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#21
Cory Doctorow (* 17. Juli 1971 in Toronto, Ontario) ist ein kanadischer Science-Fiction-Autor, Journalist und Blogger. Im Jahr 2000 wurde er mit dem John W. Campbell Award für den besten Nachwuchsautor ausgezeichnet. Seine Bücher veröffentlicht er unter einer Creative-Commons-Lizenz.
https://de.wikipedia.org/wiki/Cory_Doctorow


Quote[...]  Ein Essay von Cory Doctorow (10. März 2024)

Cory Doctorow ist Sonderberater der Electronic Frontier Foundation und Gastprofessor für Computerwissenschaften an der Open University. Sein neuer Roman The Bezzle ist im Februar bei Head of Zeus erschienen. Der vorliegende Text ist eine überarbeitete Fassung der Marshall McLuhan Lecture, die er im Januar in der kanadischen Botschaft in Berlin gehalten hat. Der Beitrag wurde zuerst auf Englisch in der Financial Times abgedruckt.

Im vergangenen Jahr habe ich den Ausdruck enshittification geprägt, man könnte es wohl mit Verschlimmscheißerung übersetzen, um zu beschreiben, wie Onlineplattformen verfallen. Das obszöne kleine Wort stieß auf ein großes Publikum; es traf den Zeitgeist. Die American Dialect Society wählte es sogar zu ihren Wörtern des Jahres 2023 (was vermutlich bedeutet, dass mir nun ein Kackhaufen-Emoji auf meinem Grabstein sicher ist).

Was also ist Verschlimmscheißerung, und warum hat der Ausdruck gezündet? Dahinter steckt meine Theorie, wie das Internet von Plattformen kolonisiert worden ist, warum all diese Plattformen so schnell und so konsequent schlechter werden, warum das von Bedeutung ist und was wir dagegen tun können. Wir alle durchleben eine große Verschlimmscheißerung, durch die sich die Dienste, die uns wichtig sind und auf die wir uns verlassen, in riesige Scheißhaufen verwandeln. Das ist frustrierend. Das ist zermürbend. Es ist sogar erschreckend.
Der Grundgedanke der Abwärtsentwicklung, also ebenjener Verschlimmscheißerung, trägt meiner Meinung nach viel zur Erklärung dieser Entwicklung bei. Er führt uns aus dem mysteriösen Reich der "großen Kräfte der Geschichte" in die materielle Welt spezifischer Entscheidungen, die von realen Menschen getroffen werden; Entscheidungen, die wir rückgängig machen können, und Menschen, deren Namen und Mistgabelgrößen wir herausfinden können.

Der Ausdruck enshittification benennt das Problem und schlägt eine Lösung vor. Er besagt nicht einfach nur, dass alles immer schlechter wird, obwohl ich kein Problem damit habe, wenn man ihn so verwenden will. (Es ist ein englisches Wort. Wir haben keinen Rat für englische Rechtschreibung. Englisch ist eine gesetzesfreie Zone. Flippt aus, meine Kerle.) Aber wenn Sie es genauer wissen wollen, lassen Sie uns anschauen, wie Verschlimmscheißerung funktioniert. Es ist ein dreistufiger Prozess: Erst sind Plattformen gut für ihre Nutzer. Dann missbrauchen sie ihre Nutzer, um ihren Wert für ihre Geschäftskunden zu steigern. Schließlich missbrauchen sie genau diese Geschäftskunden, um sich den ganzen Wert zurückzuholen. Und dann folgt ein viertes Stadium: Sie sterben.

Facebook ist aus einer Website hervorgegangen, die entwickelt wurde, um die sexuelle Attraktivität von Harvard-Studentinnen zu bewerten – und danach ging es nur noch bergab. Anfangs war Facebook nur für US-Hochschüler und Highschool-Gänger zugänglich. Dann öffnete es sich für das allgemeine Publikum mit einer wirkungsvollen Botschaft: Ja, ich weiß, ihr seid alle auf MySpace. Aber MySpace gehört einem Milliardär, der euch zu jeder Stunde ausspioniert. Meldet euch bei Facebook an, wir werden euch niemals ausspionieren. Kommt und erzählt uns, wer euch in dieser Welt wichtig ist.

Das war die erste Phase. Facebook hatte einen Überschuss, das Geld seiner Investoren, und verteilte den dadurch generierten Mehrwert unter seinen Endnutzern. Diese banden sich dann an Facebook. Wie den meisten Technologieunternehmen nutzten auch Facebook die Netzwerkeffekte. Ein Produkt profitiert von Netzwerkeffekten, wenn es sich allein dadurch verbessert, dass mehr Menschen es verwenden. Sie gingen auf Facebook, weil ihre Freunde dort waren, dann haben sich andere angemeldet, weil sie da waren.
Doch Facebook zeichnete sich nicht nur durch starke Netzwerkeffekte aus, sondern auch durch hohe Transaktionskosten bei einem Wechsel. Wechselkosten sind all das, was man aufgeben muss, wenn man ein Produkt aussortiert oder sich von einem Dienst abmeldet. In Facebooks Fall waren das all die Freunde, denen man dort folgte und die einem folgten. Theoretisch hätte man sie alle zurücklassen können und woanders hingehen; praktisch war man gelähmt vom Problem kollektiven Handelns.
Denn es ist gar nicht so leicht, viele Menschen dazu zu bringen, zur selben Zeit dasselbe zu tun. Facebooks Endnutzer nahmen sich im Prinzip gegenseitig als Geiseln, was sie an die Plattform fesselte. Facebook nutzte diese Geisellage aus, entzog den Nutzern den Mehrwert und teilte ihn unter zwei Gruppen von Geschäftskunden auf: Werbekunden und Verlage.

Den Werbekunden sagte Facebook: Erinnert ihr euch noch daran, wie wir diesen Tölpeln gesagt haben, wir würden sie nie ausspionieren? Nun ja, wir tun es doch. Und den Zugang zu diesen Daten verkaufen wir euch in der Form fein abgestimmter Zielgruppenansprache. Eure Anzeigen sind spottbillig, und wir scheuen keine Kosten, um sicherzustellen, dass die von euch bezahlte Anzeige auch von einem echten Menschen gesehen wird.
Den Verlagen sagte Facebook: Erinnert ihr euch noch daran, wie wir diesen Tölpeln erzählt haben, wir würden ihnen nur zeigen, was sie von sich aus sehen wollen? Ha! Ladet kurze Auszüge eurer Website hoch, verlinkt sie, und wir werden sie Nutzern in die Augen schmieren, die nie darum gebeten haben, sie zu sehen. Wir bieten euch einen kostenlosen Traffic-Trichter, der Millionen Nutzer auf eure Webseite bringt, die ihr nach Belieben monetarisieren könnt.
Und so banden sich auch Werbekunden und Verlage an die Plattform.

Nutzer, Werbekunden, Verlage – alle waren in Facebook eingeschlossen. Was bedeutete, dass es Zeit für die dritte Phase der enshittification war: ihnen allen den Mehrwert zu entziehen und ihn an die Facebook-Aktionäre zu verteilen.
Für Nutzer bedeutete dies, dass der Anteil an Inhalten von Profilen, denen man folgte, auf eine homöopathische Dosis heruntergefahren und die entstandene Leere mit Anzeigen sowie bezahlten Inhalten von Verlagen gefüllt wurde. Für Werbekunden bedeutete das steigende Preise und eingeschränkte Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung, sodass sie am Ende viel mehr für Anzeigen zahlten, die wahrscheinlich viel seltener wahrgenommen wurden. Für Verlage bedeutete es, dass die Reichweite ihrer Posts algorithmisch heruntergeregelt wurde, wenn sie nicht einen immer größeren Anteil ihrer Artikel in den Auszug aus ihrer Website aufnahmen. Und dann begann Facebook, Verlage dafür zu bestrafen, wenn sie auf ihre eigene Website verlinkten, sodass sie eingepfercht waren und vollständige Texte ohne Links posten mussten, also zu Warenanbietern für Facebook wurden und für ihre Reichweite wie für ihre Monetarisierung gänzlich auf das Unternehmen angewiesen waren.
Wenn irgendeine dieser Gruppen protestierte, wiederholte Facebook einfach das Mantra, das jede Techführungskraft in ihrem Darth-Vader-MBA lernt: "Ich habe den Vertrag geändert. Hoffe und bete, dass ich ihn nicht noch weiter abändere."

Nun tritt Facebook in die gefährlichste Phase der Verschlimmscheißerung ein. Es will sämtlichen verfügbaren Mehrwert abziehen und gerade genug Restwert in dem Dienst belassen, um die Endnutzer aneinander und die Geschäftskunden an die Endnutzer zu binden, alles andere geht an die Aktionäre. (Erst kürzlich kündigte das Unternehmen eine vierteljährliche Dividende von 50 Cent pro Aktie sowie eine Erhöhung seiner Aktienrückkäufe um 50 Milliarden Dollar an. Die Aktienkurse stiegen sprunghaft.)
Doch ist das ein sehr fragiles Gleichgewicht, denn der Unterschied zwischen "Ich hasse diesen Dienst, kann mich aber nicht dazu durchringen, mich abzumelden" und "Um Himmels willen, warum habe ich so lange gebraucht, um mich abzumelden?" ist sehr gering.
Es reicht ein Cambridge-Analytica-Skandal, eine Whistleblowerin, ein Livestream von einer Massenerschießung, um User zu den Ausgängen zu treiben, und dann wird Facebook entdecken, dass Netzwerkeffekte ein zweischneidiges Schwert sind. Wenn Nutzer nicht gehen können, weil alle anderen bleiben, dann gibt es, wenn alle sich zu verabschieden beginnen, keinen Grund, es nicht auch zu tun. Das ist die letale enshittification.

Diese Phase geht üblicherweise mit Panik einher, von Techenthusiasten euphemistisch als pivoting bezeichnet, strategischer Kurswechsel. Weshalb wir Kurswechsel wie den folgenden erleben: In Zukunft werden alle Internetnutzer zu beinlosen, geschlechtslosen, stark überwachten Comicfiguren mit niedriger Polygonalzahl in einer virtuellen Welt namens Metaverse.

Das ist der Prozess der enshittification, der Abwärtsentwicklung. Das sagt uns aber noch nicht, warum alles gerade jetzt verschlimmscheißert wird, und ohne dieses Wissen können wir nicht überlegen, was wir dagegen tun sollen. Was genau hat in unseren Tagen zur Großen Verschlimmscheißerung geführt? War es das Ende der Niedrigzinspolitik? Waren es Führungswechsel bei den Techgiganten?
Ist der Merkur vielleicht gerade rückläufig?

Nö.

Die Phase zinsfreier Zentralbankmittel hat zweifellos dazu geführt, dass die Technologieunternehmen mit Gewinnüberschüssen um sich schmeißen konnten. Doch Facebook begann mit seiner enshittification lange vor dem Ende der Politik des billigen Geldes, Amazon, Microsoft und Google genauso. Einige der Techgiganten haben neue Vorstandsvorsitzende bekommen. Googles Verschlimmscheißerung aber ist schlimmer geworden, seit die Gründer wieder an Bord sind, um die KI-Panik – Entschuldigung, den KI-Kurswechsel – der Firma zu beaufsichtigen. Und ein rückläufiger Merkur kann es schon deshalb nicht sein, weil ich Krebs bin, und wie jeder weiß, glauben Krebse nicht an Astrologie.

Wenn sich eine ganze Reihe unabhängiger Institutionen gleichzeitig auf die gleiche Weise verändert, ist das ein Zeichen dafür, dass sich ihr Umfeld verändert hat, und genau das ist in der Techbranche passiert. Wie alle Firmen gehorchen auch Technologiefirmen entgegengesetzten Notwendigkeiten. Auf der einen Seite wollen sie Geld verdienen. Auf der anderen Seite bedeutet Geld verdienen, dass man kompetentes Personal anwerben sowie motivieren muss und Produkte herstellen, die Menschen auch wirklich kaufen wollen. Je mehr Wert ein Unternehmen seine Belegschaft und seine Kundschaft abschöpfen lässt, desto weniger bleibt für seine Aktionäre.
Das Gleichgewicht, in dem ein Unternehmen Dinge, die wir mögen, in ehrenhafter Weise zu einem fairen Preis produziert, ist so beschaffen, dass eine Erhöhung der Preise, eine Verschlechterung der Qualität und eine Benachteiligung der Mitarbeiter das Unternehmen mehr kosten, als wenn es gleich ein schmutziges Spiel spielen würde.

