COMMUNICATIONS LASER #17

Laser#17 - Fraktal Text Akkumulation => Global-Politix und Micro-Welt, Randnotizen und Fussnoten => Topic started by: Textaris(txt*bot) on March 01, 2017, 01:31:25 PM

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 01, 2017, 01:31:25 PM
Quote[...] Wie sollte man das Leben in der DDR am besten schildern und was für Themen betonen? Stasi, Mauer, Stacheldraht – oder aber billige Mieten, sichere Arbeitsplätze, subventionierte Lebensmittel und flächendeckende Kinderhorte? Wie bringt man die Alltagserfahrung vieler Menschen mit der äußeren Geschichte in einen sinnvollen Zusammenhang, ohne die DDR entweder zu verharmlosen oder zu dämonisieren? Die verschiedenen Generationen in der DDR erlebten die äußere Geschichte aus ihrer jeweiligen Perspektive jeweils völlig anders. ...

Man kann, etwas simplifizierend, die Geschichte der SBZ/DDR in drei grobe Phasen einteilen: Erstens die Zeit des Aufbaus, von 1945 bis zum Bau der Berliner Mauer 1961; zweitens die Jahre der zunehmenden Stabilisierung, ,,Routinisierung" und auch internationalen Anerkennung der DDR, in den sechziger und siebziger Jahren; und drittens die Zeit der Öl- und Wirtschaftskrisen ab Mitte der Siebziger, des erneuten Kalten Krieges ab 1979 und der wachsenden politischen und sozialen Unruhen in den achtziger Jahren – eine Zeit der zunehmenden Destabilisierung, die schon vor Gorbatschows Machtantritt in der Sowjetunion begonnen hat, deren Ende aber eng mit seiner neuen Politik des Glasnost und Perestroika verbunden war.
Betrachtet man nun aber, wie verschiedene Generationen diese Phasen durchlebten, welchen Herausforderungen sie ausgesetzt waren und wie sie darauf reagierten, so sieht das Bild doch etwas anders aus.

Die Gründungsväter, die Mitläufer, die ehemaligen Nazis in der DDR, die viel zu wenig ins Geschichtsbild kommen. Diejenigen, die im Dritten Reich schon Erwachsene waren, bildeten eine tief gespaltene Generation. Auf der einen Seite stand eine ganz kleine Minderheit, die die ,,Gründungsväter" der DDR darstellten. Sie hatten entweder gegen den Nationalsozialismus gekämpft und sind deswegen verfolgt, verprügelt, eingesperrt worden (wie zum Beispiel der spätere SED- und Staatschef Erich Honecker); oder sie sind ins Exil gegangen und erst nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekommen, wie zum Beispiel der erste SED-Generalsekretär Walter Ulbricht.
Für diese politisch aktive und sehr linkseingestellte Gruppe bildete die DDR die Chance, ein neues Deutschland und eine vollkommen neue Gesellschaft nach sowjetischem Vorbild aufzubauen. Gerade weil sie so sehr unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten, hatten diese politischen Akteure überhaupt kein Zutrauen in ihre deutschen Mitmenschen: nämlich diejenigen, die Hitler-Anhänger, NS-Enthusiasten oder auch passive Mitläufer gewesen waren. Für sie musste ,,Demokratie" heißen, dass die marxistisch-leninistische Partei immer leiten und lenken sollte, um den Weg in eine bessere Zukunft zu bereiten und durch gezielte Propaganda und/oder Zwang die Massen nach und nach zu überzeugen, bis sie alle in ,,neue Menschen" verwandelt wären.
Die überwiegende Mehrheit der Deutschen aber hat im Krieg gegen den ,,Bolschewismus" gekämpft. Für sie, unter ihnen auch pragmatische Mitläufer und politisch Unbeteiligte, waren die späten Kriegs- und frühen Nachkriegsjahre die schlimmsten.

... entgegen der SED-Propaganda waren nicht alle Nationalsozialisten in den Westen gegangen. In den Jahrzehnten nach dem Krieg konnten ehemalige NS-Täter – richtige, echte Täter – in weitaus größerem Ausmaß in der ostdeutschen Gesellschaft untertauchen als allgemein anerkannt wurde und immer noch wird. Wenn sie nicht vor Gericht gezogen worden waren – und die meisten Täter wurden nie vor Gericht gebracht – konnten auch sie sich erstaunlich verändern.
Gelegentlich können wir auch Einblicke darin gewinnen, wie sich individuelle Wandlungen vollzogen, zum Beispiel, wenn rechtliche Untersuchungen später mit den Tätern aufholten. Es gibt viele Beispiele von Personen, die sich in die DDR‑Gesellschaft eingefügt hatten, bevor sie entdeckt, vor Gericht gebracht und verurteilt wurden. Josef Blösche zum Beispiel, dessen Bild uns aus dem sogenannten ,,Stroop‑Bericht" über die Unterdrückung des Warschauer Ghetto-Aufstandes gut bekannt ist, lebte unauffällig in der DDR und baute sich mit Frau und Kindern ein gutes Leben auf. 1969 wurde er aber vor Gericht gezogen und zu Tode verurteilt. Der ehemalige Dresdener Gestapo-Chef Henry Schmidt wurde erst 1987 vor Gericht gebracht. Diese und viele andere wenig bekannte Beispiele, die ich nennen könnte, sind wahrscheinlich symptomatisch für eine weitaus größere Anzahl an ehemaligen Tätern und Täterinnen, die niemals ausfindig gemacht wurden und als DDR-Bürger und -Bürgerinnen ein von der Justiz unbehelligtes Leben führen konnten.

... Und die jüngste DDR-Generation? Diejenigen, die in der Honecker-Zeit geboren wurden, hatten die glücklichsten Erinnerungen. Idyllische Kindheiten, ein Gefühl der Geborgenheit, sichere Zukunftspläne – und kaum oder wenige Stasi-Erfahrungen. Und der Traum verwirklichte sich, obwohl auf ganz andere Weise, als sie es sich vorgestellt hatten: Nach 1990 konnten sie plötzlich überall hin, studieren und arbeiten, wo sie wollten, im Westen wie auch im Osten. Die glücklichen Kindheitserinnerungen mussten nicht mit dem Gefühl der Ostalgie verbunden werden wie bei der Elterngeneration.
Wie kann man nun den ,,historischen Blick" oder die ,,äußerliche Geschichte" der DDR mit den Erfahrungen und Erinnerungen der DDR-Bürger und -Bürgerinnen zusammenbringen?
Wenn Ostdeutsche nach dem gigantischen sozialen und politischen Umbruch von 1989/90 behaupten wollen, dass sie ,,davor" ,,ganz normale Leben" genossen hätten, so müssen wir das alles irgendwie zusammenbringen und mitdenken. Das ist keine einfache Geschichte – es gibt keine einfache Geschichte der DDR oder bezeichnet, was hieß die DDR –, sondern es sind viele Geschichten, besonders dann, wenn man die persönlichen Erfahrungen von Menschen aus vielen Schichten und vielen Generationen mitbetrachtet, und es wird auch nicht einfach sein, diese Geschichten annähernd angemessen medial darzustellen.

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Aus: "Generationen, Diktatur und AlltagKein ganz normales DDR-Leben" Mary Fulbrook (26.05.2019)
Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/generationen-diktatur-und-alltag-kein-ganz-normales-ddr-100.html (https://www.deutschlandfunk.de/generationen-diktatur-und-alltag-kein-ganz-normales-ddr-100.html)



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Quote[...] Vom 13.-15. Oktober 2011 fand an der Pariser Universität Sorbonne Nouvelle-Paris 3 eine international besetzte Tagung statt, die sich aus narratologischer Perspektive mit der Analyse ostdeutscher Erinnerungsdiskurse und den Manifestationen einer spezifischen kulturellen Identität zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer beschäftigte. ...

LIZA CANDIDI (Turin) verdeutlichte aus ethnologischer Perspektive anhand der Analyse urbaner und musealer Erinnerungsräume die in Hinblick auf die DDR-Erinnerung bestehende Existenz paralleler Erzählungen und Erinnerungsvorgänge. In Anlehnung an Claude Levi-Strauss und Jan Assmann benutzt Candidi das Konzept der ,,kalten" und ,,warmen" Erinnerung, um die Diskrepanz zwischen öffentlichem und privatem Gedächtnis zu unterstreichen. ...

Gegenstand des letzten Panels der Tagung war die Literatur unter dem Aspekt der Identitätskonstruktion. Unter Einbeziehung von Leitfragen der Emotionsforschung fragte zunächst BERND BLASCHKE (Berlin) nach dem Stellenwert von Emotionen in der ostdeutschen Erinnerungs- und Identitätsliteratur von in den 1960er und 1970er Jahren geborenen Autoren wie Jana Hensel, Claudia Rusch, Jens Bisky und Maxim Leo. Dabei zeigte er auf, inwiefern die Texte dieser Autoren ihre besondere identitätsprägende Kraft durch emotionsbasierte Erinnerungsszenen gewinnen. Die erinnerten Gefühle lassen sich nicht wie vermutet auf Trauer und Ostalgie beschränken, sondern umfassen eine ganze Palette von Gefühlsdispositiven. HÉLÈNE YÈCHE (Poitiers) ging in ihrem Beitrag anhand der zwei unterschiedlichen Generationen angehörigen Autoren Christoph und Jakob Hein der Wechselwirkung von ,,Noch-DDR-Literatur" und ,,Post-DDR-Literatur" nach. ...


Aus: "Narrative kultureller Identität – Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989" (13.10.2011 - 15.10.2011)
Quelle: http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4012 (http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4012)

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Quote[...] Wurde die DDR kurz nach der Wende von der ostdeutschen Bevölkerung noch einmütig negativ beurteilt, zeigen neue Umfragen zunehmend positive Beurteilungen. Trotz des seit der Wende gestiegenen Lebensstandards erfährt die DDR in den neuen Bundesländern mittlerweile in vielen Bereichen, besonders in Bezug auf die soziale Sicherheit, eine bessere Bewertung als die Bundesrepublik. Diese Einschätzung wurde auch von den Panelteilnehmern der Sächsischen Längsschnittstudie geteilt. ... Kritiker werfen ein, dass im Rahmen der Nostalgie die gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Zustände, die in der DDR herrschten, ausgeblendet, verdrängt oder schöngeredet würden. ...


Aus: "Ostalgie" (28. Februar 2017)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Ostalgie (https://de.wikipedia.org/wiki/Ostalgie)

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Quote[...] Limbus (lat. für ,Rand', ,Saum', ,Umgrenzung') bezeichnet in der katholischen Theologie zwei Orte am Rande der Hölle (auch als Vorhölle, Vorraum oder äußerster Kreis der Hölle bezeichnet), an dem sich Seelen aufhalten, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind. ...


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Limbus_(Theologie) (https://de.wikipedia.org/wiki/Limbus_(Theologie))

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Quote[...] Gysi hat diese Rede leicht variiert schon oft gehalten: Er wirbt dafür, dass die Ostdeutschen auch die Westdeutschen verstehen. Und er lobt die Ostdeutschen dafür, was sie den Wessis an Erfahrungen voraus haben: das Umgehen mit dem Wegfall vieler Arbeitsplätze, Schulsystem und Kitas eben, mehr Frauen in Jobs. Sogar den Ausstieg aus der Atomenergie gab es in Ostdeutschland schon 1990. Es ist eine schöne Erzählung, nicht unwahr, aber eben stark eingefärbt. Liest man sie als Äußerung einer ostdeutschen Seele, dann schwebt diese in einem Raum zwischen Minderwertigkeitskomplex (Der Westen hat sich nicht für uns interessiert) und Hybris (Hätten Sie mal, schließlich sind wir Avantgarde). Sie ist weder im Himmel noch in der Hölle zu Hause. Schon gar nicht aber in der normalen Welt. Sie existiert in einer Art Limbus, jenem überirdischen Wartezimmer, in dem die Seelen bis zur endgültigen Klärung ihres Aufenthaltsstatus festhängen. ...


Aus: "Gefangen im Nachwende-Limbus" Daniel Schulz (11.6.2013)
Quelle: https://www.taz.de/!5065607/ (https://www.taz.de/!5065607/)

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Quote[...] Jedes Jahr im Januar die gleichen Nachrichtenbilder: die immer noch etwas staatlich anmutende Kranzniederlegung durch führende Linke-Politikerinnen und –Politiker an den Gräbern von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin-Friedrichsfelde.
Was die Nachrichten nicht zeigen, sind die Wortgefechte, die sich dort – ebenfalls jährlich – Leute aus verschiedenen politischen Lagern liefern. Linke gegen Linke, Stalinisten gegen Antistalinisten, Rechte Antistalinisten gegen linke Antistalinisten, Antikommunisten gegen Kommunisten, DDR-Nostalgiker gegen DDR-Geschädigte und mittendrin linke Menschen aus dem Ausland, die die Binnenauseinandersetzungen nicht so recht erfassen. Anstoß ist ein vergleichsweise kleiner Gedenkstein ,,Den Opfern des Stalinismus", der seit 2006 seinen Platz in der Gedenkstätte hat.

... Ost-Komplex: ein Wort mit vielen Assoziationen. Ein Wort wie aus dem Kalten Krieg, als Bezeichnung eines abgeschlossenen, feindlichen, auch unbekannten Territoriums. Und ein Wort aus der Psychologie: die Komplexe der Ostdeutschen. Aber auch der Begriff Komplexität steckt da drin: der Osten als weites Feld, widersprüchlich, vielfältig, bunt.


Aus: ",,Ich wollte schick im Westen ankommen." - ,,Der Ost-Komplex" Dokumentarfilm von Jochen Hick, 2016" Angelika Nguyen (Januar 2017)
Quelle: http://telegraph.cc/ich-wollte-schick-im-westen-ankommen/ (http://telegraph.cc/ich-wollte-schick-im-westen-ankommen/)

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Quote[...]  Der Ausgangspunkt jahrzehntelanger Herrschaft der Kommunisten in der Sowjetunion und den Ländern des Ostblocks schloss eine fundamentale Verfälschung und Manipulation von Geschichte ein. Umgekehrt waren gesellschaftlicher Widerstand gegen Unfreiheit und Unterdrückung, Dissidenz und Opposition auch immer ein Kampf um die Rückgewinnung der Geschichte, den Zugang zu authentischen Informationen, Erinnerungen und deren Vermittlung in die Gesellschaft.

In den 70er und 80er Jahren stellten wir uns in der DDR diese Frage nach der Rückgewinnung der Geschichte. Das klingt so selbstverständlich, aber wie sollte man das anstellen? ...


Aus: "Die Suche nach der eigenen geschichtlichen Identität in der DDR" Wolfgang Templin (?)
Quelle: https://www.wtemplin.eu/publikationen/die-suche-nach-der-eigenen-geschichtlichen-identit%C3%A4t-in-der-ddr/ (https://www.wtemplin.eu/publikationen/die-suche-nach-der-eigenen-geschichtlichen-identit%C3%A4t-in-der-ddr/)

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Quote[...] Die Dresdner Historikerin hat bisher nicht über die Stasi geforscht. Die Professorin für Neuere und Neueste Geschichte promovierte zur Transformation nach dem Zweiten Weltkrieg, was für ihr jetziges Vorhaben von Vorteil sei, wie sie sagt. ,,Amerikanische Besatzungszone, Demokratisierung – mir ist so ein gesellschaftlicher Umbruch relativ vertraut", meint die 40-Jährige. ,,Dass ich mich mit dem MfS nie befasst habe, sehe ich daher nicht als Nachteil. Die Stasi ist für unser Forschungsprojekt ja nur Mittel zum Zweck, um das Phänomen des gewollten Nichtwissens in der Transformation zu verstehen." ...


Aus: "Forschungsprojekt Warum nur wenige Ex-DDR-Bürger ihre Stasi-Akte sehen wollen" Andreas Förster (01.03.2017)
Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/wissen/forschungsprojekt-warum-nur-wenige-ex-ddr-buerger-ihre-stasi-akte-sehen-wollen-25942292 (http://www.berliner-zeitung.de/wissen/forschungsprojekt-warum-nur-wenige-ex-ddr-buerger-ihre-stasi-akte-sehen-wollen-25942292)

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The GDR Bulletin features articles and reviews on the literature and culture of the German Democratic Republic. It was published from 1975 - 1999.
The journal was originally published by the Department of Germanic Languages & Literatures at Washington University in 26 volumes. In its early years, it appeared in the form of a newsletter, with notes on conferences, grants, news, and occasional book reviews. In later years it evolved into a more traditional journal, with scholarly articles, interviews with key GDR literary figures (e.g.- Jurek Becker, Heiner Müller), and book reviews.
https://newprairiepress.org/gdr/ (https://newprairiepress.org/gdr/)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 04, 2017, 01:33:55 PM
Quote[...] Ich denke, die Geschichte unseres Filmes reicht in die Gegenwart, verloren gegangene Träume, zerstörte Illusionen. Keiner rechnete damals damit – unvorstellbar – dass sich das System des Sozialismus auflöst, die Ereignisse überschlugen sich. Der Satz am Ende des Filmes, ,,haben wir alles verdorben?", beeindruckt durch seine Zeitlosigkeit.  ... Menschen neigen dazu, voreilig zu urteilen, nicht noch mal nachfragen, abhaken, schnell weiter. Hier erzählen wir von Leuten, die gekämpft haben, die sich geopfert haben, immerhin für die Befreiung der Menschheit, eine große Idee. Viele von denen ließen dafür ihr Leben. Aber auf ihrem von ideellen Werten geleiteten Weg sind viele selbst zu radikalen Dogmatikern geworden, unbelehrbar in ihrem Glauben.  Und es gab die Opportunisten, die wider besseren Wissens in ihrer Zerrissenheit das System am Leben hielten – eben auch Kommunisten, die innerhalb desselben Repressalien ausgesetzt waren, dennoch an der Idee des Sozialismus festhielten, diesen Staat DDR aufbauten. Ihre Treue wurde ihnen zum Verhängnis.

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Aus: "Matti Geschonneck im Interview: ,,Melancholie hat mit Liebe zu tun"" Christina Bylow (02.06.2017)
Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/kultur/film/matti-geschonneck-im-interview--melancholie-hat-mit-liebe-zu-tun--27025760 (http://www.berliner-zeitung.de/kultur/film/matti-geschonneck-im-interview--melancholie-hat-mit-liebe-zu-tun--27025760)

https://de.wikipedia.org/wiki/In_Zeiten_des_abnehmenden_Lichts (https://de.wikipedia.org/wiki/In_Zeiten_des_abnehmenden_Lichts)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 10, 2017, 03:23:18 PM
Jutta Voigt (* 5. Juni 1941 in Berlin)
https://de.wikipedia.org/wiki/Jutta_Voigt (https://de.wikipedia.org/wiki/Jutta_Voigt)

QuoteSTIERBLUTJAHRE - Jutta Voigts lesenswerter Rückblick auf die Boheme des Ostens zwischen Aufbruch und Resignation
Vonj.h. am 25. Oktober 2016

... Das im AUFBAU-VERLAG erschienene Buch STIERBLUTJAHRE ist keine Chronik der Boheme des Ostens, sondern ein Material, das Geschichte durch lebendige Erzählung der Vergessenheit entreißt. "Aber je länger die Ostzeit zurückliegt, desto stärker kommt ein Gefühl von Milde auf gegenüber den überstandenen Verhältnissen und den Erinnerungen an das einzelne Leben, vielleicht weil sich nicht alles um Geld und Besitz drehte und weil vielen ehemaligen Bohemiens die Gegenwart zu brav, zu rational, zu ökonomisch erscheint. Jeder bleibt ein Kind seiner Zeit." (Voigt im Interview mit Jana Hensel/ ZEIT ONLINE)

https://www.amazon.de/product-reviews/3351036116/ref=cm_cr_dp_text/260-0478622-9451449?ie=UTF8&showViewpoints=0&sortBy=helpful#R1YYKITZRYXL9K (https://www.amazon.de/product-reviews/3351036116/ref=cm_cr_dp_text/260-0478622-9451449?ie=UTF8&showViewpoints=0&sortBy=helpful#R1YYKITZRYXL9K)

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Quote[...] Das Schönste an der DDR: Es war so leicht, gegen sie zu sein. Ein Land, regiert von alten Männern, die dumm genug waren, zu glauben, dass sie klüger seien als alle anderen, und die sich folglich anmaßten, das Land bis ins Kleinste zu reglementieren, so ein Land fordert jeden, der nicht nur Untertan sein will, dazu heraus, gegen Regeln zu verstoßen. Das ist dann auch sehr leicht und fühlt sich gut an.

Das ist der eine Grund, weshalb es vielleicht nie so viel Boheme gab wie in der DDR. Der zweite: Das Geld war Spielgeld, es reichte für Wohnung, Rauchwaren und Alkoholika, ansonsten spielte es keine große Rolle. Und ein dritter: Man hatte Zeit. Um auf komische Gedanken zu kommen, braucht man schließlich kein Geld, sondern nur Zeit.

Die DDR also als Heimstatt einer Boheme zu beschreiben, liegt nah. Dass das in einem Buch erst jetzt geschehen ist, ebenfalls. Denn es liegt etwas Wehmütiges in dem Unterfangen, das früher wohl als ostalgisch gebrandmarkt worden wäre, zumal dieses Buch, ,,Stierblutjahre", in einem Ton verfasst ist, der hin und wieder etwas zu süß geraten ist: ,,Entschwundene Orte, vergessene Namen, verblasste Leidenschaften – ich habe versucht, sie an unseren Tisch zu holen, bevor es kalt wird in Deutschland." Aber eigentlich schreibt Jutta Voigt, die zu Recht preisgekrönte Reporterin, in einem wunderbaren Stil, sie legt ihre Befangenheit als sympathisierender Zaungast offen, sie zitiert genug Protagonisten, denen nichts ferner liegt als eine Verklärung ihres Lebens in der Ost-Boheme, und sie beschreibt hinlänglich die dunklen Seiten im Leben der staatsfernen Künstler: Verbot, Bespitzelung, Enge.

Dass sie derlei aber nicht ins Zentrum stellt, sondern vielmehr die Versuche, alldem zu entfliehen, der Beschränkung die Weite entgegenzusetzen, dem verordneten Wir ein ertrotztes Ich, das macht den Wert dieses Buches aus. Unterhaltsam zeigt es, dass es ein gutes Leben im schlechten gab (wenn schon kein richtiges im falschen), dass mit ,,Totalitarismus" womöglich ein Anspruch der Herrschenden beschrieben werden kann, aber bestimmt nicht ihr Erfolg im Land, und warum etliche kritische DDR-Intellektuelle die gängige Beschreibung ihres Lebens im vergangenen Land als holzschnitthaft und kenntnisarm empfinden. Wenn es so gewesen wäre, müsste sich ein jeder für jeden Tag schämen, den er ohne Ausreiseantrag verbracht hat, für jedes Glas Rotwein, das er nur aus Lust und ganz ohne Grimm in sich geschüttet hat.

Wenn wir schon beim Rotwein sind, sei erklärt, warum das Buch ,,Stierblutjahre" heißt. ,,Stierblut" nämlich war der Name eines der drei überhaupt trinkbaren, weil nicht zuckersüßen Rotweine in diesem schon deshalb dem Untergang geweihten Land. Was die schiere Menge an gesoffenem Alkohol anbelangt, unterschied sich die Boheme kein bisschen vom Rest des Landes; allein die bevorzugten Weinsorten waren andere.

Jutta Voigt hat einen ausgesprochen weiten Begriff von Boheme. Für sie zählen eigentlich all jene dazu, die es mit der Kunst hatten und die ihre Individualität betonten. Würde man damit nicht die zahlreichen Wodka- und Biertrinker und die wenigen Nichttrinker ausschließen, könnte man ähnlich trennscharf sagen, dass sich der DDR-Bohemien vom Rest dadurch unterschied, dass er den Wein gern trocken trank.

Voigt beschreibt rauschende Feste und die Vorliebe für opulente Wohnarrangements. All das gehört für sie zur Boheme, weil sie die Entfernung vom Staatsvormund und die Betonung des Individuellen als Maßstab nimmt. So kommt sie nicht nur über die Beschreibung des Zeitenwandels zur Beschreibung ganz unterschiedlicher Szenen – die Einschnitte des Verbotsplenums von 1965 und der Biermann-Ausbürgerung von 1976 haben viel verändert, aus Optimisten wurden Pessimisten, aus Dableibern Weggeher. Besonders für die achtziger Jahre beschreibt sie Künstlerszenen, die sich allein in ihrer Staatsferne (und Stasidurchdringung) ähnelten, sonst aber kaum etwas miteinander anfangen konnten.

... Alkohol und Sex waren prägende Elemente dieses Alltags. Und dazwischen dauernd die Projektionen, die Sehnsüchte und Träume, was man machen müsste, was verhindert wird, und wie man es vielleicht doch machen könnte."

Dieses Nebeneinander macht das Buch so lesenswert. Es erhebt keinen Anspruch auf Deutung. Es beschreibt eine Zeit, die weder schlimm war noch schön, sondern immer beides, nebeneinander, ineinander. Jutta Voigt bringt das Kunststück zustande, eine Sehnsucht zu erklären nach einer Welt, die es verdient hat, unterzugehen.

Quotewolterstaedt 19.12.2016, 17:31 Uhr
Natürlich spielte Geld eine Rolle. Man musste ja etwas zum Essen kaufen, Kleidung, Schulsachen, Schulessen, Urlaubsreise etc. Für Konsumgüter musste man als Normalbürger ganz schön sparen. Ich habe eine Menge Biografien von "meinen ehemaligen DDR-Mitbürgern" gelesen und mich mit den Büchern und meinem Leben auseinander gesetzt. Das hier vorgestellte Buch werde ich bestimmt nicht lesen.


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Aus: "Buch über die Boheme in der DDR: Tanzen auf den Trümmern der Ideale" (19.12.2016)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/kultur/buch-ueber-die-boheme-in-der-ddr-tanzen-auf-den-truemmern-der-ideale/14994802.html (http://www.tagesspiegel.de/kultur/buch-ueber-die-boheme-in-der-ddr-tanzen-auf-den-truemmern-der-ideale/14994802.html)

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Quote[...] Madleen ist der zweite Vorname der Journalistin Jutta Voigt, eine der wenigen namhaften Reporterinnen in der DDR. Von 1966 bis 1990 schrieb sie für die Wochenzeitung ,,Sonntag", danach für das Nachfolgeblatt ,,Freitag", die ,,Wochenpost". Seit Jahren versucht sie, den Geist der Ost-Jahre einzufangen. Mit journalistisch geschärften Essays wie ,,Der Geschmack des Ostens - Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR" oder ,,Westbesuch - Vom Leben in der Sehnsucht". Nun ist die sogenannte Boheme dran, das Kultur-Milieu, das eigenen Regeln folgen wollte.

... Nun ist die Gegenkultur kein neues Thema, im Gegenteil. Trotzdem ist das Voigt-Buch interessant, weil es aus der staatsnahen Gesellschaft berichtet. Viele der Akteure waren Mitglieder der SED, sie litten unter der Alltagskultur, die sie gleichzeitig mittrugen, was auch absurd war, von Voigt aber nicht eigens befragt wird. Die Party hat eben immer recht. Die Autorin will die flüchtigen Momente einfangen. Sie bietet Vorstufen zu einer Chronik der Gefühle der um 1940 geborenen, anfangs DDR-begeisterten Elite.

