit noch einen stillen Fluchtversuch unternehmen und mit seinem Blick auf die tanzenden Bäume am Straßenrand ausweichen. Die buslenkenden Herren grinsen derweil vieldeutig, starren dabei konzentriert auf die Straße.

Flüstert der eine Fahrer zum Nebenmann: "Ich finde, der Gefühlsidiot, ist wie ein kognitionsloser Schmierstoff seiner eigenen Katastrophe" – Antwortet ein andrer: "Das reicht, wir hatten unseren Spaß – aber das nächste mal suchen wir uns etwas interessanteres aus. Etwas, das mehr Herausforderung bietet bitte schön!"

Die Seitentüren werden geöffnet und die letzten Fahrgäste verlassen selbstvergessen an der Endstation ihre Sitzplätze. Ruhig atmend der Busfahrer. So tief hat er seit Jahren nicht mehr geschlafen. Kichernd steigen die Ersatzlenker Grimassen schneidend mit Zehenspitzen über ihn hinüber und verlassen den Tatort.

lemonhorse

#13
Category: Gedanken.Memo, Realitaets.Tunnel, Wortbrocken.Cafe
Tag: Backpfeifen, Kiel, Liebesspiel, Linie 11, Telefonzustand



Die feixenden Flieger

El Blondo (Bruno) kommt mal wieder aus Spanien und steigt in die Linie 11. Das war wohl eine lange Nacht gestern, diese Augen können nicht lügen. Musiker sind Musiker sind Musiker. Wir fahren über die Gablenzbrücke. Und in Espanol? – El Blondo: "Die Jungs da nimmt keiner mehr erst, die spielen zu viel Bongo und trinken zu viel Rotwein. Oh, hier muss ich schon raus..."

Am Telefon ist J. Aber wo ist jemand genau, wenn er am Telefon ist? Wir sind beide am Telefon. Wir sind in einem Telefonzustand. In einer Zwischenwelt die 2 Räume verbindet. Am Telefon hat J. mich für diesen Augenblick in der Hand. Es könnte irgendwie an ihrer Stimme liegen. Wir befinden uns in einem ersten Moment. Darum müssen wir lachen. Liebesspiel ist Schauspiel ist Liebesspiel ist ernst. Natürlichkeit ist vielleicht selbstvergessenes und unbeobachtetes Schauspiel. Wir sind ganz wild auf die Natürlichkeit. Eine Natürlichkeit, die beim genaueren Hinsehen vielleicht wieder eine verruchte Machtergreifung sein könnte – und gar nicht so zufällig – wie ich eben noch dachte. Du bist wütend auf mich – und das zu recht. Wir lieben an einander das Unbekannte und mögen das Vertraute? – Jetzt bist du nicht mehr wütend? – Ich höre es an deiner Stimme. Ich weiß nicht warum. Ich ergebe mich auch. Natürlichkeit will wie aus Versehen entdeckt werden. Ich dachte an Oliven, am Telefon sagt J.: "Bringst du noch Milch mit?"

Ich sehen ihn manchmal da draußen stehen – ein eigentlich noch junger Typ – beim vorbeifahren in der Linie 11. Er wirkt etwas verwahrlost, steht da am Karlstal mit seinem Hund. Sein Blick verharrt an keinem festen Punkt. Jetzt sitzt er hier im Gelenkbus und zählt sein Restgeld. Deutlich verfettet sind die Haare. Immer wieder zieht er seine Schnotter hoch. Ein Fahrgast mit Hornbrille sieht bereits verächtlichen Blickes auf den Geldzählenden herab. Ich sehe darauf hin mit Falten in der Stirn den mit der Hornbrille an – für eine Sekunde. Ruhelosigkeit durchzieht den Körper, er, der den Schnotter wieder hochzieht, hockt sich hin. Er steht wieder auf, er greift sich in eine Tasche. Er hockt sich wieder hin. Wir fahren in eine Kurve. Er beginnt immer wieder von Neuem alle seine Taschen – auch die des verdreckten Parkers – zu durchwühlen. Die Rechnerei mit den vielen kleinen Geldstücken beginnt immer wieder von Vorn.