Es gibt aber vier Kräfte, die Unternehmen disziplinieren und ihren Drang zur enshittification im Zaum halten:

Konkurrenz. Firmen, die befürchten müssen, dass man einfach woanders hingeht, halten sich mit Qualitätsverschlechterungen und Preiserhöhungen zurück.
Regulierung. Unternehmen, die höhere Geldstrafen durch Regulierer befürchten müssen, als sie auf betrügerische Weise erwirtschaften können, betrügen seltener.
Diese zwei Faktoren betreffen alle Branchen, die nächsten beiden gelten speziell für den Technologiebereich.
Selbsthilfe. Computer sind extrem flexibel, so wie auch die digitalen Produkte und Dienste, die wir mit ihrer Hilfe kreieren. Der einzige Computer, von dem wir wissen, wie man ihn baut, ist die turingvollständige Von-Neumann-Maschine, ein Computer, der jedes gültige Programm ausführen kann.

Das heißt, dass sich die Anwender immer irgendwelcher Programme bedienen können, um die Antifunktionalitäten auszuhebeln, die Werte von ihnen auf die Aktionäre einer Firma verlagern. Beispielsweise sagt jemand im Vorstand: "Ich habe ausgerechnet, dass wir netto zwei Prozent mehr Gewinn erzielen, wenn wir unsere Anzeigen um 20 Prozent invasiver machen."
In der digitalen Welt könnte jemand gut dagegenhalten: "Ja, aber wenn wir das tun, werden 20 Prozent unserer Nutzer Werbeblocker installieren, und unser Gewinn von diesen Nutzern wird auf null fallen – dauerhaft." Digitalunternehmen, heißt das, hält auch die Furcht im Zaum, eine verschlimmscheißernde Maßnahme werde die Anwender dazu bringen, zu ergoogeln: "Wie kann ich das entverschlimmscheißern?"
Und zu guter Letzt die Mitarbeiter. Die Angestellten in der Technologiebranche sind kaum gewerkschaftlich organisiert, aber das bedeutet nicht, dass sie keine Mitarbeitermacht haben. Der historische "Mangel an Talenten" hat bisher dazu geführt, dass sie an einem ziemlich langen Hebel saßen. Wenn sie mit ihren Vorgesetzten unzufrieden waren, konnten sie kündigen und auf der anderen Straßenseite einen neuen, besseren Job bekommen.

Das war ihnen genauso klar wie ihren Vorgesetzten. Paradoxerweise hat das dazu geführt, dass Techmitarbeiter sehr leicht auszubeuten waren. In überwältigender Zahl sahen sie sich nämlich als angehende Gründer, als Unternehmer, die nur vorübergehend angestellt waren, als die Helden von morgen.
Deshalb waren Firmenmottos wie Googles "Sei nicht böse" und Facebooks "Die Welt offener und vernetzter machen" wichtig; sie vermittelten der Belegschaft ein Sendungsbewusstsein. Die amerikanische Bibliothekarin Fobazi Ettarh nennt dies berufliche Selbstüberhöhung (vocational awe), Elon Musk nennt es extremely hardcore, super hartgesotten, sein.
Obwohl die Techbelegschaften große Verhandlungsmacht besaßen, spielten sie sie nicht aus, als ihre Chefs verlangten, dass sie ihre Gesundheit, ihre Familien und ihren Schlaf opfern sollten, um willkürliche Fristen einzuhalten. Solange ihre Vorgesetzten ihren Arbeitsplatz in einen drolligen "Campus" mit Fitnessstudio, Gourmet-Cafeteria, Wäscheservice, Massagen und dem vorsorglichen Einfrieren von unbefruchteten Eizellen verwandelten, konnten sich die Mitarbeiter einreden, dass sie verhätschelt würden – statt dazu gebracht zu werden, sich zu Tode zu arbeiten.

Doch gibt es eine Kehrseite, wenn die Unternehmensführung die Belegschaft mit Appellen an ihr Sendungsbewusstsein motiviert: Die Belegschaft verfügt dann über ein Sendungsbewusstsein. Wenn man sie anschließend auffordert, die Produkte zu verschlimmscheißern, für deren Herstellung sie ihre Gesundheit ruiniert hat, wird sie moralisch verletzt sein, entrüstet reagieren und mit Kündigung drohen. Deshalb bildeten die Techangestellten selbst das letzte Bollwerk gegen eine enshittification.

Die Zeit vor der Verschlimmscheißerung war auch nicht von besseren Führungsqualitäten geprägt. Die Manager selbst waren nicht besser. Sie wurden nur im Zaum gehalten. Ihre niedrigsten Impulse wurden durch Konkurrenz, Regulierung, Selbsthilfe und Arbeitnehmermacht gebremst. Bis eines dieser Hemmnisse nach dem anderen unterlaufen wurde und sich der Trieb zur Verschlimmscheißerung ungehemmt austoben und das Scheißozän einleiten konnte.

[...]

Wenn Sie versuchen, einen alternativen Client für Facebook zu entwickeln, wird man Ihnen vorwerfen, dass Sie gegen US-Gesetze wie den Digital Millennium Copyright Act (DMCA) und EU-Gesetze wie Artikel 6 der EU-Urheberrechtsrichtlinie (EUCD) verstoßen. Versuchen Sie mal, ein Android-Programm zu entwickeln, das iPhone-Apps ausführt und Daten aus Apples Media Stores abspielt – man wird Sie bombardieren, bis die Trümmer rauchen. Wenn Sie versuchen, Google komplett auszulesen, wird es Sie mit Atomwaffen beschießen, bis Sie glühen.

[...]

2008 kaufte Amazon Audible, eine Plattform für Hörbücher. Heute ist Audible ein Monopolist, der mehr als 90 Prozent des Hörbuchmarkts kontrolliert. Audible verlangt, dass alle Urheber auf seiner Plattform ihre Produkte über Amazons "digitale Rechteverwaltung" verkaufen, die sie an Amazons Apps bindet.
Ich schreibe also beispielsweise ein Buch, lese es über ein Mikrofon ein, bezahle einer Regisseurin und einer Technikerin ein paar Tausend Dollar, um das Ganze in ein Hörbuch zu verwandeln, und verkaufe es Ihnen dann auf der Monopol-Plattform Audible. Wenn ich später beschließe, Amazon zu verlassen, und Sie auf eine andere Plattform mitnehmen möchte, habe ich Pech gehabt. Wenn ich Ihnen ein Werkzeug zur Verfügung stelle, um die Amazon-Verschlüsselung von meinem Hörbuch zu entfernen, sodass Sie es mit einer anderen App abspielen können, begehe ich ein Verbrechen, das mit einer fünfjährigen Haftstrafe und einer halben Million Dollar Geldstrafe geahndet werden kann, sofern es sich um mein erstes Vergehen dieser Art handelt.
Damit droht einem eine härtere Strafe, als wenn man das Hörbuch einfach auf einer Torrent-Seite raubkopieren würde. Sie ist aber auch strenger als die Strafe, die man für den Diebstahl der Hörbuch-CD auf einem Fernfahrerrastplatz riskiert. Sie ist härter als die Strafe für den Überfall auf den Laster, der die CD transportiert.

Nehmen wir noch einmal die Werbeblocker, wie sie die Hälfte aller Internetnutzer nutzt. Kein App-Nutzer aber verwendet Werbeblocker, weil man erst die Verschlüsselung einer App überwinden muss, um einen Blocker installieren zu können, und das ist eine Straftat. (Jay Freeman, amerikanischer Geschäftsmann und Ingenieur, bezeichnet dies als "kriminelle Missachtung des Geschäftsmodells".)
Wenn also jemand auf der Vorstandsetage sagt: "Machen wir unsere Anzeigen um 20 Prozent penetranter und steigern damit unsere Gewinne um zwei Prozent", dann wird niemand einwenden, dass dies die Nutzer dazu bringt, zu googeln, wie man Werbung blockieren kann. Denn die Antwort lautet ja, dass man es nicht kann. Tatsächlich ist es wahrscheinlicher, dass jemand in diesem Vorstand sagen wird: "Machen wir unsere Anzeigen um 100 Prozent penetranter und steigern damit unsere Gewinne um zehn Prozent." (Das ist der Grund, warum jedes Unternehmen will, dass man seine App installiert, statt seine Website zu nutzen.)

[...]

Ich werde jetzt kein Plädoyer für den Kapitalismus halten. Ich glaube nicht wirklich daran, dass Märkte die effizientesten Verteiler von Ressourcen und Schiedsrichter der Politik sind. Aber der Kapitalismus von vor 20 Jahren schuf Raum für ein wildes und verworrenes Internet, einen Raum, in dem Menschen mit missliebigen Ansichten zueinanderfinden, sich gegenseitig helfen und organisieren konnten. Der Kapitalismus von heute hat ein globales, digitales Geistereinkaufszentrum hervorgebracht, gefüllt mit Bot-Mist, minderwertigen Geräten von Unternehmen mit konsonantenlastigen Markennamen und Kryptowährungsbetrug.
Das Internet ist nicht wichtiger als der Klimanotstand, Geschlechtergerechtigkeit, Gerechtigkeit für rassistisch diskriminierte Menschen, Völkermorde oder Ungleichheit. Doch ist das Internet das Feld, auf dem wir diese Kämpfe austragen können. Ohne ein freies, faires und offenes Internet sind sie verloren, bevor wir uns überhaupt ins Kampfgetümmel geworfen haben.

Wir können die Verschlimmscheißerung des Netzes rückgängig machen. Wir können die schleichende Abwärtsentwicklung jedes digitalen Geräts aufhalten. Wir können ein besseres, gegen solche Verschlimmscheißerung resistentes digitales Nervensystem aufbauen, eines, das dazu geeignet ist, die Massenbewegungen zu koordinieren, die wir brauchen, um den Faschismus zu bekämpfen, Völkermorde zu beenden und unseren Planeten sowie unsere Gattung zu retten.
Martin Luther King sagte einmal: "Es mag stimmen, dass das Gesetz keinen Menschen dazu bringen kann, mich zu mögen, aber es kann ihn daran hindern, mich zu lynchen, und das halte ich für ziemlich wichtig." So mag es auch stimmen, dass das Gesetz Unternehmen nicht dazu zwingen kann, Sie als ein menschliches Wesen zu behandeln, das einen Anspruch auf Würde und faire Behandlung hat, und nicht nur als eine wandelnde Geldbörse, einen Nachschub an Darmbakterien für den unsterblichen kolonialen Organismus namens Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Aber es kann Unternehmen dazu bringen, Sie genug zu fürchten, um Sie fair zu behandeln und Ihre Würde zu wahren – selbst wenn sie der Meinung sind, dass Sie das nicht verdienen.

Übersetzt aus dem Englischen von Michael Adrian.



Aus: "Die Verschlimmscheißerung des Internets" Aus einem Essay von Cory Doctorow (10. März 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/digital/internet/2024-03/plattformen-facebook-google-internet-cory-doctorow

#22
Quote[...] Die Zürcher Piratenpartei will per Volksinitiative den Überwachungs-Kapitalismus eindämmen und die Datensicherheit erhöhen. Im bevölkerungsreichsten Kanton beginnt nun die Unterschriftensammlung.

Daniel Schurter: Frau Amgwerd, warum will die Piratenpartei eine kantonale Volksinitiative für ein Grundrecht auf digitale Integrität gerade jetzt lancieren?

Monica Amgwerd: Wir befinden uns in einer technologischen Zeitenwende: Die Digitalisierung betrifft fast alle Lebensbereiche. Viele unserer alltäglichen Handlungen finden inzwischen online statt und hinterlassen eine Datenspur, auch wenn uns dies oft nicht bewusst ist. Mit steigender Rechenleistung und den Fortschritten in KI sind wir an einem Punkt, an dem diese Daten vollautomatisiert ausgewertet werden können.

Wir müssen als Gesellschaft jetzt vorausschauend handeln, damit wir die vielen Vorteile der Digitalisierung nutzen können und dabei die Risiken so klein wie möglich halten. Unser Ziel ist, dass die Digitalisierung den Menschen dient und nicht gegen die Interessen der breiten Bevölkerung eingesetzt wird. Deshalb ist die Zeit reif für ein Grundrecht auf digitale Integrität.

Daniel Schurter: Digitale Unversehrtheit klingt gut. Aber welchen praktischen Nutzen erhofft sich die Piratenpartei, wenn dies in die Verfassung geschrieben wird?

Monica Amgwerd: Das Grundrecht auf digitale Integrität und die davon abgeleiteten Rechte geben den Menschen ein Mittel, um sich gegen Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen. Der Gesetzgeber muss diese neuen Rechte respektieren und verwirklichen. Dieses neue Grundrecht ist eine humanistische Antwort auf den Paradigmenwechsel des Digitalzeitalters.

Daniel Schurter: Florent Thouvenin, Professor für Informations- und Kommunikationsrecht an der Universität Zürich, sprach von einem «diffusen Unbehagen gegenüber den neuen Möglichkeiten und der Macht von Big Tech sowie des Staates». Wie sehen Sie das?

