[...] [ ... Mit diesem Text der Schriftstellerin Theresia Enzensberger setzen wir unsere Reihe fort, in der jüngere literarische Stimmen zu Wort kommen. Die Aufgabe ist so anspruchsvoll wie einfach: Wir bitten die Autorinnen und Autoren, über ein Phänomen oder Ereignis zu schreiben, das sie bewegt und geprägt hat oder das sich ihrem Werk auf besondere Weise eingeschrieben hat.Theresia Enzensberger, geboren 1986 in München, studierte Filmwissenschaften am Bard College in New York und lebt heute in Berlin. 2017 erschien ihr Romandebüt «Blaupause» und im vergangenen Jahr der Roman «Auf See», der für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Der Roman ist eine Reflexion über scheiternde utopische Projekte, die sich nur allzu schnell in Albträume verwandeln. ...]
Ob wir nicht zum Flohmarkt gehen wollten, fragte mich A. Ich wollte nicht. Es war der 14. September 2008, und über Brooklyn hatte sich das stählerne Blau eines Spätsommertages ausgebreitet. Ich hatte gerade eine kurzlebige Leidenschaft für analoge Fotografie entdeckt, die mit meinem Filmstudium an einer kleinen Universität nördlich von New York zusammenhing.
An diesem Morgen wollte ich unbedingt nach Manhattan, die Banker, deren Jobs in der Schwebe hingen, beobachten – und fotografieren. Meine Freunde hatten andere Pläne. «I don’t really care about politics», sagten sie unbekümmert, als ich versuchte, zwischen verstaubten Lampen und sich auf dem Boden türmenden Klamotten ein Gespräch über den drohenden Kollaps von Lehman Brothers anzufangen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Meine Freundinnen waren zwar privilegiert, aber mit Sicherheit nicht dumm. Man kann sich das heute kaum noch vorstellen, aber zu dieser Zeit galt Aktivismus als extrem uncool, weite Teile der amerikanischen Linken waren desillusioniert von der letzten Wahl und den erfolglosen Protesten gegen den Irakkrieg. Also machte man es sich in ästhetischer Theorie und poststrukturalistischer Analyse gemütlich.
In den Sommern, die ich in Deutschland verbrachte, fand ich auch nicht mehr Menschen, die meine Interessen teilten. In Berlin hatte sich ein fröhlicher Hedonismus breitgemacht. Ins «Berghain» zu gehen, galt als revolutionärer Akt. Eine etwas ältere Generation (von Douglas Coupland mit dem Buchstaben X versehen) dominierte den Diskurs. Eine Generation, die unbegreiflicherweise beschlossen hatte, an das Ende der Geschichte zu glauben; die den Prenzlauer Berg besetzt hatte und nun behauptete, der Rest der Welt sei ebenso ohne Geschichte und Kontext, wie sie das von ihrem neuen Zuhause glaubte; die Zynismus sexy fand und Ernsthaftigkeit unerträglich; und die Haltung und Habitus nicht mehr unterscheiden konnte.
Als ich nach unserem Sonntagsausflug auf dem Flohmarkt in Brooklyn die Zeitung las, hatte Lehman Brothers Bankrott gemacht. Fotos zeigten traurige Banker, die mit Pappkartons in der Hand aus den Bürotürmen kamen. Der «Guardian» veröffentlichte eine Reihe einfühlsamer Interviews mit den neuerdings Joblosen, als seien sie die Opfer der Krise.
Ich war immer schon ein News-Junkie gewesen, aber in diesen Wochen und Monaten kam etwas Neues dazu: die Wut. Ich las über Subprime-Hypotheken und besicherte Schuldverschreibungen, über Banker, die für ihre Gier belohnt wurden, über Menschen, die ihr Zuhause und ihre Ersparnisse verloren, und über die Pläne für die angeblich unvermeidliche Bankenrettung – und wurde wütend.
Die Wut ist ein essenzieller Teil jeder Politisierung, sie ist einer der Gründe, warum junge Menschen zum Aktivismus neigen. Nur gab es zu der Zeit, wohin ich blickte, kaum Aktivität. Das ist natürlich nicht wahr. Es gab politische Bloggerinnen, es gab Mark Fisher und «n+1», und Frank Schirrmacher fragte sich im Feuilleton, ob die Linke nicht doch recht gehabt hatte. Ein Hauch von Antikapitalismus lag in der Luft.