... So wird die Voigtsche ,,Möwen"-Boheme im Rückblick mehr als ein Lifestyle, denn als eine Lebenshaltung kenntlich. Mehr Schickeria als Underground. Mehr Kultur- als Kunst-Milieu. Für das Politische hatte diese vergnügte Oberschicht keinen praktischen Begriff: ,,Das echte Volk hat mich nie interessiert, nur die Idee von ihm", sagt der befragte Brecht-Assistent. Kurz gefasst: ein Hoch auf uns. Dieser selbstverliebten DDR-Elite zu folgen, hat - bei aller Redseligkeit und Weichmalerei (,,Es war einmal ein Land..."), die sich Jutta Voigt auch gestattet - einigen kulturgeschichtlichen Reiz.

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Aus: ",,Stierblutjahre" Autorin Jutta Voigt fängt Geist des Ostens ein" Christian Eger (20.10.2016)
Quelle: http://www.mz-web.de/kultur/-stierblutjahre--autorin-jutta-voigt-faengt-geist-des-ostens-ein--24950336 (http://www.mz-web.de/kultur/-stierblutjahre--autorin-jutta-voigt-faengt-geist-des-ostens-ein--24950336)

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 27, 2017, 08:09:02 AM
Quote[...] Im Alter von 14 Jahren habe ich mich zum Dienst bei der Stasi verpflichtet und vier Jahre danach meine Ausbildung dort begonnen. Im Herbst 1989 bei der Stasi anzuheuern, wirkt von heute aus betrachtet wie die verbohrte Entscheidung eines Ewiggestrigen. Für mich stand der Gang zur Stasi damals nicht einmal im Widerspruch zu den Hoffnungen auf eine andere und bessere DDR, die ich mir als Jugendlicher wünschte. Dass andere sich längst entschieden hatten, das Land zu verlassen und sich politisch zu engagieren, konnte ich damals nicht verstehen. Als Freunde vor mir, die in Oppositionsfamilien aufgewachsen waren und auch selbst von der Stasi verfolgt wurden, mir nach der Wende von ihren Erfahrungen in der DDR erzählten, hatte ich oft das Gefühl, in einem anderen Land groß geworden zu sein.

Ich habe die DDR eher von der Sonnenseite kennengelernt, und wenn es Kritik gab, dann wurden Unzulänglichkeiten besprochen und nicht das System infrage gestellt. Für mich gab es sowohl in der Familiengeschichte als auch im Alltagserleben eine weitgehende Überschneidung mit den offiziellen Erzählungen der DDR. Mich für den Sozialismus einzusetzen, kam mir als Jugendlicher folgerichtig vor.

Ich habe den größten Teil meiner Jugend in Plattenbauten am Stadtrand verbracht. Die hatten damals einen sehr guten Ruf, weil sie über Warmwasser und Zentralheizung verfügten. Als ich geboren wurde, da stand die Mauer schon fast zehn Jahre, und wie die meisten Kinder in meinem Alter kam ich gar nicht auf die Idee, diese Situation grundsätzlich infrage zu stellen. Ich erinnere mich an Fußballspiele, die auf Sportplätzen in unmittelbarer Nähe zur Mauer stattfanden. Für mich, und wohl auch für viele andere Kinder, war es ein Teil der Normalität. Ein Stück gebaute Umwelt, die schon immer da ist, und über die du dich nicht jedes Mal aufs Neue wunderst. Wir machten höchstens mal einen Witz darüber, dass der Ball wohl für immer weg wäre, wenn wir ihn über die Mauer schießen würden. Daneben gab es diese lebendig gehaltene Familiengeschichte mit zwei lebenden Urgroßeltern, die gegen die Nazis gekämpft hatten und ins Exil gehen mussten. ...

Zum öffentlichen Thema wurde meine Vergangenheit erst 2007, als ich in einem Interview in der taz über die begonnene Ausbildung beim MfS und die Verpflichtung, später für die Staatssicherheit zu arbeiten, berichtet hatte. Der Anlass für das Interview damals war ein Ermittlungsverfahren nach Paragraf 129a gegen mich und Freunde von mir. Uns wurde vorgeworfen, Teil einer terroristischen Vereinigung zu sein, und wir wurden 2006 und 2007 über viele Monate mit umfangreichen Überwachungsmaßnahmen überzogen. Die Verfahren wurden dann später eingestellt. Bei einzelnen Beschuldigten, die schon zu DDR-Zeiten in der Opposition waren, hatte die Bundesanwaltschaft Stasi-Akten genutzt, um die Persönlichkeitsprofile des BKA noch mal zu schärfen und kontinuierliche Positionen der Beschuldigten ausfindig zu machen. Uns war schnell klar, dass eine Skandalisierung der Nutzung von Stasi-Akten durch das BKA nur überzeugend ist, wenn ich gleichzeitig meine Geschichte öffentlich mache. Seitdem war öffentlich bekannt, dass ich mich bei der Stasi verpflichtet und eine Ausbildung dort begonnen hatte. Ich habe aus meiner Vergangenheit kein Geheimnis gemacht, und wer immer sich dafür interessierte, hätte es selbst bei Wikipedia nachlesen können.

Ich hatte zu der Zeit schon promoviert und forschte seit 1998 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Universitäten zu Fragen der Wohnungspolitik. Mit den steigenden Mietpreisen und den zunehmenden Verdrängungsprozessen in Berlin wurde ich regelmäßig als Experte von verschiedenen Medien befragt. Meine Stasi-Vergangenheit schien dabei kein Problem zu sein.

Das änderte sich erst im vergangenen Jahr, nachdem mich die Linkspartei für die rot-rot-grüne Landesregierung in Berlin zum Staatssekretär für Wohnen vorgeschlagen hatte. Am Tag vor der offiziellen Ernennung veröffentlichte die B.Z. meine Stasi-Akte, und Forderungen zu einem Rücktritt wurden geäußert. Es folgten Wochen einer intensiven politischen und medialen Debatte, in der es um meine Vergangenheit und den späteren Umgang mit ihr ging. Im Fokus stand dabei vor allem die Frage, ob eine begonnene Ausbildung beim MfS als hauptamtliche Tätigkeit zu bewerten ist, weil ich dies in einem Fragebogen verneint hatte. 

Ich hatte die politische Brisanz meiner eigenen Vergangenheit völlig unterschätzt und eigentlich damit gerechnet, dass meine wohnungspolitischen Ideen und Vorschläge einen öffentlichen Gegenwind hervorrufen würden. Doch statt mit der Entscheidung für einen parteilosen kritischen Wissenschaftler mit Bewegungsbezug einen Aufbruch in eine neue Stadtpolitik zu signalisieren, sah es plötzlich so aus, als würden rückwärtsgewandte Kräfte der Linkspartei die alten SED-Kader wieder an die Macht bringen.   

Ich habe die Debatte als relativ erbarmungslos empfunden. Es ging weniger um eine differenzierte Aufarbeitung von Geschichte und Verantwortung als vielmehr um eine dämonisierende Stigmatisierung. Die Havemann-Gesellschaft hat es mit ihrem Veranstaltungstitel ganz gut auf den Punkt gebracht: "Einmal Stasi – immer Stasi?" Immerhin mit Fragezeichen. Die Frage wurde leider in der aufgeheizten Atmosphäre der Diskussion nicht wirklich geklärt, und die Medienberichterstattung im Dezember und Januar hat ihre eigene, sehr eindeutige Antwort gegeben. Wenn der Stasi-Vorwurf im Raum steht, kommt das auch 27 Jahre nach der Wende einer Vorverurteilung gleich.

Dies ist ein Auszug aus dem Buch Kommen. Gehen. Bleiben. Andrej Holm im Gespräch mit Samuel Stuhlpfarrer (Mandelbaum Verlag, Wien / Berlin 2017, 16.00 €, ISBN: 978385476-666-7). Der Gesprächsband ist ab dem 27. November 2017 im Handel erhältlich. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurden die Interviewpassagen in einen Fließtext verwandelt und entsprechend angepasst.

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Aus: "Andrej Holm : "Ich war Teil eines Repressionsapparats"" Andrej Holm (26. November 2017)
Quelle: http://www.zeit.de/kultur/literatur/2017-11/andrej-holm-buch-kommen-gehen-bleiben-vorabdruck/komplettansicht (http://www.zeit.de/kultur/literatur/2017-11/andrej-holm-buch-kommen-gehen-bleiben-vorabdruck/komplettansicht)


Quote
Das_Ding
#5

"Wenn der Stasi-Vorwurf im Raum steht, kommt das auch 27 Jahre nach der Wende einer Vorverurteilung gleich. "

Und wenn er sich dann bewahrheitet, wird völlig zu Recht die Reißleine gezogen. Wir verurteilen heute Greise, weil sie als "kleine Rädchen" in sehr jungen Jahren den Terror der Nazis ermöglicht haben, und das völlig zu Recht. Sollen wir jetzt bei der Stasi eben so lange warten? Die Stasi war Staatsterror, wer sich dem - zu dem noch freiwillig - angeschlossen hat, sollte heute absolut nicht in politischer Verantwortung stehen. Was für eine Verhöhnung der Opfer das (erneut) wäre. Hat man denn echt gar nichts gelernt und begriffen?


QuoteHerdentier
#5.1

Zwischen einem KZ Wächter und einem Angehörigen des Wachbataillons des MfS ist doch ein gewaltiger Unterschied. ...


Quotemwossi
#9

Wie auch immer, anerkennenswert ist zumindest die Bereitschaft, sich der Debatte um seine Tätigkeit als Teil des DDR-Systems zu stellen. Was ich bisher lese scheint mir auch einigermaßen nachvollziehbar. Natürlich kann man dieses und jenes subjektiv und voreingenommen hineininterpretieren, wie das so gern von Foristen gemacht wird.
Ich würde mich allerdings freuen, wenn man so eine detaillierte Beschreibung seiner DDR Geschichte auch einmal von Frau Merkel und Herrn Sauer lesen könnte.


QuoteSiegfried Wittenburg
#17

Ich kenne solche Biografien. Aus der Sicht der späten Erkenntnis geschrieben, klingen sie wie eine Bitte um Entschuldigung. Ich kenne auch Biografien, die von den Tägern eines menschenfeindlichen Systems, gewollt oder ungewollt, arg geknickt wurden und diese Menschen bis heute darunter leiden. Diese wären die Empfänger einer Entschuldigung. Doch warum geschieht dieses nicht?

Stattdessen werden Bücher veröffentlicht und es wird Geld damit verdient, indem sich diese Autoren Asche aufs Haupt streuen. Ich wünschte mir, dass Herr Holm sich für die Menschen engagiert, die in dem System, dem er durch den Mut anderer entkommen ist, auf der Schattenseite standen und dieses immer noch tun.


QuoteGottschedin
#18

Holms Text liest sich - und das ist schon fast tragisch-komisch zu nennen - achtundzwanzig Jahre nach der Wende in großen Teilen wie ein Rechenschaftsbericht für eine FDJ-Leitung, um nicht zu sagen, wie ein Bericht für seinen damaligen Dienstherren.


QuoteHerdentier
#19

Die Mitarbeiter des MfS ,die vom BND übernommen wurden, mussten bestimmt keinen Kotau machen, weil sie beim Gegner waren.
Markus Wolf der "Mann ohne Gesicht" hat von der CIA und den Israelis eindeutige Angebote bekommen.
Hätte er diese Angebote angenommen,wären man bei dem versuch seine Verantwortung für das "Unrechtssystem" zu analysieren auf ungeahnte Schwierigkeiten gestoßen. ;-))
Also Schattenspiele für die Öffentlichkeit!


Quotetb
#20

Die DDR war ein Klassen-Staat, in dem die Zugehörigkeit zur Herrschaftsschicht vererbt wurde. Herr Holm, Abkömmling dieser Aristokratie wurde, wie vermutlich viele aus diesem Kreis, mit 14 Jahren durch den Initiationsritus aufgenommen.
Als geborener Abkömmling der Herrscherklasse konnte man bei ihm auf die üblichen Demutsgesten in Bewerberklassen für Berufsoffiziere, nachmittäglichen Politunterricht etc. verzichten. Aufgewachsen und unterrichtet wurde er in einer geschlossenen Umgebung, in der er auch nur auf Personen der gleichen Herkunft stieß. Man war und blieb unter sich. 1989/90 kam es zu kurzfristigen Irritationen ob und wie man seinen Status als Mitglied der Herrschenden Klasse bewahren konnte. Mit oder ohne revolutionäre Tat-vulgo Gewalt. Herr Holm wählte dann den problemlosen Weg durch das besondere Biotop Humboldt Universität. Hier wurden keine Fragen gestellt und wenn doch,w ar man nicht an den Antworten interessiert. Beim Sprung an die Verwaltungsspitze Berlins stellte sich Herr Holm dann etwas ungeschickt an. Vorläufig muss er mit einem gut bezahlten Beraterposten in der zweiten Reihe vorlieb nehmen. Wie im Parteilehrjahr vermittelt, übt er jetzt Selbstkritik. Vermutlich wird ihm vergeben.


Quote
Karl Lauer
#22

Ach, bitte. Wir haben ganz andere Kaliber an viel wichtigeren Schaltstellen der Macht.

Schäuble, Koch, Bouffier, und und und


QuoteDipl.ing
#28  —  vor 12 Stunden 5

Diebkommentatoren wissen natürlich alle, wie sie sich in der DDR verhalten hätten.... hat jemand mal darüber nachgedacht wie alt Herr Holm damals war , offensichtlich ist ein steinewerfender Herr Fischer als Außenminister tolerabel ein Herr Holm aber nicht.


QuoteEllerkongen
#29

Auf der einen Seite beschwert man sich ja, dass nicht genug aus dem Osten in Führungspositionen kommen ... auf der anderen Seite wirft man alle aus dem Osten aus den Führungspositionen.

Seien wir doch ehrlich: die kompetentesten Männer und Frauen waren nun mal Teil des Staatsapparats.


QuoteFlorian James Bond
#34

Too little and a. little. too. late!


QuoteInana77
#43

Vieles an dieser Debatte erscheint mir ehrlich gesagt etwas übertrieben und naiv. Wir haben auch andere Leute in der Politik, deren Rolle in der DDR etwas unklar ist und die auch deutlich länger damit beschäftigt waren, als Andrej Holm, der im Wesentlichen eine Ausbildung angefangen hat.
Selbst bei unserer Bundeskanzlerin muss man nur eins und eins zusammenzählen, um sich auszurechnen, dass sie zumindest nicht im Widerstand gewesen sein wird. Sonst wäre sie weder in der FDJ noch in der Akademie der Wissenschaft in ihre damalige Position gekommen. Sie hätte auch nicht studieren dürfen. Darüber regt sich kein Mensch auf.
Überhaupt sind die wirklichen Fragen beim Untergang der DDR ganz andere, nämlich warum Moskau mit einem still hielt und worum auch andere Kräfte zurückgehalten wurden. Im Grunde ist es nicht anders erklärbar, als dass maßgebliche Kräfte schon die Seiten gewechselt hatten. Die Frage ist dann aber auch, wieso, wo die heute sind und auch was sie dafür bekommen haben. Die friedliche Implosion der Sowjetunion bleibt sicher ein Rätsel, dass auch irgendwann näher untersucht werden sollte. Sich aber einem Mitläufer im Teenageralter aufzuhängen, ist eine Ersatzhandlung.


Quote
Letterfromboston
#46

Es ist sehr leicht, Pauschalurteile zu faellen, wenn man nicht ein direkt Betroffener - auf welcher Seite auch immer - war.
Hier , so meine ich, ist es hilfreich, sich einen Speigel vorzuhalten und zunaechst zu fragen, wie man selbst gehandelt haette.
Herrn Holms Darstellungen finde ich nachvollziehbar und glaubwuerdig. Als 14-jaehriger Heranwachsender hat man durchschnittlicherweise nicht den geschaerften kritischen Blick eines Erwachsenen mit selbstaendig entwickelter Meinung. Wenn dann die Geleise schon einmal in eine Richtung gelegt sind und das Umfeld keine Herausforderung zum Hinterfragen abverlangt, faehrt halt der Zug in eben diese Richtung los.
Ich erinnere mich noch gut, dass ich selbst in jenem jugendlichen Alter, in einem konservativen Dorf aufgewachsen, ein ernsthafter Verfechter der Politik des 'hervorragenden' Kanzlers Adenauer war, der mit seinem Minister Erhard zusammen den Wiederaufbau des Landes bewerkstelligt hatte. Erst als ich mein Studium begann und mich mit der aufgeflammten Studentenbewegung auseinandersetzte, wurde mir bewusst, dass der materielle Aufschwung gravierende Schatten ueberdeckte: Die Restaurationsphase hatte in Verwaltung und Justiz vielen Alt-Nazis Unterschlupf gewaehrt, die ihre wahre Gesinnung nicht oeffentlich zeigen sollten/konnten, aber dennoch danach handelten. (An den Folgen leidet Deutschland noch heute!)
Dies aenderte mein Bild von der Gesellschaft nachhaltig und folglich meine politische Position.  Ich wurde aktives und kritisches SPD-Mitglied. Fuer solch einen Wandlungsprozess braucht es persoenliche Reife und ggf. ein katalytisch wirkendes Umfeld.
In Herrn Holm's Fall fehlte zumindest dieses Umfeld. Der junge Mann wurde quasi von den Ereignissen im Sommer/Herbst 1989 ueberrascht. Seine moegliche Naivitaet kann man ihm nicht zum Vorwurf machen.
Hingegen sind aus meiner Sicht diejenigen, die Herrn Holm 's Berufung zum Staatssekretaer vorbereiteten und durchsetzten, bestenfalls naiv, unguenstisten Falls borniert gewesen, nicht gleichzeitig auf seine Stasi-Vergangenheit hinzuweisen. An frueheren Beispielen hatte sich meiner Erinnerung nach schon gezeigt, dass selbst ein ehemaliger IM-Status heutzutage nicht mehr sicher verheimlicht werden kann. Herr Holm haette sich vermutlich viel Aerger erspart, wenn er diesen Umstand mit seinen Parteifreunden diskutiert haette.


...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 02, 2018, 09:49:55 AM
Quote[...] Mehr als 28 Jahre nach dem Mauerfall liegen noch immer Millionen Schnipsel zerrissener Stasi-Akten ungenutzt in Säcken. Das werde vorerst so bleiben, die massenhafte Rekonstruktion am Computer komme nicht weiter voran, sagte der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, der Deutschen Presse-Agentur. Das Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik habe eine leistungsfähige Software entwickelt, doch es gebe keine entsprechenden Scanner. Das Projekt sei vorerst gestoppt.

Vor zehn Jahren war das Vorhaben gestartet, mit dem die Papiere virtuell zusammengesetzt werden sollten. Etwa sieben Millionen Euro wurden investiert. Erschlossen wurde der Inhalt von 23 Säcken, was 91.000 Seiten entspricht. Auch das Zusammenfügen von Stasi-Papieren per Hand im bayerischen Zirndorf wurde Ende 2015 beendet. Die von Stasi-Offizieren zerfetzten Papiere in rund 15.500 Säcken sind noch nicht erschlossen. (dpa)


Aus: "Aufarbeitung der SED-Diktatur: Rekonstruktion zerrissener Stasi-Akten scheitert an der Technik" (02.01.2018)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/politik/aufarbeitung-der-sed-diktatur-rekonstruktion-zerrissener-stasi-akten-scheitert-an-der-technik/20803970.html (http://www.tagesspiegel.de/politik/aufarbeitung-der-sed-diktatur-rekonstruktion-zerrissener-stasi-akten-scheitert-an-der-technik/20803970.html)

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Quote[...] Bei der Stasi-Unterlagenbehörde sind seit ihrem Bestehen mehr als 3,2 Millionen Anträge auf persönliche Einsicht in Akten der DDR-Staatssicherheit gestellt worden. In diesem Jahr seien es bis Ende November etwa 46.300 Anträge gewesen, sagte der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn. 2016 waren es insgesamt 48.600 Anträge. Obwohl die Zahlen langfristig zurückgingen, sei das Interesse noch höher, als anfangs erwartet.

Manche Menschen wagten erst jetzt als Rentner den Blick in die Vergangenheit und beantragten Akteneinsicht, sagte Jahn. Es gebe noch die Angst zu entdecken, von Nachbarn oder Freunden bespitzelt worden zu sein, so der frühere DDR-Oppositionelle. Neu seien auch verstärkte Nachfragen der ,,Enkelgeneration", die mehr über das Leben gestorbener Familienangehöriger wissen wolle. Diese Anträge machten mittlerweile 15 Prozent der Erstanträge aus.

,,Die Akten klären Schicksale auf, sie sind Dokumente von Menschenrechtsverletzungen und nach wie vor ein wichtiges Instrument der Aufarbeitung", so der 64-Jährige. Seit 1992 gibt es die Möglichkeit zur persönlichen Einsicht in Unterlagen, die die Stasi über Menschen ohne deren Wissen geführt hat. Als erste konnten DDR-Bürgerrechtler wie Bärbel Bohley in der neu gegründeten Stasi-Unterlagen-Behörde in Papieren lesen, die die Geheimpolizei über ihr Leben angelegt hatte. Allein 1992 wurden laut Behörde in Ostdeutschland fast 522.000 Anträge auf Akteneinsicht gestellt.

Derzeit können laut Jahn zwei Drittel der Anträge in wenigen Wochen beantwortet werden. Bei dem Rest müsse noch sehr viel aufwendiger im riesigen Stasi-Archiv recherchiert werden – auch um Verwechslungen auszuschließen. Das könne Monate dauern. ,,Bei einem Drittel der Anträge sind die Wartezeiten auf eine Antwort noch immer zu lang. Aber das spricht auch für die hohe Qualität der Auskünfte", so Jahn. Rund eine Million Bürger stellte bereits mehrmals Anträge.

Der Berg der noch offenen Anträge werde weiter abgetragen, versicherte Jahn. Gab es 2016 noch rund 54.400 nicht abgeschlossene Fälle, seien es in diesem Jahr etwa 43.300.

Die meisten Anträge auf Akteneinsicht wurden in diesem Jahr in der Hauptstadt gestellt – laut Bundesbehörde rund 13.200 (bis Ende November). Das waren fast genauso viele wie im gesamten Jahr 2016. Seit 1992 kamen hier rund 782.400 Anträge zusammen.

Im Nachbarland Brandenburg gingen in der Außenstelle Frankfurt (Oder) seit Januar rund 2000 Anträge auf persönliche Einsicht in die Akten ein (bis Ende November), etwa 500 weniger als im ganzen Jahr 2016. In Brandenburg waren es seit Bestehen der Bundesbehörde mit ihren Außenstellen rund 305.400 Anträge.

In Sachsen wurden in drei Außenstellen der Behörde in diesem Jahr 12.430 Anträge (bis Ende November) von Bürgern abgegeben. Das waren demnach etwa 940 weniger als im Jahr zuvor. Insgesamt summierte sich im Freistaat die Anzahl der Anträge auf knapp 839.300 seit Bestehen der Behörde.

In Sachsen-Anhalt betrug die Zahl der Anträge in diesem Jahr (bis Ende November) etwa 5900 (2016: knapp 6700). Insgesamt wurde etwa 404.100 Mal die persönliche Akteneinsicht beantragt, seitdem das möglich ist.

In Thüringen nahmen die Mitarbeiter in den Außenstellen der Bundesbehörde rund 7400 Anträge (bis Ende November) entgegen, während es im gesamten Vorjahr rund 7900 waren. Die Gesamtzahl der Anträge belief sich laut Angaben der Behörde seit 1992 auf 525.400.

In Mecklenburg-Vorpommern gingen in diesem Jahr rund 5300 Anträge ein (bis Ende November). Im vergangenen Jahr waren es etwa 530 Anträge mehr. Die Gesamtzahl der Anträge auf persönliche Einsicht in die Akten seit 1992 wurde mit rund 351.230 angegeben.

Nach Angaben der Behörde werden im Dezember erfahrungsgemäß nicht mehr sehr viele Anträge gestellt. Die Zahlen für das gesamte Jahr 2017 dürften sich deshalb nicht wesentlich erhöhen.

Jahn zeigte sich überzeugt, dass es die persönliche Einsicht in die Stasi-Papiere dauerhaft geben wird. Derzeit würden zusammen mit dem Bundesarchiv Vorschläge zur Zukunft des Stasi-Unterlagen-Archivs erarbeitet, so Jahn.

Eine Expertenkommission hatte empfohlen, die Stasi-Akten bis 2021 ins Bundesarchiv zu überführen, eine Stiftung einzurichten und die frühere Stasi-Zentrale in Lichtenberg zum ,,Ort der Aufklärung über Diktatur und Widerstand" weiterzuentwickeln. Doch Opferverbände befürchteten eine Abwicklung der Behörde. Die Vorschläge wurden auf Eis gelegt. Über Veränderungen muss der Bundestag entscheiden. Schnelle Beschlüsse sind aber nicht zu erwarten. (dpa)



Aus: "Stasi-Akten Mehr Antragsteller für Einsicht" Jutta Schütz (28.12.2017)
Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/berlin/stasi-akten-mehr-antragsteller-fuer-einsicht-29399358 (https://www.berliner-zeitung.de/berlin/stasi-akten-mehr-antragsteller-fuer-einsicht-29399358)

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Quote[...] Die frühere Stasi-Zentrale in Berlin wird weiter zum Lernort für Geschichte ausgebaut. Eine neue Dauerausstellung im riesigen Archiv mit original erhaltenen Akten der DDR-Staatssicherheit solle voraussichtlich im Juni eröffnet werden.

Das sagte der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, der Deutschen Presse-Agentur. «Der Campus für Demokratie nimmt Kontur an. Der Ort der Repression und der friedlichen Revolution wird nun immer mehr zum Ort der Aufklärung über Diktatur und Widerstand.»

Im damaligen Ost-Berliner Stadtteil Lichtenberg residierte das DDR-Ministerium für Staatssicherheit ( MfS) in einem abgeschotteten Gebäude-Komplex mit Tausenden Mitarbeitern. Nach dem Mauerfall retteten Bürgerrechtler und aufgebrachte Einwohner durch die Erstürmung der Zentrale einen großen Teil der Papiere vor der Vernichtung. Insgesamt blieben rund 111 Kilometer Stasi-Akten erhalten.

Die Ausstellung mit dem Titel «Einblick ins Geheime» soll auf drei Etagen im teilsanierten Haus 7 gezeigt werden. Bislang gab es nur limitierte Führungen durch das Archiv. Nun wird ein separater Bereich mit extra Eingang für die Ausstellung geschaffen. Großformatige Fotos, die Installation eines Aktenstapels, ein original Karteischrank und eine begehbare Akte gehören dazu. In dem dann offenen Teil des Hauses könnten Besucher die Arbeitsweise des MfS als Teil der SED-Diktatur erkunden, so der frühere DDR-Oppositionelle.

Ziel sei, die Unterschiede zwischen Damals und Heute deutlich zu machen, betonte Jahn. Legte die Stasi einst Akten zur Überwachung von Menschen an, seien sie heute am historischen Ort ein wichtiges Instrument zur Aufarbeitung. Dabei müsse jetzt die Brücke zur nächsten Generation gebaut werden. Auch international gebe es weiter ein großes Interesse an der Arbeit des Archivs.

Der Bundesbeauftragte will das einstige Machtzentrum der Stasi zum Lernort für Demokratie entwickeln. Im Haus 1, dem einstigen Amtssitz von Stasi-Chef Erich Mielke gibt es seit 2015 eine Dauerausstellung zum Wirken der Staatssicherheit, auf dem Innenhof eröffnete im Vorjahr eine Open-Air-Ausstellung zur friedlichen Revolution. Aus dem einstigen Casino für Stasi-Offiziere (Haus 22) soll ein Informationszentrum mit Bücherladen zur SED-Diktatur, Seminarräumen und einem Lesecafé werden.