Monica Amgwerd: Die Besorgnis über die Macht von Big Tech und des Staates wird durch Ereignisse wie den Cambridge-Analytica-Skandal und Datenlecks bei staatlichen Stellen in der Schweiz bestätigt. Diese zeigen die Gefahrenpotenziale des Überwachungskapitalismus und staatlicher Datensammlung für die Demokratie auf. Für die Piratenpartei ist klar, dass es eine Pflicht geben muss, solche Gefahrenpotenziale zu minimieren. Das Grundrecht auf digitale Integrität sorgt dafür, dass sämtliche Akteure ihre Tätigkeiten oder Dienstleistungen verantwortungsvoll gestalten müssen, um die digitale Integrität der Menschen zu gewährleisten.

Daniel Schurter: Allerdings hat das Schweizer Parlament im Dezember 2023 entschieden, dass die Bundesverfassung nicht um das Recht auf digitale Unversehrtheit erweitert werden soll. Ein Vorstoss des SP-Politikers Samuel Bendahan (Waadt) wurde im Nationalrat klar abgelehnt.

Monica Amgwerd: Wir bedauern diesen Entscheid des Parlaments sehr. Dieser zeigt, dass der Druck mittels Volksinitiativen notwendig ist, um die digitale Unversehrtheit der Bürger zu schützen.

Daniel Schurter: Kritische Rechtsexperten argumentieren, der bestehende Grundrechtskatalog der Bundesverfassung genüge. Was antworten Sie darauf?

Monica Amgwerd: Es existiert weder ein Recht auf Vergessenwerden noch ein Recht auf ein Offline-Leben. Es existiert auch kein Recht auf Informationssicherheit oder ein Recht darauf, nicht von einer Maschine beurteilt zu werden. Schweizerinnen und Schweizer haben bislang kein Recht darauf, nicht überwacht, vermessen und analysiert zu werden. Das Recht auf Schutz vor Verwendung von Daten ohne Zustimmung, die das digitale Leben betreffen, ist zudem weitreichender. Der bisherige Grundrechtskatalog deckt dies alles nicht ab.

Daniel Schurter: Im Einleitungstext der Initiative wird ein ziemlich düsteres Bild des Überwachungskapitalismus und eines datenhungrigen Staates gezeichnet. Welche konkreten Probleme sind aus Sicht der Piratenpartei am dringlichsten anzugehen?

Monica Amgwerd: Eine wirkliche Priorisierung ist schwierig vorzunehmen, auch weil die Probleme teilweise zusammenhängen, etwa dass Staaten auch mit Big Tech zusammenarbeiten. Fakt ist: Wir als Partei kommen kaum mehr nach, all die Überwachungsgesetze zu bearbeiten, dasselbe mit den unzähligen Datenlecks des Bundes und Privater. Was vorliegt, ist eine mangelnde Kultur der Sorgfalt im Umgang mit Daten von Menschen. Das Dringendste ist damit das Installieren von rechtlichen Standards, um diese Sorgfalt sicherzustellen und damit das Fundament für eine bessere Zukunft zu legen.

Daniel Schurter: Im Initiativtext heisst es, dass aus dem Grundrecht unter anderem das Recht darauf abgeleitet werden soll, «nicht von einer Maschine beurteilt zu werden». Wie wichtig ist dieser KI-Aspekt aus Sicht der Piratenpartei?

Monica Amgwerd: Algorithmen entscheiden bereits heute in vielen Bereichen unseres Lebens. Bewerbungen werden etwa automatisch verarbeitet und bewertet, Vorlieben anhand unseres Verhaltens erraten und Wahrscheinlichkeit zur Kriminalität berechnet. Das Problem dabei ist, dass diese Algorithmen intransparent sind und Entscheidungen meistens nicht mal vom Anbieter verstanden werden. Ein Mensch muss immer die letzte Instanz bleiben. Unser Vorschlag für ein Recht darauf, nicht von einer Maschine beurteilt zu werden, gibt den Menschen die Möglichkeit, gegen automatisierte Entscheidungsfindung Einspruch zu erheben.

Daniel Schurter: Ihre Initiative will auch die Problematik adressieren, dass immer mehr Organisationen gehackt und persönliche Daten geleakt werden. Wie soll das Recht auf Datensicherheit erreicht, bzw. umgesetzt werden?

Monica Amgwerd: Wir fordern ein Recht auf Informationssicherheit. Informationssicherheit bedeutet, dass die Vertraulichkeit, die Verfügbarkeit und die Integrität der Daten sichergestellt ist. Die Bürgerinnen und Bürger hätten nach der Annahme der Initiative das Recht, gegen Organisationen vorzugehen, die gegen diese Prinzipien fahrlässig verstossen. Wie beispielsweise die Zürcher Justizdirektion, die hochsensible Daten wie psychiatrische Gutachten verlor, oder die Firma Xplain. Ein positiver Nebeneffekt dürfte sein, dass sorgfältiger digitalisiert wird. Nämlich nur dann, wenn die Sicherheit gewährleistet ist.

Daniel Schurter: Stichwort Ende-zu-Ende-Verschlüsselung: In der EU gibt es seit Längerem Bestrebungen, die abhörsichere digitale Kommunikation aufzuweichen. Droht diese Gefahr auch hierzulande?

Monica Amgwerd: Ja, diese Gefahr droht auch in der Schweiz. Das Nachrichtendienstgesetz (NDG) und kantonale Polizeigesetze sehen den Einsatz von Staatstrojanern vor und der Bund hatte letztes Jahr versucht, über den Verordnungsweg das digitale Briefgeheimnis zu zerstören. Dank des grossen Aufschreis durch Threema, Proton, des eidgenössischen Datenschützers (EDÖB) und nicht zuletzt von uns Piraten konnten wir diesen Angriff auf sichere Verschlüsselung vorerst abwehren.

Daniel Schurter: Laut Experten könnte ein solches Grundrecht den Bürgerinnen und Bürgern die Illusion eines Schutzes vermitteln, obwohl die echte Bedrohung für ihre Freiheiten von schwer kontrollierbaren externen Faktoren abhängen, etwa von multinationalen Techkonzernen. Wie sehen Sie das?

Monica Amgwerd: Bei der Entwicklung, Planung oder Nutzung von Technologien sollen sich die Verantwortlichen bereits Gedanken zu einer menschenwürdigen Umsetzung machen. Die Vor- und Nachteile müssen abgewogen und verglichen werden und ethische Aspekte dürfen dabei nicht fehlen.

Die Initiative zielt darauf ab, dass sich der Staat von den Techkonzernen emanzipieren muss. Kürzlich musste der Bund eingestehen, dass er sich in eine Abhängigkeit hineinmanövriert hatte, aus der er nur noch schwer entkommen kann, Zitat: «Faktisch ist die Bundesverwaltung heute abhängig von Office-Produkten des Herstellers Microsoft.»

Der Einsatz von Open-Source-Software ist der Schlüssel für eine sichere und souveräne digitale Schweiz. Unsere Forderungen nach einem Recht auf Informationssicherheit und darauf nicht überwacht, vermessen und analysiert zu werden wird diesen Emanzipationsprozess beschleunigen.

Daniel Schurter: Damit die Zürcher Volksinitiative zustande kommt und die Stimmberechtigten darüber abstimmen können, braucht es nur ein paar tausend Unterschriften, das dürfte ein Kinderspiel sein, oder?

Monica Amgwerd: Der Kanton Zürich hat machbare Bedingungen für Initiativen, das kommt auch uns entgegen. Aber 6000 Stimmen in 6 Monaten sind für unser Team trotzdem ein Kraftakt, den es zu stemmen gilt und wir sind um jede Unterstützung froh, Interessierte bitte melden!

Daniel Schurter: Wie beurteilen Sie die Chancen, dass die Initiative vom Stimmvolk tatsächlich angenommen wird?

Monica Amgwerd: Man weiss so etwas natürlich nie, aber wir haben Gründe zur Annahme, dass die Chancen nicht schlecht stehen. Ich sage das, weil in Genf über eine sehr ähnliche Initiative bereits abgestimmt und diese vom Stimmvolk mit einem überwältigenden Ergebnis von 94 Prozent Ja-Stimmen angenommen wurde.

Chronologie:

    März 2024: Im Wallis lehnt das Stimmvolk eine neue Kantonsverfassung ab, die unter anderem ein «Recht auf digitale Integrität und Identität» verankern wollte.

    Dezember 2024: Der Nationalrat lehnt eine parlamentarische Initiative des Waadtländer SP-Politikers Samuel Bendahan ab, die das Recht auf digitale Unversehrtheit in der Bundesverfassung festschreiben will.

    Juni 2023: In Genf wird als erstem Schweizer Kanton das Recht auf digitale Unversehrtheit in der Kantonsverfassung verankert. Das Stimmvolk nimmt eine entsprechende Vorlage mit über 90 Prozent an.

    In weiteren Kantonen laufen politische Bestrebungen, digitale Unversehrtheit als neues Grundrecht in die jeweiligen Kantonsverfassungen zu schreiben.



Aus: "«Die Zeit ist reif für ein Grundrecht auf digitale Integrität»" Daniel Schurter (11.03.2024)
Quelle: https://www.watson.ch/digital/interview/854855036-piratenpartei-zuerich-lanciert-volksinitiative-fuer-digitale-integritaet

Quotewololo
11.03.2024 13:28registriert März 2024

Lol. Eine digitale Welt, die keine Grenzen hat, soll also vom Schweizergesetz unterworfen werden.
Das Einzige, was hilft, ist, dass jeder sich selbst schützt. So war das schon immer und so wird es immer sein.
Dieser Glaube, mit mehr Gesetzen eine bessere Welt zu schaffen, ist ja schon fast lächerlich.


QuoteOnyx
11.03.2024 14:01registriert Dezember 2014

Womit sonst? Selbstjustiz? Sie machen das, was jede normale Partei tun würde und das in ihrem Kernthema.


Quotewololo
11.03.2024 15:54registriert März 2024

@Onyx: In dem du keine Spuren hinterlegst. Wenn ich nach mir suche im Internet, taucht nahezu nichts auf.


Quotefant
12.03.2024 00:53registriert Oktober 2015

@wololo Du hast nicht ganz unrecht aus rein technischer Sicht (auch wenn mir das nicht gefällt).

Deshalb: Gesetze sind doch im Wesentlichen zum Schutz der Schwachen. Im übertragenen Sinn gibst du den "Grossen" einen Freipass um zB mit allen psychologisch ausgeklügelten Tricks die "dummen Massen" zur Freigabe ihrer persönlichen Daten tu verführen.

Und wenn dann etwas passiert, dann einfach "selbst Schuld"?

Nein, auch Fussgänger werden per Gesetz vor Autos geschützt. Und obwohl mehrere Fussgänger pro Jahr unters Auto kommen, möchte wohl niemand diese Gesetze abschaffen...


QuoteOnyx
12.03.2024 08:47registriert Dezember 2014

@wololo
Dann müsste ich mich komplett von meinem sozialen Umfeld isolieren und könnte u.a. nie mehr Politik machen, da sonst zumindest meine Partei Bilder von mir hochlädt. Sorry, aber merkst du selbst, wie unrealisitisch das ist, wenn man ein normales Leben führen möchte?

@fant
Danke für deine differenzierte Aussage, die ich absolut unterschreiben kann.


...
#23
Quote[...] Unruhige Nächte, lange Tage, keine freien Wochenenden. Allein zuständig für Lohnarbeit, Care�arbeit und überhaupt alles, was im Leben so anfällt, dem eigenen und dem des Kindes. Und im schlechtesten Fall keine Oma, die wenigstens mal kurz einspringt, zum Beispiel wenn man selbst gerade Grippe hat. So sieht die Realität für viele Alleinerziehende aus.

Rund 1,6 Millionen Menschen betreuen hierzulande minderjährige Kinder allein, ganze 85 Prozent davon sind Frauen. Mehr als ein Drittel ist auf Grundsicherung angewiesen.

...


Aus: "Alleinerziehende nicht alleinlassen" Kommentar von Patricia Hecht (12.3.2024)
Quelle: https://taz.de/6-Punkte-Plan-fuer-Alleinerziehende/!5994707/

QuoteRuediger

Sind denn Alleinerziehende wirklich eine einheitliche Gruppe, die alle vergleichbare Probleme und Anliegen haben? Neben Höhe des Einkommens, Anzahl und Alter der Kinder gibt es doch vor allem riesige Unterschiede dabei, wie präsent der andere Elternteil ist, ob und wieviel Unterhalt man erhält, ob die Kinder regelmäßig Zeit mit dem anderen Elternteil verbringen, ob man vielleicht sogar ein Wechselmodell hat etc. Es gibt alleinerziehende Eltern, die regelmäßig freie Wochenenden haben, an denen sie sich erholen und Dinge erledigen können (was Eltern die zusammen sind meist nicht haben), die sich aufgrund der Unterhaltszahlungen leisten können, in Teilzeit zu arbeiten, die Kinder trotz Trennung gemeinsam erziehen oder bei denen ein neuer Partner sich stark einbringt - und es gibt solche, die aus unterschiedlichen Gründen all das nicht haben. Die kann man nicht über einen Kamm scheren. Förderung von Eltern und Kindern sollte vom Bedarf abhängen, nicht vom Beziehungsstatus der Eltern.