Aber wer damals von politischem Widerstand sprach, galt als hoffnungslos naiv; junge Menschen, die nicht direkt betroffen waren, gefielen sich in ihrem Desinteresse; und von einer breiten Protestbewegung war (noch) nichts zu spüren. Natürlich gab es in meinem Umfeld Leute, denen es genauso ging wie mir, andere News-Junkies, mit denen ich diskutierte und das Glück teilte, die Berichterstattung nur zu lesen, ohne direkt von ihr betroffen zu sein. Insgesamt aber war man weit entfernt von dem allgemeinen gesellschaftspolitischen Interesse, das einem heute entgegenschlägt.
Seit ein paar Jahren ist Aktivismus wieder cool. Tiktok und Instagram sind voll von Erklärstücken zu politischen Situationen, es wird gespendet, demonstriert, Empörung und Kritik werden geäussert, Petitionen unterschrieben, Initiativen gegründet. Das hat zwar ein paar unangenehme Nebenwirkungen – Werbeagenturen, die uns politisch engagiertes Eis verkaufen wollen, Unterwäschefirmen, die uns mit ein bisschen Diversität über globale Ausbeutungsverhältnisse hinwegtrösten wollen, und ja, zuweilen eine gewisse Verflachung des Diskurses. Aber es zeigt auch erstaunlich viel Wirkung, und es setzt einen Mechanismus in Gang, der selbstverstärkend ist: Um den Affekt (die Wut, die Empörung) in eine politische Handlung überzuführen, braucht es das Gefühl der Selbstwirksamkeit, was wiederum den Affekt verstärkt. Aber warum ist dieses Gefühl heute so viel weiter verbreitet als noch vor zehn Jahren?
Ein Jahr nach dem Kollaps des Bankensystems lebte ich in London und machte schlechte Kunstfilme. Eines meiner «Projekte» bestand darin, mit einer kleinen Handdigitalkamera Bankangestellte zu filmen – aus sicherem Abstand, herangeholt durch möglichst viel Zoom. Stundenlang stand ich vor den entseelten Gebäuden der City und sammelte tonloses Material von Leuten in Anzügen, die rauchend auf und ab gingen, telefonierten oder ein Sandwich assen. Es wurde nie ein Film daraus. Ich glaube, die Aufnahmen waren noch auf der Speicherkarte, als ich meine kleine Digitalkamera irgendwann verkaufte.
Im Nachhinein denke ich, dass mein zielloses Filmen damals ein unbewusster Versuch war, der Finanzkrise etwas zu geben, was sie in der kulturellen Erzählung nicht hatte: Protagonisten. In den Nachrichten sah man vor allem Gebäude, selbst Bildmetaphern für die institutionelle Abstraktion dahinter: Bear Stearns, Merrill Lynch, AIG, die New Yorker Fed. Gegen Abstraktionen zu kämpfen, ist entmutigend.
Eine Geschichte braucht, selbst wenn sie dem Tagesgeschehen entspringt, Identifikationspotenzial, um Interesse zu wecken und es zu halten. Ohne definierte Akteure ist das nicht möglich. Das System taugt nicht zum Täter, den man verantwortlich machen kann, und die Opfer des Kapitalismus wurden auch im Fall der Finanzkrise nicht genauer identifiziert. Ein diffus gezeichneter Haufen, Kleinanleger, Rentnerinnen und Mieter, verlor Ersparnisse, Altersvorsorge und Wohnraum, bekam aber im Gegenzug keine Gesichter.
Das ist im Übrigen nichts Neues, schon Engels schrieb über den sozialen Mord durch materielle Verhältnisse, er sei «ein Mord, gegen den sich niemand wehren kann, der kein Mord zu sein scheint, weil man den Mörder nicht sieht, weil alle und doch wieder niemand dieser Mörder ist, weil der Tod des Schlachtopfers wie ein natürlicher aussieht».
Während man also die Auswüchse des Finanzkapitalismus als eine Art Naturphänomen behandelte, formierte sich spätestens während der Euro-Krise 2010 zaghafter Widerstand, der schliesslich in der Occupy-Bewegung mündete. Aber der politische Kampf war zäh und entmutigend, und die immer noch relativ kleine Protestbewegung wurde bis 2012 erfolgreich weggelächelt.