Zur Zukunft der Behörde mit derzeit 1600 Mitarbeitern sagte Jahn, bis zum 30. Jahrestag des Mauerfalls im November 2019 sollten die Weichen gestellt sein. Derzeit erarbeiteten seine Behörde und das Bundesarchiv Vorschläge. «Wir gestalten den Transformationsprozess Schritt für Schritt. Doch dann muss der Bundestag entscheiden», betonte Jahn. Derzeit würden Machbarkeitsstudien zur Zusammenlegung von Archivbeständen in den ostdeutschen Bundesländern vorbereitet.

Vor mehr als einem Jahr hatte eine Expertenkommission empfohlen, die Stasi-Akten bis 2021 ins Bundesarchiv zu überführen, eine Stiftung einzurichten und die frühere Stasi-Zentrale als Lernort weiterzuentwickeln. Doch Opferverbände befürchteten eine Abwicklung der Behörde. Die Vorschläge wurden auf Eis gelegt. Nun soll über den Umbau der Behörde in dieser Legislaturperiode entschieden werden. Alle konkreten Fragen sind aber offen.

dpa


Aus: "Neue Ausstellung in früherer Stasi-Zentrale" (17.12.2017)
Quelle: https://www.stern.de/politik/deutschland/-einblick-ins-geheime--neue-ausstellung-in-frueherer-stasi-zentrale-7792560.html (https://www.stern.de/politik/deutschland/-einblick-ins-geheime--neue-ausstellung-in-frueherer-stasi-zentrale-7792560.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 30, 2018, 12:27:45 PM
Quote[...] Es waren diese Schilder, wie sie auf den Bildern aus Cottbus zu sehen waren, die mich stutzig machten. Nicht nur, weil sie alle so ordentlich aussehen - als hätte jemand den Auftritt der empörten Bürger wieder fleißig organisiert und dann grimmig dreinschauende junge Männer mit leichtem Übergewicht unter die kleine Menge gemischt, die da nun so etwas wie "Schnauze voll" und "Es reicht!" forderte. Diese Sprüche ...

Dass es zu den Vorfällen in Cottbus parallel zum viel zu frühen Tod der Sängerin Dolores O'Riordan kam, ist ja nur Zufall. Und dass jetzt Zeitungen, die nie wirklich viel Aufmerksamkeit für die ,,Cranberries" aufbrachten, auf einmal große Essays veröffentlichten zu ihrem 1994 erschienenen Song ,,Zombie", das erstaunte dann schon. Weil das irgendwo doch zusammen kam. Tief unten, im dritten oder vierten Gedanken.

Da, wo man die Bilder der embrassierten Bürger von Cottbus mit den Bildern aus dem nordirischen Bürgerkrieg abgespeichert hat, den deutsche Medien gern etwas harmloser als ,,Nordirlandkonflikt" bezeichneten und die Engländer als ,,The Troubles". Als würden da oben in Dublin nur ein paar verwirrte Katholiken ein bisschen Ärger machen.

Der Konflikt spielt in der Berichterstattung praktisch keine Rolle mehr, weil er 1998 mehr oder weniger zu Ende ging.

Und daran hatte der Song ,,Zombies" von den ,,Cranberries" einen erheblichen Anteil. Denn die Sängerin aus Limerick hielt mit ihrem Text den aufgeblasenen Bürgerkriegstreibern den Spiegel vor. Und zwar beiden Seiten: den Katholiken und den Protestanten, den Iren und den Engländern.

Denn dieser Konflikt, der offiziell seit 1969 tobte, war schon lange zu etwas anderem geworden: zu einem Phantom in den Köpfen. Kinder sind es, die im Video die Hauptrolle spielen – Kinder, die den Krieg spielen, während schwer bewaffnete Soldaten durch die Stadt patroullieren. Denn der Krieg sitzt ihnen im Kopf. So haben sie es gelernt, so wurde es ihnen beibegracht.

,,It's the same old theme since 1916
In your head, in your head they're still fighting
With their tanks and their bombs
And their bombs and their guns
In your head, in your head they are dying."

Die Kinder sind schon dazu erzogen worden, den Krieg gegen die Anderen fortzusetzen, unbarmherzig, ohne Pardon – mit Panzern und Bomben und Kanonen.

Da musste erst diese 23jährige Sängerin kommen und mit atemloser Furiosität singen, was diese ach so stolzen Kämpfer und Rechthaber und ihre Soldaten eigentlich sind: Sie sind zu Zombies geworden, zu Wesen, in deren Köpfen ein alter, sinnloser, unlösbarer Krieg tobt, der nie ein Ende nimmt.

... Es sind diese Botschaften auf den Schildern, die nur auf den ersten Blick so klingen, als wollten diese grimmigen Bürger etwas beenden, was scheinbar über ihre Kräfte geht. Oder ihr Verständnis. Es ist der Ton in diesen Texten, der einem so vertraut vorkommt. Es ist ein ganz alter Ton. Manchmal war er auch bei Pegida zu hören, bei Legida, bei AfD-Veranstaltungen. Es ist ein unbarmherziger Ton, einer ganz tief aus der Erinnerung. Ein DDR-Ton.

Denn ein Land, das selbst zu Konfliktlösungen nicht fähig ist, das schafft auch eine Atmosphäre der Konfliktunfähigkeit. In alten DEFA-Filmen sieht man es noch. Es taucht einfach auf. Oft in simplen Familienszenen, in denen der überforderte Mann – statt auf das beharrliche Bohren der Frau zu antworten – mit Schweigen, Abwehr und jäh aufbrechender Gewalt reagiert. Oder einfach so einem sinnlosen: ,,Nun reichts!" Krach, bumm, Türe zu.

Und so findet man nicht nur in DEFA-Filmen viele, viele solcher in Sekunden eskalierender Szenen, die oft mit Gewalt, Geschrei und Gebrülle enden. Erst spät im Nachhinein kann man all das einordnen als Hilflosigkeit einer ganzen überforderten Generation, die es von ihren Eltern nie anders gelernt hat.

Die auch ihre eingegrenzten Lebensperspektiven mit Ratlosigkeit erlebte. Denn das Wörtchen Demokratie war ja im Lande Ulbrichts und Honeckers eine Farce. Mitreden oder gar kollektive Konfliktlösungen waren gar nicht erwünscht. Auch und gerade die ,,führenden Genossen" konnten rabiat und tückisch werden, wenn nicht pariert wurde. Die DDR war ein gehorsames Land.

Musste jetzt mal geschrieben werden, sonst versteht keiner, warum das 1990 so schiefgehen musste, warum sich die Mehrheit der derart erzogenen (,,gelernten") DDR-Bürger 1990 nicht für einen eigenen, gleichberechtigten Weg entschieden, sondern für ,,Nun reichts!", ,,Schnauze voll!", ,,Faxen dicke!"

Alles Sprüche und Verhaltensweisen aus der schwarzen Pädagogik. Die nahtlos herübergerettet wurden in ein neues Land, das eben auch 27 Jahre später nicht zusammengewachsen ist. Wie denn auch? Dazu hätte mindestens das Gefühl der Gleichwertigkeit bestehen müssen.

Aber erwachsene Menschen mit sichtlich ergrautem Haar, Bluthochdruck und dieser tief gekränkten Miene von beleidigten Erziehungsberechtigten, die jetzt feststellen mussten, dass nicht geliefert wurde, was man bestellt hatte, und die solche Schilder tragen, die haben nicht das Gefühl der Gleichwertigkeit. Dann würden sie anders kommunizieren.

Sie verstecken ihre Hilflosigkeit hinter den alten Drohsprüchen der Eltern: ,,Jetzt hab ich aber die Faxen dicke!"

Und dann?

Meistens gab es dann ein paar Schellen, Zimmerarrest und gestrichenes Taschengeld. Wenn nicht Ärgeres. Denn diese Elterngeneration hatte ja selbst gelernt, dass Kinder zu tun haben, was Erwachsene verlangen. Sie haben zu parieren.

Die DDR war ein Land der Parierer.

Wer aufmüpfig wurde, bekam Probleme."Tu, was sie von dir verlangen." Wie oft gab es diesen dummen Spruch als Ratschlag zurecht besorgter Eltern an die Kinder?

Und eigentlich durfte man 1990 so ein Gefühl haben, dass das jetzt aufhört, dass zumindest die Jüngeren jetzt die Chance nutzen, sich mit ihren Verletzungen zu beschäftigen und Sprechen zu lernen. Die Hoffnung war kurz. Ich gebe es zu. Denn so waren sie ja nicht erzogen. Sie waren so erzogen, dass sie niemals Verantwortung für etwas übernehmen und froh sind, wenn sie nicht in eine Funktion gewählt werden. Das steckte tief in der Seele, in den Köpfen: ,,in your heads". Denn wenn Köpfe dazu ausgebildet sind, zu tun, was man ihnen sagt, dann beginnen sie nicht selbst zu denken, dann delegieren sie auch Macht und Verantwortung wieder – und erwarten dann, dass sie richtig regiert werden.

Und 1990 gab es genug freundliche Politiker aus westlichen Landen, die nur zu gern bereit waren, es für die braven Ostdeutschen zu tun.

Ein Abzweig geht hier übrigens zu dem fatalen Spruch: ,,Meine Sachsen sind keine Nazis ..."

Aber den gehen wir jetzt nicht. Sonst wird das ein ganz großer Ausflug.

Wer gelernt hat, zu tun, ,,was sie sagen", der erwartet natürlich trotzdem eine Belohnung. Und wird zunehmend verbiesterter, wenn das nicht passiert. Oder greift zu ganz alten Verhaltensmustern, wenn sich herausstellt, dass das ganze Warten und Parieren ein Selbstbetrug war, wenn die neue Gesellschaft statt freundlicher Belohnung und stiller Ruhe auf einmal Herausforderungen und Verunsicherungen mit sich bringt – wie die Flüchtlinge, die seit 2015 bei uns Zuflucht gefunden haben.

... Wahrscheinlich ist es wirklich so: Genau diese braven, so gern in ihrer Unverantwortlichkeit vor sich hinköchelnden Ostdeutschen konnten im Jahr 2015, 2016, 2017 nicht mehr ausweichen. Die Anwesenheit der Menschen, die vor Krieg und Bürgerkrieg geflüchtet waren, direkt in ihrer sentimental verklärten Heimat (,,Heimatliebe ist kein Verbrechen!") hat ihnen erst gezeigt, dass sie das Ganze doch etwas angeht. Dass sie nach 27 Jahren doch endlich aus ihren kleinen heilen Welten herauskommen müssten und sich kümmern.

Mit anpacken, Lösungen suchen, sich einbringen. Das, was man macht, wenn man begriffen hat, was Demokratie eigentlich ist.

Aber das hatten sie nicht gelernt.

Sie reagierten mit Überforderung. Denn genau das sagen ja die Sprüche: ,,Faxen dicke!"

Deswegen wirken ihre Posen auch so bedrohlich. Sie möchten mächtig wirken. ,,Wir sind das Volk! WIR!"

Das ist der Moment, in dem sich das ganze leidige Phlegma der DDR zeigt. Es ist alles noch da. Der alte Zuchtmeister sitzt noch immer in den Köpfen.

,,Wer nicht hören will, muss fühlen."

,,Wenn du nicht spurst ...."

,,Der Klügere gibt nach ..."

Nein. Der Klügere lernt Karate und wehrt sich. Diese Alptraumgestalten haben unsere Köpfe besetzt. Sie laufen drohend, maulend und schilderschwingend darin herum. Sie wollen, dass wir ihre Alpträume teilen und tun, was sie sagen. ,,Jetzt aber dalli ..."

Wahrscheinlich wurde kein Spruch in der DDR öfter gesagt als dieser. Das nächste Wörtchen ,,sonst" musste gar nicht mehr ausgesprochen wurden.

Die DDR war ein infantiles Land. Bis zum Schluss unfähig zu dem, was die ratlosen Bonzen dann ,,Dialog" nannten. Denn Dialog setzt Gleichwertigkeit voraus.

Menschen, die Schilder mit ,,Faxen dicke" hochhalten, fühlen sich nicht gleichwertig. Sie fühlen sich gleichzeitig unter- und überlegen. Und trotzdem machtlos.

Was auch an den Schleifen im Kopf liegt. Es sind die alten Gespenster, die uns zu Zombies machen. Wir leben nicht selbst. Wir funktionieren und haben die Drohgebärden der Alten im Kopf.

Natürlich kann man das auflösen. Aber nicht mit solchen Schildern auf der Straße. Und dieser grimmigen Erwartung, die Anderen würden jetzt einfach tun, was man verlangt, sonst ...

Daran ist die DDR übrigens gescheitert, an diesem ,,sonst ...".

Wenn als Drohung nur noch die Eskalation zur Gewalt bleibt, ist etwas gründlich schiefgelaufen.


Aus: "Was richten eigentlich die Ängste der Alten in unseren Köpfen an?" Ralf Julke (29. Januar 2018)
Quelle: https://www.l-iz.de/leben/gesellschaft/2018/01/Was-richten-eigentlich-die-Aengste-der-Alten-in-unseren-Koepfen-an-204027 (https://www.l-iz.de/leben/gesellschaft/2018/01/Was-richten-eigentlich-die-Aengste-der-Alten-in-unseren-Koepfen-an-204027)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 22, 2018, 07:41:51 AM
Quote[...] Die Großmutter unserer Autorin war ein Fernsehstar in der DDR. 1990 endete ihre Karriere abrupt. ...

... Das DDR-Fernsehen wurde abgewickelt. Die Lebensgeschichten der DDR-Journalisten bedeutungslos. Da liegen sie, in den Archiven, wie Zeitkapseln, die auf Tauwetter hoffen. Der große Aufbruch aller anderen war für meine Großmutter das Ende ihrer Karriere. Vielleicht bin ich ihr als Enkelin zu gewogen. Aber ich frage mich, ob das, was sie geleistet hat, nicht trotzdem Anerkennung verdient hat. Und ein bisschen teile ich ihre Gefühle: Von ihrer Arbeit als Journalistin erzählt sie mit dem gleichen Enthusiasmus, mit dem ich über meine Arbeit als Journalistin spreche. Über die Jahre hat sie ihren Blick auf die DDR verändert. Heute sagt sie: "Dieser Staat war eine tolle Idee. Aber sie war nicht lebensfähig. Die sozialistische Utopie in die Realität zu übertragen, das schaffen die Menschlein nicht. Dazu sind wir leider nicht fähig." Am 31. Dezember 1991, um Mitternacht, wurde der Sendebetrieb des Deutschen Fernsehfunks endgültig eingestellt. Und meine Großmutter hörte auf, als Journalistin zu arbeiten. "Ich wollte nicht noch einmal bei null anfangen und mich noch einmal behaupten müssen", sagt sie.

In meinem Lieblingsinterview mit FF dabei wurde sie gefragt, was sie außer ihrer Arbeit als Journalistin sonst noch mag: "Die Fahrt in der S-Bahn, morgens, wenn die Leute voller Erwartung sind, abends – den Fernsehturm zur blauen Stunde. Freunde. Abends nicht bequem werden, unter die kalte Dusche gehen und den Tag überlisten, der dann noch einmal beginnt ... Die Zeit nutzen ...!"

Nur die Nachwendezeit konnte sie nicht überlisten.

Quotetb #5

Journalisten und Journalistinnen in der DDR mussten sich schon als Propagandisten und Transmissionsriemen der Parteilinie verstehen.
Wohlwollende Kommentare im Neuen Deutschland und in der Illustrierten FF reflektierten nicht immer die wirkliche Popularität der Portraitierten in der Bevölkerung.
Ob eine Journalistin wirklich mit "liebevoller Strenge" dem Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR ins Auge geblickt hat, oder ob es nicht eher anders herum war, will ich nicht entscheiden.
Wenn es um Informationen ging, da vertraute der DDR Bürger jedoch eher der Tagesschau als der Aktuellen Kamera mit ihren ewig gleichen Berichten von der Produktionsfront.
Aus dieser Konformität ist auch Frau Haupt nicht ausgebrochen.
Deswegen ist sie auch verdient in den Ruhestand getreten.



Quote
Current Options #5.5

DDR-Witz:
Du, ich wandere aus.
Echt, wohin?
In die DDR.
Was für'n Quatsch, da bist Du doch schon.
Nee, nee. Da muss es noch eine andere geben, wo es so ist, wie es in der Zeitung steht.


QuoteSomething_is_rotten #7

Hochinteressanter Artikel - danke. Ich habe gern in der DDR gelebt, und lebe noch lieber im wiedervereinigten Deutschland. Erinnerungen sind etwas sehr Wertvolles.


Quotepolylux #16

Mal ein Beispiel gegen diese ständige Schwarzweißmalerei:
Wenn in den 1960er/70er Jahren über den Vietnamkrieg berichtet wurde, habe ich den DDR-Medien mindestens 80% vertraut, den Westmedien höchstens 20% abgenommen. Bei anderen Theman war es umgekehrt.


...


Aus: "Fernsehstars der DDR: Wie du diese Zeit vermisst" Carolin Würfel (21. Mai 2018)
Quelle: https://www.zeit.de/2018/21/fernsehstars-der-ddr-wende-karriereende/komplettansicht (https://www.zeit.de/2018/21/fernsehstars-der-ddr-wende-karriereende/komplettansicht)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 23, 2018, 12:02:52 PM
Quote[...] Letzten Winter hat mich eine Bekannte aus Westdeutschland in Dresden besucht. Sie fahre, äußerte sie, zum ersten Mal in den Osten und hoffe, dass trotz der 5 Grad minus ,,alles klappe, mit Strom und so". Als ich daraufhin witzelte, sie habe Glück, diesmal seien die Rohre nicht eingefroren und wir hätten deshalb sogar mal fliessend Wasser, hat sie das erschreckenderweise nicht als Witz verstanden. Das hat mich schon irritiert.

Noch verstörter war ich, als ich ihr Dresden zeigte und sie immer wieder äußerte ,,Das hätte ich ja nicht gedacht, ihr habt ja hier richtige Häuser!" (... what) und ,,Das ist ja voll schön hier, wirklich schön, ich bin erstaunt!" Auf die Frage, warum sie das überrasche, dass es in Dresden schön sei, meinte sie: ,,Ich dachte halt, ihr wohnt hier alle in Plattenbauten, weil ihr doch alle arbeitslos seid."

Für den Moment war ich wirklich geflasht davon, dass eine gebildete, kulturell interessierte Person nicht nur derart vorurteilsbehaftet ist, sondern sich nicht mal dafür schämt, derartige Blödigkeiten auch noch rauszuhauen (statt nur still zu denken).

Zunächst mal, 30 Jahre nach der Wende immer noch ,,nie im Osten gewesen" zu sein ist halt doch eigentlich schon peinlich, oder? Ich meine hallo, das ist Ostdeutschland und nicht Südamerika jetzt. Man braucht kein halbes Jahr oder so, um herzukommen und sich zu vergewissern, ob wir nun nur Plattenbauten (etwas, dass  es im Westen ja so überhaupt nicht gibt) haben oder doch vielleicht auch paar schöne Landschaften (die Chefin einer Freundin neulich zu ihr ganz erstaunt: ,,Ich habe ja gehört im Osten soll es sogar auch ein paar schöne Ecken geben?" – really...) und eventuell sogar Kulturstädte. Ich meine, hallo, Dresden zum Beispiel, das ist nicht Hinterhermsdorf, jedeR hat schonmal vom Zwinger gehört, und man kennt doch die Bilder von der Brühlschen Terrasse, von der Gemäldegalerie und der Semperoper, oder nicht?

Leider ist meine Bekannte da nicht die einzige Person, die es noch nie für nötig gehalten hat, sich Ostdeutschland mal anzuschauen, weil es da eh nichts zu sehen gibt außer halt Plattenbauten, in denen ungebildete, kulturlose Menschen wohnen.

Aber wer ist eigentlich der kulturlose, ungebildete Mensch hier, wenn die Person noch nie von Dresdens Bauten gehört hat?

Und dann der Soli, natürlich. Wir standen gerade vor der Frauenkirche, als es in ihrem Gesicht langsam dämmerte: ,,Das haben ja eigentlich alles wir bezahlt, ne, mit unserem Soli." Nee, sag ich, die Frauenkirche wurde garantiert nicht vom Soli bezahlt, sondern mit grösstenteils privaten Geldern, und davon mal ab fliesst auch nur ein Drittel des Soli in den Osten, und wir zahlen den Soli übrigens auch, aber egal, egal, wen interessieren schon Fakten, wenn er oder sie sich mal richtig als was Besseres fühlen kann?

Dazu kommen, gerade nach der letzten Wahl, die unerträglichen Berichterstattungen in den Medien, reihenweise Artikel und Reportagen, in denen ,,tapfere Reporter" sich ,,aufmachen um zu erfahren, wie die Ostdeutschen ticken". Man könnte jetzt sagen, weisste, wenn Du 30 Jahre nach der Wende immer noch nicht weisst, wie Ostdeutsche so drauf sind (anders, auf jeden Fall ganz ganz ganz anders als alle anderen Menschen, eigentlich ja schon fast keine Menschen mehr), dann stell doch in Deinem Scheissmagazin einfach mal paar ostdeutsche Menschen in der Redaktion ein, aber nein. Da wird lieber die hunderttausendste als Reportage getarnte Expeditionsreise geschrieben, überall auch diese demonstrativ zur Schau gestellte Aufgeregtheit ,,hach, wir wissen auch so gaaar nicht, was uns erwartet", grad noch, dass die ReporterInnen ihren Tropenhelm nicht mitgenommen haben. Jedes Mal dieses Getue, als reise man in eine Kolonie, fremder, fremder Dschungel, was für Stämme wohl dort wohnen, und ob diese kulturlosen Menschen, deren Sprache man nicht spricht, vielleicht sogar schon über das Stadium der Menschenfresserei raus sind, eventuell gar in ,,richtigen Häusern" wohnen? Wir wissen es nicht, aber wir werden es erfahren.

Diese Artikel enden regelmäßig an Orten wie dem Bautzner Marktplatz, wo sich die ReporterInnen dann zu den ,,merkwürdigen Dialekt sprechenden" (merke: in Ostdeutschland sprechen nämlich alle sächsisch) ,,abgehängten Männern" setzen, die dort Bier aus der Flasche trinken, allgemein sehr hoffnungslos sind und wo alle immer ,,graue Gesichter" haben, denn das haben in Ostdeutschland ja alle, graue Gesichter. Sorry, euch eure Illusionen zu nehmen, aber Ostdeutschland besteht nicht nur aus der Ecke am Bautzner Marktplatz, an der die abgehängten Typen saufen (es gibt übrigens auch eine Burg und ein Museum, da könnte man auch mal reingehen und Leute treffen, aber egal). Ich fahre doch auch nicht auf ,,Expedition" in den Westen, setz mich in Köln-Porz vor den Lidl zu den Säufern und schreibe dann ,,das ist der Westen". Ich bin erstaunt, dass eine solche Berichterstattung keinem peinlich zu sein scheint. Aber nee, der Osten besteht ja nur aus Hoffnungslosigkeit, grauen Gesichtern und Pegida. Womit wir beim nächsten Punkt sind.

Ich hab neulich einen Typen kennengelernt, der kommt eigentlich aus Hamburg. Er ist wegen der Arbeit hierhergezogen (ja, man höre und staune, hier sind nicht alle arbeitslos, krass, ne?) und hat mich ziemlich angenervt mit seiner Leier von ,,Oh Gott, es ist ja alles so schlimm hier, mit der AfD und Pegida und alles, das geht ja mal gar nicht, diese Entwicklung ist ganz schlimm, wenn das so weitergeht ziehe ich wieder zurück nach Hamburg, das ist ja nicht zum aushalten hier". Laberlaberrhabarber. Das von einem jungen, weißen, heterosexuellen, nichtbehinderten Mann, man fragt sich: was hält der bitte nicht aus hier? Wo hat der hier bitte was zu leiden? Wenn sowas von einer schwarzen Frau käme, vollste Zustimmung, aber mit welchem Recht jammert einer, der per definitionem das Privileg an sich verkörpert hier über Diskriminierung rum? Wo bitte wird der hier in seiner Selbstverwirklichung auch nur irgendwie tangiert? Der passt doch, vor allem in seiner nichtvorhandenen Selbstreflektion, ganz super in die rechte Stimmung hier.

Und zweitens, woher kommt das eigentlich, herkommen, sich nirgendwo einbringen, nix dazutun – auch nix dagegentun, nie auf einer Antipegidademo gewesen sein (denn ja, die gibt es auch, oh, nein, Fehler, sorry, ich vergass, es gibt hier NUR Pegida, wir bestehen quasi aus Pegida) und dann rumheulen wie ein Kolonialherr, der sich das ungebildete Stammesvolk anschaut, schlimm, schlimm, nicht zum aushalten hier, und eine Heizung haben sie auch nicht.

Mich kotzt dieses demonstrativ zur Schau gestellte Leiden am Osten dermaßen an. Der Begriff ,,besorgte Bürger" hat sich bereits etabliert, aber was mich genauso nervt wie die ,,besorgten Bürger" sind die ,,über besorgte Bürger besorgte Bürger". Alle sind immer ganz besorgt. Besorgt über die ,,Entwicklung im Osten". Weil die ganz schlimm ist. Als gäbe es in Westdeutschland keine ,,besorgten Bürger", nee, die wohnen alle im Osten. Komisch nur, dass ich, wenn ich in Westdeutschland bin und meine feministische Bubble mal verlasse, dieselben ekelhaften Sprüche über die ,,Zigeuner, die in den Fussgängerzonen betteln und stehlen, das Pack" höre wie wenn ich in Dresden bin.

Die ganzen Nazis, die AfD´ler und Rechten, sie wohnen nämlich im Osten.

In Hamburg gibt es keine AfD-Städtegruppen, in Stuttgart kein Pegida, rechts wählen nur abgehängte Ostdeutsche in Plattenbauten, in süddeutschen Kleinstädten mit nahezu Vollbeschäftigung gibt es ja quasi keine rechten Wahlerfolge, existiert nicht, nie, kommt einfach nicht vor. (Welchen Grund bzw. welche Ausrede haben die dafür eigentlich, für ihre AfD-Erfolge? Der ostdeutsche graue Nieselregen kann es in der süddeutschen Kleinstadt ja nicht sein.)

Es ist ja nicht so, dass viele MünchnerInnen froh sind, dass sie in der Enklave München leben und nicht in Restbayern, es ist nicht so, dass bayerische Männer auf dem Land dieselben Stammtischparolen raushauen wie man sie hier in Ostdeutschland hört (nur dass die Bayern dabei Leder- statt Jogginghosen tragen und ihr Bier nicht aus der Flasche trinken), nein nein. Es ist nicht so, dass das, was die CSU so raushaut, dasselbe ist wie das was die AfD sagt, auf gar keinen Fall ist das dasselbe nur in grün, nee, gibt's nicht, und außerdem, in Bayern und anderswo hat das ja Traditiohooon und ist ja Kultuhuuur, was bei uns in Ostdeutschland dann eben KulturLOSigkeit ist. Spannend. In Herne und anderswo gibt es auch keine von Neonazis kontrollierten Gebiete, nein, No-Go-Areas gibt's nur im Osten und nirgendwo sonst, wir haben alle von der netten Dortmunder Willkommenskultur gehört, dort ist es Brauch, den Flüchtlingen Licht zu machen, indem man Asylantenheime anzündet, aber hey, immerhin Feuer, schön warm und hell, ganz anders als im kalten, kalten Dunkeldeutschland.

Aber vielleicht vertu ich mich auch grad, ich ungebildetes Ostkind, vielleicht liegt Dortmund ja im Osten, das würde einiges erklären, mal schauen, gibt es da Plattenbauten und graue Gesichter? Dann wäre der Fall immerhin wieder klar.