Quotedegouges

Ja da muss sich dringend etwas ändern. Ich gehörte selbst in diese "Gruppe" und kann im Nachhinein sagen: Es ist krass, wie sehr die Gesellschaft diese "Gruppe" ignoriert und im regen stehen lässt.


QuoteN.Laj

Wahnsinn. Ich bin selbst Single - Mama und merke beim Lesen: Stimmt, wir haben keine Lobby, wir fallen einfach durchs System, Pech gehabt. Ich habe lange nicht mehr darüber nachgedacht. Man ist es so sehr gewöhnt, dass der Alltag hart ist, dass man gar nicht mehr darüber reflektiert...

Und der Punkt: Mangels Ressourcen können wir gar nicht so für uns kämpfen wie wir wollen, den hab ich 1:1 schon so gesagt. Mir fällt das in verschiedenen Kontexten immer wieder auf. Wenn ich als alleinerziehende diese Gruppe vertreten will, zb beim Träger der Kita im Gesamtelternbeirat, dann ist das mit viel Anstrengung verbunden. Wer passt abends aufs Kind auf? Muss ich dafür bezahlen (was nochmal mehr weh tut)? etc...


...
#24
QuoteKwend (07.03.2024)

Ausbildung in einer Zimmerei. Ein Altgeselle schrie schon morgens um sechs jüngere Mitarbeiter und vor allem uns Azubis an und machte alles um ihn herum runter. Der Chef stand nicht nur einmal grinsend daneben.

Einmal hatte ich sein Dämmesser, eine Art Machete fuchtelnd vor der Nase und wurde mit Glasswolle beworfen. Nach der Beschwerde und einer Art Kurzstreik musste ich nie wieder mit dem Mann auf eine Baustelle.

Ausbildung abgeschlossen, ich war damals mit 24 jahren schon gefestigt genug um das mehr oder weniger an mir abperlen zu lassen. Mehrere (!) andere Azubis haben in der selben Zeit die Ausbildung wegen dem Mann (oder ihrer 16 jährigen Dünnhäutigkeit) abgebrochen oder nach dem Praktikum gar nicht erst begonnen.

Aber der Chef regte sich über "diese Generation" und die Tatsache, dass er nicht genug Nachwuchs bekommt auf.

Ich habe noch das obligatorische Jahr nach der Ausbildung im Betrieb verbracht und dann mit Genugtuung gekündigt und in einem anderen Betrieb weiter gemacht.

Der cholerische Mitarbeiter hatte ein paar Jahre später einen Schlaganfall und kann bis heute nicht mehr sprechen, geschweige denn schreien.


QuoteRicarda Lang Satireaccount

Meine Ausbildung war eigentlich ganz locker, der Betrieb hat oftmals sinnlose Aufgaben an mich gestellt die ich ignoriert habe mit der Infomation an die Geschäftsführung, dass dies kein Lernprozess beinhaltet.

Wenn ich das Auto des Geschäftsführer waschen sollte bin ich durch die Gegend gefahren und hab auf dem Parkplatz gepennt.

Habe dabei viel gelernt.

Geschäftsführer wusste nach 2 Jahren nichtmal meinen Namen, scheint also keinen gejuckt zu haben.Arbeitszeugnis hab ich selbst geschrieben und abzeichnen lassen.

Die Berufsschule war ein Witz , die mussten dort den Extremfällen stundenlang Bruchrechnung erklären.

Hätte die Ausbildung in 2 Monaten abschließen können , musste leider zwei Jahre verschwenden.

Hab immerhin zwei Kolleginnen während der Arbeitszeit öffter mal "den Hof machen dürfen"weil die Männer zu Hause wohl keine Lust mehr dazu hatten lol :D

Kann niemanden eine Berufsausbildung empfehlen, größte Zeitverschwendung die es gibt. Studiert MINT oder lernt wenigstens im Bereich IT-/Elektronik.


Quotekeyser_sos

Welcher Beruf erfordert eine 2-Jährige Ausbildung?


QuoteRicarda Lang Satireaccount
Antwort auf @keyser_sos

Industriekaufmann


QuoteEfx

Das Problem sind halt die ganzen kaufmännischen Ausbildungen. Was will man hier groß ausbilden? Man wird halt in die Gepflogenheiten eingelernt und dann in der Hierarchie geparkt. Ob man dann per Software xy Rechnungen in der Kreditorenabteilung bucht oder im Einkauf Bestellungen mit der selben Software schreibt macht dann auch kein Unterschied weil eben immer das selbe.


Quotenorobato

hmmm, ist das nun Satire oder nicht... der Account verrät es nicht so ganz.


QuoteGary Gearik

In unserem Betrieb wurden nur Studienabbrecher eingestellt, da sie Vorkenntnisse hatten und als billige Arbeitskräfte missbraucht werden konnten.

Einen Betriebsrat gab es in diesem inhabergeführten mittelständigschen Betrieb nicht. Auf Vorschriften wurde gesch...ssen, seien es Sicherheitsregeln (Azubi klettert im Hochregallager), Arbeitszeitregeln (viele Mitarbeiter arbeiteten regelmäßig weit über 10h) oder andere (Mitarbeiter mit mehr als 3 Krankheitstagen werden bei Gehaltserhöhungen nicht berücksichtigt)...

Weiterhin wurde ständig verlangt, Schulungsnachweise zu unterschreiben über Schulungen die nie gehalten wurden zu Dokumenten, die man nie zu Gesicht bekam.

Azubis wurden auch vom Inhaber angeschrien (natürlich auch andere Mitarbeiter) und/oder längerfristig fachfremd eingesetzt.


QuoteAllradbüffel

Lehrjahre sind keine Herrenjahre.


QuoteMax Kreitmeier

Die mit Abstand dümmste Phrase zum Thema.


QuoteKaterchi

Ein Spruch den man bringt, wenn man sich vor seiner Verantwortung drücken will.


QuoteDer aus Do

    Lehrjahre sind keine Herrenjahre.

Und früher mussten die Eltern dem Betrieb auch noch Lehrgeld bezahlen für die Ausbildung ihres Sprösslings. Beides ist längst überholt und aus der Zeit gefallen!


QuoteSchreibt

Meine Lehrzeit war super, im Nachgang betrachtet.

Berufsschule locker durchgebracht , im Betrieb war die Stimmung ganz gut.
Lehrjahre sind keine Herrenjahre stimmt schon.
Tat mir aber auch nicht weh, unliebsame arbeiten zu verrichten.
Alles in allem eine schöne Zeit.


Quotedea_dio

Stockholm-Syndrom?


QuoteMicha W

Gelegentlich habe ich heute noch Alpträume, wenn ich an diese Zeit zurückdenke, obwohl das mittlerweile 47 Jahre zurückliegt. Und, zum Glück, habe ich den ursprünglichen Beruf direkt nach der Ausbildung (Metallbauschlosser) an den Nagel gehängt.


Quoteeinervonvieren

Eins meiner Kinder macht aktuell im Handwerk eine Ausbildung. Kleine Firma und erster Lehrling.
Ich kenne den Chef, Gesellen und Helfer.

Es gibt viele Überstunden, aber die Verrechnung ist fair.

Es ist utopisch anzunehmen, außerhalb von sinnvollen Ergebnissen Feierabend zu machen. So kann ein Tag schonmal 12h dauern, dafür gibt's irgendwann einmal frei oder ein Tag ist kürzer.

Es gibt keine Ausbeutung zum Vorteil des AG.

Betriebs-Klima selber ist gut (seit ein Geselle entlassen wurde, aber der hat sich insgesamt unmöglich verhalten), aber im Handwerk ist der Umgang durchaus Robust und Sprüche gehen halt oft zu Lasten von jemanden der etwas falsch macht oder nicht kann.

Das Problem ist, dass die Firma in Aufträgen ertrinkt und deshalb nicht so viel Zeit ist, wie der Lehrling haben sollte. Zeit ist Geld. Das Problem wurde von der Firma benannt, nicht vom Lehrling.

Was aber tatsächlich eine Katastrophe ist, ist die schulische Ausbildung. Ständig ausfallender Unterricht aufgrund von Krankheit Zusammenlegungen von Klassen aufgrund von Lehrermangel.

Die überörtliche Ausbildung kommt für die Firma mit sehr kurzer Ansage (bei kleinen Firmen schlecht für die Planung) und es werden teilweise Wissen und Fähigkeiten vermittelt, welches im Beruf nicht mehr benötigt werden (z.B. bestimmte Schweißarten) oder berufsfremd sind und deshalb im Berufsalltag von anderen Fachfirmen ausgeführt werden.


QuoteJackyS

Ja. Kenne ich. Ich arbeite in einem sehr kleinen Handwerksbetrieb und das, was Sie sagen, deckt sich 1:1 mit meiner Erfahrung. Dass es mehr als genug Betriebe gibt, die ihre Lehrlinge ausbeuten, stimmt leider auch.


QuoteYammas

Unser letzter Azubi hat mich völlig entsetzt angeschaut als ich Ihn irgendwas besorgen schickte, das gehöre nun absolut nicht zu seiner Ausbildung.

Auf die Frage, ob der denn tatsächlich wüsste

- wie man Geld aus der Kasse leiht
- wie man ein Fahrzeug aus dem Fahrzeugpool reserviert
- wo man den Fahrzeugschlüssel erhält und wo die Fahrzeuge stehen
- wie ein Fahrtenbuch korrekt geführt wird
- wie ein Fahrzeug korrekt zurückgegeben wird
- wie ein Beleg aussehen muss, damit man von der Buchhaltung keinen Ärger bekommt

wurde er doch etwas umgänglicher.


QuoteOverton-Fenster

Auf r/Arbeitsleben oder r/Azubi liest man oft von unsäglichen Zuständen bei Ausbildungen, und vielen Mängeln.

Beim lesen vieler Beschwerden frage ich mich manches mal, ob die klagenden Azubis, auch immer selbst stets so korrekt in ihrer Ausbildung verhalten wie diese es einfordern.

Wir brauchen noch ein Best of der besten Ausreden, kuriosesten Erlebnissen und heftigsten fuck up´s mit Auszubildenden. ;-)


QuoteKäsemauken

Ausbildung als Werkzeugmacherin in den 80ern, das hieß damals noch ,,Lehre".

Der Betrieb hat sich vorbildlich um die Azubis gekümmert, die IHK-Abschlüsse waren dementsprechend gut. Jede Woche gab es 4 Stunden Werkunterricht, und alle, auch die etwas Langsameren, wurden optimal auf die Prüfungen vorbereitet.

Es war ein größerer Betrieb mit vielen technischen Abteilungen, und wir konnten alle Maschinen in der Praxis kennenlernen. Besonders stolz waren wir, wenn wir unter Aufsicht die Produktionsmaschinen fahren durften.

Das Betriebsklima war sehr gut, die Ausbilder total engagiert und wir Lehrlinge haben vieles gemeinsam unternommen. Wir haben alles von der Pike auf gelernt, und dazu gehörte auch das Säubern der von uns benutzten Maschinen und der Lehrwerkstatt. Das Frühstückholen für die Kollegen in der Kantine war immer heiß begehrt, da wir dann dort sozusagen eine kleine zusätzliche Frühstückspause hatten.

Diese Ausbildung hat mich optimal auf das Berufsleben vorbereitet.


QuoteT.Draganovic

Ich habe die Ausbildung in einer Großküche (Hotel) zum Koch absolviert.

Ein Stahlbad

Aber geil!


Quotefeelillibet

Kein Azubi, aber trotzdem ausgebeutet: als Assistenzarzt musste ich zahllose Überstunden schieben. Und wenn das Arbeitszeitgesetz forderte, dass wir aufhörten, sollten wir uns ausloggen und weiterarbeiten. Nein danke. Ich habe gekündigt und das Amt für Arbeitsschutz eingeschaltet.

QuoteDonaukieselblau

Danke, im Namen aller Patienten..


QuotePhilippika

Habe eine Ausbildung als Buchhändlerin angefangen und nach 4 Wochen abgebrochen. War eine Buchhandlung in München, die kurz zuvor von einer kleinen Kette übernommen worden war. Die neuen Chefs hatten als erstes mehrere Mitarbeiter entlassen und dafür Azubis eingestellt. Die verbliebenen Mitarbeiter sind fast ausgeflippt, als ich dort aufgetaucht bin, weil ich die dritte neue Auszubildende war und es nicht mit ihnen abgesprochen war. Ich sollte/musste einfach normal mitarbeiten, keiner hatte Kapazitäten oder noch Bock auf irgendwas. Als erste Amtshandlung nach den Entlassungen hatte der neue Chef alle Sitz-Arbeitsplätze entfernen und Stehpulte aufstellen lassen...als sich dann nach 4 Wochen herausgestellt hat, dass ich im ersten Jahr nicht mit meinen Kolleginnen in die Berufsschule ,,durfte", weil ich im Laden gebraucht wurde, und meine Ausbildung deshalb 3 statt 2 Jahre dauern sollte, hab ich gekündigt.