Im selben Jahr zog ich nach Berlin. Mit der Orientierungslosigkeit einer Mittzwanzigerin machte ich ein paar wacklige Schritte im Journalismus, dachte pausenlos über ein eigenes Magazin nach, verbrachte Nächte mit amerikanischen Kunststudentinnen in der «Times Bar» und Tage im Prinzenbad. Mein Geld verdiente ich mit Synchronübersetzungen, die ich im Akkord produzierte. Ich arbeitete mich an obskurem Quatsch wie objektorientierter Ontologie und Akzelerationismus ab, im Hintergrund rauschte das Tagesgeschehen.
Die Feuilletondiskussionen darüber, ob der Arabische Frühling durch neue (digitale) Formen des Aktivismus befeuert wurde, quittierten ich und meine Altersgenossen mit einem resignierten Lächeln. Spätestens seit den von Wikileaks veröffentlichten E-Mails von Stratfor war die Überwachung wie ein Schatten über den strahlenden Möglichkeiten des digitalen Zeitalters aufgetaucht. Trauen konnte man eigentlich nur den Hackern, fanden wir.
Und dann, irgendwann im frühen Sommer des Jahres 2013, platzte Edward Snowden in das freundlich-nachdenkliche Geplänkel über die Digitalisierung. Diese Geschichte hatte einen Helden, einen äusserst langweiligen Helden zwar, aber doch jemanden, der sich mutig «unseren» Regierungen gestellt und einen Skandal von grösster Tragweite aufgedeckt hatte. Ich war wie elektrisiert. Spätestens jetzt würde sich die allgemeine Lethargie in Aktivität verwandeln, unmöglich würden sich die Bürger der westlichen Demokratien, die sie doch für so überlegen hielten, die Überwachung durch ihre eigenen Regierungen gefallen lassen.
Aber siehe da: Man liess es sich gefallen. Es gab ein paar Leitartikel und eine traurige Delegation deutscher Schriftsteller, die einen offenen Brief zum Kanzleramt brachten, dort aber nicht zum Gespräch empfangen wurden. Juli Zeh hoffte in einem Interview, dass sich hier «die intellektuelle Klasse» repolitisiere und der Funke auf eine «grössere Bevölkerungsgruppe» überspringen möge. Ich weiss noch, wie sehr mich der Anblick des Grüppchens unter den schmalen Betonsäulen des Kanzleramts deprimierte: Wenn dieses zahnlose Gebettel alles war, was an Widerstand aufgebracht werden konnte, wie sollte sich denn dadurch jemand animiert fühlen?
Aber natürlich war Snowden gerade deshalb der ideale Held, weil er der liberalen Mitte gefiel. Seine Langweiligkeit sei wie eine Rüstung, nur ein solcher Saubermann hätte etwas Derartiges überhaupt wagen können, bemerkte meine Freundin E. Sie hat die geheimnisvolle Fähigkeit, ihr Leben an den Quellen der Berichterstattung zu verbringen, und sie war auch damals näher dran als die meisten anderen meiner Freunde: Sie kannte Jacob Appelbaum und Laura Poitras, hatte mit Hackern und Datenjournalistinnen zu tun und erzählte von der nicht unbegründeten Paranoia, die in diesen Kreisen herrschte. Als im «New Yorker» beschrieben wurde, wie Appelbaum darauf bestanden hatte, in der Sauna eines «privaten Klubs» in Berlin interviewt zu werden, musste ich lachen – ein Cyberpunk im «Soho House». Das Weltgeschehen war mir noch nie so nah gerückt.
Ich und die anderen Nerds, die sich nach ein paar Monaten noch mit dem Thema befassten, zogen uns zurück. In Hackerspaces, Programmierkurse und auf die Position, dass gegen die flächendeckende Überwachung nur mit einer radikalen Erweiterung der digitalen Kompetenzen jedes einzelnen Bürgers anzugehen war. Die digitalen Produktionsmittel mussten vergemeinschaftet werden. Das Individuum sollte auch hier zum ermächtigten Protagonisten werden.
Ich lud den Browser Tor herunter und besorgte mir einen P2P-verschlüsselten Messenger. Eine Zeitlang hatte ich sogar ein Jolla, ein finnisches Handy mit einem eigenen offenen Betriebssystem. Das Jolla war launisch, es gab immer dann den Geist auf, wenn ich einen wichtigen Anruf bekam. Nach einem halben Jahr besorgte ich mir ein iPhone.