Dieses demonstrative ,,Besorgtsein" über ,,all die Nazis in Ostdeutschland" hat viel zu oft die Funktion, von den eigenen Nazis (egal ob AfD, ,,besorgter Bürger", Stammtischheinz, CSU oder ,,traditionell bayerischer Konservatismus") abzulenken. Diese Projektion, fällt mir auf, ist fast schon pathologisch. Wer all die Rechten gedanklich nach Osten (Verzeihung, nach Sachsen, denn ,,der Osten" IST ja quasi Sachsen) abschieben kann, der muss nicht mehr vor der eigenen Haustür fegen und sich auch nicht mehr damit auseinandersetzen, dass viel zu oft Sprüche, die nach ostdeutscher AfD klingen, von westdeutschen FDP-lerInnen oder CDU-lerInnen kommen.

Davon mal ab, es gibt sowas wie ,,Sozialrassismus", gebildete Kulturmenschen können das ja mal nachschlagen, bevor sie zu ihrer nächsten Ostexpedition aufbrechen und darüber erstaunt sind, dass es in einer der schönsten Städte Europas, Dresden, hübsche Gebäude gibt, ja, wir haben hier ,,richtige Häuser" (und Strom! Und fliessend Wasser!), habt ihr gedacht wir campieren alle in Bautzen auf dem Markplatz, oder was?

Naja, das sind halt wir, mit unseren grauen Gesichtern, lasst doch noch bissl Soli rüberwachsen bitte, unsere ostdeutschen Männer müssen sich ja auf dem Marktplatz vor den Plattenbauten besaufen und Bier ist teuer, wenn man arbeitslos ist, und das sind wir hier alle, weil wir alle so hoffnungslos sind. Ich geh jetzt mal mitsaufen, weil von nüscht kommt nüscht, und so ein graues Gesicht muss hart erarbeitet werden, so isses hier, alles grau, graue Gesichter, graue Plattenbauten, grauer Nieselregen, ein Leben in den verschiedensten Grautönen. Aber wenigstens sehen wir in all dem uns umgebenden Grau noch ein paar Grauabstufungen – und das ist mir immer noch lieber, als nur Schwarz und Weiss zu sehen. In diesem Sinne: tschüssi und bis bald.




Aus: "Graue Gesichter vor grauen Plattenbauten in natürlich grauem Nieselregen – Bilder von Ostdeutschland in Medien und westdeutschen Köpfen" Anneli Borchert (April 2018)
Quelle: https://diestoerenfriedas.de/graue-gesichter-vor-grauen-plattenbauten-in-natuerlich-grauem-nieselregen-bilder-von-ostdeutschland-in-medien-und-westdeutschen-koepfen/ (https://diestoerenfriedas.de/graue-gesichter-vor-grauen-plattenbauten-in-natuerlich-grauem-nieselregen-bilder-von-ostdeutschland-in-medien-und-westdeutschen-koepfen/)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 26, 2018, 10:29:47 PM
Quote[...] Allerdings wurde 2009 bekannt, dass die Bergarbeitergewerkschaft NUM während des Streiks umfangreiche finanzielle und materielle Unterstützung aus der DDR erhielt.


Aus: "Britischer Bergarbeiterstreik 1984/1985" (23. Mai 2018)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Britischer_Bergarbeiterstreik_1984/1985 (https://de.wikipedia.org/wiki/Britischer_Bergarbeiterstreik_1984/1985)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 17, 2018, 01:40:17 PM
Quote[...] Erst jetzt, fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, beginnt das Reden über Heimatverlust, Fremdheitsgefühle und Abwertungserfahrungen, die ganze Generationen Ostdeutscher bewältigen mussten. Dazu gehören auch die Erzählungen der vielen jungen Frauen, die den Osten damals verlassen haben. Ich war eine von ihnen.

Mein Umzug nach Frankfurt am Main hat mein Leben stärker verändert als der Mauerfall. Das hört sich seltsam an, nicht? Aber anders als viele meiner Mitschüler und Freunde blieb ich nach 1989/1990 zunächst bewusst im Osten. Ich wollte dem großen Umbruch, der alle und alles mit sich fortzureißen schien, keinen Zugriff auf mein Leben erlauben. Mein schon zu DDR-Zeiten gefasster Plan, in Leipzig Germanistik zu studieren, sollte Wirklichkeit werden. Keine der Verheißungen, von denen mir meine gen Westen ziehenden Freunde erzählten, fühlte sich so wahr an wie jene Vorstellung, die ich schon als Vierzehnjährige hatte. Als mir das Dorf, in dem ich aufwuchs, zu eng geworden war, stellte ich mir immer wieder vor, wie ich eines Tages zum Bahnhof gehen, in den Zug steigen und einem Leben, meinem Leben, in der Großstadt entgegenfahren würde. Und diese große Stadt hieß in meinem Kopf eben nicht München, Hamburg oder Karlsruhe, sondern Leipzig.

Leipzig erfüllte alle meine Erwartungen und war gleichzeitig der Ort einer großen Ernüchterung. Einst war Leipzig die große Verlagsstadt des Ostens gewesen, nun ging ein Verlag nach dem anderen zugrunde. Der Verleger Christoph Links hat diesen Prozess in seinem 2009 erschienenen Buch Das Schicksal der DDR-Verlage beschrieben: "Von den ehemals 78 staatlich lizensierten Verlagen der DDR existiert in eigenständiger Form heute nur noch ein Dutzend. (...) Die Zahl der in dieser Branche Beschäftigten ist bis 2007 auf unter ein Zehntel gefallen. Damit hat ein Umbruch stattgefunden, der noch gravierender ist als in vielen Bereichen der verarbeitenden Industrie." Nach dem Studium in Leipzig einen festen Job in einem Verlag zu bekommen, das war damals schlicht unmöglich. Deshalb musste ich 1998 gehen.

An meinen ersten Arbeitstag in Frankfurt am Main habe ich keinerlei Erinnerungen. Und je stärker ich versuche, diesen Tag, oder auch nur einen Moment dieses Tages, heraufzubeschwören, desto mehr entzieht er sich meinem Bemühen. Und so bleibt mir nur, das Gefühl zu beschreiben, das jener 1. Dezember 1998 in mir hinterlassen hat. Das große Frankfurter Verlagshaus, dessen Mitarbeiterin ich damals wurde, war ein Jahr nach der Bundesrepublik gegründet worden und hatte seither wahrhaft Geschichte geschrieben. Bald schon würde man das 50. Jubiläum seines Bestehens feiern. Ein Bestehen, das sich in jeder Äußerung, jedem Blick, jeder Bewegung meiner neuen Kollegen auszudrücken schien – und an dem ich teilzunehmen eingeladen wurde. Keiner von ihnen schien auch nur den geringsten Zweifel daran zu haben, dass es ihren Verlag auch in den nächsten 50 Jahren noch geben würde. Genau genommen hielten sie ihn wahrscheinlich für unsterblich.

Für mich dagegen war nichts mehr sicher. Ich hatte in den vergangenen zehn Jahren erlebt, wie meine Eltern sich ein völlig neues Leben aufbauen mussten, mein ehemaliger Schuldirektor als Stasimitarbeiter enttarnt wurde, fast die gesamte Professorenschaft der Leipziger Universität ausgetauscht worden war. Und auch die Bahnhofsstation meines Heimatdorfs, von der aus ich in meinen Träumen früher stets in die Fremde aufgebrochen war, gab es schon nicht mehr.

Das Leben der Menschen, denen ich in Frankfurt begegnete, hatte sich hingegen seit dem Mauerfall nicht verändert. Natürlich gab es auch in ihrem Leben Zäsuren, aber sie waren persönlicherer Art. Ich traf kaum jemanden, der in den letzten Jahren im Osten gelebt hatte. Von den etwa 150 Mitarbeitern im Verlag kamen nur vier aus dem Osten, drei davon waren Frauen Ende zwanzig.

Ich erkannte Andrea und Jeanette an ihrem Heimweh. Wir arbeiteten damals schon ungefähr ein Jahr lang im Verlag zusammen. Gerade war Das Provisorium von Wolfgang Hilbig in einem anderen großen Frankfurter Verlag erschienen. "Heimweh braucht man, um seine Ankunft im Westen endlich zu begreifen", heißt es darin. Ich las den Roman in nur einer einzigen Nacht vom Anfang bis zum Ende. So wie man ein Glas eiskaltes Wasser in sich hineinstürzt, wenn man fast am Verdursten ist. Hilbig beschreibt in seinem Buch, wie das ehemals vertraute Leben des Schriftstellers C. aus Leipzig im Westen allmählich ins Unerreichbare entschwindet. Ich erkannte darin Spuren meines eigenen Heimwehs und entschlüsselte das meiner ostdeutschen Kolleginnen.

All die Marmeladentöpfchen, die sich neben Andreas Schreibtisch türmten, enthielten Erdbeeren aus einem Garten in Thüringen. Jeanette hatte das Regal in ihrem Büro, in dem eigentlich nur hauseigene Bücher stehen durften, mit Bänden der DDR-Bibliothek des Leipziger Faber-&-Faber-Verlags infiltriert. Irgendwann wusste ich diese subtilen Zeichen unserer gemeinsamen Herkunft zu deuten. Genau wie Andrea und Jeanette nicht länger verborgen blieb, dass mich etwas umgab, was ich heute meine innere Peergroup nennen würde.

Michael Ballack war für mich, in Frankfurt innerlich im Abseits, zu einem heimlichen großen Bruder geworden. Ich ließ keine Gelegenheit verstreichen, um zu betonen, dass der 1. FC Kaiserslautern 1998 ohne ihn niemals die Bundesliga gewonnen hätte. Michael Ballack war im selben Vorort von Chemnitz aufgewachsen wie ich und gerade auf dem Weg, einer der erfolgreichsten Fußballspieler Deutschlands zu werden. Trotzig hielt er den abwertenden Kommentaren seiner Kritiker stand, die ihm, wenn es gerade passte, seine ostdeutsche Herkunft als Charakterschwäche auslegten.

Axel Schulz konnte zwar nach seinem Kampf gegen George Foreman 1995 in keinem großen Boxkampf mehr überzeugen. Dennoch verpasste ich keinen seiner Kämpfe, weil der "ostdeutsche Max Schmeling" einstecken konnte wie kein Zweiter. Schließlich Regine Hildebrandt, "die Stimme Ostdeutschlands" – gerne wäre ich damals genauso laut gewesen wie sie, aber mir fehlte noch der Mut dazu.

Andrea, Jeanette und ich redeten viel miteinander. Aber nie thematisierten wir vor anderen unsere ostdeutsche Herkunft. Wir befürchteten wohl, dass die bloße Nennung unserer Heimatorte all die Klischees über Ostdeutsche auf den Plan rufen könnte: faul, unflexibel, provinziell, Jammerlappen. Wir wollten nicht für solche Schwächen stehen. Stattdessen hieß unsere Zauberformel: Fleiß und Anpassung. Wir wollten der lebende Beweis dafür sein, dass keines dieser Vorurteile stimmte. Einerseits also Super-Ostdeutsche, andererseits als Ostdeutsche unsichtbar. So zu tun, als sei man in Wahrheit jemand anderes, ist ein 24-Stunden-Job. Er überforderte mich. Ich nahm im ersten Jahr zehn Kilo ab. Ich trank zu viel und aß zu wenig – und ich verliebte mich in einen Mann, der mir genauso fremd schien, wie ich mir selbst fremd war.

... Nie werde ich die langen Spaziergänge vergessen, die Hand in Hand begannen und im Streit endeten. Es waren die heißen Sommer der Jahrtausendwende, und Nadim zeigte mir jeden Winkel der Stadt. Die Parks, die Wege entlang der Nidda. Als die Hitze an einem jener Nachmittage unsere Eistüten aufweichte, begann ich von den Eistüten im Osten zu schwärmen. Die seien bestimmt aus Beton gewesen, meinte er, und wir fingen an zu lachen, dass die Leute sich nach uns umsahen. Und in unser Lachen hinein sagte Nadim: "Nichts von dem, was du aus dem Osten kennst, ist hier brauchbar." Nun wurde es ganz still in mir drin, ich stand mit der tropfenden Eistüte da und fühlte mich bankrott. Abgebrannt. Genau so, wie meine Mutter es prophezeit hatte.

... Insgeheim wünschte ich dem Westen auch einen Mauerfall. Er sollte Nadim die heilsame Erfahrung bringen, dass wir doch nicht so verschieden waren. Zumal ich inzwischen wusste, welche Ausgrenzungserfahrungen er selbst gemacht hatte, und die Vorurteile ihm gegenüber wahrnehmen konnte, wenn wir gemeinsam unterwegs waren.

... Ostdeutschland war für Nadim vor allem eines: fremdenfeindlich. Er hatte Angst vor Blicken, die ihn zu einem Fremden im eigenen Land machen würden – und Gewalt, die sich allein wegen seines Aussehens gegen ihn richten könnte. Einmal fuhren wir aber doch zusammen in meine Heimat. Das heißt, ich packte ihn ein und fuhr ihn nach Sachsen. Ich wollte ihm mein schönes Land zeigen, das sich aus der Ferne, wenn ich Nadim davon erzählte, immer anfühlte wie ein Luftschloss, in dem man nicht wohnen konnte. Auch in die Gegend, in der meine Eltern wohnten, kamen wir. Ich stoppte das Auto auf einer Anhöhe, und wir sahen über die Felder in die offene Hofeinfahrt. Als wir weiterfuhren und ich Nadim umständlich zu erklären begann, warum ich ihn nicht zu meinen Eltern mitnehmen wollte, sagte er, als er mein Zögern bemerkte: "Ihr habt Angst vor unserem Sperma." Ich widersprach ihm zum ersten Mal nicht.

Einerseits wollte ich ihm zeigen: Das hier ist ganz anders als Rostock-Lichtenhagen, andererseits brachte ich es nicht fertig, ihn einfach zum Kaffee zu meinen Eltern einzuladen. Ich hätte auch andere westdeutsche Männer aus meinem neuen Leben nicht zu meinen Eltern mitgenommen. Ich hatte bisher nur ostdeutsche Freunde gehabt, und wenn ich mit Nadim schlief, hatte ich das Gefühl, den ganzen Osten mit ihm zu betrügen.

All diese Kämpfe fochten wir damals auf einer Terra incognita aus, in einem Niemandsland. Weder die Politik, noch die Forschung oder die Literatur beschäftigten sich zu jener Zeit mit "uns". Eine Debatte, wie wir sie gegenwärtig gerade führen, ob Ostdeutsche auch Migranten sind zum Beispiel, lag noch in weiter Ferne. Naika Foroutan, Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik, sagte vor Kurzem in einem Interview mit der taz: "Ostdeutsche und Migranten stärken die eigenen stigmatisierten Positionen teilweise durch Abwertung des jeweils anderen." So ein Satz fehlte Nadim und mir damals. Wir hätten um die Jahrtausendwende vielleicht besser verstehen können, welche Rollen wir zu spielen bereit waren, wenn es darum ging, die eigene Herkunft zu verteidigen und die des anderen herabzusetzen.

Deniz Yücel schrieb in seinem taz-Artikel "Was Ostdeutsche und Türkdeutsche miteinander verbindet – und warum sie sich trotzdem nicht leiden können" als einer der ersten zu diesem Thema. Er erzählt darin, dass beide meinen, "einiges über den Anderen zu wissen, kennen diesen aber so gut wie gar nicht". Sein Text erschien am 1. Oktober 2010. Fast am selben Tag trafen Nadim und ich einander zufällig in Berlin wieder. Einige Jahre zuvor hatten wir uns getrennt, weil wir einfach nicht in ein gemeinsames Leben finden konnten. Unsere Beziehung war zu vielen Belastungsproben ausgesetzt. Nicht nur denen der Herkunft. Aber das war die entscheidende. Am Ende wusste ich alles über den Westen und Leute wie ihn. Und er wusste alles über den Osten und Leute wie mich. Damit war viel geschafft. Unsere Liebe jedoch blieb auf der Strecke.

Vor ein paar Jahren, ich wohnte schon lange nicht mehr in Frankfurt am Main, stellte ich bei einem Besuch in der Stadt überrascht fest, dass das große Frankfurter Verlagshaus verschwunden war. An seiner Stelle stand nun ein anderes Haus, als hätte es schon immer dort gestanden. Ich ging vor dem ehemaligen Eingang ein paarmal auf und ab und ließ all die Kämpfe noch einmal Revue passieren, die ich in Frankfurt gekämpft hatte. Und plötzlich wurde mir klar, dass damals, als ich selbst das Gefühl hatte, alles zu verlieren, etwas in meinen Besitz gekommen war, was nicht einfach verschwinden konnte wie ein Haus oder ein Land. Denn aus all den Kämpfen hatte ich letztlich die Kraft geschöpft, auch "offiziell" ostdeutsch zu werden. Ich bin danach unbeschwerter weitergezogen. Ich lebte in anderen großen westdeutschen Städten, arbeitete bei anderen großen Verlagen – aber nie mehr undercover.

QuoteHanayagi #1

Hmm. So unterscheiden sich die Perspektiven.

Ich bin damals mit meinen Eltern gleich nach der Wende in eine norddeutsche Kleinstadt gezogen. Ich war damals 7 oder 8 Jahre alt. Ich kam auf eine ganz normale Grundschule, aber während ich in meiner Grundschule in Ostdeutschland beliebt war, viele Freunde hatte und meine Lehrer ernsthaft überlegt hatten, mich eine Klasse überspringen zu lassen, war ich im Westen auf einmal der "doofe Ossi".

Ich hatte immer noch gute Noten, wurde aber generell gemieden und hatte nur noch einen Freund: Ein anderer Ostdeutscher. Als Kind konnte ich natürlich nicht reflektieren, was da passierte und meine Eltern hatten wirklich andere Sorgen, hatten Sie doch jeweils gute Jobs im Osten verloren und dafür Fernfahrer / Teilzeit Bürokraft bekommen.

Ich habe dann bis zum Abitur in Westdeutschland gelebt und später auch (wenige) westdeutsche Freunde gefunden, aber ich war immer "der Ossi". Vielleicht war das auch ein Grund, warum ich mich für ein Studium in Berlin / Wien / Tokyo und später ein Leben in Japan entschied: So dass ich mir diese ganze innerdeutsche Beziehungskiste nicht antun musste. Vielleicht erklärt sich auch aus meiner Vita, wieso ich die wehleidige "Ostalgie der Partei "Die Linke" hasse.

Und Ironie der Geschichte: Seit einem Jahr lebe ich in Dresden...


Quote
kasi_z #7

Ich verstehe die Autorin ganz gut. Bin 4 Jahre älter als sie und mit Anfang 20 in den "Westen" abgehauen. Mir war dort auch vieles fremd. Nach ein paar Jahren Saarland bin ich dann wieder nach Berlin zurück gegangen und habe mich direkt wieder "angekommen" gefühlt. Und das hat nichts mit Jammern zu tun. Die Leute im Saarland waren freundlich und hilfsbereit und ich habe auch ein paar Freundschaften geschlossen. Aber trotz der gleichen Sprache/Kultur war ich immer eine Fremde. So ist es bis heute geblieben. So fühle ich mich z.B. Gleichaltrigen aus Polen/Tschechien/ Ungarn näher als Deutschen, die im Westteil aufgewachsen sind. Ich weiß, das klingt absurd, ist aber so....


QuoteZeppelino #11

Ein interessanter Erfahrungsbericht - Ostdeutschland und in der Verlagsbranche. Mehr Veränderung geht glaube ich kaum. Ich bin vor mehr als 20 Jahren in den Osten gegangen, praktisch gegen den Strom. Im Grunde bin ich bis heute ein Fremdkörper geblieben. Das Zusammenkommen habe ich mir deutlich einfacher vorgestellt. Woran es liegt? Sicher zum Teil an mir, meiner Wessi-DNA, die man im Osten schnell entziffern konnte. Ich habe aber auch Einblicke in den Osten bekommen, die mir heute helfen mein Umfeld zu verstehen. Der Osten war übrigens eine gute Schule, in Sachen Überlebenstraining.


QuoteUnterlinner #14

,,Ich hatte in den vergangenen zehn Jahren erlebt, wie meine Eltern sich ein völlig neues Leben aufbauen mussten, mein ehemaliger Schuldirektor als Stasimitarbeiter enttarnt wurde, fast die gesamte Professorenschaft der Leipziger Universität ausgetauscht worden war."

Leider wird auch in diesem Artikel nur in diesem kleinen Satz die Gretchenfrage der ganzen ,,Ostalgie" gestellt. War die DDR ein Unrechtsregime, und ist man froh, dass dieses Regime überwunden wurde.


QuoteNotWalkedOnTheSurfaceOfTheSun #14.2

Bei allem noetigen Respekt: Was fuer ein arroganter mono-kausaler Satz, der etliche menschliche Aspekte komplett auslaesst. Vielleicht brauchen Sie einen persoenlichen Mauerfall, um zumindest im Ansatz das Geschriebene zu verstehen.
...


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Aus: "Ich, im Westen undercover" Maike Nedo (16. Juli 2018)
Quelle: https://www.zeit.de/2018/29/ost-west-wanderung-gruende-mauerfall/komplettansicht (https://www.zeit.de/2018/29/ost-west-wanderung-gruende-mauerfall/komplettansicht)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 20, 2018, 03:00:29 PM
Quote[...] Max Noak: ... Ich lese viel über Ostdeutschland. Es treibt mich um. Und ich finde: Wir dürfen die Konflikte nicht scheuen, auch das Dunkle nicht.

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Aus: "Ostdeutschland: "Ich musste raus"" Interview: Anne Hähnig (20. August 2018)
Quelle: https://www.zeit.de/2018/34/psychoanalyse-ostdeutschland-max-noak-guben-london/komplettansicht (https://www.zeit.de/2018/34/psychoanalyse-ostdeutschland-max-noak-guben-london/komplettansicht)

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QuotePaul Freiburger #1.14

"Psychoanalytiker? Der Mann ist zum Fremdschämen und von Vorurteilen zerfressen. Hoffentlich bleibt er auch in London."

Ungefähr 2001 hat mir ein Ostdeutscher, der in den Westen gegangen ist, gesagt: "die Aktiven und Offenen gehen in den Westen, der Rest muffelt sich ein."

Ich weiß nicht, warum ich mich für Noak fremdschämen soll. Er äußert sich etwas undiplomatich, aber er ist ja kein Lokalpolitiker, der dem Wahlvolk schmeicheln will und in einem gewissen (!) Maß seine Heimat auch schönreden muss.

Das junge Leute in die große, weite Welt wollen, ist ein von der Ex-DDR unabhängiges Phänomen.


QuoteChristel Mett #1.25

"Wer aus der Tatsache heraus, das in der DDR Kirche keine große Priorität hatte ,als Psychoanalytiker zu dem Fazit kommt ,es wäre im "Osten" miefig ... "

Das ist aber eine sehr verzerrte Darstellung.
Herr Noak beklagte das Fehlen von Institutionen und Gruppen der Zivilgesellschaft.

Und wer mal im Osten gelebt weiß, dass (nicht alle aber in weiten Kreisen) eine gewisse Engstirnigkeit und Provinzialität als identitätsstiftendes Kulturgut gepflegt wird.
Oder warum ist Pegida ein "Kind des Ostens"?

[ Hannes Wander #1.41 ... Angefangen von ,,Viehzeug und Gelumpe" bis "absaufen" grölen bis zum Umfallen. Dieser unglaubliche Hass und der Neid macht betroffen.
Rechtsaußen war ebenfalls nicht gesellschaftsfähig. Es fehlt im wahrsten Sinne die gemeinsame Sprache. Diese Dauermeckerei, und die Verachtung unserem Land und seinen Menschen gegenüber, sind schwer zu ertragen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass die Politik einen großen Anteil daran hat ... ]


Quoteschmidtds #1.28

"Sie wollen doch nicht ernsthaft behaupten, das ein Kind mit 7 Jahren einen Kindergarten als piefig erlebt weil dort Ostmobilar steht."

Das Personal war aber in der DDR ausgebildet. Manche Erzieherinnen sind dann schnell in den Westen gegangen. Ich hatte in den 90ern beruflich (im Westen in der Jugendhilfe) viel mit Kitas zu tun und konnte erleben, dass es da oft Probleme gab, weil sehr unterschiedliche Erziehungshaltungen aufeinander prallten. Typisch war (und gilt, wie immer, nicht für alle) hohes und spürbares Engagement für die Kinder gepaart mit einem großen Mangel an Flexibilität; schwierig bei selbstbewussten Kindern und Eltern.


QuoteBeRootOrReboot #1.31

Jeder kann fuer sich entscheiden, ob er seine Umgebung muffig-piefig findet oder nicht.

Sie haben da - so sehr Sie sich das anscheinend auch wuenschen moegen - kein Redaktionsrecht ueber die persoenlichen Erfahrungen und Empfindungen eines Anderen.
Die Beurteilug von Herrn Noak ist ja ein Geschmacksurteil, das individuell und souveraen getroffen werden darf (schon seit - spaetestens - der Aufklaerung).
Die "Vergleichsmoeglichkeit" zwischen vor 1989 und nach 1989 hat der Interviewte tatsaechlich nicht - aber ICH habe sie.

Außerdem gibt es allgemeine Beobachtungen zur Geschwindigkeit gesellschafltlicher Umbrueche und deren Einsickern in die gesellschaftlichen Mikro-Sphaeren, die die Entwicklung eines Kleinkindes oder Jugendlichen bestimmen.

Alles spricht also dafuer, dass er in Kindergarten und Schullleben noch nahezu unverfaelschte DDR-Mentalitaet erleben durfte.
Ein kultureller Umbruch ist eben mehr (und anders) als nur das vermehrte Einkaufen von Westprodukten und bezahlen mit westlich bedrucktem Hubschraubergeld.
Es ist wohl ein gelebtes Gefuehl fundamentaler Freiheit und Weltoffenheit, das Max Noak im Guben der 90iger und Nuller Jahre fehlte.


QuoteStan_Smith #1.35

"Er hätte im Gegensatz zu vielen anderen auch in der DDR alles studieren können, was er wollte."

"Und dass im Osten viel Atheismus herrscht, glaube ich auch nicht so pauschal."

Sie können glauben, was Sie wollen.
Was der Herr Noak schreibt stimmt trotzdem. Ich kenne nicht mal 5 Menschen, die religiös sind. Zumindest nicht die, die hier geboren sind.

"Bei uns in der ostdeutschen mittelgroßen Stadt jedenfalls sind die Kirchen (wir haben 5) an Weihnachten immer proppevoll - oft sogar mit Christspiel der Konfirmanden."

Ja toll. Einmal im jahr. Ist hier auch nicht anders. Musste ich mir in meiner Jugend auch antun.
Einmal zu Weihnachten in die Kirche.
Die meisten davon machen das aus Tradition, nicht der Religion wegen.


QuoteWoelfchenLobo #1.45

War öfter in der DDR, die Oma besuchen. Den Muff aus dieser Zeit habe ich beruflich auch noch in den, 90"ern erlebt, als ich beruflich ueber Monate in Thüringen gelebt habe (die Spiessigkeit kannte ich aber auch aus meiner West-Kindheit!). Und in den Ämtern das Zusammenrücken der alten Seilschaften.
Aber auch die Beklemmung vieler ehem. DDR ler, wenn sie mir die ehemals verbotenen Zonen und Gebaeude (der Stasi) zeigten. Dort wurde auf einmal leise gesprochen.