QuoteCaptn Shortleg

Mittlere Reife in den 80igern. Lehrstellen waren dermaßen rar gesäht, und das hat einem der Lehrbetrieb auch schön spüren lassen. Mein erster Versuch als Rechtsanwaltsgehilfin Azubi wurde von meinem Vater nach 4 Monaten abgebrochen weil ich ein nervliches Wrack durch schlimmstes Mobbing wurde. Ich war 17. Danach hatte ich kaum noch eine Chance einen ordentlichen Lehrbetrieb zu finden und landete als schwervermittelbar und vom AA bezuschusst bei einem Architekten der so gut wie keine Aufträge hatte, dafür aber ein ernstes Alkoholproblem. Das Büro war im Wohnhaus und ich hatte meinen Arbeitstisch im Kinderzimmer seiner Tochter. Trotzdem muss ich sagen das er mir viel beigebracht hat, ich gerne hingegangen bin und klar kam. Nur, eine Ausbildung war das eigentlich nicht. Er war nur morgens für eine Stunde im Haus und den Rest der Zeit war ich auf mich gestellt. Ich hatte aber Zeit, niemals Druck, er hat mir geduldig alles erklärt was ich wissen wollte und wenn wir mal aneinander geraten sind, musste ich raus zum Schafe hüten. Es war eine ziemlich skurrile Zeit. Damals hätte ich gerne drauf verzichtet und hatte einen schweren Start ins Berufsleben. Ich finde, so sollte es nicht sein und die Lehrbetriebe müssen intensiver beraten und kontrolliert werden. Ein Azubi ist keine billige Arbeitskraft und kein Befehlsempfänger der sich nicht wehren darf.


QuoteSehr Anonym

Es war menschlich die Hölle! Mein Vater sagte nur: Lehrjahre sind keine Herrenjahre und berichtete, dass sein Meister auch nur schreiend mit ihm gesprochen hätte...

Das hat dazu geführt, dass ich so niemals in meinem weiteren Leben arbeiten wollte und ich studierte allgemeinen Maschinenbau.

Heute setze ich mich für agile Unternehmenskultur ein und behandle alle Menschen gleich! Und wenn mir ein aufgeblasenes Formalhierarchiearschloch blöd kommt, dann fahre ich agile Geschützte auf!


QuoteCornelius Schick

Meine Erlebnisse liegen jetzt etwa 18 bis 20 Jahre zurück, und erst vor kurzem ist mir so richtig bewusst geworden, was damals geschah. Während meiner Lehrzeit geriet das Verhältnis zu meinem Lehrherrn in eine merkwürdige Schieflage: Zuerst geriet er in finanzielle Schwierigkeiten und bat um Stundung des Lehrgeldes. Dann bekam ich nur noch sporadisch Lohn. Er wurde auch psychisch immer aggressiver, was sich eines Tages auch körperlich entlud. 3 bis 6 Monate vor der Gesellenprüfung habe ich aufgehört. Im Nachhinein hätte ich meine Ausbildung woanders beenden sollen, aber damals wollte ich einfach nur weg von all dem. Ich habe dann in einem anderen Beruf angefangen, wo es menschlich angenehmer war. Auch wenn dort nicht alles Gold war, was glänzte. Praktikanten, die nach 18 Stunden Auto fahren mussten, weil die Kollegen sich weigerten, nach 12 Stunden Auto zu fahren.


QuoteAZornig

,,Gib einem Hauptschüler eine Aufgabe und mit Glück macht er sich richtig. Gib einem Realschüler eine Aufgabe und mit Pech macht er sich falsch. Gib einem Abiturienten eine Aufgabe und der fragt Dich: ,,warum?".

Das war die Herleitung und Begründung zur Absage meiner Bewerbung, um zum Tischler ausgebildet zu werden. Ich hatte gerade mein Abitur abgeschlossen.

Hat mich nach 35 Jahren nicht losgelassen.


QuoteGreiszeit

Oh mein Gott. Das strotzt ja wieder mal vor den altbekannten Vorurteilen...
Aber gut, eine befreundete Studentin hat auch mal folgenden alten Witz zum Besten gegeben:

"Hier! Nehmen Sie diesen Stapel Papier und machen Sie 5 Kopien davon!"

"Aber hören Sie mal! Ich komme von der Hochschule!"

"Oh, Verzeihung! Ich zeige Ihnen, wie der Kopierer funktioniert!"


QuoteTransdanubius

Ich habe im Jahre 1985 eine Lehre in einen Fotostudio im 1.Bezirk in Wien begonnen. Nach den Motto "Lehrjahre sind keine Herrenjahre" wurde ich am Anfang wirklich für allerlei Botengänge eingespannt (Gang zur Post, zu diversen Lieferanten, weil irgendwas ausgegangen war das aber dringend benötigt wurde, auch private Erledigungen meines Chefs bzw. seiner Sekretärin) allerdings hat sich das nach den ersten halben Jahr doch stark geändert, ich hatte dann auch einen sehr kompetenten Ausbilder, der mir doch einiges beigebracht hat (und der mich auch auf Seminare schickte, wo ich mir manches aneignen konnte, das ich weder in meinen Betrieb, noch in der Berufsschule sehen konnte). Nach der 3jährigen Lehrzeit und der gesetzlichen Behaltefrist (6Monate nach Lehrabschluß) wurde ich gekündigt (was mich nicht störte, ich hatte nicht vor dort zu bleiben) (wer dort bleibt, wo er gelernt hat, bleibt der ewige Lehrling). Was mich aber sehr wohl störte war die Tatsache daß ich noch einige Urlaubstage und sehr viele Überstunden stehen hatte, die die Firma hätte auszahlen müssen, was Sie nicht tat. Die Sache landete dann sogar vor Gericht, ich bekam Recht, die Firma mußte alles bezahlen (allerdings waren bis dahin fast 2Jahre ins Land gezogen).


QuoteUundK

Ich habe in meiner Ausbildung (1991 - 1994) sehr viele Überstunden gearbeitet (was sich bis heute nicht geändert hat), habe aber auch extrem viel gelernt (und auch die Liebe zu meinem Beruf). Mein Ausbildungsbetrieb hat sich nicht aufopfernd um uns gekümmert, uns aber viel Wertvolles beigebracht und uns auch Einiges zugetraut. Ach ja: ich bin Spediteurin und seit Jahren in einer Sparte (Messe) unterwegs :)


QuoteWilma Ruhe

Ausbilden ist eindeutig schwieriger geworden, ich hab die Tage an denen ich einen Azubi mit in den Aussendienst nehme verringert. Denn ich habe nicht immer die Nerven noch die Zeit die Jungs und Mädels anzuleiten, Wissen praktisch zu vermitteln, Ergebnisse zu kontrollieren eventuell korrigieren und gleichzeitig konzentriert meine Arbeit ordendlich zu erledigen.

Ich möchte auch nicht jede Aufgabe die ich erteile diskutieren ob das jetzt toll ist, nein es ist nötig weil es im Beruf (Tischler/in) zu den wiederkehrenden Aufgaben gehört und in diesem Fall ein Schritt der Fertigung im ganzen Projekt...

Handynutzung... noch so ein Thema, aus Gründen bleibt das Ding im Spindt, wenn die Leute mit mir losziehen möchten. Ich gebe ihnen stattdessen ein eigens besorgtes Pepaid Handy ohne SchickSchnack für alle Fälle.

Wecker nicht gehört, ja, kann mal passieren. Hatte ich auch schon, nur ich bin in dem Fall dann eben schon weg. Kann dem Kunden schlecht erzählen ich musste noch warten bis der Lehrling ausgeschlafen hat.

Ich mache klare Ansagen, wem das nicht passt der muss nicht mit mir zusammenarbeiten, ich erkläre genau was geplant ist und welchen Teil den/die Lehrlinge davon übernehmen sollen. Ich kann das alles selber und geb euch je nach Wissensstand was ab von der Aufgabe, zudem lernt ihr noch manche Tricks aus der Praxis die nicht im Lehrbuch stehen.

Ich in selbst noch Lehrling, aber mit 38 Jahren Erfahrung.


QuoteMaedre

Ich wurde vollkommen alleine gelassen. Ich habe auf Basis meines Nachnamens Spitznamen bekommen die ich nicht mochte. Ich habe die Ausbildung Vorzeitig beendet.

Es wundert mich nicht, dass viele ihre Ausbildung nicht abschließen. Es fehlt an Perspektive, Unterstützung und Menschlichkeit.


QuoteHoffnung für blöde

Meine Ausbildung war die Hölle.

Eine Narzisstische Chefin die den ganzen Betrieb terrorisiert hat.

Hab dann Anfang des dritten Lehrjahres den Betrieb gewechselt.
Heute arbeite ich in einer ganz anderen Branche weil ich die Lust am lehrberuf verloren habe.
Die 3 Jahre hatte ich mir auch sparen können bzw anders nutzen können.


...

Zu: https://www.zeit.de/campus/2024-03/ausbildung-abgebrochen-gruende-azubi-aufruf

#25
QuoteT.Draganovic, 08.03.2024

Ich habe die Ausbildung in einer Großküche (Hotel) zum Koch absolviert.

Ein Stahlbad

Aber geil!


Zu: https://www.zeit.de/campus/2024-03/ausbildung-abgebrochen-gruende-azubi-aufruf
#26
Quote[...] Fast jeder dritte Erwachsene in Deutschland (31 Prozent) leidet nach eigenen Angaben an Depressionen, Angststörungen, Essstörungen, Zwangsstörungen oder anderen psychischen Erkrankungen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Ipsos im Auftrag des Versicherungskonzerns AXA gemacht hat, wie das Unternehmen am Dienstag in Köln mitteilte. Für den ,,AXA Mental Health Report" wurden in Deutschland vom 15. November bis 11. Dezember 2023 rund 1.000 Personen zwischen 18 und 75 Jahren online befragt.

Einen besonders großen Einfluss auf die psychische Verfassung habe die Sinnhaftigkeit des eigenen Handels: Menschen, die davon überzeugt seien, dass die Dinge, die sie in ihrem Leben tun, sinnvoll sind, bezeichneten sich besonders selten als psychisch erkrankt (21 Prozent). Ein entscheidender Faktor ist demnach außerdem die Nähe und das Vertrauen zu Menschen im persönlichen Umfeld. Personen, die jemanden haben, mit dem sie offen sprechen können, bezeichnen sich zu 27 Prozent als psychisch erkrankt.

Der Mehrheit der Befragten wurde ihre psychische Erkrankung durch einen Psychiater oder eine Psychologin diagnostiziert (57 Prozent). Bei 17 Prozent sei die Diagnose durch einen Allgemeinarzt erfolgt. Jeder Vierte (24 Prozent) gab an, dass er seine Erkrankung nicht professionell behandeln lasse. Im Jahr zuvor sagten das 18 Prozent der Befragten.

...


Aus: "Häufig ohne professionelle Behandlung: Fast jeder Dritte ist psychisch erkrankt" (12.03.2024)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/gesundheit/haufig-ohne-professionelle-behandlung-fast-jeder-dritte-ist-psychisch-erkrankt-11349340.html

#27
Quote[...] Man kann nicht mit dem Thermometer messen, wann eine Party vorbei ist. Man spürt es irgendwie. Der Vibe stimmt nicht mehr, es kommt zum Spannungsabfall, die Gespräche werden schleppend. Es dauert dann, bis alle Gäste das auch bemerken, und es dauert noch länger, bis sie aufbrechen nach Hause. Aber da war die Party in Wirklichkeit schon längst zu Ende. So läuft es auch im Internet.
Drei Meldungen aus den vergangenen Wochen. Meldung eins: Viele seriöse und zahlungskräftige Anzeigenkunden meiden inzwischen den Kurznachrichtendienst X. Nutzer stolpern über halbseidene Anzeigen, die für billige Handyspiele, Krypto-Casinos oder undurchsichtige Immobiliengeschäfte im Ausland werben. Das Technologie-Magazin The Information berichtet: Viele dieser neuen Anzeigenkunden haben für die Werbeschaltungen wohl mit gestohlenen Kreditkartendaten gezahlt; reihenweise fordern Banken von X ihr Geld zurück.
Meldung zwei: Adam Mosseri, beim Meta-Konzern verantwortlich für die App Instagram und den neuen Kurznachrichtendienst Threads, hat vor wenigen Tagen eine neue inhaltliche Strategie verkündet. Der Empfehlungsalgorithmus werde Nutzern in Zukunft keine "politischen Inhalte" mehr vorschlagen. Jedenfalls nicht, wenn die User dem in den Profil-Einstellungen nicht ausdrücklich zugestimmt haben.