Gleich gehe ich die Milch kaufen. Die Luft ist kühl und der Wind fegt durch die Ritzen welche ihm die parkenden Autos bieten. Für kurz schiebt sich mir die gedankliche Gewohnheit ein wenig beiseite. Die feixenden Flieger haben mich entdeckt. Taumelnd beginnt der Flug. Die Häusermauern fluchten. Für kurz werde ich unverhofft zu ihnen hin geschummelt. Für kurz nehmen sie mich auf in ihre Reihen, die spöttelnden himmlischen Heerscharen und treiben Schabernack. Sie lachen mich aus, sie lachen uns alle aus – am meisten die miesgelaunten und die gramvollen Planetenbesetzer. Sie deuten mit fast höhnischen Mündern untereinander an, das sich da wohl jemand verirrt hat. Sie rufen mir zu: "Ja, was kann der Gehweg unter dir, was kann das alte Kiel mit seinen Kopfsteinpflasterstraßen dir schwindenden Menschen schon erzählen?" Köpfe werden geschüttelt vor Lachen. Einer ruft: "Blast kräftig in die Trompeten, schlagt die Seiten der Laute an!" – Es nehmen mich – die in der Luft musizierenden – fest am Kragen, reißen mich um die Kurve im Flug und lachen noch dabei. Ich versuche die Gegend wie aus neu geborenen Augen zu sehen. Ich versteh ihren Humor nicht ganz. Schon setzen sie mich ein Stück weiter wieder auf dem Stadtboden ab. Beim Asmus-Bremer-Platz. Um die Ecke erblicke ich einen hell erleuchteten Raum, zwei Menschen verstecken ihre tänzelnden Augen hinter Flachbildschirmen. Der Gesichtsausdrücke sind in einem freien Fall, es geht dem Computer-Nirgendwo zu. Für 2 Sekunden denke ich, der Anblick wäre komisch, wäre eine Vorstellung, wäre eine Gesichts-Kunst-Performance. Gleich werde ich auf der Rolltreppe fahren und die Milch kaufen. Ein alter Knabe kommt vorbei deutet auf die beiden hinter den Bildschirmen und raunt mir zu: "Aber sie machen nur ihren Job, gehen sie schon weiter, das geht sie gar nichts an, jedem sein Lebensentwurf". Er geht ein Stück, dreht sich noch ein mal um und sagt laut: "Sehen Sie mich an, das auf-die-Schnauze-fliegen hat mich glücklich gemacht, im Nachhinein natürlich erst. Und mir machen die weißen Haare nichts, sie geben mir sogar etwas zusätzliche Würde, nur der Schweißgeruch wir im Alter etwas strenger – ich war als junger Kerl liederlich, da waren die Faxenmacher in den Wolken nicht weit – aber jetzt wo meine Knochen alt sind, lach ich über Alles und Jeden – da brauch ich die Truppe da oben nicht mehr!"

Die Würstchenbude vor dem alten Rathaus ist hell beleuchtet aber Menschenleer. Doch für W. wird das Leben undurchschaubarer, ich sehe es ihm an. Als hätten ihn 3 Kugeln des Schicksalhaften durchlöchert – für manche Dinge gibt es keine Regelhaftigkeit – und bei seiner Schulter gingen die Kugeln-des-zufälligen durch wie Butter, lautlos. Jetzt kann jeder an der Straße durch seine Schulter gucken, jeder sieht die 3 kleinen Durchschußlöcher in seinem Selbstbild.

Es ist mir verstellt. Ich nehme mich gerade nicht ernst. Doch für T. ist es ernst. Sie schluchzt leise in sich hinein. T. ruft nach zarten, schützenden, liebenden und behutsamen Händen. Sie bekommt jedoch Backpfeifen von unsichtbaren Händen, keine Liebe – aber Backpfeifen, keine liebevollen Umarmungen nur unerwartete Backpfeifen. Da hilft auch die Wut und der wilde Atem nicht. Was soll das?! – Des Nachts ist T. allein. Weit weg von der fliegend lachenden Spöttertruppe, der himmelhochjauzenden Lachbande – sie flogen kurz nur über das alte Backsteinhaus, wo T. zur Miete wohnt. Nun wirbeln sie um das alte ehrwürdigen Opernhaus. Es ist spät Nachts. Flatternd finden sie ein offenes Fenster. Schon sind sie im Flur. Vorsichtig wird die Tür zum Fundus geöffnet – dort treffen sie auf das hektische Liebesspiel von unfreiwillig verkanllten. Leise durchstöbern die lustigen Flieger auf leisen Sohlen den Raum. Dann wirft einer von ihnen mit geöffnetem Mund einen alten Garderobenständer um. Die Liebenden sind für kurz erschrocken, für kurz verwirrt, für kurz verharren sie und halten den Atem an.