QuoteLoulani #1.46

Anders gefragt: Ist die Kirche überhaupt noch ein Rückgrat des gesellschaftlichen Widerstands (abseits von Bayern und vllt. Baden-Württemberg)? Ich glaube, das ist kein allein ostdeutsches Phänomen (obwohl die Kirchen in DDR-Zeiten natürlich kritisch von der SED betrachtet wurden), sondern ein gesamtdeutsches respektive sogar ein westeuropäisches Problem: Kirche spielt im täglichen Leben vieler Menschen keine aktive Rolle mehr. Für mich liegt das einerseits an den zum Teil altbackenen Ansichten der Pfarrer und Kirchenfunktionäre (Stichwort: Trauung von Homosexuellen). Andererseits findet man heute das Heil nicht mehr in der Religion und die Religion bietet oft auch keine Antworten mehr auf die Fragen, die man heute stellt. Und nicht zuletzt ist es auch ein finanzielles Problem: 8 bzw. 9% Kirchensteuer findet auch nicht jeder toll, der sich ohne die Steuer vielleicht zur Kirche bekennen würde.


QuoteLoulani #1.49

Richtig, ich bin aber auch niemand, der sein Heil in der Bibel und im Himmel sieht und daher auf die Sonntagspredigt angewiesen wäre. Ich gehe Heiligabend in die Kirche, weil das in meiner Familie Tradition war (auch in der DDR) und bis heute ist - es gehört dazu. Und ich spende auch an Heiligabend.


QuoteOberlausitzerin #1.50

Den eingemuffelten (natürlich gibt es das Wort eigentlich nicht) habe ich am Wochenende auf einer Hochzeit in Thüringen erlebt. Junge Leute, gut ausgebildet und engagiert, die nicht daran denken, wegzugehen. Ein Teil kirchlich gebunden, andere Atheisten. Sie haben keine Probleme miteinander.


QuoteProclamator #2

Endlich mal ein "Ossi" der nicht der Ostalgie verfallen ist, sondern beinhart analysiert, wo im Osten die Probleme liegen.In der DDR war nicht alles schlecht? Doch! Es war alles schlecht und es wurde danach nicht besser. Man wird das nicht mit Geld überdecken können.


QuoteGewida #2.6

Wenn jemand schreibt, dass ALLES schlecht war, braucht man eigentlich nicht weiter zu lesen und auch nicht weiter zu diskutieren.


QuoteMörre Nasenschein #2.8

> In der DDR war nicht alles schlecht? Doch!

Was für ein sinnfreier inhaltsbefreiter Satz - ist das ein Echo aus Ihrem Inneren?


QuoteThorin Eichenschild #2.12

Das "beinhärteste" Problem ist der fehlende Einfluss der Kirche, konnte ich immer wieder lesen. Der Rest blieb eher nebulös. Tut mir leid, aber ich weiß nicht, was Herrn Noaks Problem wirklich ist.


QuotePlanloser #2.20

Die Grundbedürfnisse wie Trinken, Wärme Wohnung Essen hat so gut wie nichts gekostet. Man musste nicht fürchten von einem Tag auf den anderen auf der Straße zu gelangen nur weil der Vermieter einen gekündigt hat oder man arbeitslos wurde und die Wohnung nicht mehr leisten konnte. Es gab mehr Autos als z.B. damals in GB wenn auch nur das gleiche aber man kam damit von A nach B, anstatt das die Waren nach der Garantiezeit auseinanderfielen liefen Sie einfach immer weiter. Die Staatsschulden waren nur halb so hoch wie damals in der BRD und es gab ausschließlich echten Wirtschaftswachstum und keinen finanziellen und ja auch der Atheismus sehe ich als Vorteil, man lies sich nicht von einem Buch das Leben vorschreiben.

Ich will die DDR aber nicht verteidigen - ich bin ein Jahr älter als der Autor aber meines Erachtens sehe ich die Entwicklung als Kind im Westen deutlich kritischer, hier wird gerne ausgeschlossen wer nicht an Gott glaubt - ja soll das toll sein?


QuoteProclamator #2.23

Man musste auch im Westen nicht fürchten, von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt zu werden. Das waren so die Mythen der damals Herrschenden über den bösen Westen Die Grundbedürfnisse waren auch hier stets für jeden bezahlbar und sei es über die Sozialhilfe. Wen interessieren die Staatsschulden?. Mal zur Erinnerung: Der Westen hat schon in den 70ern Milliardenkredite rüberschieben müssen, weil die DDR sonst am Ende gewesen wäre. Wirtschaftswachstum? Die DDR ist deswegen aus der Geschichte verschwunden, weil sie schlicht und ergreifend finanziell am Ende war und die Russen unter Gorbatschow auch keine Unterstützung mehr leisten wollten. Ich möchte den persönlichen Mut der Montagsdemonstranten nicht in Abrede stellen. Aber 1979 oder gar 1969 hätte es sowas nicht gegeben. Die Montagsdemos haben den ohnehin vorhandenen Auflösungsprozess nur noch beschleunigt. In GB konnte jederimmer ins Geschäft gehen und ein Auto kaufen. In der DDR auch... allerdings erfolgte die Lieferung frühestens nach 12 Jahren. Jeder konnte im Westen Atheist sein In der DDR musste man Atheist sein, jedenfalls dann, wenn man sich nicht staatlichen Schikanen aussetzen wollte.

Ich habe den Eindruck, einige fühlen sich von mir persönlich angegriffen. Das ist nicht meine Absicht. Ich rede hier vom politischen System.


QuoteA true love of mine #4

Ich bin froh, dass solche Leute einfach weggehen.


QuoteRenfrew #4.1

Ich nicht.
Der Autor bringt es gut auf den Punkt.

Ich selbst war bisd vor kurzem beruflich 1 Jahr in der "DDR" bei Dresden. Habe den Tag herbeigesehnt, wieder im "Westen" zu sein.
Viele Menschen (zum Glück nicht alle) pflegen eine seltsame Mischung aus Ostalgie, Fremdenfeindlichkeit, Angst vor allem Neuen, sind stolz auf die "DDR", fehlende Eigeninitiative, Passivität, immer sind "die Anderen", unfreundlich und pampig im Umgang, etc. etc.

Wie gesagt, nicht alle sind so aber zu Viele.


QuoteNotizAusDerProvinz #4.9

Es wäre gut, wenn solche Leute zurück kämen und diesen ostalgischen Osten ohne Tradition auf den Kopf stellen.

In unserem Urlaub an der östlichen Ostsee dieses Jahr begenete uns eine ältere Frau aus Thüringen mit säschichen Wurzeln. Wir führten ein durchaus freundliches Gespräch in Teilen auch über früher/heute. Spannend war ihr wie selbstverständlicher Sprachgebrauch, wenn sie über Menschen aus dem Westen redete. Wir - aus tief im Westen - anerkannten die Fehler aus den Kohlzeiten nach dem Ende der DDR. Sie sprach nur von den arroganten Besserwessis und begriff nicht einmal, dass sie mit Menschen aus diesem Westen sprach.

Ignorranz gepaart mit der Unfähigkeit zur Selbstreflexion - das Therapie bedürftgie Fehlverhalten kommt mir seltsam vertraut vor. Als "Erbe" das mein Vater aus der NS Zeit Zeit seines Lebens als unverstandende Bürde mit sich rumtrug.


QuoteNotizAusDerProvinz #4.12

"> Er erscheint mir doch deutlich reflektierter als die Menschen, die bei Pegida "Absaufen" brüllen..

"In einer Stadt mit 536000 Einwohnern gibt es also ein paar Idioten"

Das entscheidende sind nicht die "paar Idioten", die sich zum brüllen treffen, sondern die ungezählten Vielfache davon, die den Idioten nichts entgegen setzen. Die "paar Idioten" fallen klar auf. die Größe und die Position der schweigende Mehrheit ist unbekannt.


QuoteTornado2016 #4.14

Du hast nicht im Osten gelebt, dann würdest Du nicht überfehlende Eigeninitiative schreiben.
Der Autor ist für den Osten kein Verlust. Er ist in der Bundesrepublik groß geworden, nicht im Osten.
Individualismus, der Einzelne steht im Vordergrund, erst ich mit meinen Bedürfnissen, dann eine ganze Weile gar nichts und dann der Rest.
Man kann diese Einstellung ablehnen oder befürworten, das sollte jeder für sich entscheiden. Aber zum Westen gehört auch alles abzulehnen, was man nicht kennt.
Der Westen legt fest was richtig und falsch ist. Hat aber nur ein System erlebt!
Im heutigen Osten haben wir zwei Systeme erlebt und erleben Sie noch.
Und da wundert sich junge Leute, dass man vergleicht. Alles verwerflich?
Aber durch das kennen lernen verschiedener Systeme kann man viel besser einschätzen, was gut oder schlecht war. (Das kann man aber erst feststellen, wenn man es erlebt hat) Wer sich ehrlich auseinander setzen will sollte auch die Anderen nicht gleich ablehnen.
Im Übrigen, ich bin nicht kirchlich gebunden, in meiner Familie seit 1920 schon nicht mehr. Aber ich bin in die Christenlehre gegangen, weil es mich interessiert hat. Keiner hat mich gehindert. Überzeugt haben mich die Leute trotzdem nicht. Und was ich in Bayern erlebt habe, war Tradition, Heuchelei, aber kein Glaube. Man geht in die Kirche weil es alle machen.


QuoteHarzzach #4.29

Ich kenne heimatverbundene Bayern und Franken, die beim leistesten Hauch von Kritik durch Bewohner der Gefilde jenseits des Weißwurstäquators sofort eine rabiate Igelstellung einnehmen und unflätig werden. Weil nur sie über ihre Heimat schimpfen dürfen. Zum Schimpfen finden Bayern und Franken genug an ihrer Heimat. Man muss sie nur fragen, sie erzählen es einem bereitwillig. Weil sie ihre Heimat lieben und wollen, dass so mancher Scheiss endlich aufhört.

Wie ist das mit Sachsen oder Thüringern? Darf man grundsätzlich nichts an der Heimat kritisieren oder dürfen nur Einheimische die Heimat kritisieren?


Quoteeaster33 #11

Ich reagiere genervt: Kann es nicht auch mal einen Artikel geben, der den Stolz des Ostens beschreibt? Wieso, warum, weshalb Menschen den Osten dem Westen vorziehen? Muss es wie meistens eine Abarbeitung von "Traumata", Vorurteilen und sonstiger negativer Einordnung sein?

Was sind die Gründe dafür, dass es das nicht gibt? Ist es so, dass der Westen sich dann selbst reflektieren müsste, sich Defizite oder gar Scheitern, jedenfalls aber eben nicht per se die Sonnenseite eingestehen müsste, wenn es im Osten schön(er) und lebenswert(er) ist?

Oder gibt es sogar Dinge, die der Osten dem Westen voraus hat? ... Warum liest man davon so wenig?


QuoteKapustka #15

... Die weitreichenste Folge von 40 Jahren SED-Herrschaft ist tatsächlich die Auslöschung des christlichen Glaubens, die wahrschienlich noch Generationen nachwirken wird. Das ist historisch tatsächlich einmalig. Hat es so in den anderen Staaten des eheamaligen Ostblocks nicht gegeben.

Ganz unabhängig davon, ob man das gut oder schlecht findet. In jedem Fall wirft dieser Verlust einer gemeinsamen Wertorientierung immer die Frage nach dem Ersatz auf. Wer oder was füllt diese Lücke? Was hält dann ein Gemeinwesen zusammen?


QuoteKrawallerie #15.1

Logik und Vernunft würde ich sagen.


QuoteSir Hammerlock #15.9

Ich bin ungläubig und kann ihnen versichern ich fühle deswegen keine innere Leere. Auch suche ich keine Alternative in Ersatzreligionen, Spiritualität oder anderem Hokuspokus. Werte wie gutes Benehmen, Hilfbereitschaft (ohne sich ausnutzen zu lassen), Sauberkeit und Ordnung habe ich von meiner Familie und meinem Umfeld gelernt. In dem Wohngebiet meiner Heimatstadt, Ostdeutsche Provinz, haben sich die Nachbarn solange ich zurückdenken kann IMMER gegenseitig unterstützt. Nachbarn vom anderen Ende des Wohngebietes haben uns immer mal Kleinigkeiten wie frisches Gemüse aus dem Garten geschenkt weil wir wenig Geld hatten, die Schneiderin (in Rente) hat immer für kleines Geld Rucksäcke oder Kleidung repariert, meine Mutter kümmert sich heute um die Nachbarin die im Rollstuhl sitzt. Und jetzt halten sie sich fest, das alles passiert ohne Kirchengemeinde. Die Anonymität und Ignoranz habe ich erst in der westdeutschen Großstadt kennengelernt.


QuoteCyber200 #22

In einem Bundesland wo "Demonstranten" schreien "absaufen lassen, absaufen lassen" um ihre primitive und menschenverachtende Äußerungen zu Flüchtlingen ungestraft abgeben können, kann man sich nicht wohlfühlen!


QuoteTINE.maxx #22.2

Eine Pauschalisierung mehr. Ausländerfeindliche Deppen gibt es überall.


QuoteHeiner Drabiniok #23

warum begeistert mich das Statement von Max Noak so, frage ich mich.
Wegen seines Alters und seiner Analysefähigkeit? Sicher auch!
Aber in erster Linie bewundere ich seinen Mut zur zur Authentizität! ...


QuoteWalter Plinge #23.4

Wenn er nur beschriebe, was ihn störte, wäre der Artikel nicht halb so aggressiv. Aber er wertet hemmungslos (Atheismus ist schlecht) und obendrein historisch falsch (ohne den Westen und die Kirche gäbe es keine keine Kultur, keine Musik, etc.).  ...


QuoteThorwin1 #25

Ist es nicht ein Stück weit normal, das man die Welt auf dem Land als Kind/Jugendlicher als eng und muffig betrachtet? Diese Erfahrung machen tausende Jugendliche weltweit durch. Selbst Jugendlichen aus Kleinstädten ergeht es nicht anders.
Verwunderlich ist allerdings das er den Atheissmus als Einschränkung empfindet. Genau das Gegenteil ist doch der Fall. Durch das lösen von kirchlichen Zwängen hat man sich ein Stück Freiheit erobert, die es vorher nicht gab. Zu Ostzeiten wurde diese Freiheit durch den Staat gekapert, aber heute kann man sie ausleben.


Quoteschnitzel_für_alle #26

Als er meint, er finde es beschämend wenn Leute den verbreiteten Atheismus in Ostdeutschland als Vorteil herausstellen und ich noch gelesen habe, dass er Theologie in Heidelberg studiert, hatte ich schon keine Lust mehr den Artikel im Detail zu lesen. Scheint mir ein wenig Arrogant und von Gott geküsst zu sein...


Quoteundübrigens #27

einfach mal wieder ein weiterer "Spaltartikel". Wenn ein Forist sowas schreiben würde, würde wegen Pauschalierungen gelöscht werden. Viele fordern ständig Toleranz für alles und (fast) jeden und zetern gleichzeitig über die Ossis.....merkt man die eigene Heuchelei eigentlich noch?


QuoteAlexander65 #28

Seltsamer Mensch, der Herr Noak, ich bin in Dresden aufgewachsen auf Bach, Richard Strauss, Schostakowitsch usw. - die meisten Westdeutschen, die ich kenne, wissen nicht einmal, dass Richard und Johann Strauss unterschiedliche Komponisten sind...... auch Bulgakov, Goethes Iphigenie (Westdeutsch: Fuck you, Goethe) usw. Ich kann da überhaupt keinen Fluch entdecken. Hatte auch 1984 meinen Ausreiseantrag gestellt, im Westen studiert und bin glücklich, wieder in den "Beitrittsgebieten" gelandet zu sein..... und genieße das brandenburgische, sächsische und thüringer Land. In Westdeutschland fühle ich mich schon lange nicht mehr wohl, das Umsteigen und der Aufenthalt in Frankfurt/Main und ähnlichen Ballungszentren ist ein Albtraum..... tja, so unterschiedlichen können die Meinungen sein.


QuoteHerodias #32

Kann ihn gut verstehen. Bin Mitte der 70er im heutigen Thüringen geboren, die Wende kam für mich zum richtigen Zeitpunkt (oder besser nicht zu spät) und bin nach der Lehre nach München gegangen. Fühle mich auf dem Land wohler als in der Stadt und kann dem Autor absolut nachfühlen.
Die weitverbreitete Ostalgie konnte ich nie nachvollziehen oder auch nur verstehen - fast jeder hat von der Wende profitiert. Mein Vater ist 3 Jahre nach der Wende arbeitslos geworden und nie wieder Arbeit (ausser ABMs) gefunden. Aber er hat sich nie hängen gelassen - und alles in allem ging es uns trotz der 15-jährigen Arbeitslosigkeit um LÄNGEN besser als in der DDR.
Ich hatte alle Möglichkeiten und Freiheiten und habe erreicht, was mir in der DDR niemals möglich gewesen wäre. Dafür werde ich dem "demokratischen System" der BRD immer dankbar sein und verabscheue alle wie auch immer gearteten Bewegungen von Links oder Rechts die dagegen ankämpfen.

Allerdings bin ich auch Realist genug um für mich eine alternative Realität zu sehen: Wäre die Wende nur ein paar Jahre später gekommen (5-10?) häte ich sicher nicht so viel Glück gehabt. Ich hätte 3 Jahre bei der NVA abgesessen und dann eine Ausbildung als "Facharbeiter für Datenverarbeitung" in einem grossen lokalen Betrieb hinter mich gebracht. Dieser wäre ebenso 1 Jahr nach der Wende abgewickelt worden und ich hätte mich mit komplett wertlosen Kenntnissen ins Heer der schlagartig arbeitslos gewordenen Menschen eingereiht. Ausgang: unklar.


Quotemehrmut #36

Dass es mit dem gesellschaftlichen Leben in Guben und anderen Orten vor allem im Osten Deutschlands nicht zum Besten steht, hat vor allem mit der wirtschaftlichen Situation, fehlenden Investitionen und dem Wegzug vieler leistungsfähiger junger Menschen zu tun.

Vielleicht kommt Herr Noak ja ab und zu mal aus London raus, dann sieht er ähnliche Situationen auch in Großbritannien. Er muss nicht mal in die Arbeiterviertel der ehemaligen Industriestädte im Norden reisen. Gleich um die Ecke, in Essex oder Kent findet er viele Beispiele für Trost- und Hoffnungslosigkeit.


Quotetsitsinotis08 #39

Lieber Herr Noak, ich bin fünfzig Jahre älter als Sie und kann Ihnen versichern, dass es nicht nur ein ostdeutscher Fluch ist, sondern ein beständiger Fluch des Gehorsams, der das Eigene zum Fremden macht -- allerdings in der DDR in ihrer preußischen Tradition besonders ausgeprägt. (Ich bin dort aufgewachsen). Von Nazi-Deutschland ganz zu schweigen.

Kein Mensch wird gehorsam geboren.

Vielleicht kennen Sie die Arbeiten von Stanley Milgram (1963) [s.d.]?
Sie wurden des Öfteren wiederholt. Immer mit dem gleichen Ergebnis.

Die Gehorsamskultur, d.h. die Identifikation mit dem Aggressor, ist in unserer Zivilisation tiefer verankert als die meisten wahrhaben wollen.

Ich wünsche Ihnen, da Sie, v.a. wohl auch dank Ihrer Eltern, Ihr Eigenes bewahren konnten, in Ihrer zukünftigen Arbeit als Psychoanalytiker alles Gute -- in der Tradition Helmut Gollwitzers und Martin Niemöllers.

Mir hat der Psychoanalytiker Arno Gruen sehr geholfen -- m.E. der argumentativ konsequenteste neben Erich Fromm u.a.


...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 18, 2018, 10:03:00 AM
Quote[...] Wenn vor dem ,,Sonnenblumenhaus" eine Fremde steht und Leute anspricht, gehen bei den Einheimischen die Alarmglocken an. Am Vormittag sind hier in Lichtenhagen, dem Plattenbauviertel zwischen der Rostocker Innenstadt und der Ostsee, vor allem Rentner unterwegs, ein paar Mütter schieben Kinderwagen durch den Supermarkt. Die Vorgärten sind geharkt, die Wohnblocks saniert und in freundlichen Farben gestrichen. Ein Idyll.

Wenn es da nicht diese Erinnerungen gäbe, an damals, 1992, als die Nachbarn hier dem rechten Terror zusahen, als sie applaudierten, statt Menschlichkeit zu zeigen. Als es brannte und grölte und die Staatsmacht ihr Gewaltmonopol den Gewalttätern überließ.

,,Ging ja auch nich so weiter", murmelt ein alter Mann, der sich die Füße vor Hausnummer 19 in der Mecklenburger Allee vertritt. Er wohnt hier fast sein ganzes Leben lang. In jenen Augustnächten war er dabei, nachdem die Ausländerbehörde die freien Wohnungen mit Asylbewerbern gefüllt hatte. ,,Selbst auf de Wiese ham se kampiert, die Zigeuner." Die rechten Randalierer seien damals ,,zugereist", sagt der alte Mann.

Warum die Nachbarn nicht eingeschritten sind? ,,Gehn se ma runter und machen was, wenn die mit Flaschen werfen und nirgendwo Polizei zu sehen ist!" Dann tritt eine Frau, vielleicht Mitte 50, eilig aus der Haustür und ruft den Mann hinein. Sie wisse schon, sagt sie scharf, weshalb ich hier bin: ,,Wegen Chemnitz. Aber wir sagen nichts, lassen Sie uns endlich in Ruhe, wir wollen unseren Frieden."

Selten scheinen Ruhe und Frieden in der Bundesrepublik Deutschland ferner als in diesen Tagen, wo die rechten Arme wieder durchgedrückt und in die Luft gestreckt werden. In Chemnitz, in Köthen und Halle, wo den Leuten wieder der Hass ins Gesicht geschrieben steht. ,,Deutschland den Deutschen", brüllen sie und es trifft mich mitten ins Herz. Weil ich mich in meiner eigenen Heimat als Fremde fühle. Schon wieder.

26 Jahre liegen zwischen dem August '92 in Rostock und heute – und ich habe die gleichen Fragen: Warum taucht vor allem im Osten Deutschlands immer wieder dieser Nazi-Spuk auf, woher kommt diese Wut? Und vor allem: Warum stellen sich tausende Frauen und Männer, die meine Nachbarn sein könnten, denen ich beim Bäcker begegne oder vielleicht im Bürgeramt, in eine Reihe mit Rassisten? Weshalb schauen so viele weg, wenn zur blindwütigen Jagd auf Menschen angesetzt wird?

Fast ein Drittel der Ostdeutschen bekennt, bei den Landtagswahlen nächstes Jahr ihre Stimme der AfD geben zu wollen. Einer Partei, in der Flüchtlinge ,,Messermänner" genannt werden, die offen vom ,,Systemwechsel" spricht. Das ist ein Zeichen dafür, wie weit die Mitte der ostdeutschen Gesellschaft bereit ist, sich aus dem demokratischen Konsens des Landes zu verabschieden.

Ich habe mich aufgemacht in diesen Tagen. Nach Dresden, Chemnitz, Limbach-Oberfrohna. Habe meinen Geburtsort Ohrdruf besucht. Eine Kleinstadt in Thüringen, dem Bundesland, in dem Björn Höcke wohnt und wo Rechtsextreme Immobilien kaufen, ihre Bunker des Völkischen darin einrichten, und die Truppen sammeln sich zu Festivals des blutigen Liedes. Und ich war in Rostock, um von den Erinnerungen an 1992 zu erfahren und zu hören, wie die Menschen heute darüber denken. Eine Reise durch mein wütendes Ostdeutschland, auf der Suche nach Erklärungen und Antworten auf immer die gleiche Frage: Warum?

Ich bin ein Kind der DDR, Jahrgang 1963, in den 70ern in Thüringen zur Schule gegangen, habe in Dresden studiert. Als 1992 die Stiefel in Rostock auf den Asphalt knallten und Steine flogen auf Wehrlose, war ich 5000 Kilometer entfernt, saß ich in einer Zeitungsredaktion an der Park Avenue in Manhattan. Hundert amerikanische Kollegen der ,,New York Newsday" hatten mich gerade erst voller Neugierde aufgenommen. So was wie mich hatten sie noch nie gesehen: ein leibhaftiger Ossi, aufgewachsen hinter Stacheldraht und selbst befreit aus der Diktatur des Proletariats. Ohne Krieg und Blutvergießen, nur mit diesen vier einfachen Worten: ,,Wir sind das Volk."

Was damals geschah, die tagelange Belagerung, die in Todesangst schreienden vietnamesischen Frauen und die wutverzerrten Gesichter der Männer unten auf der Wiese, nannte man später die ,,Schande von Lichtenhagen". Die ,,New York Newsday" titelte ,,Nazis in Ostdeutschland", und die Amerikaner sahen mich entsetzt an. Waren das die friedlichen Revolutionäre, von denen ich erzählt hatte? ,,Ist das dein Volk? Da war es mir zum ersten Mal fremd geworden.

In Ohrdruf aufzuwachsen, in den Sechzigern und Siebzigern, das bedeutet, die DDR erfahren zu haben. Die Häuser grau, die Fenster zugig und der Braunkohlenteer auf den Straßen so weich, dass die Schuhe im Sommer daran kleben blieben. Morgens um sechs zogen die Ohrdrufer an ihre Werkbänke, an die Webstühle oder sie standen am Bahnhof, um nach Gotha, die nahe Kreisstadt, zur Arbeit zu fahren. Ein mühevoller Alltag zwischen Kohleöfen und der Kunst, der Mangelwirtschaft dann und wann ein paar Bananen oder ein Ersatzteil für den Trabi abzutrotzen.

Aber zugleich auch Normalität. Wir Kinder spielten auf dem Markt, erbettelten Wurstzipfel beim Fleischer und verbrachten unsere Nachmittage im Freibad. Und manchmal sonntags ging die Familie zu ,,Acken", dem feinen Café zwischen dem Kino und der Post. Hier roch es nach Likör, und elegante Damen servierten Obstkuchen mit silberfarbenen Gäbelchen. Treffpunkt für Alt und Jung, Ort von Bürgerlichkeit und Gemeinschaft.

Der Mann, der den Kuchen zuletzt gebacken hat, ist heute weit über sechzig. Sein Café konnte er mühelos über die Wendezeiten retten. Doch irgendwann versagten auch ihm die Kräfte, er hat lange einen Nachfolger gesucht. Vergeblich. Vor ein paar Wochen machte das Café zu. Die Tür ist verschlossen, die Rollläden sind unten.

Das Erbe der Nachwendezeit ist in Ohrdrufs Zentrum noch immer zu spüren. Der Aufschwung ist fragil, die Menschen sind verunsichert. Weil die Kaufkraft gering und Aldi nah ist, lohnt es sich für Bäcker und Fleischer nicht mehr. Dunkle Schaufenster prägen die kleine Innenstadt. Die Jungen ziehen nach wie vor fort. Zurück kommt kaum einer. Das Krankenhaus mitten in der Stadt ist jetzt ein Altersheim.

Über den Marktplatz eilt ein älterer Mann, kariertes Hemd, blaue Hose, schwere Ledertasche über der Schulter. Er ist Elektriker, wie sich später herausstellt, eigenes kleines Unternehmen, eine Handvoll Angestellte. Darf man ihn fragen, wie es so geht? Skeptischer Blick, ,,wozu soll das gut sein?" Ein Kommunalpolitiker, die Apothekerin, ein Straßenhändler, der aus seinem Lieferwagen heraus Klamotten verkauft: Niemand möchte gern mit einer Journalistin reden, sie fürchten zugespitzte Schlagzeilen und aus ihrer Sicht oberflächliche Urteile. Schon gar nicht wollen sie ihre Namen in der Zeitung lesen. ,,Versprochen?", fragt der Elektromeister und ist dann bereit zu erzählen.