Meldung drei: Das US-amerikanische Marktforschungsinstitut Gartner schätzt, dass bis zum Jahr 2025 die Hälfte der Verbraucher ihren Social-Media-Konsum erheblich einschränken oder ganz aufgeben wird.

Einige Jahre lang, ungefähr von 2009 bis 2013, war es für viele Internet-Nutzer unvorstellbar, dass das soziale Netzwerk Facebook eines Tages verschwinden könnte. Und bisher ist es auch nicht verschwunden, man kann sich dort immer noch einloggen, Menschen schreiben dort weiter ihre Beiträge. Viele jedoch haben das Interesse verloren. Es kam irgendwann der Tag, da scrollte man durch seine Facebook-Timeline und stellte fest: Das ist ja völlig uninteressant geworden. Die Party ist vorbei.
Was, wenn dieses Vorbei-Gefühl nicht nur für Facebook stimmt? Was, wenn es nicht nur für den Kurznachrichtendienst X stimmt, der so viel von seinem Reiz eingebüßt hat, seit Elon Musk ihn übernahm?
Was, wenn dieses Vorbei-Gefühl für alle sozialen Netzwerke stimmt? Kann es sein, dass wir gerade das Ende der sozialen Medien erleben?
Das jedenfalls behauptete kürzlich das britische Wirtschaftsmagazin The Economist."The end of the social network", so lautete die Zeile auf dem Titel der Zeitschrift. Zu sehen war ein traurig dreinblickender Emoji, der im Meer versank. Wer knallharte Belege sucht, der wird von den Texten im Heft enttäuscht. Auch beim Economist verlässt man sich, wenn es um Social Media geht, eher aufs Bauchgefühl als auf nackte Zahlen, von denen die Autoren eigentlich nur eine nennen, die auf ein drohendes Ende schließen lässt: 2020 gaben noch 40 Prozent der Amerikaner an, dass sie gern ihr Leben online dokumentieren. Jetzt sind es nur noch 28 Prozent.

Es lohnt sich dennoch, die Economist-Geschichte genau zu lesen. Denn hier wird eine hochspannende und durchaus plausible These entfaltet, die unter Digital-Experten schon seit einiger Zeit kursiert. Die Kurzzusammenfassung lautet: Jener Software-Cluster, den wir lange als "Social Media" bezeichnet haben, zerfällt gerade in zwei verschiedene Funktionslogiken – in seinen sozialen und seinen medialen Teil. "Die ganz eigene Magie der sozialen Netzwerke entstand, weil man persönliche Interaktionen kurzgeschlossen hatte mit massenmedialer Kommunikation", schreibt der Economist. "Dieses Amalgam wird nun wieder aufgebrochen, in seine zwei Bestandteile."

Zwei Bewegungen, die einmal zusammengehörten, bestimmen jetzt unsere digitale Gegenwart. Einerseits ziehen sich User zurück in die Nahkommunikation, in überschaubare digitale Sozialräume. Jüngere zum Beispiel schwärmen gern von der App BeReal. BeReal gilt als Gegenentwurf zum schicken Instagram, weil Nutzer dort keine auf Hochglanz polierten Fotos teilen, sondern authentische Schnappschüsse aus ihrem Leben. Zum Erfolgsgeheimnis der App gehört auch, wer diese Schnappschüsse zu sehen bekommt: Auf BeReal kommunizieren die User eher mit zwanzig oder fünfzig Freunden und guten Bekannten – und nicht mit allen 5,3 Milliarden anderen Internet-Nutzern. "BeReal won't make you famous", so lautet ein offizielles Marketing-Versprechen.
BeReal mag eine Nischen-App bleiben. Und dennoch steht sie für eine Veränderung im Nutzerverhalten: Auch ältere oder konservativere User sehnen sich heute danach, ihre Reichweite bewusst zu begrenzen. Sie ziehen sich zurück in geschlossene WhatsApp-Gruppen und tauschen Minion-Memes und andere Status-Updates lieber im engen Kollegenkreis aus und nicht mehr mit der ganzen Welt.

Eine kleine Sprachbeobachtung veranschaulicht diesen Wandel: Es war noch Mitte der Zehnerjahre ein beliebter kulturpessimistischer Einwand gegen Facebook, dass dort der ehrwürdige Begriff "Freund" skrupellos entkernt werde. Wer kann schon 5.000 Menschen seine Freunde nennen? Später ließen viele Netzkonzerne das Wort tatsächlich fallen, man sprach eher von Followern oder von mutuals, also von zwei Usern, die sich gegenseitig folgen. Jetzt aber scheinen die "Freunde" zurückzukehren im Netz; BeReal redet wieder offen von den friends, die man dort erreichen kann. Und eine neue soziale App namens Amo wirbt gar mit dem schlichten Versprechen: "Just friends." Hier gibt's einfach nur deine Freunde.
Apps wie BeReal und WhatsApp-Gruppenchats sind weiterhin sozial, aber nur auf kurze Distanz. Sie erinnern an das Versprechen, das man Ende der Neunzigerjahre mit dem Internet verband, als die ersten sogenannten Instant-Messenger auftauchten. Da kam man von der Schule nach Hause, warf den Eastpak-Rucksack in die Ecke und schaltete im Kinderzimmer den PC ein; dort nämlich waren die Freunde, von denen man sich eben erst verabschiedet hatte, nun weiterhin anwesend, in dem hellgrauen Kasten von Fujitsu-Siemens, den man sicherheitshalber eingesperrt hatte in das billige Pressspanholz eines Computertisches. Jederzeit konnte jetzt eine Nachricht der Schulfreunde aufploppen, das versprachen Programme wie ICQ oder AIM. Damals träumte man davon, nie wieder einsam sein zu müssen. Selbst dann nicht, wenn man gemütlich alleine zu Hause sitzt.

Ein ganz anderer Internet-Traum formte sich kurze Zeit später: Man könnte hier aus dem Kinderzimmer mit der ganzen Welt kommunizieren oder, noch besser, von der ganzen Welt gesehen, gelesen, wahrgenommen werden. Diese zweite Funktionslogik, die Apps wie BeReal jetzt so offensiv hinter sich lassen wollen, fand ihren klarsten Ausdruck, als Twitter und Instagram zu den Leitmedien der Zehnerjahre aufstiegen, zu den Prototypen dessen, was wir unter Social Media verstehen.
In einem Essay für The Atlantic schreibt der Medienwissenschaftler Ian Bogost rückblickend über den entscheidenden Moment, in dem diese zweite Funktionslogik an die erste andockte. Anfangs, so Bogost, habe uns soziale Software dabei geholfen, wenn wir bereits geknüpfte soziale Verbindungen verstärken wollten. Meist diente solche Software sogar noch dem Offline-Leben, zum Beispiel weil wir online eine Geburtstagsparty organisierten, die dann im echten Leben stattfand. Dann aber verschalteten die Apps unsere Online-Verbindungen zu einem riesigen digitalen Rundfunk-Kanal, über den wir beständig in die Welt hinaus sendeten. "Plötzlich hielten sich mehrere Milliarden Menschen für Prominente, für Experten, für Trendsetter."

Diese zweite Funktionslogik ist keineswegs verschwunden; auch heute noch hört man von neuen TikTok-Stars, die aus ihren Kinderzimmern heraus ein Millionenpublikum erreichen. Die ultraerfolgreiche chinesische App schaltet kurze Videoclips ihrer Nutzer in Endlosschleife hintereinander. Hier gilt weiterhin: Erstell deinen Content und werde berühmt! Jeder kann es schaffen, ganz allein; keiner muss kritische Gatekeeper oder Legacy-Institutionen um Erlaubnis bitten, keine Feuilleton-Redaktion und kein Fernsehprogrammdirektor steht dir im Weg. Nur die chinesische Zensurbehörde.

Was die App TikTok jedoch unterscheidet von einem sozialen Medium im alten Sinne, das ist die scharfe Trennung der Rollen. Man nutzt die App entweder als content creator oder als consumer, als Sender oder Empfänger; nur selten ist man beides zugleich. Die einen machen vorne ihr Programm, die meisten lehnen sich zurück und gucken zu. Man könne auf TikTok zwar einzelnen Nutzern folgen, so erklärt Ian Bogost das neue Prinzip, aber viel eher werde man sich einfach "einem beständigen Strom von Videoinhalten hingeben, den der Algorithmus an die Oberfläche spült". Sich miteinander zu vernetzen, einst der oberste Zweck aller sozialen Apps, wird zur Nebensache.
So sind aus den sozialen Medien von einst längst postsoziale Medien geworden. TikTok lebt zwar von user-generated content, aber nicht mehr von der sozialen Interaktion, der weltweiten Vernetzung. Die findet nur in einem engen Rahmen statt, wie ihn auch eine Castingshow im Privatfernsehen verspricht: Jeder kann sich bewerben – und wer sich nicht bewirbt, darf zumindest für irgendwas voten. Überhaupt erinnert TikTok weniger an das Internet der Nullerjahre und mehr an das Privatfernsehen jener Zeit: Hier wird das RTL-2-Programm in Dauerschleife wiederaufbereitet, nur kann man die Videos jetzt noch billiger produzieren. Männer sind so, Frauen sind so; das sind die gefährlichsten Tiere der Welt; warum du deinen Wasserkocher falsch benutzt.

Man darf sich natürlich nicht vom eigenen Algorithmus täuschen lassen. Jeder bekommt, was er sich vorher zu lange angeschaut hat. Aber gerade deswegen bedienen die neuen postsozialen Medien die allereinfachsten Reiz-Reaktions-Muster. Anders als noch in den sozialen Medien spielt das "Teilen" keine große Rolle mehr auf TikTok – oder auf Instagram, wo man den Erfolg der Chinesen zu kopieren versucht und ebenfalls auf Kurzvideos setzt, hier heißen sie reels. Dem Reel-System ist vergleichsweise egal, welche Inhalte man weiterverbreiten möchte in der Hoffnung, als besonders intellektuell, feinfühlig, avantgardistisch zu erscheinen. Denn anders als bei einem Bild oder einem kurzen Text kann das System hier ganz leicht protokollieren, wie lange man einen Clip tatsächlich angeschaut hat; bei welchen Kurzvideos man tatsächlich hängengeblieben ist. Und von diesen Videos laufen dann so viele in der Timeline, bis man sich an ihnen stumpfgesehen hat.

Soziale Medien waren einst darauf angewiesen, dass ich interagiere; nur dann konnten die Algorithmen wissen, was mir gefällt. Postsoziale Medien wissen, was mir gefällt, selbst wenn ich passiv bleibe. Sie haben keinen Grund mehr, mich zu echter Aktivität zu verführen. Wohin diese Entwicklung führt, das brachte ein ehemaliger Mitarbeiter der App Snapchat kürzlich auf den Punkt. Er hatte die Firma enttäuscht verlassen und darüber in einem Beitrag geschrieben für die Website The Verge: "Die sozialen Medien haben sich evolutionär so weiterentwickelt, dass ich jetzt gar nicht mehr sicher bin, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, sie ›sozial‹ zu nennen." Es geht nicht mehr um Freunde, auch nicht um Follower; es dreht sich alles nur noch um Mini-Videos, "mit denen Nutzer ihre überhitzten, verwirrten Gehirne ruhigstellen".

...


Aus: "Das Ende von Social Media" Lars Weisbrod (18. Februar 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/2024/08/soziale-medien-nutzung-facebook-instagram
#28
Cory Doctorow (* 17. Juli 1971 in Toronto, Ontario) ist ein kanadischer Science-Fiction-Autor, Journalist und Blogger. Im Jahr 2000 wurde er mit dem John W. Campbell Award für den besten Nachwuchsautor ausgezeichnet. Seine Bücher veröffentlicht er unter einer Creative-Commons-Lizenz.
https://de.wikipedia.org/wiki/Cory_Doctorow


Quote[...]  Ein Essay von Cory Doctorow (10. März 2024)

Cory Doctorow ist Sonderberater der Electronic Frontier Foundation und Gastprofessor für Computerwissenschaften an der Open University. Sein neuer Roman The Bezzle ist im Februar bei Head of Zeus erschienen. Der vorliegende Text ist eine überarbeitete Fassung der Marshall McLuhan Lecture, die er im Januar in der kanadischen Botschaft in Berlin gehalten hat. Der Beitrag wurde zuerst auf Englisch in der Financial Times abgedruckt.

Im vergangenen Jahr habe ich den Ausdruck enshittification geprägt, man könnte es wohl mit Verschlimmscheißerung übersetzen, um zu beschreiben, wie Onlineplattformen verfallen. Das obszöne kleine Wort stieß auf ein großes Publikum; es traf den Zeitgeist. Die American Dialect Society wählte es sogar zu ihren Wörtern des Jahres 2023 (was vermutlich bedeutet, dass mir nun ein Kackhaufen-Emoji auf meinem Grabstein sicher ist).