Sie sagt: "Was war das?" – Er sagt: "Ich weiß es nicht."

lemonhorse

Category: Realitaets.Tunnel, Wortbrocken.Cafe
Tag: jedem seinen toten Kater, Theatrum mundi


Morgennebel (Linie 901)

Er liegt mit aufgerissenem Augen am Straßenrand. Jetzt bin ich zum zweiten mal an einem toten Kater, vorbei gelaufen. Wäre ich wie gewöhnlich mit der Linie 41 gefahren, hätte wir uns nie getroffen. Tautropfen hat er auf seinem Fell. Über der Straße schwebt noch Morgennebel und schräg über uns knistern leise die Leitungen der Hochspannungsmasten.
Ein paar Schritte weiter kann ich noch nicht ganz Abstand nehmen davon, mich still danach zu fragen, was mit uns beiden los ist. Du Kater bist uns restlichen ein Stück voraus. Trotz oder gerade wegen der 1000 Berichte, Nachrichten und Analysen. Trotz meines überquellenden Fressnapfes von Informationen aus den 1000 Magischen Kanälen. Vielleicht sind wir uns immer fremder geworden. Ich dachte mal es wäre einfach – sich zu treffen. Sich wirklich zu treffen, so ganz nebenbei. Aber fast alles lenkt uns ab. Normalerweise wäre ich nicht mit der Linie 901 gefahren und hätte dich nicht getroffen. Aber die Zeit tritt die Türen ein. Ein flinkes Beil zertrümmert uns beiden die Persönlichkeitskonturen. Das ist die Zeit. Deine Pfoten sehen so aus, als wären sie eben noch flink über die Straße geflogen. Meine Schuhe unternehmen zwar noch Schritte, aber deine Pfoten wirken geschickter. Warum bist du hier herumgeschlichen? Ich muss weiter und fühle, das unten im Keller meiner Sprache die Funken der Affekte zischen. Eigentlich war ich noch gar nicht ganz wach – und es herrscht Wirrwarr in meinem Blick, der auf dich traf. Ich glaube, das wir uns blutige Pfoten und Finger holen würden, sobald wir versuchten unsere in Stücke liegenden Selbstbilder zusammen zu schieben. Jetzt sehe ich dich nicht mehr du alter steif gewordener Kater – und bemerke nur noch die Gewinde um meine Satzbauzündkerze. Nun, ich vermute unser kleines Zusammentreffen war ein kurzes barockes Zucken mitten in den Kulissen des Theatrum mundi. Das Dach dieses Welttheaters hat Risse. Wir haben sie nicht mehr alle. Ruiniert sind unsere kindlichen Prachtbauten und Wunschschlösser. Schimmel ist in der Luft und vermischt sich mit Tabakrauch. Fast unmerklich. Und im Kerzenlicht würden unsere Gesichter zu lustigen Teufelsfratzen – und in den Augen tanzt der Schalk.


Textaris(txt*bot)

#15
Category: Gedanken.Memo, Realitaets.Tunnel, Traum.Log, Wortbrocken.Cafe
Tag: Die Linie 41


Der orange-rote Klappziffernwecker steht seit Monaten auf 17:09 – ich sehe mir die Ziffern immer wieder wie zufällig an. Ich brauchte die Steckdose des Klappziffernweckers für den Drucker, der jetzt auf dem Holzstuhl steh.