Vor der ,,Wende" habe er in einem der Betriebe in der Umgebung gearbeitet. Gleich nach dem Fall der Mauer sei er entlassen worden. Der Elektromeister machte sich selbstständig, schrieb sich bei der Handwerkskammer ein. Seither hangelt er sich von Auftrag zu Auftrag. Mal ist die Arbeit knapp, dann ist es wieder so viel, dass er nicht weiß, wie er hinterherkommen soll. Seine Frau schreibt die Rechnungen, er die Angebote, abends wird es meistens spät.

Auch in Ohrdruf wussten die wenigen Betriebe am Ort zu Beginn der neunziger Jahre zunächst nicht mit der neuen Marktwirtschaft umzugehen. Woher sollten sie auch? Jahrzehntelang hatten ,,die Genossen da oben" in Berlin bestimmt, was zu produzieren war. Wirtschaft in der DDR, das war die systematische Ausrotten von Selbst-Bestimmung und Selbst-Behauptung, die eine ganze Generation Ostdeutscher prägte. Man lernte, dass der Staat allmächtig ist und das alltägliche Leben am besten funktioniert, wenn man sich zurückzieht ins Private.

Für ,,den ganzen Politikquatsch", sagt der Elektromeister, habe er keine Zeit. Wenn einer seiner Leute kündigt, weil er anderswo ein paar Euro mehr verdient, steht gleich seine eigene Existenz auf dem Spiel. Wie soll er den nächsten Auftrag abarbeiten, woher Ersatz finden? Die Zeit seiner Selbstständigkeit war wohl zu kurz, um Rücklagen zu bilden, und zu hektisch, um sich Gedanken zu machen darüber, wie man die Firma erfolgreich entwickelt. Woher er dann auch noch die Kraft nehmen soll, sich gegen das Schimpfen in seiner Nachbarschaft über die Flüchtlinge zu stemmen, fragt der Mann entrüstet.

Wird auch er die AfD wählen? Sein Blick geht zu Boden. ,,So geht's ja nicht weiter mit den Migranten."

So einfach klingt der Befund, so verständlich sind die Sorgen. Doch wer hat sie wirklich gehört, wer hat sie ernst genommen, in der Politik? Die politische Mitte in Ohrdruf, das sind 20 Sozialdemokraten, ein paar mehr von der Union und den Linken. Die anderen, Handwerker, Ingenieure, Händler, wollen mit Politik nichts zu tun haben. Fadenriss zwischen oben und unten.

Wo immer ich in diesen Tagen mit den Menschen spreche, in Ohrdruf, in Sachsen oder in Mecklenburg, schwingt Bitterkeit mit und eine Enttäuschung über die Politik, in der kaum noch Platz zu sein scheint für Gespräche über einen Ausweg. ,,Wir sind das Volk" klingt wieder nach Wutausbruch gegen die eigene Regierung.

Womöglich sind Menschen, die oft und lange Zeit mit kleinen Einkommen und ABM-Maßnahmen leben mussten, besonders sensibel, wenn sie das Gefühl haben, der Staat erfüllt seine Aufgaben nicht. Denn das wenige, was sie besitzen, gerät dadurch in Gefahr. ,,Für Lehrer ham se kein Geld", schimpft der Elektromeister, ständig falle Unterricht aus. Und Polizei im Ort, die habe er schon lange nicht mehr gesehen. ,,Kann man ja die Mädels noch nicht mal allein zum Tanzen gehen lassen."

Wenn es nicht genügend Lehrer gibt, wenn der nächste Polizist 30 Kilometer entfernt ist, der Bahnhof längst geschlossen wurde und Ärzte rar werden, wenn der Staat also seine Pflicht nicht erfüllt, dann fürchten sich viele Ostdeutsche vor dem nächsten wirtschaftlichen Tal und davor, dass es dann zuerst den Schwächsten an den Kragen gehen wird, ihnen im Osten, wo die ökonomische Leistungskraft noch immer weit hinter der des Westens liegt.

Doch statt dass man sich um ihre Belange und Nöte kümmert, bestimmen Flüchtlinge die öffentlichen Debatten. ,,Niemand hat uns gefragt, ob wir das schaffen", sagt der Handwerker, ,,und jetzt sitzen wir hier mit Fremden, die unsere Sprache nicht sprechen und von denen man nicht weiß, ob und wie lange sie hierbleiben."

5000 Einwohner, mitten in Deutschland, ganz nah zur Autobahn A4, die den Osten mit Frankfurt am Main verbindet: 1990 wähnten sich die Ohrdrufer im Zentrum eines nahenden wirtschaftlichen Aufschwungs. Aber wie an so vielen anderen Orten kam es anders. Die Betriebe hatten über Nacht keine Aufträge und kein Geld.

Und dann verhökerte die Treuhand auch noch den Farbenhersteller an einen Glücksritter aus dem Iran. Der bezahlte den Kaufpreis nicht und ließ die Maschinen abbauen und in seine Heimat verschiffen. Wenn sich die Ohrdrufer an jene Zeiten erinnern, dann klingen ihre Berichte düster. ,,Man wusste ja nie, ob man nächsten Monat noch Arbeit hat", sagt der Elektromeister. Und jeden Tag in den Nachrichten die Hiobsbotschaften: Wieder einer pleite im Osten.

Heute werden zwar im Gewerbegebiet ,,Brandt"-Zwieback und ,,Storck"-Schokoladen für die ganze Welt hergestellt. Der Iraner wurde schließlich zum Teufel gejagt und der ehemalige Farbenbetrieb trägt dazu bei, dass die Arbeitslosigkeit so gering ist wie in vielen Teilen Westdeutschlands. Doch die Skepsis ist geblieben. ,,Wie lange geht das wohl gut?"

Als ich fürchtete, es werden auch in Ohrdruf die rechten Arme fliegen, war es Winter 2015. Am Stadtrand hatte die Bundeswehr ihren Standort geräumt für eine sogenannte Erstaufnahmeeinrichtung. Tag und Nacht Busse: Syrer, Afghanen und Menschen aus anderen Teilen der Welt. Auf dem Markt Gruppen junger dunkelhäutiger Männer. Vor dem Supermarkt verschleierte Frauen mit Kindern. 5000 Einwohner, mehr als eintausend Flüchtlinge: An jeder Ecke der Stadt ein Bild von Fremdheit. Die Stadtoberen von Ohrdruf hielten die Luft an. Rentner mussten beruhigt, Händlern musste die Sorge vor Diebstählen genommen werden.

Vom Thüringer Wald bis ins Erzgebirge, nach Limbach-Oberfrohna, sind es knapp 200 Kilometer. Man fährt an Jena vorbei, an Weimar, über das Hermsdorfer Kreuz. Vor fünfzehn Jahren traf ich hier Gitta Schüssler, eine Frau Mitte vierzig, Mutter und auch schon Oma. Gelernte Buchhändlerin, dann arbeitslos, kleine Jobs: ganz normale Biografie für jemanden aus dem Osten.

Schüssler war frustriert, sie trat in die NPD ein. Auch hier, nur ein paar Kilometer von Chemnitz entfernt, bestimmten damals der Niedergang der Wirtschaft und der Rückzug des Staates die Stimmung. Schulschließungen, Zuwanderer aus Russland: Bei Gitta Schüssler und ihren Nachbarn fielen die Heilsversprechen der Nationalisten auf fruchtbaren Boden. Die NPD-Frau zog in den sächsischen Landtag ein.

Spaziergang durch das Zentrum von Limbach-Oberfrohna: Blumengeschäfte, Restaurant, Bankfilialen, gepflegte Plätze. Die Stadtverwaltung logiert in einem schlossähnlichen Gebäudekomplex. Ein paar Ecken weiter verfallen Häuser. Man spürt, dass es noch lange dauern wird, bis Limbach-Oberfrohna so etwas wie einen ,,selbsttragenden Aufschwung" erreicht haben wird. Einige Flüchtlinge leben auch hier, in der örtlichen Polizeistation sagt ein Beamter, man sei ,,besonders wachsam, damit es nicht zu Ärger kommt". Gewalt, von welcher Seite auch immer, sei kein Thema. Die Zustimmung der Menschen zur AfD ist dennoch hoch.

Gleich neben der Stadtverwaltung steht auf dem Bonhoeffer-Platz die evangelische Kirche von Pfarrer Johannes Schubert. Männerstammtisch, Lady-Time, Seniorentreffen: In sein Gemeindehaus lädt Schubert die Limbacher regelmäßig zu Gesprächen und Lesungen. ,,Tja", sagt er, ,,die Menschen fühlen sich schon sehr lange allein gelassen von der Politik." Dann kamen die Flüchtlinge, und noch immer hatte man nicht das Gefühl, dass jemand zuhören will.

Auch er, der Pfarrer, der sich um Flüchtlinge kümmert, bekennt, dass er manchmal Angst davor hat, in der Öffentlichkeit laut zu sagen, was er falsch und gefährlich findet an der Flüchtlingspolitik. ,,Man steht doch sofort in der rechten Ecke", sagt er. Oder wird gezwungen, sich ,,links" einzuordnen.

Auch ein Argument, das ich häufig höre in diesen Tagen. Frage ich, wer zu Demonstrationen geht, wenn es darauf ankommt, gegen Rassismus Flagge zu zeigen, wird abgewunken. ,,Bin doch kein Linker", heißt es zur Begründung. Der Osten scheint zum Schauplatz von Auseinandersetzungen der politischen Extreme geworden zu sein. Und die Mitte der Gesellschaft, sie entscheidet sich eher für den Rückzug hinter den eigenen Gartenzaun.

Auf der Landstraße geht es weiter nach Chemnitz. Chemnitz, wo ein Asylbewerber einen Deutschen erstochen haben soll und die Rechten innerhalb von Stunden einen ,,Trauermarsch" von Tausenden organisierten, der das ganze Land zum Beben gebracht hat. Hitlergrüße, Steine auf ein jüdisches Restaurant, ,,Ausländer raus"-Parolen.

Das ist jetzt drei Wochen her, und Familienministerin Franziska Giffey aus Berlin hat nach ihrem Besuch in Chemnitz ein Gesetz zur Förderung von Demokratie ins Gespräch gebracht. Haben die Ostdeutschen da Nachholbedarf? Identifizieren sie sich noch immer nicht wirklich mit dem Grundgesetz?

Das Restaurant ,,Cortina" im Stadtzentrum von Chemnitz ist ein Ort, an dem man sich gern trifft. Es gibt Gemüseteller, frittierte Garnelen, und schicke Schirme schützen die Besucher vor der heißen Sonne. Die arbeiten in der Umgebung, in den Banken, Kanzleien oder in der Stadtverwaltung, Leute also, die von sich sagen könnten, dass sie es ,,geschafft" haben, kommen zur Mittagspause her.

Ich bin verabredet mit einem Bankangestellten, er ist Mitte vierzig, trägt Anzug und Krawatte, ist CDU-Mitglied. Und mit einer Lehrerin, Gymnasium, kurz vor der Rente. Es war nicht leicht, auch diese beiden zu einem Gespräch zu überreden. Erst die Information, dass ich in Dresden studiert habe, also ,,von hier" bin, löste die Spannung. ,,Okay", sagt der Banker, ,,dann wissen Sie ja, wie's uns so geht."

Auch, wenn die DDR lange zurückliegt: Sozialforscher beobachten bis heute, dass Ostdeutsche die Gemeinschaft suchen. ,,Zu Friedenszeiten" (das meint: vor der Wende), ,,aufreißen wie ein Westpaket" oder ,,Kaufhalle" sind typische Codes, die in Gespräche eingestreut werden und signalisieren, dass man zusammengehört. Abgrenzung gegen Fremde sehen die Wissenschaftler darin, wobei die Fremden ,,Wessis" sind.

Die Alten, in der DDR Geborenen, sie benutzen die Codes quer durch alle sozialen Schichten. Aber auch unter den Jugendlichen ist es üblich. Sogar in Berlin, wo man annehmen sollte, dass es längst eine Durchmischung von Ost und West gibt. ,,Na klar weiß ich, wer aus dem Osten ist", sagt zum Beispiel die 18-jährige Julia aus Köpenick über ihren Bekanntenkreis.

Warum die 13 Jahre zum Abitur brauchen und nicht 12, wie es in der DDR üblich war? – natürlich kennt Julia diesen bitteren Ostwitz über die ,,von drüben", die man als selbstbewusster und wortgewandter kennengelernt hat. ,,Ist doch klar: 12 Jahre Abi, dann ein Jahr Schauspielunterricht." Wenn sich Julia mit Gleichaltrigen trifft, zum Chillen oder Feiern oder zu Seminarfahrten, dann, sagt sie, ,,fragt man meistens: Ost oder West?" Warum das auch in ihrer Generation so ist, darüber hat sie noch nicht wirklich nachgedacht. ,,Es ist einfach so, wir sind anders als die."

Als Wolfgang Böhmer, später Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, 1991 in die dortige Landesregierung eintrat, zählte er in seinem Ministerium 272 Mitarbeiter. 51 davon waren wie er selbst im Osten aufgewachsen. Die meisten Sekretärinnen und Referenten. Das Sagen hatten die anderen, die Westler.

Wie sich das anfühlt? Sie selbst habe sich gleich mehrfach intensiver Befragung aussetzen müssen, sagt die Lehrerin in Chemnitz. Darüber, wie weit sie in das sozialistische System verstrickt gewesen war, und sie musste Bekenntnisse ablegen zur freiheitlich demokratischen Grundordnung. ,,Das war erniedrigend", sagt sie. Zumal zur gleichen Zeit ihre Kollegen, die aus dem Westen hierher gekommen waren, mühelos die nächste Karrierestufe erklommen. ,,Ich werde noch immer wütend", sagt die Pädagogin, ,,wenn ich daran zurückdenke."

Bis heute ist der Anteil von Führungskräften mit Ostbiografie erschreckend niedrig. 80 bis 95 Prozent der Führungskräfte in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Gewerkschaften im Osten kommen aus dem Westen, hat die Uni Leipzig vor einigen Jahren ermittelt. In der Politik ist die Zahl der Ostdeutschen sogar wieder rückläufig. Noch nicht mal einer unter zehn Vorsitzenden Richtern in den neuen Ländern kommt ,,von hier".

Schürt das ein andauerndes Gefühl der Fremdbestimmung? Erst brachten die Eliten aus dem Westen die unbekannte Rechts- und Wirtschaftsordnung, dann mutet dieser Staat, der noch nicht wirklich ihr Staat geworden war, ihnen auch noch die Herausforderung der Flüchtlinge zu.

Man kann das abtun. Sollen sich die Ossis mal nicht so haben! Man kann in diesem Zustand aber auch die Demütigung und Überforderung ganzer Landstriche sehen. Eine Überforderung, die zu Abwehr, Rückzug und schließlich zu Protest in den Wahlkabinen führt. Wie soll Demokratie auch funktionieren, wer soll ihre Werte tragen, wenn es an ,,selbstbewussten Bürgern" fehlt, von denen der einstige Bundespräsident Joachim Gauck sagte, sie seien das Zentrum jeder freiheitlichen Gesellschaft?

Auch er habe ,,massenhaft Fragen", sagt der Banker und Christdemokrat aus Chemnitz. Es geht um Sicherheit und Gerechtigkeit, den Umgang mit Russland, mit den Migranten. Doch sie zu stellen, das traue er sich nicht. Aus Angst, sich zu artikulieren, sich zu bekennen und dadurch Schwierigkeiten zu bekommen, auch im Job. ,,Es heißt doch gleich, man wolle das ganze System kritisieren", sagt er. Da ist es wieder, dieses Gefühlsgebräu des Fremden: erst Fremd-Bestimmung, dann Über-Fremdung, schließlich Ent-Fremdung.

Das Dresden der frühen achtziger Jahre eine Stadt zu nennen, in der unterschiedliche Kulturen zusammenleben, wird der Realität nicht gerecht. An der Technischen Universität studierten zwar Bulgaren, Tschechen und auch Angolaner. Zumindest mit den Osteuropäern saßen wir Studenten gemeinsam in den Hörsälen und tranken im ,,Bärenzwinger", dem weit über die Stadtgrenzen bekannten Studentenclub an den berühmten Brühlschen Terrassen abends unser Bier.

Bei den Dresdnern hingegen, die meist kaum etwas mit unserem Studentenleben zu tun hatten, spielte der gemeinsame Alltag mit den Ausländern, eine Integration, kaum eine Rolle. ,,Mädchen", sprach mich mal eine ältere Dame in der Straßenbahn besorgt an, ,,es gibt so nette deutsche Männer." So einen sollte ich mir suchen und nicht mit den dunkelhaarigen Kerlen aus Südeuropa herumziehen. Ich habe das nie vergessen, weil es meine Erfahrungen, mit einem von den Dunkelhaarigen in Dresden zusammengelebt zu haben, treffend beschreibt.

Die DDR der Völkerverständigung und des Internationalismus, es gab sie eigentlich nur in den Überschriften der Zeitungen. Der Alltag war ein anderer. Die deutsch-sowjetische Freundschaft hatte wenig mit Zwischenmenschlichkeit zu tun, sondern war eine Massenorganisation. Sie lebte in kleinen Mitgliedsbüchlein, in die man regelmäßig für ein paar Pfennige erworbene Marken geklebt hat.

Und als in den achtziger Jahren nicht nur die Technische Universität Dresden in der Mensa Essensräume für ,,Kommerzstudenten" einzurichten begann – die DDR hatte das Wissen ihrer Wissenschaftler für Devisen an arabische Herrscherhäuser verkauft –, reichte man ihnen an weiß gedeckten Tischen Bananen und Apfelsinen zum Nachtisch. Nachts feierten sie in den Bars der Stadt, und tagsüber saßen diese Studenten in eigenen Lehrveranstaltungen. Wir haben sie nur aus der Entfernung erlebt.

Die Begegnung mit dem Fremden, mit anderen Kulturen und Hautfarben, ist für die allermeisten in Ostdeutschland Aufgewachsenen eine Erfahrung der Abschottung. Der Bundeswehrstandort in Ohrdruf beherbergte bis 1990 sowjetische Soldaten. Die Offiziere durften Familien mitbringen. Sie lebten separiert in eigenen Wohnblocks, ihre Kinder gingen nicht in unsere Schulen. Die einfachen Soldaten waren strengstens kaserniert. Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung war nicht erwünscht.

Wo Vietnamesen und Angolaner lebten, waren sie zum Arbeiten gekommen. Ausschließlich. Sie kamen, weil die DDR Aufbauhilfe leistete in ihren Heimatländern. Mit Geld, mit Maschinen, mit Saatgut. Diese Hilfe musste bezahlt werden, mit Arbeit.

Tausende vietnamesische Frauen und Männer schufteten in der Textilindustrie und anderswo. Sie wohnten in eigenen Plattenbauten, sie mussten einen großen Teil ihres Verdienstes dem heimatlichen Staat überlassen. Menschliche Verbindungen waren ihnen sogar untereinander verboten. Wer schwanger wurde, musste sofort ausreisen. Die meisten Deutschen wussten um diese Zustände nahe an der Zwangsarbeit. Wir nahmen es hin.

Unter uns allerdings entwickelte sich eine Kultur der Diskriminierung und der Herablassung gegenüber Schwächeren, Minderheiten. ,,Fidschi", ,,Kanake", ,,Neger". Für all diese erniedrigenden Begriffe und ihre Wirkung gab es kaum ein Bewusstsein. Und ich höre sie bis heute im alltäglichen Sprachgebrauch.

Wer in die Archive steigt, findet auch reihenweise Belege für offen rassistische Übergriffe vor 1990. Die Täter waren meist enthemmte und gefrustete junge Männer. Der Staat hat sie kurzerhand von der Straße geholt, ansonsten schwiegen die Genossen darüber.

Natürlich sind die Ostdeutschen, sind wir, keine Nazis, die alles Fremde aus unserem Land tilgen und die demokratischen Strukturen aus den Angeln heben wollen. Wer so pauschalisiert, erntet noch mehr Distanzierung, noch mehr Wut. Man wird vielmehr zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich viel angestaut hat in den ,,fünf neuen Bundesländern". Persönliche Zurücksetzung, wirtschaftliche Ängste, der Staat auf dem Rückzug. Und dann kommt eine Kanzlerin, die im fernen Berlin entscheidet, Millionen von Leuten einzuladen und eine demokratische Abstimmung über diesen gravierenden Einschnitt in das Leben der Menschen für nicht nötig ansieht.

In Rostock-Lichtenhagen sitzt an seinem Schreibtisch, nur ein paar Straßen entfernt vom Sonnenblumenhaus, Rainer Fabian. Ein ruhiger Mann, Mitte 60. Bis er in Rente geht, kümmert er sich um die Leute, die hierher, ins ,,Haus der Begegnung" kommen, das das katholische Kolpingwerk seit Jahren betreibt. Früher war hier ein Kindergarten, aber so viele davon braucht man in Lichtenhagen nicht mehr. Jetzt gibt es Seniorensport, Kaffeetafeln und Tipps für die, die Behördenkauderwelsch nicht verstehen und Strafen fürchten, wenn sie auf den Brief vom Amt nicht reagieren.

Fabian ist einer, der die Sorgen der Leute versteht. ,,20 Euro können ganz schön viel Geld sein", sagt er. Typische ostdeutsche Nachwendekarriere auch bei ihm: Betrieb pleite, Job gefunden, wieder pleite, ABM, dann endlich Sozialarbeit. Fabian kennt einige in der Nachbarschaft, deren Renten oder Verdienste so klein sind, dass sie sich Obst und Gemüse und Waschmittel von der ,,Tafel" holen.

In den nächsten Jahren wird es wahrscheinlich von diesen Menschen nicht nur in Lichtenhagen viel mehr geben. Denn die Renten derer, die ihr Arbeitsleben größtenteils in der DDR verbrachten, mögen meist auskömmlich sein, vor allem die der Frauen, die zu fast hundert Prozent gearbeitet haben. Doch längst kommen auch die Jahrgänge ins Rentenalter, deren jährliche Bescheide wegen der langen Arbeitslosenzeiten und Minijobs in den Nachwendejahren keine Beträge mehr ausweisen, mit denen es sich im Alter leben lässt. Über die ,,Angst vor Konkurrenz mit den Flüchtlingen", sagt Fabian, ,,können nur die den Kopf schütteln, die Not nicht erlebt haben".

Er meint damit die Berufspolitiker mit ihren Diäten und die Besserverdienenden im Westen. Und wahrscheinlich auch mich: fester Job, Wohnung im teuren Prenzlauer Berg, Wende-Gewinnler. Was wissen wir eigentlich wirklich von den Nöten eines ,,Tafel"-Betreibers, dem Leute wie ich fehlende Moral vorwerfen, weil er Asylbewerber nicht mehr mit Lebensmitteln versorgen will?

Als der gewalttätige und gewaltbereite Mob von Lichtenhagen im August '92 endlich vertrieben war, hat es nach langem Hin und Her Rücktritte von Verantwortlichen gegeben und auch einige Strafverfahren. Kleine Ahndungen, Jugendstrafen, Geldstrafen. Nichts, was wirklich weh getan, was abgeschreckt hätte.

Zwanzig Jahre später stand Joachim Gauck, Rostocker und Bundespräsident, auf der Wiese vor dem Sonnenblumenhaus und nannte das Geschehene ein ,,Kapitel des Bösen", das sich nie wiederholen darf. Die Nachbarn, die seinerzeit applaudierten, sahen ihrem Staatsoberhaupt skeptisch aus ihren Fenstern zu. An Gespräche der örtlichen Politik mit ihnen kann sich der Sozialarbeiter Fabian nicht erinnern. Erst sehr viele Jahre nach den Ereignissen habe er mal versucht, die Leute dazu einzuladen. Es kam nur eine Handvoll. Es war wohl zu spät zum Reden.


Aus: "Woher kommt die Wut in Ostdeutschland?" Antje Sirleschtov (17.09.2018)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/rechte-auf-den-strassen-woher-kommt-die-wut-in-ostdeutschland/23072306.html (https://www.tagesspiegel.de/politik/rechte-auf-den-strassen-woher-kommt-die-wut-in-ostdeutschland/23072306.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 18, 2018, 10:51:52 AM
Kommentare zu: "Woher kommt die Wut in Ostdeutschland?" Antje Sirleschtov (17.09.2018)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/rechte-auf-den-strassen-woher-kommt-die-wut-in-ostdeutschland/23072306.html (https://www.tagesspiegel.de/politik/rechte-auf-den-strassen-woher-kommt-die-wut-in-ostdeutschland/23072306.html)

QuoteTobias_Johst 17.09.2018, 21:15 Uhr

Vielen Dank für den ehrlichen und wichtigen Artikel, Frau Sirleschtov!

Selbst aus dem Osten kommend, hatte ich wohl Glück gehabt. Oder zu viel persönliche Erfahrungen mit anderen "Anderen" gesammelt.

Jahrzehntelang wurde über alle Mauern hinweg das Paradigma gepredigt, der "Westen" bringe Chancengleichheit, Reisefreiheit und Wohlstand. Dafür, nicht für die ihnen unbekannte, abstrakte "Demokratie" sind die Menschen auf die Straße gegangen.

Ab 1990 kam die Treuhand, dann kamen die Kaffeefahrten und Gewinnspiele. Dann kamen die "Goldgräber" der Versicherungskonzerne, deren Vorstände damals vom Benz auf den Bentley gewechselt hatten. Dann kam die "Telekom-Aktie" mit Werbeträger Manne Krug... .
Die sehr Mutigen und Interessierten sind gegangen, auch viele junge Frauen. (Und auch all diese haben noch heute dieses komische Gefühl im Bauch, wenn sie nach ihrem Geburtsort gefragt werden).
Geblieben sind die Frustrierten: Die, die etwas zu verlieren und die, die nichts zu verlieren haben. Und die reflexartig zusammen zucken, wenn sich "der Staat" bei Ihnen meldet.

Es macht mich traurig, dass viele Menschen im Osten erneut den Rattenfängern aus dem Westen mit ihren Versprechen an "bessere Zeiten" (also mangels Alternativen scheinbar vor der deutschen Teilung) Glauben schenken. Höcke und Gauland kommen aus dem Westen. Weidel lebt bzw. zahlt ihre Steuern nicht mal in Deutschland. Aber diese Menschen haben gelernt, dass es im Osten nicht mehr viel, doch mit dem Apell an die Frustration noch Stimmen für ihre westdeutsche Gutverdienerpartei zu holen gibt. Das sind die neuen, politischen und wirtschaftlichen "Goldgräber".

Dem Osten fehlt m.M.n. die Einlösung der jahrzehntelang gegebene Versprechen von der Anteilhabe am Wohlstand und von der Chancengerechtigkeit. Und historisch-politische Bildung.
Aber scheinbar ist die Hinnahme des Rassismus als letztem, feigen Ventil billiger.



QuoteBierliner 17.09.2018, 21:27 Uhr

    Das ist ein Zeichen dafür, wie weit die Mitte der ostdeutschen Gesellschaft bereit ist, sich aus dem demokratischen Konsens des Landes zu verabschieden.

Ich denke, das ist eine Mischung aus Unverstandenheit und dem vorhandenen Rassismus auf Grund von Unwissenheit. Unwissenheit auf Grund der Diktatur des Proletariats, in der man es sich zurecht gemacht hatte, und nun findet man im Nachhinein, war ja doch nicht alles schlecht an einer Diktatur. Und wer nicht aufgemuckt hat, hatte ja auch nichts zu befürchten, genau wie im Dritten Reich, und wieso sollte es im 4. anders sein?!