Meine anderen Bemühungen, «digital bewusst» zu leben, verliefen nicht viel besser: Den Versuch, eine neue Währung namens Bitcoin zu kaufen, gab ich nach zwei Tagen auf. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, glaubte ich doch mit einer mich heute erschütternden Naivität daran, dass ich mit dem Kauf die Umwälzung des globalen Finanzsystems hätte befördern können. Ich bemühte mich redlich, ein paar Programmiersprachen zu lernen, aber die Hackerspaces waren voll mit Mansplainern, die zwar viel redeten, aber nie eine Frage beantworteten.
Der NSA, der CIA, dem Bundesnachrichtendienst, den Regierungen, diesen abstrakten Antagonisten, war es sowieso egal, was wir taten. Das war zumindest das vorherrschende Gefühl. Mit Sicherheit tat ich den Autorinnen vor dem Kanzleramt damals unrecht: Sie trugen das Thema in den Bundestag, sie waren – neben vielen anderen Netzaktivistinnen, die jahrelang kämpften – dafür verantwortlich, dass die Datenschutz-Grundverordnung ins Leben gerufen wurde. Wirksam fühlte sich damals allerdings kaum etwas an. Social Media war in Deutschland nicht besonders weit verbreitet und ausserdem gerade bei diesem Thema eher Teil als Lösung des Problems.
Der Punkt, an dem sich alles änderte, kam vier Jahre später. Bei #MeToo traf zusammen, was für eine nachhaltige und breite Politisierung notwendig ist: ein Identifikationsangebot, Gemeinschaft und Selbstwirksamkeit. Hier mangelte es nicht an Protagonisten, der politische Akt selbst bestand im Erzählen der eigenen Geschichte. Auch die Täter waren definierbar, konkret, eventuell sogar fassbar. Und gleichzeitig wurde durch das kollektive Erzählen ein System sichtbar gemacht.
#MeToo bewies den politisch Engagierten ihre eigene Wirksamkeit und die Macht von Social Media. Die Bewegung war, wie wir wissen, nur der Anfang einer neuen Ära des Aktivismus, dessen Anziehungskraft sich seitdem massiv ausgebreitet hat. Antirassistische und antifaschistische Kämpfe, die selbstverständlich nicht erst seit 2017 geführt werden – und die durch das Aufflammen der neuen Rechten im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 an Mitstreitern gewonnen hatten –, profitierten von der diskursiven Energie, die sich online ausdehnte.
Es ist eine der grossen Errungenschaften der emanzipativen Bewegungen der letzten Jahre, das Interesse an Politik nicht nur zu wecken, sondern es auch zu halten und in Energie umzuwandeln. Das war lange vor 2017 in antirassistischen und feministischen Kreisen theoretisch vorbereitet. Durch eine Art Revival der «Politik der ersten Person», nach deren Grundsätzen die Feministen der zweiten Welle das Politische im Persönlichen verortet hatten, gab man dem Kampf gegen Rassismus und Patriarchat nicht nur Akteure, die politisch Widerständigen können sogar selbst zu Protagonistinnen werden.
Natürlich geht es auch hier um Systeme, aber die Tatsache, dass die eigene Unterdrückung erzählt wird, dass man Autorin und Protagonist zugleich sein kann, dass man am Geschehen teilhaben oder Heldinnen haben kann, setzt eine Energie der Identifikation frei, die in Autofiktion und Schlüsselromanen nur ihre buchstäblichste Form findet.
Viele der Nerds von früher kommen in dieser neuen Ära anscheinend schlecht zurecht: Glenn Greenwald führt jetzt freundliche Interviews mit Alex Jones, Matt Taibbi geriert sich als Elon Musks rechte Hand, und Edward Snowden erfreut die Cryptobros, indem er die Regulierung von Kryptowährung kritisiert.
Aus der fast trotzigen Grundhaltung dieser Männer, die im Übrigen weit verbreitet ist, spricht auch der gekränkte Narzissmus derjenigen, die nicht mitmachen dürfen. Wer sich nämlich nicht als Protagonist in dieser neuen, politischen Erzählung wiederfindet, muss eine empathische Transferleistung erbringen, um sich nicht als Personifizierung eines oppressiven Systems zu begreifen. Und in einer Welt, in der das kulturelle Kapital gewandert ist, in der jeder Influencer ein feministisches Buch geschrieben haben muss, wollen auch männliche Schriftsteller zur Hauptfigur werden.