Was also ist Verschlimmscheißerung, und warum hat der Ausdruck gezündet? Dahinter steckt meine Theorie, wie das Internet von Plattformen kolonisiert worden ist, warum all diese Plattformen so schnell und so konsequent schlechter werden, warum das von Bedeutung ist und was wir dagegen tun können. Wir alle durchleben eine große Verschlimmscheißerung, durch die sich die Dienste, die uns wichtig sind und auf die wir uns verlassen, in riesige Scheißhaufen verwandeln. Das ist frustrierend. Das ist zermürbend. Es ist sogar erschreckend.
Der Grundgedanke der Abwärtsentwicklung, also ebenjener Verschlimmscheißerung, trägt meiner Meinung nach viel zur Erklärung dieser Entwicklung bei. Er führt uns aus dem mysteriösen Reich der "großen Kräfte der Geschichte" in die materielle Welt spezifischer Entscheidungen, die von realen Menschen getroffen werden; Entscheidungen, die wir rückgängig machen können, und Menschen, deren Namen und Mistgabelgrößen wir herausfinden können.

Der Ausdruck enshittification benennt das Problem und schlägt eine Lösung vor. Er besagt nicht einfach nur, dass alles immer schlechter wird, obwohl ich kein Problem damit habe, wenn man ihn so verwenden will. (Es ist ein englisches Wort. Wir haben keinen Rat für englische Rechtschreibung. Englisch ist eine gesetzesfreie Zone. Flippt aus, meine Kerle.) Aber wenn Sie es genauer wissen wollen, lassen Sie uns anschauen, wie Verschlimmscheißerung funktioniert. Es ist ein dreistufiger Prozess: Erst sind Plattformen gut für ihre Nutzer. Dann missbrauchen sie ihre Nutzer, um ihren Wert für ihre Geschäftskunden zu steigern. Schließlich missbrauchen sie genau diese Geschäftskunden, um sich den ganzen Wert zurückzuholen. Und dann folgt ein viertes Stadium: Sie sterben.

Facebook ist aus einer Website hervorgegangen, die entwickelt wurde, um die sexuelle Attraktivität von Harvard-Studentinnen zu bewerten – und danach ging es nur noch bergab. Anfangs war Facebook nur für US-Hochschüler und Highschool-Gänger zugänglich. Dann öffnete es sich für das allgemeine Publikum mit einer wirkungsvollen Botschaft: Ja, ich weiß, ihr seid alle auf MySpace. Aber MySpace gehört einem Milliardär, der euch zu jeder Stunde ausspioniert. Meldet euch bei Facebook an, wir werden euch niemals ausspionieren. Kommt und erzählt uns, wer euch in dieser Welt wichtig ist.

Das war die erste Phase. Facebook hatte einen Überschuss, das Geld seiner Investoren, und verteilte den dadurch generierten Mehrwert unter seinen Endnutzern. Diese banden sich dann an Facebook. Wie den meisten Technologieunternehmen nutzten auch Facebook die Netzwerkeffekte. Ein Produkt profitiert von Netzwerkeffekten, wenn es sich allein dadurch verbessert, dass mehr Menschen es verwenden. Sie gingen auf Facebook, weil ihre Freunde dort waren, dann haben sich andere angemeldet, weil sie da waren.
Doch Facebook zeichnete sich nicht nur durch starke Netzwerkeffekte aus, sondern auch durch hohe Transaktionskosten bei einem Wechsel. Wechselkosten sind all das, was man aufgeben muss, wenn man ein Produkt aussortiert oder sich von einem Dienst abmeldet. In Facebooks Fall waren das all die Freunde, denen man dort folgte und die einem folgten. Theoretisch hätte man sie alle zurücklassen können und woanders hingehen; praktisch war man gelähmt vom Problem kollektiven Handelns.
Denn es ist gar nicht so leicht, viele Menschen dazu zu bringen, zur selben Zeit dasselbe zu tun. Facebooks Endnutzer nahmen sich im Prinzip gegenseitig als Geiseln, was sie an die Plattform fesselte. Facebook nutzte diese Geisellage aus, entzog den Nutzern den Mehrwert und teilte ihn unter zwei Gruppen von Geschäftskunden auf: Werbekunden und Verlage.

Den Werbekunden sagte Facebook: Erinnert ihr euch noch daran, wie wir diesen Tölpeln gesagt haben, wir würden sie nie ausspionieren? Nun ja, wir tun es doch. Und den Zugang zu diesen Daten verkaufen wir euch in der Form fein abgestimmter Zielgruppenansprache. Eure Anzeigen sind spottbillig, und wir scheuen keine Kosten, um sicherzustellen, dass die von euch bezahlte Anzeige auch von einem echten Menschen gesehen wird.
Den Verlagen sagte Facebook: Erinnert ihr euch noch daran, wie wir diesen Tölpeln erzählt haben, wir würden ihnen nur zeigen, was sie von sich aus sehen wollen? Ha! Ladet kurze Auszüge eurer Website hoch, verlinkt sie, und wir werden sie Nutzern in die Augen schmieren, die nie darum gebeten haben, sie zu sehen. Wir bieten euch einen kostenlosen Traffic-Trichter, der Millionen Nutzer auf eure Webseite bringt, die ihr nach Belieben monetarisieren könnt.
Und so banden sich auch Werbekunden und Verlage an die Plattform.

Nutzer, Werbekunden, Verlage – alle waren in Facebook eingeschlossen. Was bedeutete, dass es Zeit für die dritte Phase der enshittification war: ihnen allen den Mehrwert zu entziehen und ihn an die Facebook-Aktionäre zu verteilen.
Für Nutzer bedeutete dies, dass der Anteil an Inhalten von Profilen, denen man folgte, auf eine homöopathische Dosis heruntergefahren und die entstandene Leere mit Anzeigen sowie bezahlten Inhalten von Verlagen gefüllt wurde. Für Werbekunden bedeutete das steigende Preise und eingeschränkte Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung, sodass sie am Ende viel mehr für Anzeigen zahlten, die wahrscheinlich viel seltener wahrgenommen wurden. Für Verlage bedeutete es, dass die Reichweite ihrer Posts algorithmisch heruntergeregelt wurde, wenn sie nicht einen immer größeren Anteil ihrer Artikel in den Auszug aus ihrer Website aufnahmen. Und dann begann Facebook, Verlage dafür zu bestrafen, wenn sie auf ihre eigene Website verlinkten, sodass sie eingepfercht waren und vollständige Texte ohne Links posten mussten, also zu Warenanbietern für Facebook wurden und für ihre Reichweite wie für ihre Monetarisierung gänzlich auf das Unternehmen angewiesen waren.
Wenn irgendeine dieser Gruppen protestierte, wiederholte Facebook einfach das Mantra, das jede Techführungskraft in ihrem Darth-Vader-MBA lernt: "Ich habe den Vertrag geändert. Hoffe und bete, dass ich ihn nicht noch weiter abändere."

Nun tritt Facebook in die gefährlichste Phase der Verschlimmscheißerung ein. Es will sämtlichen verfügbaren Mehrwert abziehen und gerade genug Restwert in dem Dienst belassen, um die Endnutzer aneinander und die Geschäftskunden an die Endnutzer zu binden, alles andere geht an die Aktionäre. (Erst kürzlich kündigte das Unternehmen eine vierteljährliche Dividende von 50 Cent pro Aktie sowie eine Erhöhung seiner Aktienrückkäufe um 50 Milliarden Dollar an. Die Aktienkurse stiegen sprunghaft.)
Doch ist das ein sehr fragiles Gleichgewicht, denn der Unterschied zwischen "Ich hasse diesen Dienst, kann mich aber nicht dazu durchringen, mich abzumelden" und "Um Himmels willen, warum habe ich so lange gebraucht, um mich abzumelden?" ist sehr gering.
Es reicht ein Cambridge-Analytica-Skandal, eine Whistleblowerin, ein Livestream von einer Massenerschießung, um User zu den Ausgängen zu treiben, und dann wird Facebook entdecken, dass Netzwerkeffekte ein zweischneidiges Schwert sind. Wenn Nutzer nicht gehen können, weil alle anderen bleiben, dann gibt es, wenn alle sich zu verabschieden beginnen, keinen Grund, es nicht auch zu tun. Das ist die letale enshittification.

Diese Phase geht üblicherweise mit Panik einher, von Techenthusiasten euphemistisch als pivoting bezeichnet, strategischer Kurswechsel. Weshalb wir Kurswechsel wie den folgenden erleben: In Zukunft werden alle Internetnutzer zu beinlosen, geschlechtslosen, stark überwachten Comicfiguren mit niedriger Polygonalzahl in einer virtuellen Welt namens Metaverse.

Das ist der Prozess der enshittification, der Abwärtsentwicklung. Das sagt uns aber noch nicht, warum alles gerade jetzt verschlimmscheißert wird, und ohne dieses Wissen können wir nicht überlegen, was wir dagegen tun sollen. Was genau hat in unseren Tagen zur Großen Verschlimmscheißerung geführt? War es das Ende der Niedrigzinspolitik? Waren es Führungswechsel bei den Techgiganten?
Ist der Merkur vielleicht gerade rückläufig?

Nö.

Die Phase zinsfreier Zentralbankmittel hat zweifellos dazu geführt, dass die Technologieunternehmen mit Gewinnüberschüssen um sich schmeißen konnten. Doch Facebook begann mit seiner enshittification lange vor dem Ende der Politik des billigen Geldes, Amazon, Microsoft und Google genauso. Einige der Techgiganten haben neue Vorstandsvorsitzende bekommen. Googles Verschlimmscheißerung aber ist schlimmer geworden, seit die Gründer wieder an Bord sind, um die KI-Panik – Entschuldigung, den KI-Kurswechsel – der Firma zu beaufsichtigen. Und ein rückläufiger Merkur kann es schon deshalb nicht sein, weil ich Krebs bin, und wie jeder weiß, glauben Krebse nicht an Astrologie.

Wenn sich eine ganze Reihe unabhängiger Institutionen gleichzeitig auf die gleiche Weise verändert, ist das ein Zeichen dafür, dass sich ihr Umfeld verändert hat, und genau das ist in der Techbranche passiert. Wie alle Firmen gehorchen auch Technologiefirmen entgegengesetzten Notwendigkeiten. Auf der einen Seite wollen sie Geld verdienen. Auf der anderen Seite bedeutet Geld verdienen, dass man kompetentes Personal anwerben sowie motivieren muss und Produkte herstellen, die Menschen auch wirklich kaufen wollen. Je mehr Wert ein Unternehmen seine Belegschaft und seine Kundschaft abschöpfen lässt, desto weniger bleibt für seine Aktionäre.
Das Gleichgewicht, in dem ein Unternehmen Dinge, die wir mögen, in ehrenhafter Weise zu einem fairen Preis produziert, ist so beschaffen, dass eine Erhöhung der Preise, eine Verschlechterung der Qualität und eine Benachteiligung der Mitarbeiter das Unternehmen mehr kosten, als wenn es gleich ein schmutziges Spiel spielen würde.

Es gibt aber vier Kräfte, die Unternehmen disziplinieren und ihren Drang zur enshittification im Zaum halten:

Konkurrenz. Firmen, die befürchten müssen, dass man einfach woanders hingeht, halten sich mit Qualitätsverschlechterungen und Preiserhöhungen zurück.
Regulierung. Unternehmen, die höhere Geldstrafen durch Regulierer befürchten müssen, als sie auf betrügerische Weise erwirtschaften können, betrügen seltener.
Diese zwei Faktoren betreffen alle Branchen, die nächsten beiden gelten speziell für den Technologiebereich.
Selbsthilfe. Computer sind extrem flexibel, so wie auch die digitalen Produkte und Dienste, die wir mit ihrer Hilfe kreieren. Der einzige Computer, von dem wir wissen, wie man ihn baut, ist die turingvollständige Von-Neumann-Maschine, ein Computer, der jedes gültige Programm ausführen kann.

Das heißt, dass sich die Anwender immer irgendwelcher Programme bedienen können, um die Antifunktionalitäten auszuhebeln, die Werte von ihnen auf die Aktionäre einer Firma verlagern. Beispielsweise sagt jemand im Vorstand: "Ich habe ausgerechnet, dass wir netto zwei Prozent mehr Gewinn erzielen, wenn wir unsere Anzeigen um 20 Prozent invasiver machen."
In der digitalen Welt könnte jemand gut dagegenhalten: "Ja, aber wenn wir das tun, werden 20 Prozent unserer Nutzer Werbeblocker installieren, und unser Gewinn von diesen Nutzern wird auf null fallen – dauerhaft." Digitalunternehmen, heißt das, hält auch die Furcht im Zaum, eine verschlimmscheißernde Maßnahme werde die Anwender dazu bringen, zu ergoogeln: "Wie kann ich das entverschlimmscheißern?"
Und zu guter Letzt die Mitarbeiter. Die Angestellten in der Technologiebranche sind kaum gewerkschaftlich organisiert, aber das bedeutet nicht, dass sie keine Mitarbeitermacht haben. Der historische "Mangel an Talenten" hat bisher dazu geführt, dass sie an einem ziemlich langen Hebel saßen. Wenn sie mit ihren Vorgesetzten unzufrieden waren, konnten sie kündigen und auf der anderen Straßenseite einen neuen, besseren Job bekommen.