Der Osten hat 40+ Jahre Diktatur hinter sich, da ist man es gewohnt, gesagt zu bekommen, wie der Hase läuft. Das schließt die Medien mit ein, die waren in der ddr wie ein Gesetzblatt. Die Mauer wurde schließlich durch eine Pressekonferenz geöffnet.
Den Westen hat das nie interessiert, auch nicht die Westmedien, die haben lieber Zonengabi zur Blaupause gemacht. Ach, was war das amüsant.

Wenn Menschen sich abgehängt fühlen, dann baut sich da sicherlich leicht eine Angst auf, von welchen, die man für weniger Wert hält, überholt zu werden.



Quotebeccon 17.09.2018, 22:55 Uhr
Ich hatte in den 90er Jahren genauso gedacht wie Sie Frau Sirletschtov. Einmal hätte ich mich sogar fast breitschlagen lassen zu so einer Lichterkette mitzugehen - wo aber der kugelbäuchige westberliner Betriebsratsvorsitzende zu drängend war "Gerade Sie wo sie doch auch aus dem ähäm Osten kommen - sie sollten da gerade ein Zeichen setzen...." Pustekuchen nix muß ich und zwangsweise zu Demos  gehe ich nicht. Etwas später kam die Geschichte in Sebnitz zum Tragen: "Neonazis" hatten ein Kind im Schwimmbad ertränkt und die ganze Stadt hatte zugeschaut und nichts getan. Konnten sie auch nichts tun - denn die Geschichte hatte sich so nicht zugetragen. Trotzdem gab es eine wochenlange Treibjagd gegen die kleine sächsische Stadt, Sondersendungen,  Lichterketten - Aufstand der "Anständigen" usw. Es tut mir noch heute leid - meine eigenen Freunde und Familienmitglieder so mit beschimpft zu haben und unkritisch einer so plumpen Hasskampagne hinterhergelaufen zu sein. Aber man lernt zum Glück nie aus.

Zuvor hatten Funk und Fernsehen - und später auch die Presse der Bundesrepublik Deutschland bei mir ein hohes Ansehen - wenig später hatte ich mein Zeitungsabo gekündigt.


Quotemarko1 17.09.2018, 20:26 Uhr

    Bis heute ist der Anteil von Führungskräften mit Ostbiografie erschreckend niedrig. 80 bis 95 Prozent der Führungskräfte in
    Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Gewerkschaften im Osten kommen aus
    dem Westen, hat die Uni Leipzig vor einigen Jahren ermittelt.


Hinzu kommt auch, dass sämtliche bedeutende Regionalzeitungen im Osten zu westdeutschen Verlagshäusern gehören. Das merkt man nämlich in der Berichterstattung dieser Zeitungen. Klar gibt es den Lokalteil, den Kommentar des ostdeutschen Journalisten oder das Interview mit dem Ost-Ministerpräsidenten. Gysi wurde auch gerne zu Ostdeutschland befragt. Aber wie sah es mit dem Thema Pegida aus, eine Bewegung die innerhalb weniger Wochen mindestens 20.000 Menschen auf die Straße gebracht hat? Hat man sich sachlich mit deren Forderungen beschäftigt? Eine der Forderungen war z.B. die dezentrale Unterbringung von Asylbewerbern. Alle was ich 2014/15 dazu in meiner Regionalzeitung lesen konnte, war, dass da eine rechtspopulistische Bewegung aufmarschieren würde. Voreingenommene Berichterstattung trägt eben nicht dazu bei, Vertrauen zum Jounalismus aufzubauen. Für die Zukunft der Demokratie wird es wichtig sein, sich sachlich auch mit Ideen und Forderungen derer zu beschäftigen, die nicht ins politische Weltbild der Zeitung passen.


Quotenikolo_vierzehn 17.09.2018, 20:26 Uhr

Die Frage "Woher kommt die Wut in Ostdeutschland?" ist falsch gestellt. Wer im Kapitalismus fragt denn nach denen, die unsichtbar sind. Die Frage müsste also lauten "Wieso interessieren wir uns erst jetzt für Ostdeutschland?"


QuoteKoppsi 17.09.2018, 19:47 Uhr
Wut in Ostdeutschland?
Woher kommt die Wut AUF Ostdeutschland?
Wer waren die Wirtschaftsflüchtlinge 1990?
Denkt mal darüber nach bevor ihr gegen Flüchtlinge hetzt!!!


Quoteriegel 17.09.2018, 20:09 Uhr
Antwort auf den Beitrag von Koppsi 17.09.2018, 19:47 Uhr
Ja, wer waren die Wirtschaftsflüchtlinge 1990?
Es gab sie schlicht nicht, es waren Deutsche, die nach dem Gesetz ihren ihnen zuständigen Pass beantragt haben.


Quotebhm2805 17.09.2018, 19:26 Uhr
Danke für diesen ehrlichen Bericht. Es macht mich sehr traurig.Gehöre ich als Berliner wohl zu den Nachwende Gewinnern.
Was mich noch trauriger macht ist das viele (West)Berliner und (West)Deutsche Malorca besser kennen als die Landesteile und Landschaften im Osten.


QuoteTobias_Johst 17.09.2018, 21:18 Uhr
Antwort auf den Beitrag von bhm2805 17.09.2018, 19:26 Uhr
Ach gar nicht so sehr.
Der Osten ist Billiglohn- und Lebeland, in dem sogar noch deutsch gesprochen wird:
https://www.berliner-zeitung.de/panorama/schoen--guenstig--lebendig--west-rentner-zieht-es-nach-goerlitz-24094010 (https://www.berliner-zeitung.de/panorama/schoen--guenstig--lebendig--west-rentner-zieht-es-nach-goerlitz-24094010)


Quoteralffrh 17.09.2018, 18:48 Uhr

    Man wird vielmehr zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich viel angestaut hat in den ,,fünf neuen Bundesländern"

Ich komme aus Ostdeutschland, aus der tiefsten Provinz undich denke, ich darf eine Meinung dazu haben.
Als wir im Herbst 1989 auf die Straße gingen war ich 24 Jahre und unser Schlachtruf war "Wir sind das Volk". Damit haben wir Ostdeutschen ohne Gewalt ein verknöchertes menschenverachtendes Regime abgeschüttelt, als dann die Grenzen auf waren wurde daraus plötzlich "Wir sind ein Volk". Politiker aus der Bundesrepublik buhlten plötzlich um die Gunst , diejenigen, die im Herbst auf der Straße standen wurden an die Seite gedrängt . Es wurden die sogenannten " blühenden Landschaften" versprochen aber es kamen nur diejenigen Politiker und Beamte aus der 3, ja 4. Wahl, die, die man im "Westen" am liebsten eh los werden wollte, für die Buschzulage wurden sie in den Osten geschickt. Statt wirklich fähige Kräfte kam der abgehalfterte Rest zum Plattmachen, zum Volksvermögen, das nun auch der ganzen Republik gehörte, verschleudern - und dann dieses "fünf neuen Bundesländer" das wird heute noch, nach fast 30 Jahren genutzt, als ob die Menschen im Osten Kinder wären.  Das alles hat viele Menschen im Osten geprägt, das hat Mißtrauen, welches am Anfang nicht vorhanden war, geschürt.

Ich weiss, das rechtfertigt nicht diesen Hass, der sich jetzt auf den Straßen entläd und ich schäme mich immer wieder aufs neue, das dieser Frust diejenigen trifft, die noch weniger haben, die zu uns gekommen sind um Krieg und Verfolgung zu entfliehen.
Aber die Zeichen wurden fast 3 Jahrzehnte weggelobt, es wurde weggeguckt - jetzt, so fürchte ich ist es zu spät.

... Es läuft verdammt viel schief in unserem Land.
Es wurden Milliarden in den Osten gepumpt, die auf anderen Wegen wieder zurück flossen. Es wurden zum Beispiel  schicke Umgehungsstraßen gebaut als ob dort Hundertausende wohnen, nur es fährt kein Bus nach Nirgendwo.
Das ist nicht nur im Osten, das ist überall.

Was ich meine, um Menschen mitzunehmen reicht Geld einfach nicht.
Demokratisches Verständnis kann man nicht kaufen, dazu gehört mehr, auch mehr als alle paar Jahre ne Wahlkampftour.


QuoteBenthebrave 17.09.2018, 20:15 Uhr
Antwort auf den Beitrag von ralffrh 17.09.2018, 18:48 Uhr
Es ist in erster Linie die komplett unterschiedliche Sozialisation, im Osten war der Begriff "Heimat" überaus positiv besetzt, sei es nun das Unterrichtsfach Heimatkunde, oder gesungene Lieder "Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer..." oder selbst die Pioniere lernten Heimatliebe.

Im Westen das glatte Gegenteil (68er Antideutschtum) und dieser Gegensatz prallt aufeinander, ganz ähnlich ist es in Osteuropa, die Völker dort weigern sich, eines Tages auch bei sich ganze Städte umkippen zu sehen, wie in Westeuropa.

Die wirtschaftliche Ungleichheit ist da nur noch das Sahnehäubchen obendrauf. Aber die Hauptursache ist eben die unterschiedliche Sozialisation, im Osten wuchs man eher patriotisch auf, im Westen das komplette Gegenteil ab 1970.


Quoteralffrh 17.09.2018, 20:42 Uhr
Antwort auf den Beitrag von Benthebrave 17.09.2018, 20:15 Uhr
Ein Patriot liebt seine Heimat, ein Nationalist hasst alles Fremde.
Ich bin Europäer und war schon als Kind neugierig auf das Fremde.
Heimatliebe rechfertigt keinen Hass , rechfertigt kein "Deutschland den Deutschen", kein "Ausländer raus"


Quoteriegel 17.09.2018, 18:07 Uhr
Thema Autorität:
Die DDR war eine autoritäre Gesellschaft.
Die ehemaligen DDR Bürger wollen Demokratie, aber keinen Staat dessen Arme ohne Autorität sind.
Die Angst, dass sich der Staat immer mehr machtlos zeigt, ist sicherlich eine der Grundängste dieser Menschen.
Der Staat lässt sich öfffentlich vorführen - sie Beerdigung mit 2000 Personen aus der arabischen Mafieschciht und mehr:
Rchterin lässt sich 9 Minuten anschreien:
https://www.focus.de/politik/experten/ghadban/buchauszug-aus-arabische-clans-die-unterschaetzte-gefahr-wie-die-clans_id_9604232.html (https://www.focus.de/politik/experten/ghadban/buchauszug-aus-arabische-clans-die-unterschaetzte-gefahr-wie-die-clans_id_9604232.html)


Menschen elrebe, dass bestimmte Politszenen fast ungestraft auf Polizisten Gewalt ausüben dürfen...
Proteste anderer werden passiv verhindert.
Das spricht nciht für eine wehrhafte bundesdeutsche Demokratie...
Da entsteht einfach Wut.


Quoteuwemohrmann 17.09.2018, 19:00 Uhr
Antwort auf den Beitrag von riegel 17.09.2018, 18:07 Uhr

    Die ehemaligen DDR Bürger wollen Demokratie

Sie haben ja schon so manch launigen Satz von sich gegeben, aber diesem gehört der absolute Spitzenplatz.
Wenn die Demokratie wollen, wählen die eine Partei, wie die AFD? Das ist der Lacher des Jahres


QuotePat7 17.09.2018, 19:36 Uhr
Antwort auf den Beitrag von uwemohrmann 17.09.2018, 19:00 Uhr
Dabei wird oft vergessen, dass mindestens 70% der Ossis eben nicht AfD wählen und die wollen wirklich Demokratie.

Nicht diese Minderheit vom 30% die den braunen Rattenfängern hinterherlaufen ist das Volk.


QuoteAnstand 17.09.2018, 17:44 Uhr
Ich denke, im Osten sind die Menschen ehrlicher, ihre Meinung freiheraus zuzugeben. Die PC lässt allerdings manchmal etwas zu wünschen übrig.
Im Westen dagegen äußert man seine Meinung sehr viel vorsichtiger. Meist äußert man die Meinung, von der man glaubt, dass sie von einem erwartet wird.


Quote2010ff 17.09.2018, 17:42 Uhr

    Unsere Autorin kehrt zurück in eine Heimat, die ihr fremd geworden ist.

Frau SIRLESCHTOV ist eine erfolgreiche Journalistin, die sich - wenn ich ihren Bericht richtig verstehe - schon lange aus den alten Lebensumständen mit DDR-Bezug verabschiedet hat.

Sie lebt ein modernes, erfolgreiches, wohl auch materiell erfolgreiches Großstadtleben als Teil der journalistischen Oberschicht.

Damit dürfte sie wenig gemein haben mit vielen "Alt-Ossis". Leuten mit "unterbrochener Erwerbsbiographie", mit Menschen, bei denen oft viel wegbrach und wenig Neues dazu kam, auch wenn man sich über einer renovierte Infrastruktur gewiss nur freuen kann.

Aber Ostdeutschland ist nach wie vor flächendeckend Niedriglohnland, es gibt einen eklatanten Unterschied zwischen West und Ost, gerade auch wirtschaftlich. Die Eliten sind westlich geprägt, in der Industrie, Politik und Verwaltung. Wenn die "C-Liga" des Westens die Schlüsselpositionen im Osten übernimmt, in der Justiz und Verwaltung, dann löst das Unverständnis und Bitternis bei den Ortsansässigen aus.

Außerdem war das SED-Regime ein autoritäres Regime. Auf Knopfdruck demokratischen Alltag zu lernen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Autoritär geprägte Menschen reagieren genau so wie diejenigen, die die Flüchtlingkrise zum Grundübel der Republik erklären. Und diese autoritäre fixierten Menschen agieren auch wie aus dem Lehrbuch, wenn sie Flüchtlinge und deren "HelferInnen" zum Sündenbock für alles, was schiefgelaufen ist, machen (wollen). Der enttäuschte Untertan lässt grüßen.

Das ist keine Grund, antidemokratische Kräfte zu unterstützen. Aber das ist es ja im Westen auch nicht. Wenn wir mal durchzählen, wie viel rechtsextreme und rechtsradikale Kräfte es gibt, in West wie Ost, so würde ich nicht von einem Ost-Phänomen sprechen. Und "Solingen" wie auch das "Oktober-Fest-Attentat" sind Stichworte, die das mehr als deutlich machen.

Sie sozio-ökonomischen Gründe für die Wut sind nicht unter  Ost oder West einzuordnen.


QuoteMauricette 17.09.2018, 21:36 Uhr
Antwort auf den Beitrag von 2010ff 17.09.2018, 17:42 Uhr

    "Frau SIRLESCHTOV ist eine erfolgreiche Journalistin, die sich .... schon lange aus den alten Lebensumständen mit DDR-Bezug verabschiedet hat."

Was meinen Sie damit, im September 2018?


Quoteminimal 17.09.2018, 17:02 Uhr

Es gibt auch im tiefsten Westen Städte und Regionen, denen es wirtschaftlich noch schlechter geht als den meisten Städten im Osten. Duisburg etwa gehört dazu.

,,Ein Viertel der 500.000 EinwohnerInnen hat keinen deutschen Pass, im Bundesdurchschnitt sind es rund 10 Prozent. In Duisburg sind rund 13 Prozent arbeitslos – bundesweit etwa 5 Prozent. Nirgendwo sind mehr Menschen überschuldet: 17 Prozent, der Anteil steigt seit Jahren. Wie viele Menschen in Duisburg keine Krankenversicherung haben, wisse man nicht, sagt Anja
Kopka, Sprecherin des Oberbürgermeisters. ,,Erhebliche humanitäre Probleme" bestünden bei der gesundheitlichen Versorgung der Tausenden SüdosteuropäerInnen."

Der OB Sören Link (SPD) beklagte sich kürzlich über die zunehmende Einwanderung in die Sozialsysteme aus Osteuropa, NachbarInnen fühlten sich zudem ,,nachhaltig gestört durch Müllberge, Lärm und Rattenbefall".

Erçan Özlü, der in Hochfeld eine Bildungseinrichtung betreibt, scheint frustriert vom Einwanderungsland Deutschland. ,,Sie sagen, sie wollen keine Parallelgesellschaft und fördern sie ununterbrochen."

Bei den letzten Wahlen in Duisburg-Neumühl war die AfD mit 29,7 Prozent die stärkste Kraft, weit über Bundesdurchschnitt."

http://www.taz.de/Angeblicher-Betrug-mit-Kindergeld/!5531293/ (http://www.taz.de/Angeblicher-Betrug-mit-Kindergeld/!5531293/)


QuoteThe_Power_of_Choice 17.09.2018, 16:47 Uhr
Die offene Ablehnung, ja Feindschaft gegenüber dem Osten und den Sachsen speziell ist seit 10/1989 nachzulesen, also nix Neues im Osten bzw. im Westen der Redaktionen und damit ist der heutige TAGESSPIEGEL nicht so aktuell:

"So feierte die alternative Tageszeitung die Mauer kürzlich als "Berlins nützlichstes Bauwerk"; schließlich bewahre sie "die BRD und Westberlin vor Horden naturtrüber, säuerlich sächselnder DDRler mit Hang zu Billig-Antikommunismus und Rep-Wählen"."

und die SPD hatte sich auch geäußert:

Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Hermann Heinemann (SPD) sah sich letzte Woche genötigt, vor einer "Verhätschelung" der DDR-Übersiedler zu warnen: Hiesige Arbeitslose müßten "mit Bitterkeit" registrieren, daß den Zuwanderern Arbeitsplätze "auf dem goldenen Tablett" serviert würden.

man lese im SPIEGEL von 10/1989 was von den Ostlern zu halten sei:

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13498768.html (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13498768.html)


QuoteSchalottenburger 17.09.2018, 16:06 Uhr
Ich möchte mich hier auch einmal bei Frau Sirleschtov bedanken für die differenzierte Reportage, so etwas hat man heutzutage viel zu selten, statt dessen erleben wir eine ungute Polarisierung, da werden grobe Schablonen herumgereicht und heftige gegenseitige Anwürfe laut, und das ist nicht gut.

...


Quotetennisplatzis 17.09.2018, 15:42 Uhr
Es gibt ganz sicher viele Gründe, warum Ostdeutsche die Zeit nach der Wende nicht nur positiv sehen.

Als Westdeutscher, der nach (Ost-)Berlin gezogen ist, frage ich mich aber:

Ist Ausländerfeindlichkeit eine nachvollziehbare Reaktion? Muss ich Verständnis haben, dass jemand auf die noch Schwächeren einhaut, wenn es ihm schlecht geht? Ist das dann weniger schlimm?

Mir scheint, dass es eine sinnvollere Alternative dazu gibt, im Selbstmitleid zu versinken und sich auf die Jagd nach Sündenböcken zu machen.

Es erfordert nicht mehr Zeit, Geld oder Energie, sich ehrenamtlich zu engagieren, als zu demonstrieren und zu pöbeln. Wer Flüchtlinge kennenlernt, sie unterstützt und sich für ihre Integration einsetzt, tut mehr für Sicherheit und Wohlstand in diesem Land als jeder Pegida-Demonstrant.

Und wenn es nicht Flüchtlinge sein sollen: Es gibt Sportvereine, Verschönerungsvereine, die Feuerwehr, Nachbarschaftshilfe. Viele Möglichkeiten, etwas Positives zu tun.

Ach, das gibt es in Ostdeutschland  auch? Ehrenamtliches Engagement, Flüchtlingshilfe?
Ja, ich weiß. Zum Glück. Und deshalb habe ich kein Verständnis für den Hass der anderen. Egal, was nach 1989 mit ihnen passiert ist.
Mein Eindruck ist: das Gerede von den eigenen Problemen ist nur der Vorwand, um der Fremdenfeindlichkeit ein attraktiveres Mäntelchen umzulegen.


Quoteschwimmblogberlin 17.09.2018, 15:23 Uhr
Keine Aufarbeitung der Schuld, Verantwortung und Widerstand der einzelnen (Familien) .
Ich denke, dass (wenn man so will) die Ex *DDR* das durchlebt, was die BRD in den 1950-1980 er Jahren erlebt hat.
Ich erinnere mich gut an das Selbstverständnis, dass Verantwortliche (der
BRD) mit einer Nazivergangenheit in entscheidenden Positionen waren.
Jedes Aufbegehren dagegen wurde als Links(radikal) regelrecht abgewertet
und kriminalisiert.

So wie eine Entnazifizierung in der BRD nur oberflächlich stattgefunden hat, so hat sie auf dem Gebiet der *DDR* nie
stattgefunden. Hat eine echte Aufarbeitung der Stasigeschehnisse stattgefunden?


QuoteSchalottenburger 17.09.2018, 15:38 Uhr
Antwort auf den Beitrag von schwimmblogberlin 17.09.2018, 15:23 Uhr
Was Sie sagen, ist nicht falsch, ich habe es selbst so erlebt in meiner Familie. Nur wird der STellenwert meist falsch angegeben, so auch hier bei Ihnen.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit war in der DDR defizitär, das stimmt. Das muss man gar nicht bestreiten. Ich habe es selbst so erlebt.

Aber für den hier zum Ausdruck kommen Frust ist im Wesentlichen (wenn auch nicht allein) die Nachwendezeit verantwortlich, und das heißt: das gesamte Land. Solange man dies nicht anerkennt, findet man keinen wirklichen Zugang zu dem Problem, und damit auch keine Lösung.

Die DDRler hätten in ihrer Mehrheit nie und nimmer für eine Wiedervereinigung gestimmt, hätten sie geahnt, dass daraus tatsächlich ein neoliberaler Alptraum wird, der einem erst den Boden unter den Füßen wegzieht, um dann per Hartz IV zum Bürger dritter Klasse degradiert zu werden. So zumindest haben es viele erlebt. Jetzt kommt  mit der Flüchtlingsfrage eine Scheinheiligkeit und Inkompetenz dazu, die jeder Beschreibung spottet. Das ist manchem dann halt zu viel.

Was im Osten jetzt passiert, kann auch im Westen passieren und wird auch passieren, wenn die Politik nicht zu den Interessen der Menschen zurückkehrt.


QuoteCosima 17.09.2018, 15:51 Uhr
Antwort auf den Beitrag von schwimmblogberlin 17.09.2018, 15:23 Uhr
Es wird doch ständig aufgearbeitet. Meine Mutter, damals im Öffentliche Dienst, wurde mehrmals auf Stasitätigkeit überprüft. Wer bei der Stasi gewesen war, ist rausgeflogen. In keinem Land bisher wurde so etwas so gründlich aufgearbeitet. Soll man jeden kleinen Spitzel an die Wand stellen?


Quoteach 17.09.2018, 17:18 Uhr
Antwort auf den Beitrag von schwimmblogberlin 17.09.2018, 15:23 Uhr
Hängt davon ab, was Sie unter 'echter Aufarbeitung' verstehen.


QuoteDresden2 17.09.2018, 15:15 Uhr
Wieso sollen Ostdeutsche wütend sein?
Wenn Frau Antje Sirleschtov Ohrdruf aufgewachsen sein will, dann müsste sie es besser wissen.
Warum sollen die Ostdeutschen WÜTEND sein?
Sie sind traurig, dass den meisten Menschen 1989 die Existenzgrundlage unter dem Hintern weggezogen worden ist.
Die dümmlichen Sprüche, die guten Leute sind nach dem Westen gegangen, kann ich nicht mehr hören.
Das würde ja bedeuten, dass eine Fläche von einem ¼ von Deutschland schon zur Wende aufgegeben worden wäre.
Wenn es so war, dann verstehe ich jetzt auch die Machenschaften der Treuhand.
Keiner der Menschen aus dem Westen hat nur einen Millimeter von seinem Leben zur Wendezeit verändern müssen.
Den Solidaritätszuschlag mussten die Ossis auch von Anfang an abdrücken.
In Gegenden, wo die Arbeit knapp, die Entlohnung schlecht, die Versorgung kaum noch gegeben ist, bekommen die glücklich machenden Personen der Ränder ihr Gehör.
Die einfachste Lösung wäre eine Politik FÜR ALLE. Aber dies wird die abgehobene politische Klasse niemals begreifen.
Die ,,Genderpromlematik" und die Unisextoiletten sind doch viel wichtiger, als Arbeitsplätze, gerechte Entlohnung, gerechte Renten, etc.
Nein, ich jammere nicht.
Noch heute wird in Ost und West unterschieden, obwohl dies das GG Art. 3/3 (glaube ich) ausdrücklich verbietet!!!
Aber dieses GG wird immer dann in den Mittelpunkt gerückt, wenn es um Neubürger geht.
Noch heute braucht der Osten einen Aufpasser als OSTBEAUFTRAGTER!
Wenn die Politik genauso weiter macht, werden die extremen Ränder noch viel, viel stärker werden.
Vielleicht kann man diese in 5-10 Jahren nicht mehr einfangen. Dann will es wieder keiner gewesen sein (war nach dem letzten WK nicht anders).
Ich erwarte hier im Forum nicht viel Verständnis, weil die meisten von sich selbst zu sehr überzeugt sind.
Ich bin froh beide Systeme kennengelernt zu haben (trotz vieler Demütiigungen).


Quoteschwimmblogberlin 17.09.2018, 15:56 Uhr
Antwort auf den Beitrag von Dresden2 17.09.2018, 15:15 Uhr

    Keiner der Menschen aus dem Westen hat nur einen Millimeter von seinem Leben zur Wendezeit verändern müssen.

Das Land, in dem ich aufgewachsen bin, existiert nicht mehr.


Quotean-1 17.09.2018, 14:53 Uhr
...warum der Osten so sauer ist?... na ja, aus dem Versprechen "blühende Landschaften" wurden geplünderte Landschaften ...


QuoteSchalottenburger 17.09.2018, 14:47 Uhr
Was hier immer wieder diskutiert wird, hat weniger mit der DDR zu tun als mit Ostdeutschland.

Dieses entstand aus der DDR, aber eben danach, und das heißt: unter tatkräftiger Mitwirkung des Westens. Das ist ein wichtiger Unterschied. Die ostdeutsche Identität entstand während der Neunziger, und diese Jahre glichen einer Operation am offenen Herzen über mehrere Wochen, aber ohne Narkose. Die Folgen waren traumatisch und werden es noch eine Zeit lang bleiben.

Die Einzelheiten müssen hier nicht beschrieben werden, das haben andere bereits getan. Nur, dass das Problem in der Öffentlichkeit gar nicht besprochen wird, ist Teil des Verhängnisses: Man erzählt uns, dass es uns doch gut geht usw. Rein materiell stimmt das, ansonsten ist das eine glatte Lüge. Das soziale Leiden an den Wunden, die die Neunziger geschlagen haben, hat keine Adresse, die ihm Ausdruck geben würden.

Hinzu kommt, die Ostdeutschen, eben weil sie, was das Politische betrifft, in der DDR geprägt wurden, haben ein anderes, kritischeres Verhältnis zur Wahrheit: Sie erleben den Diskurs um die "Flüchtlingskrise" als ein scheinheiliges Getue derer, die sie nicht gefragt haben, ob sie überhaupt mitmachen wollen. Und diese Konstellation kennen sie zur Genüge aus der DDR. Jetzt noch die Agenda 2010, da wird gespart und "gehartzt" ohne Ende, für nichts ist Geld da, und auf einmal soll das alles nicht mehr stimmen? Lügner!

Bloß, es sind nicht die Institutionen vorhanden, die diesem Gefühl, belogen und betrogen zu werden, angemessen Ausdruck verleihen würden. Die linken Parteien haben sich aus der Sozialpolitik verabschiedet und singen das windschiefe Lied der neuen, schönen Weltgesellschaft. Wohin soll man sich da wenden? Da geht man zur AfD.