Es ist ein ambivalentes Vergnügen, nicht mehr so allein zu sein. Auf der einen Seite bin ich voller Bewunderung für diejenigen, die sich ernsthaft antirassistisch, feministisch und klassenpolitisch engagieren. Auf der anderen Seite wird eine Unterhaltung, bei der ausnahmslos alle mitmischen, auch Werbeagenturen und Fitness-Influencer, bei der sich die Aufmerksamkeit von Empörungsgrad und Lautstärke lenken lässt, nicht unbedingt interessanter. Ein Fortschritt, jedenfalls: Unter jungen Leuten, die sich für intellektuell halten, ist es schon lange nicht mehr salonfähig, zu sagen, man interessiere sich nicht für Politik.
Nun sehen wir uns ja nicht nur mit Dingen konfrontiert, bei denen die Protagonisten so klar zutage treten. Im September jährt sich die Finanzkrise zum fünfzehnten Mal, und die Dodd-Frank Act, die damals zur Regulierung eines entfesselten Finanzsystems beschlossen wurde, ist zu grossen Teilen zurückgenommen worden. Die Krise spielt kaum eine Rolle im kulturellen Gedächtnis, nicht einmal in Erklärungsversuchen über den Aufschwung rechter Verschwörungstheorien oder in Artikeln über den Kollaps der Silicon Valley Bank taucht die Finanzkrise besonders prominent auf.
Währenddessen mangelt es nicht an Finanzskandalen. Cum-Ex, Panama Papers, Wirecard, die Liste der abstrakt klingenden Verbrechen löst bei vielen Leuten immer noch ein Summen im Ohr aus. Es gibt ein gut eingespieltes mediales und politisches Rezeptionsmodell für Skandale dieser Art: Sie werden zu Einzeltaten erklärt, zu individuellen Kriminalfällen, die keinesfalls auf ein systemisches Versagen hindeuten könnten. Das ist die andere Seite der Suche nach einem Protagonisten.
Den jüngeren Umweltbewegungen ist es hoch anzurechnen, dass sie die neoliberale Lüge vom bewussten Konsumenten nicht kaufen. In dieser Fiktion ist jeder Einzelne von uns Protagonist, oder besser, Antagonist, und zwar völlig unterschiedslos: der rechtsextreme Präsident, der die Rodung des Regenwalds befiehlt, ebenso wie der Student, der seine Plastikflasche aus Versehen in den falschen Abfall geworfen hat.
Um nicht in dieser Geschichte zu leben, muss man sich bewusst entscheiden, stattdessen gegen viele abstrakte Gegner anzutreten: grosse Energiekonzerne, Lobbyorganisationen, Politikinteressen. Die Tatsache, dass die Auswirkungen der Umweltkrise sich buchstäblich in Naturkatastrophen niederschlagen, man sich also konzeptionell auch noch gegen das Gefühl der «Natürlichkeit» zur Wehr setzen muss, macht die Sache nicht leichter. Und die Opfer des Klimawandels sind nicht nur durch ihre partielle Zukünftigkeit in unseren Erzählungen schwer greifbar.
Aber vielleicht sind die Erfahrungen der letzten Jahre – die erfolgreiche politische Mobilisierung im Internet, die Einsicht, dass sich Systeme nur gemeinsam bekämpfen lassen – die beste Voraussetzung, um in Anbetracht vieler gesichtsloser Gegner nicht die Energie zu verlieren.
Es ist nicht so, dass mich die Themen, die gegenwärtig diskursiv verhandelt werden, kaltlassen, im Gegenteil. Aber die erste politische Wut ist ein einschneidendes Erlebnis. Ich bin immer wieder überrascht, wie oft sich 2008 und 2013 in meine Arbeit schleichen – als künstliche Inseln und algorithmische Webstühle; als Fragen an Technologie, Ökonomie und Gesellschaftssysteme. Ich versuche wohl immer noch, diesen Geschichten ihre Heldinnen zu geben, ihre Antagonisten zu identifizieren und sie nicht nur analytisch, sondern auch erzählerisch zu begreifen.
Aus: "Meine erste politische Wut war ein einschneidendes Erlebnis. Es prägt bis heute mein Denken" Theresia Enzensberger (28.05.2023) Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/theresia-enzensberger-meine-erste-politische-wut-war-praegend-ld.1736706Theresia Enzensberger (* 1986 in München) ist eine deutsche Schriftstellerin und Journalistin. https://de.wikipedia.org/wiki/Theresia_Enzensberger
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