Dadurch habe ich eine symbolische Zeitstillstandszone in dem Zimmer hergestellt. Es ist immer 17:09. Es klappert nachts nicht mehr. Der Drucker ist für die Flugtickets in das Zimmer eingedrungen. Diese kleine schwarze Maschine druckt etwas aus und andere Maschinen lesen mit einem Piepp-geräusch am Flugplatz, was der kleine schwarze Drucker geschrieben hat. Ich als Mensch war nur der Übermittler auf 2 Beinen, der benötigt wurde, damit die zwei Maschinen miteinander reden können. Sie haben sich über das Stück Papier verabredet, dass eine Flugmaschine mich mitnehmen soll – bis in die Höhe von 11km. Immerhin sitze ich am Fenster. Nachts sehen die Großstände von hier oben aus wie glühende Lava.

Lieber würde ich jetzt mit G. eine Zigarette rauchen in seiner kleinen Kellerküche. Wir könnten über Elektronenröhren reden. Zum Beispiel über die EL156. Seinen alten zerfledderten Arbeitssessel hat G. kürzlich aus der Kellerwohnung verbannt – der stand dort über Jahrzehnte. Wir haben so manche Nacht auf ihm gesessen und G. hat dann gekonnt den Lötkolben geschwungen. Er wollte schon seit Jahren mal alles umbauen und wieder Platz schaffen. Jetzt hat er mit dem Sessel augenscheinlich begonnen den Gedanken in die Tat umzusetzen.

Oder ich könnte bei S. einen Becher Kaffee trinken in der Wik. Dort wo die alten Klinikgebäude im Anscharpark zerfallen. S. sagt, sie könne nichts für Später zurücklegen, obwohl sie die ganze Zeit wie wild arbeitet. Manchen Gästen würde sie gern andere Preise für das Essen abverlangen. Höhere Preise für die Kieler-Nachrichten-Leser, gleichbleibende Preise für die Leute, die sie immer schon unterstützt hätten.

Oder ich würde mit V. über Musikequipment reden. Vielleicht würden wir dann etwas später loslegen, V. würde in die Tasten hauen – und ich die Gitarrenseiten hin und her schwingen lassen. Aber V. arbeitet jetzt in Hamburg, kommt darum seit den letzten Wochen etwas später zur Probe.

Oder ich begegne T. im Treppenhaus. Wie das wohl wird. Gerade wurden "wir" verkauft. Das alte Haus aus der Jahrhundertwende hat die Kontonummern und den Besitzer gewechselt. Unten aus dem Keller kommt etwas vermoderte Luft, diese reicht aber nur bis in den ersten Stock. Wir lächeln uns kurz an – und fragen einander wie es uns denn so geht – und ich würde T. vielleicht fragen, ob die Stadtwerke den Strom in seiner Wohnung wieder eingeschaltet hätten.

Es ist 17:09. Ich liege im Bett, habe die Augen zu. Ich schlafe. Ich träume. Es ist nicht leicht Dich (meine erste große Liebe) so zu sehen. Warum liegst du im Bett? Warum hat du dich die letzten 25 Jahre nicht verändert? – Warum sagst du denn nichts? – Ach, es war nur ein Traum. Es ist wieder morgens. Es ist 17:09. Ich trinke einen Becher Kaffee mit J. – ein Blick in die Augen, ein schneller Kuss, schon halb im Flur. Mal schnell quer über die Straße. Ein Stück weiter überblickt der Funkturm die Stadt. Als würde er uns alle ungerührt beobachten, wie ein alter bentongrauer ungelenker Mann auf einem Bein, der seit Jahren inne hält.

Die Linie 41 war gerade noch zu bekommen, denn das Rasieren hat zu lange gedauert. Die zwei Halogenlampenreihen an der Linienbusdecke fluchten als Parallelen über unseren Köpfen. Diese seltsame Mischung von Anonymität und Privatheit ist ein ungeheure Quelle für den Psychogeographen. Hier tritt alles zu Tage, die eher leeren Blicke der Müdigkeit, oder wer mit wem den Augenkontakt wagt, wer sich mit Kopfhörer und Touchscreen in die cybernetische Welt der Taschentelefone zurückzieht. Wer traurig ist, wer noch fast wie betäubt sich fühlt, wer in der morgendlichen Ich-Verdünntheit mit wackeligen Gedanken auf die Reise gegangen ist.