Das war ihnen genauso klar wie ihren Vorgesetzten. Paradoxerweise hat das dazu geführt, dass Techmitarbeiter sehr leicht auszubeuten waren. In überwältigender Zahl sahen sie sich nämlich als angehende Gründer, als Unternehmer, die nur vorübergehend angestellt waren, als die Helden von morgen.
Deshalb waren Firmenmottos wie Googles "Sei nicht böse" und Facebooks "Die Welt offener und vernetzter machen" wichtig; sie vermittelten der Belegschaft ein Sendungsbewusstsein. Die amerikanische Bibliothekarin Fobazi Ettarh nennt dies berufliche Selbstüberhöhung (vocational awe), Elon Musk nennt es extremely hardcore, super hartgesotten, sein.
Obwohl die Techbelegschaften große Verhandlungsmacht besaßen, spielten sie sie nicht aus, als ihre Chefs verlangten, dass sie ihre Gesundheit, ihre Familien und ihren Schlaf opfern sollten, um willkürliche Fristen einzuhalten. Solange ihre Vorgesetzten ihren Arbeitsplatz in einen drolligen "Campus" mit Fitnessstudio, Gourmet-Cafeteria, Wäscheservice, Massagen und dem vorsorglichen Einfrieren von unbefruchteten Eizellen verwandelten, konnten sich die Mitarbeiter einreden, dass sie verhätschelt würden – statt dazu gebracht zu werden, sich zu Tode zu arbeiten.

Doch gibt es eine Kehrseite, wenn die Unternehmensführung die Belegschaft mit Appellen an ihr Sendungsbewusstsein motiviert: Die Belegschaft verfügt dann über ein Sendungsbewusstsein. Wenn man sie anschließend auffordert, die Produkte zu verschlimmscheißern, für deren Herstellung sie ihre Gesundheit ruiniert hat, wird sie moralisch verletzt sein, entrüstet reagieren und mit Kündigung drohen. Deshalb bildeten die Techangestellten selbst das letzte Bollwerk gegen eine enshittification.

Die Zeit vor der Verschlimmscheißerung war auch nicht von besseren Führungsqualitäten geprägt. Die Manager selbst waren nicht besser. Sie wurden nur im Zaum gehalten. Ihre niedrigsten Impulse wurden durch Konkurrenz, Regulierung, Selbsthilfe und Arbeitnehmermacht gebremst. Bis eines dieser Hemmnisse nach dem anderen unterlaufen wurde und sich der Trieb zur Verschlimmscheißerung ungehemmt austoben und das Scheißozän einleiten konnte.

[...]

Wenn Sie versuchen, einen alternativen Client für Facebook zu entwickeln, wird man Ihnen vorwerfen, dass Sie gegen US-Gesetze wie den Digital Millennium Copyright Act (DMCA) und EU-Gesetze wie Artikel 6 der EU-Urheberrechtsrichtlinie (EUCD) verstoßen. Versuchen Sie mal, ein Android-Programm zu entwickeln, das iPhone-Apps ausführt und Daten aus Apples Media Stores abspielt – man wird Sie bombardieren, bis die Trümmer rauchen. Wenn Sie versuchen, Google komplett auszulesen, wird es Sie mit Atomwaffen beschießen, bis Sie glühen.

[...]

2008 kaufte Amazon Audible, eine Plattform für Hörbücher. Heute ist Audible ein Monopolist, der mehr als 90 Prozent des Hörbuchmarkts kontrolliert. Audible verlangt, dass alle Urheber auf seiner Plattform ihre Produkte über Amazons "digitale Rechteverwaltung" verkaufen, die sie an Amazons Apps bindet.
Ich schreibe also beispielsweise ein Buch, lese es über ein Mikrofon ein, bezahle einer Regisseurin und einer Technikerin ein paar Tausend Dollar, um das Ganze in ein Hörbuch zu verwandeln, und verkaufe es Ihnen dann auf der Monopol-Plattform Audible. Wenn ich später beschließe, Amazon zu verlassen, und Sie auf eine andere Plattform mitnehmen möchte, habe ich Pech gehabt. Wenn ich Ihnen ein Werkzeug zur Verfügung stelle, um die Amazon-Verschlüsselung von meinem Hörbuch zu entfernen, sodass Sie es mit einer anderen App abspielen können, begehe ich ein Verbrechen, das mit einer fünfjährigen Haftstrafe und einer halben Million Dollar Geldstrafe geahndet werden kann, sofern es sich um mein erstes Vergehen dieser Art handelt.
Damit droht einem eine härtere Strafe, als wenn man das Hörbuch einfach auf einer Torrent-Seite raubkopieren würde. Sie ist aber auch strenger als die Strafe, die man für den Diebstahl der Hörbuch-CD auf einem Fernfahrerrastplatz riskiert. Sie ist härter als die Strafe für den Überfall auf den Laster, der die CD transportiert.

Nehmen wir noch einmal die Werbeblocker, wie sie die Hälfte aller Internetnutzer nutzt. Kein App-Nutzer aber verwendet Werbeblocker, weil man erst die Verschlüsselung einer App überwinden muss, um einen Blocker installieren zu können, und das ist eine Straftat. (Jay Freeman, amerikanischer Geschäftsmann und Ingenieur, bezeichnet dies als "kriminelle Missachtung des Geschäftsmodells".)
Wenn also jemand auf der Vorstandsetage sagt: "Machen wir unsere Anzeigen um 20 Prozent penetranter und steigern damit unsere Gewinne um zwei Prozent", dann wird niemand einwenden, dass dies die Nutzer dazu bringt, zu googeln, wie man Werbung blockieren kann. Denn die Antwort lautet ja, dass man es nicht kann. Tatsächlich ist es wahrscheinlicher, dass jemand in diesem Vorstand sagen wird: "Machen wir unsere Anzeigen um 100 Prozent penetranter und steigern damit unsere Gewinne um zehn Prozent." (Das ist der Grund, warum jedes Unternehmen will, dass man seine App installiert, statt seine Website zu nutzen.)

[...]

Ich werde jetzt kein Plädoyer für den Kapitalismus halten. Ich glaube nicht wirklich daran, dass Märkte die effizientesten Verteiler von Ressourcen und Schiedsrichter der Politik sind. Aber der Kapitalismus von vor 20 Jahren schuf Raum für ein wildes und verworrenes Internet, einen Raum, in dem Menschen mit missliebigen Ansichten zueinanderfinden, sich gegenseitig helfen und organisieren konnten. Der Kapitalismus von heute hat ein globales, digitales Geistereinkaufszentrum hervorgebracht, gefüllt mit Bot-Mist, minderwertigen Geräten von Unternehmen mit konsonantenlastigen Markennamen und Kryptowährungsbetrug.
Das Internet ist nicht wichtiger als der Klimanotstand, Geschlechtergerechtigkeit, Gerechtigkeit für rassistisch diskriminierte Menschen, Völkermorde oder Ungleichheit. Doch ist das Internet das Feld, auf dem wir diese Kämpfe austragen können. Ohne ein freies, faires und offenes Internet sind sie verloren, bevor wir uns überhaupt ins Kampfgetümmel geworfen haben.

Wir können die Verschlimmscheißerung des Netzes rückgängig machen. Wir können die schleichende Abwärtsentwicklung jedes digitalen Geräts aufhalten. Wir können ein besseres, gegen solche Verschlimmscheißerung resistentes digitales Nervensystem aufbauen, eines, das dazu geeignet ist, die Massenbewegungen zu koordinieren, die wir brauchen, um den Faschismus zu bekämpfen, Völkermorde zu beenden und unseren Planeten sowie unsere Gattung zu retten.
Martin Luther King sagte einmal: "Es mag stimmen, dass das Gesetz keinen Menschen dazu bringen kann, mich zu mögen, aber es kann ihn daran hindern, mich zu lynchen, und das halte ich für ziemlich wichtig." So mag es auch stimmen, dass das Gesetz Unternehmen nicht dazu zwingen kann, Sie als ein menschliches Wesen zu behandeln, das einen Anspruch auf Würde und faire Behandlung hat, und nicht nur als eine wandelnde Geldbörse, einen Nachschub an Darmbakterien für den unsterblichen kolonialen Organismus namens Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Aber es kann Unternehmen dazu bringen, Sie genug zu fürchten, um Sie fair zu behandeln und Ihre Würde zu wahren – selbst wenn sie der Meinung sind, dass Sie das nicht verdienen.

Übersetzt aus dem Englischen von Michael Adrian.



Aus: "Die Verschlimmscheißerung des Internets" Aus einem Essay von Cory Doctorow (10. März 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/digital/internet/2024-03/plattformen-facebook-google-internet-cory-doctorow

#29
Quote[...] August 1940: Das Tempo, mit dem die Deutschen vorrücken, ist unfassbar, die Flüchtlinge werden davon genauso überrascht wie die französischen Truppen. Viele fliehen letztlich zu Fuß aus Paris. Sie wollen zu den Häfen, nach Marseille, die größte Stadt in der unbesetzten Zone, nah an Spanien, fern von den Nazis. Von Marseille aus wollen sie Europa verlassen, doch dazu brauchen sie vor allem: Papiere. Ausreise-, Einreise- und Transit-Visa und: Geld, für die Schiffspassage, für Hotels, für Essen.

... Das Risiko für Varian Fry war hoch: Wenn die Deutschen sein als Hilfsorganisation getarntes Fluchtsystem entlarvt hätten, hätten sie sicher kurzen Prozess mit ihm gemacht. Frys Motivation ist die Literatur: Er ist ein Enthusiast der Avantgarde, die europäischen Schriftsteller seiner Zeit sind für ihn Helden der Zivilisation, der Kultur. Fry ist ein kompromissloser Idealist, seine unnachgiebige Art macht es ihm nicht immer leicht, der Streit mit den amerikanischen Geldgebern wird zur bizarren, hochemotionalen Nebenerzählung.

Dazu sei gekommen, dass das amerikanische Außenministerium überhaupt kein Interesse daran hatte politisch aktive, von den Nazis verfolgte Schriftsteller nach Amerika zu holen, so Wittstock. Auch in Amerika habe es eine gewisse Zurückhaltung Juden gegenüber gegeben: "Es war nicht so, dass die mit offenen Armen empfangen wurden, das kennen wir ja aus heutigen Zeiten, man hat lieber keine Flüchtlinge, die ins Land strömen".

... "Marseille 1940" ist ein erstaunliches Buch, eine absolute Lese-Empfehlung, und das gilt nicht nur für Literatur-Experten. Man muss die Werke der Betroffenen nicht kennen, um die Geschichte ihrer Flucht zu verfolgen. "Marseille 1940" ist ein Buch über Angst, Hoffnung und Mitmenschlichkeit, über Strategien der Selbsterhaltung und politische Überzeugungen, und vor allem: über das nackte Überleben.

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Aus: ""Marseille 1940": Die große Flucht der Literatur" Julie Metzdorf (23.02.2024)
Quelle: https://www.br.de/nachrichten/kultur/marseille-1940-die-grosse-flucht-der-literatur,U57grBo
#30
Quote[...] Ich fuhr nach Saarbrücken und führte ... ein Gespräch mit Philippe Lançon.

Er ist ein Überlebender des Attentats auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo vom 7. Januar 2015. Sein Buch über diese Erfahrung und seine Genesung, das unter dem Titel Der Fetzen (Öffnet in neuem Fenster) erschien, ist eine zentrale Lektüre zum Verständnis unserer Gegenwart.

... Sozialstaat, Wissenschaft und Solidarität sind die besten Waffen der Zivilisation gegen den Terror – das ist die Message seines Buches.

...


Aus: "Der Sieger" Nils Minkmar (03.03.2024)
Quelle: https://steadyhq.com/de/nminkmar/posts/bf3ecc5f-4a2f-4e0d-a371-1b1146352821

Philippe Lançon (* 1963 in Vanves) ist ein französischer Journalist und Schriftsteller. Er arbeitet hauptsächlich für die Tageszeitung Libération und das Satiremagazin Charlie Hebdo, ebenso für den öffentlich-rechtlichen Radiosender France Inter. Bei dem terroristischen Anschlag auf Charlie Hebdo während einer Redaktionssitzung am 7. Januar 2015 wurde Lançon verwundet. ... In seinem Buch Le lambeau (dt. Der Fetzen) schreibt Lançon über das Attentat und die langwierige operative Behandlung seiner massiven Gesichtsverletzungen im Mund- und Unterkieferbereich. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Philippe_Lan%C3%A7on