Man täusche sich nicht, die westliche Gesellschaft glaubt, die Ostler seien hier bloß verspätete Nachzügler. In der nächsten Krise werden wir sehen, ob nicht im Westen die Reaktionen noch viel heftiger sind. Dann wird es keinen Honecker mehr geben, der daran schuld ist.


Quotehalfscot 17.09.2018, 14:33 Uhr
Ich denke, die meisten fühlen sich wie am Ende der DDR. Die Medien informieren nicht mehr, sondern verbreiten Propaganda. Der Frust darüber kommt bei jedem Treffen zum Ausdruck. Man traut sich wie damals (eher noch weniger) seine Meinung zu sagen, um nicht ins Abseits zu gelangen. Ich habe mich auf Arbeit politisch in die innere Emigration begeben. Nur so werde ich die letzten Jahre überstehen. Zu Protestdemos gehe ich nur nicht, weil sich da oft zu viele Rechtsradikale tummeln und ich evtl. im TV zu sehen wäre, denn anders als Schwerverbrecher werden ja unliebsame Demonstranten nicht verpixelt.


Quotereporterchen 17.09.2018, 14:29 Uhr
Das ist ein gelungener, offenbar gut recherchierter Artikel über die Befindlichkeit ostdeutscher Menschen.
Natürlich kann man sich über "diese Ossis" erheben und das Denken und Empfinden lächerlich machen. Man könnte aber auch die Zwischentöne lesen und versuchen nachzuempfinden, warum so viele in den ostdeutschen Bundesländern entweder weggegangen (wenn jung genug) oder desillusioniert sind. Das ist zweifellos keine Entschuldigung oder Rechtfertigung für fremdenfeindliche -oder wie auch immer geartete- Ausschreitungen. Aber vielleicht ein Versuch der Erklärung, warum ostdeutsche Menschen sich von der Politik so im Stich gelassen fühlen. Mehr noch als westdeutsche, und von denen gibt es wahrlich ebenfalls genug.


QuoteNoraZech 17.09.2018, 14:28 Uhr
Es ist doch nun wirklich eine einfache Frage, wieso unsere Regierung viele Milliarden für Flüchtlinge zur Verfügung hat (für Banken aller Art noch viel viel mehr), aber es nichts für mehr Lehrer, für die Ausbildung unserer Kinder, Schulen (Schulbücher! kein Geld!) für Erzieher, Pfleger, Alte und all die anderen gibt. Ich komme mir auch verars..... vor.


Quotetennisplatzis 17.09.2018, 15:11 Uhr
Antwort auf den Beitrag von NoraZech 17.09.2018, 14:28 Uhr

Die Frage, wieviel Geld für Lehrer, Schulen, Pfleger (Hartz IV, kleine Renten usw.) ausgegeben werden soll, wird seit Jahrzehnten diskutiert. Es gibt unterschiedliche politische Konzepte, die von Parteien zur Wahl gestellt werden. Die in den vergangenen Jahren regierenden Parteien haben ihre Entscheidungen getroffen. Die kann man kritisieren.

Aber was, bitte schön, hat das mit den Flüchtlingen  zu tun? Glauben Sie, ein Euro mehr wäre für irgendwas anderes ausgegeben worden wenn die Flüchtlinge nicht gekommen wären? Das ist angesichts unserer Haushaltslage Unsinn. Und mehr als das: Es ist eine ziemliche miese Argumentation, weil es die Armen und Hilfsbedürftigen im Land gegeneinander ausspielt und, mal wieder, den Fremden zum Sündenbock macht.

...


Quotetennisplatzis 17.09.2018, 16:23 Uhr
Antwort auf den Beitrag von berlin_jens 17.09.2018, 15:31 Uhr
Da kommen Menschen, die vor einem Krieg fliehen, Heimat, Familie und Besitz verloren haben, die ihr Leben riskiert haben - und gegen die pöbelt und demonstriert man dann, wenn der Staat ihnen eine Grundversorgung  gibt, weil man meint, man selber habe zuvor nicht genug abbekommen?

Ich will mal so sagen: das ist weder eine christliche, noch eine abendländische und auch keine sozialistische Logik.


QuoteDaW 17.09.2018, 18:09 Uhr
Antwort auf den Beitrag von halfscot 17.09.2018, 17:21 Uhr

Wieviele Großdemonstrationen (so mit >20.000 Leuten) gab es denn gegen die Bankenrettung 2008/09 in Sachsen?


Quotehalfscot 17.09.2018, 19:18 Uhr
Antwort auf den Beitrag von DaW 17.09.2018, 18:09 Uhr
Thema verfehlt. Es geht hier nicht um die Bankenrettung, sondern darum, dass die Ossis damals von der SED verarscht wurden und das heute wieder erleben. Die Wessis werden genau so verarscht, merken es aber nicht. An Ihnen kann man das sehr deutlich merken.


Quotebhm2805 17.09.2018, 20:32 Uhr
Antwort auf den Beitrag von uwemohrmann 17.09.2018, 14:43 Uhr

    Milliarden denken, die in diese Entwicklungsgebiete geflossen sind....

Die alte Leier. Die Gelder sind auch Westdeutschen Unternehmen zu Gute gekommen. Das Wort Konjunkturprogramm ist ja schon gefallen. Der Rest ist allenfalls ein Ausgleich für die durch die DDR geleisteten Reparationszahlungen. Wir haben halt eine gemeinsame Geschichte. Mit den Flüchtlingen haben wir keine. Also vergleichen Sie nicht wieder Äpfel mit Bananen.


QuotePotto 17.09.2018, 14:15 Uhr
Die Sachsen haben mehr Erfahrung mit Diktatur und Mauer und Todesstreifen. Ihr Untergang machte misstrauisch gegenüber Institutionen und Eliten. Das Gefühl, belogen, ausgenutzt und von der allmächtigen Stasi ausspioniert und denunziert worden zu sein, sitzt immer noch tief. Jetzt kommt der Wessi mit ihrer Kanzlerin aus dem Osten und sagt, wie Demokratie geht.


Quoteherjeh 17.09.2018, 14:08 Uhr
All das hier Geschriebene ist kein Grund sich menschenverachtend, fremdenfeindlich , homophob, bösartig etc zu verhalten . Insofern auch kein Grund mit Nazis auf die Straße zu gehen und rumzupöblen . Außerdem ist doch eindeutig, dass die  AfD kein  "Heilsbringer" ist und zwar weil sie nichts zu bieten hat , außer die Wut rauslassen. ...


Quotedinsdale 17.09.2018, 13:56 Uhr
... Mal davon abgesehen, dass es abgehängte Gegenden auch im Westen gibt. Fakt ist ja wohl auch, dass die Wende biographische Brüche in einer ziemlich einmaligen Dimension erzeugt hat, und zwar nur in einer Hälfte des Landes. Und dass es reichlich naiv ist anzunehmen, dass 40 Jahre SED Herrschaft in den Köpfen folgenlos geblieben wären. Das dürften allein schon die Erfahrungen mit den 12 Jahren Nazi Herrschaft und der Aufarbeitung in Westdeutschland vor Augen führen. ...


Quote1964 17.09.2018, 13:40 Uhr
Das viele meiner Bekannten diesen zerrütteten Landstrichen endgültig den Rücken gekehrt haben ist mir nach Lektüre des Artikels noch nachvollziehbarer geworden. Man kommt höchstens noch zu Besuch und ansonsten ist der Lebensmittelpunkt im Westen des Landes. Rette sich wer kann!
Zurück bleibt eine zutiefst verletzte, verunsicherte Bevölkerung die nirgendwo angekommen ist. Nicht wenige, wie man sieht, lassen ihren Frust an noch schwächeren aus. Wie feige.


QuoteRotfahrer 17.09.2018, 13:36 Uhr

    Im Osten des Landes häufen sich die fremdenfeindlichen Aufmärsche


Bitte lieber TSP, das Thema rechte Gewalt ist auch im Westen ein Thema. Bitte tragt nicht dazu bei, den Osten vom Westen zu spalten.

Hier mal eine Liste von Todesopfern rechter Gewalt, das sagt zwar nicht viel über die Verteilung nach ost und west auf, zeigt aber, dass das ein gesamtdeutsches Thema ist:

https://de.wikipedia.org/wiki/Todesopfer_rechtsextremer_Gewalt_in_der_Bundesrepublik_Deutschland#Gesamtliste (https://de.wikipedia.org/wiki/Todesopfer_rechtsextremer_Gewalt_in_der_Bundesrepublik_Deutschland#Gesamtliste)


Quoteminimal 17.09.2018, 13:35 Uhr
Vielen Dank Frau Sirleschtov für diesen ausführlichen Blick auf ostdeutsche Befindlichkeiten, die tw. bis heute nachwirken und von vielen Wessis nicht verstanden oder zur Kenntnis genommen werden.

...


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Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 18, 2018, 11:06:23 AM
Quote[...] Wer über den Osten nachdenkt, landet bei der DDR. Falsch, sagen Jana Hensel und Wolfgang Engler. Der Schlüssel zum Verständnis der ostdeutschen Gesellschaft sei die Nachwendezeit - die Überschattung der Demokratieerfahrung durch die Erfahrung der Brüchigkeit.

... Ein Buch erscheint heute, das war schon im Druck als sich in Chemnitz die Ereignisse überschlagen haben, und es liest sich trotzdem wie das Buch der Stunde: "Wer wir sind: Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein" lautet der Titel.

Ein Gesprächsband der in Leipzig aufgewachsenen Journalistin Jana Hensel, viele haben ihren Bestseller "Zonenkinder" gelesen. Ein Gesprächsband gemeinsam mit Wolfgang Engler, dem langjährigen Rektor der Berliner Ernst Busch Schauspielschule. Auch er hat Bücher geschrieben über die Ostdeutschen. "Kunde von einem verlorenen Land" ist eins dieser Bücher. "Die Ostdeutschen als Avantgarde" ein anderes.

Frau Hensel, ich lese in dem Buch, dass Sie einen Satz gesagt haben, den finde ich bemerkenswert: Man müsse konzedieren, dass Pegida und die AfD eine ostdeutsche Emanzipationsbewegung seien. Wie meinen Sie das?

Jana Hensel: Emanzipationsbewegung ohne emanzipatorischen Kern muss man natürlich sagen, ich teile keine der Inhalte von Pegida und der AfD. Es ist auch eine Frage, die uns im Buch umtreibt: Wie kann man all den Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit in Kauf nehmen für eine doch ganz offensichtliche Kritik an den Verhältnissen, am System.

Aber wer sich im Osten ein bisschen auskennt, wer im Osten lebt, wer im Osten herumgereist ist, der weiß, der wusste, dass es dort brodelt, der wusste dort, dass die Menschen unzufrieden sind, und ich glaube, dass viele von uns, Intellektuelle und auch andere, irgendwie davon ausgegangen sind, irgendwann wird da mal was passieren im Osten, irgendwann wird es dort mal zu einer Art von Protestwelle kommen müssen, und ich glaube aber, die stillschweigende Übereinkunft war auch, wenn es so etwas gibt, dann kommt die von links.

Wir müssen uns jetzt die Frage stellen: Warum kommt die im Grunde genommen größte Protestwelle in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung, warum kommt diese Protestwelle erschreckenderweise von rechts?

... Engler: Na ja, das ist irgendwie so eine Kompensation oder könnte die Erklärung dafür sein. Und das ist ja nicht nur ein Unterschichtphänomen. Wir sehen ja gerade Sachsen, wir sehen Bayern, wir sehen Baden-Württemberg, wir sehen Hessen.

Wenn jetzt Wahlen wären, hätte die AfD 15 Prozent in Bayern. Also das sind ja prosperierende Länder. Da kommen Unterschichtsphänomene zusammen und Verunsicherung in der Mittelschicht. Beides kommt zusammen, und viele von denen, die diese Verunsicherung an ihrem eigenen Leben spüren, die das schon länger spüren, setzen auf eine andere Karte.

Die setzen auf rabiatere Formen des Ausdrucks, sie setzen auf Dinge, die wirklich nicht mehr überhörbar sind, die die Leute beunruhigen, die die Politik Tag für Tag umtreiben, die die Medien beschäftigen. Jetzt sind wir da, jetzt werden wir gehört, und klar, da ist das Problem, dass sie möglicherweise auf das falsche Pferd setzen dabei, aber das scheint einem Teil der Leute unterdessen egal zu sein.

Rabhansl: Was Herr Engler da gerade sagt, das ist eigentlich eine Erklärung, die nicht unbedingt etwas spezifisch Ostdeutsches ist. Sie, Frau Hensel, argumentieren aber in dem Buch, dass Fremdenhass und Rassismus in Ostdeutschland etwas dezidiert anderes sei als Fremdenhass und Rassismus in Westdeutschland. Wo sehen Sie den Unterschied?

Hensel: Gut, dezidiert anders ist es nicht. Fremdenfeindlichkeit und Hass auf andere ist letztlich in der Emotion dieselbe, aber die Funktion scheint mir unterschiedlich zu sein, oder anders gesagt: Das ist ja auch etwas, weswegen wir uns für dieses Buch zusammengesetzt haben. Ich glaube, dass wir sehr viele Phänomene, die wir in Ostdeutschland haben, mit einem westdeutschen Blick betrachten und dass sehr vieles eine genuin ostdeutsche oder DDR-Geschichte hat. Wir haben die Bilder von Chemnitz gesehen und haben an Rostock-Lichtenhagen gedacht.

Ich glaube nicht, dass die Geschichte sich wiederholt, aber Phänomene tauchen auf, und dieser Alltagsrassismus, der sich in Rostock-Lichtenhagen zum ersten Mal gezeigt hat, ich glaube auch, zum ersten Mal so stark artikulieren konnte, ist damals entstanden, glaube ich, weil es noch keine gesicherten Institutionen gab. Also ich habe mir das angesehen. Rostock-Lichtenhagen, die Gewalt ist entstanden, weil sie möglich war, weil Polizei, Gericht, Verwaltung waren noch im Aufbau begriffen, und es entstanden sozusagen Löcher.

Rabhansl: Das sind die äußeren Umstände, die es möglich gemacht haben, aber Sie sprachen gerade von einer typisch ostdeutschen Funktion.

Hensel: Ja, aber was wir wissen, ist, dass sich seit Rostock-Lichtenhagen der Alltagsrassismus in Ostdeutschland verfestigt hat, er hat sich radikalisiert, er ist irgendwie zur beinah einzigen identitätsstiftenden Erzählung, zumindest von Teilen von Gesellschaft, geworden. Auch darüber muss man reden, warum es keine anderen Loyalitätsbänder gibt als sozusagen nur Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Aber er ist ... Fremdenfeindlichkeit und Rassismus im Osten ist immer Träger von Systemkritik.

Das heißt, er ist immer größer als nur der Hass auf das Andere. Im Hass auf den anderen artikuliert sich immer eine sehr umfassende Kritik an den Verhältnissen. Ich bin als Journalistin auch in Westdeutschland unterwegs gewesen, ich habe Reportagen über Fremdenfeindlichkeit beispielsweise in Baden-Württemberg geschrieben, und da ist mir aufgefallen, Fremdenfeindlichkeit, das zieht sich dort weit hinein bis ins Milieu grüner Wählerschaft. Das lässt sich irgendwie mit allen anderen demokratischen Werten vereinbaren. Im Osten ist es radikaler, es artikuliert sich radikaler und ist eine umfassende Systemkritik.

Rabhansl: Sehr oft erleben wir, dass versucht wird, ostdeutschen Rassismus zu erklären mit der langen DDR-Geschichte. Da kommt dann dieser Gedanke: Na ja, Westdeutschland hat einfach 40 Jahre Vorsprung, was Demokratie betrifft. In Ihrem Buch lerne ich aber, dass Sie beide der Meinung sind, dass es viel wichtiger ist, auf die Nachwendezeit zu gucken und weniger auf die DDR-Zeit.

Zugespitzt, Herr Engler, kann man sagen, in der Bundesrepublik, da kam eben die Demokratie mit dem Wirtschaftsaufschwung, und in der ehemaligen DDR, da kam die Demokratie mit der Treuhand?

Engler: Das ist keine falsche Beobachtung. Also ich glaube, das ist der Grundwiderspruch der Nachwendeerfahrung Ost, vieler im Osten Deutschlands, dass in dem Augenblick, in dem sie das Ziel erreichen, das sie zunächst verfolgten, nämlich politische und bürgerliche Rechte zu erobern, eine unermessliche soziale Verunsicherung erleben.

Das heißt, ein Teil der Träume wird wahr, aber auf einer Grundlage, die sehr brüchig ist und wo der Boden leicht nachgibt, und darum ist die Demokratieerfahrung in diese andere Erfahrung getaucht. Und wird von ihr teilweise auch, je nachdem, wie tiefgreifend die Verunsicherung war, wird von ihr auch überschattet.

Es ist also keine unschuldige Erfahrung. Jetzt haben wir eine Revolution gemacht, jetzt sind wir aufgestanden, jetzt haben wir etwas gemacht, was auf deutschem Boden ganz selten passiert, ist nämlich ein Aufstand, der auch gelingt, und jetzt ist das und das erreicht. Sondern in eins damit, man kann sagen, wirklich in eins damit bricht das Leben zusammen.

Das kann man gar nicht hoch genug veranschlagen, diesen Widerspruch. Das ist eine andere Erfahrung – genau wie Sie es sagen –, die Erfahrung West ist eine andere. Der wirtschaftliche Erfolg kompensiert da ein bisschen die noch nicht eingewöhnte Demokratie, aber beides geht im Grunde Hand in Hand, und hier crasht es und läuft aufeinander zu. Es hat sich doch kaum jemand gedacht.

Rabhansl: Und es crashte auf eine Art und Weise, die man nur als ungerecht empfinden konnte.

Hensel: Finde ich auch.

Rabhansl: Ich musste, als ich Ihr Buch gelesen habe, noch mal an den Kühlschrankhersteller Foron denken, ...

Engler: Richtig.

Rabhansl: ... der den weltweit ersten FCKW-freien Kühlschrank auf den Markt brachte zu einem Zeitpunkt, als er von der Treuhand schon dichtgemacht werden sollte, die das trotzdem rausgebracht haben, haben aber trotzdem dann der finanzstarken Konkurrenz nicht widerstehen können und waren zehn Jahre später dann doch pleite. Was ist das Dramatische an dieser Erfahrung? Der Arbeitsplatzverlust oder das Gefühl, die eigene Lebensleistung ist plötzlich eine Lachnummer?

Engler: Beides. Es kommt ja nicht immer so zusammen. Es war der Mehrheit der Ostdeutschen auch 1989, '90 klar, dass das namentlich mit dem wirtschaftlichen Leben nicht mehr lange so weitergehen kann, dass da vieles auf Verschleiß läuft, dass es an Innovationen mangelt, dass keine wirkliche Wettbewerbsfähigkeit vorhanden ist - dass die dann so in den Keller sank, hat mit Währungsumstellung zu tun, aber dass da ein Problem liegt.

Jeder, der zur Arbeit ging, wusste, dass da das meiste und zwar das Grundsätzliche im Argen liegt. Gleichwohl – Sie sprechen den Kühlschrankhersteller an –, ich entsinne mich noch an Bischofferode, das Kaliwerk da, damals war ich auch für eine Zeitung da, die "Wochenpost". Da wurde gehungert unten. Das war wettbewerbsfähig, natürlich. Aber ein Wettbewerber im Westen fand das nicht okay, dass da jemand im Osten ist, und das ist häufig erlebt worden, nicht immer.

Auch wenn die Werke eingingen, weil sie halt nicht mehr tauglich waren in den neuen Verhältnissen, war der Schmerz auch groß. Er ist desto größer, wenn man denkt, wir hätten ja weitermachen können, wir hätten eine Chance haben können. Aber der Punkt, der daran auch noch wichtig ist, ist: Wir versuchen mit dem Buch eine Fokusveränderung in der öffentlichen Debatte über Ostdeutschland zu erzielen. Da haben Sie vollkommen recht.

Wir glauben – um noch einen Satz zu sagen –, wir glauben, dass die Erfahrungen vieler Ostdeutscher der 1990er Jahre der hauptsächliche Schlüssel sind zum Verständnis dessen, was danach passierte.

Hensel: Genau. Der Kollaps der ostdeutschen Gesellschaft ist so umfassend und vollzieht sich in einer Radikalität und Schnelligkeit, wie sie, glaube ich, auf der Welt nicht passiert ist, und das Interessante ist: Wie hat die westdeutsche Gesellschaft häufig darauf reagiert? Sie hat gesagt: Jammert mal nicht so sehr.

...

Jana Hensel und Wolfgang Engler, "Wer wir sind: Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein"
Aufbau Verlag, 2018
288 Seiten



Aus: "Jana Hensel und Wolfgang Engler im Gespräch"Der Kollaps der ostdeutschen Gesellschaft war umfassend""
Moderation: Christian Rabhansl" (Beitrag vom 15.09.2018)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/jana-hensel-und-wolfgang-engler-im-gespraech-der-kollaps.1270.de.html?dram:article_id=428203 (https://www.deutschlandfunkkultur.de/jana-hensel-und-wolfgang-engler-im-gespraech-der-kollaps.1270.de.html?dram:article_id=428203)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 20, 2018, 01:10:35 PM
Quote[...] Als Erich Honecker 1991 in der chilenischen Botschaft in Moskau um Asyl bat, war die Überraschung groß. Warum gerade dort? Die Antwort war einfach: Clodomiro Almeyda, der damalige Botschafter Chiles in Moskau, hatte nach dem Putsch der Militärjunta unter General Pinochet am 11. September 1973 in der DDR Zuflucht gefunden. Honecker hatte damals erklärt, die DDR würde verfolgten Chilenen Asyl gewähren. Etwa 2.000 chilenische Flüchtlinge kamen in die DDR.

Allerdings war die Aufnahme der chilenischen Flüchtlinge an Bedingungen geknüpft. Das SED-Politbüro entschied am 25. September 1973, nur denjenigen Menschen Zuflucht zu gewähren, welche "Mitglieder und Anhänger der Unidad Popular", also der linken Volksfrontbewegung, waren.

Die Unterbringung und Eingliederung der Exilchilenen lief vergleichsweise unbürokratisch ab. Über den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) und das "Solidaritätskomitee der DDR" wurden Mittel bereitgestellt, um die Unterbringung, Betreuung und Einkleidung zu finanzieren. Jede Emigrantenfamilie erhielt ein Übergangsgeld von 2.500 DDR-Mark, um die Zeit zu überbrücken, bis eine Arbeitsstelle gefunden wurde.

Unter den chilenischen Emigranten waren vor allem "Angehörige der Intelligenz", stellte das Ministerium für Staatssicherheit im September 1975 fest: Studenten, Angestellte, Pädagogen, Funktionäre, Künstler. Unter ihnen war auch eine junge Studentin, die mit ihrer Mutter über Australien in die DDR geflohen war und im Jahr 2006 die Präsidentschaftswahlen im demokratischen Chile gewinnen sollte: Michelle Bachelet. Sie studierte in Leipzig und Berlin Medizin und wurde Kinderärztin. Die Zeit in der DDR hat sie rückblickend als eine "sehr glückliche" bezeichnet.

Nicht alle Exilchilenen teilen diese Einschätzung. Denn trotz guter Qualifikationen hatten nicht alle das Glück, in ihren Berufen arbeiten zu können. Viele Akademiker wurden in der Produktion eingesetzt. Und dort sorgte die Bevorzugung der Exilanten bei der Wohnungsvergabe mitunter für böses Blut, wie sich Sonia Cifuntes, einst Mitglied im Kommunistischen Jugendverband, erinnert: "Ich arbeitete am Fließband in der Endfertigung bei Pentacon. Eine Frau neben mir warf mir immer böse Blicke zu und sagte etwas zu mir, das ich nicht verstand. Später erfuhr ich, dass sie mir vorwarf, den Leuten in der DDR die Wohnungen wegzunehmen und mir riet, doch wieder nach Chile zurückzukehren."

Die Solidarität mit Chile wurde zu einem zentralen Thema der offiziellen Propaganda. Tausende Kinder und Jugendliche schickten zum Beispiel Postkarten mit dem Bild von Luis Corvalán nach Chile. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei war von der Militärjunta eingesperrt worden. Als Corvalán schließlich im Dezember 1976 im Austausch gegen einen sowjetischen Dissidenten freikam, wurde dies als "Sieg der Kräfte des Fortschritts" und Beispiel von "moralischer Größe" gefeiert, welche "unsere Jugend zu immer größeren Taten für Frieden und Sozialismus, für die allseitige Stärkung unserer sozialistischen DDR anspornt".

1977 wurde in der DDR ein Spielfilm über den chilenischen Volkssänger Víctor Jara gedreht, der in den ersten Tagen des Putsches von Pinochets Soldaten umgebracht worden war. Schulen trugen seinen Namen und auch der ermordete Präsident Salvador Allende prangte auf Briefmarken. Doch so viel SED-Propaganda wäre gar nicht nötig gewesen: Die allermeisten DDR-Bürger waren tatsächlich empört über den Sturz der Regierung Salvador Allendes. Etliche Schriftsteller und Künstler beschäftigten sich mit dem brutalen Militärputsch. Wolfgang Mattheuers Gemälde "Requiem Víctor Jara" stellt den Sänger mit gebrochenen Händen und brennender Gitarre dar. In Volker Stelzmanns "Stillleben Herbst 1973" ist ein an den Schrank geklebtes Allende-Foto zu sehen. Hartwig Ebersbach schuf eine Installation mit dem Titel "Widmung an Chile" und  Christoph Wetzel malte den "Toten Präsidenten" mit chilenischer Fahne auf einem von Kugeln durchsiebten Sessel.

Die in der DDR lebenden Chilenen durften eigentlich das Land verlassen und auch ins westliche Ausland reisen. Allerdings benötigten sie dafür Ausreisevisa. Und deren Vergabe war sehr restriktiv geregelt. Das Ministerium für Staatssicherheit befürchtete, die Chilenen könnten im Westen für Spionageaufgaben angeworben werden und Propagandamaterial einschmuggeln. Generell galten die chilenischen Flüchtlinge dem MfS als ein Risiko für die Sicherheit der DDR. Das Büro "Antifaschistisches Chile", welches von Chilenen geführt wurde und die Reiseanträge der Emigranten bearbeitete, war von Inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit unterwandert. 

Die Befürchtungen der Stasi, die Emigranten könnten eine DDR-kritische Haltung einnehmen, waren durchaus begründet. Viele von ihnen stellten Ausreiseanträge und 1982 verbrannte sich ein Chilene öffentlich, weil ihm die Rückkehr ins Heimatland verweigert worden war. Viele litten, wie der Schriftsteller Carlos Cerda schrieb, am "Zusammenstoß zwischen den Idealen, den Utopien, die uns hierher ins Exil gebracht hatten, und der für uns außerordentlich spannungsreichen, konfliktgeladenen und bis zu einem gewissen Grad entfremdeten Wirklichkeit dieses Staates".

Nach dem Mauerfall 1989 kehrten viele Chilenen in ihre südamerikanische Heimat zurück. Andere wiederum hatten sich an die Beschränkungen, die Ecken und Kanten der DDR gewöhnt, eine mehr oder weniger bescheidene Karriere gemacht, Familien gegründet und in der nun untergehenden sozialistischen deutschen Republik tatsächlich eine neue Heimat gefunden. Heute leben etwa 6.700 Chilenen in der gesamten Bundesrepublik.


Aus: "Wie chilenische Flüchtlinge in der DDR lebten" Tom Fugmann (11. September 2018)
Quelle: https://www.mdr.de/zeitreise/chile-ddr-100.html (https://www.mdr.de/zeitreise/chile-ddr-100.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 20, 2018, 01:51:51 PM
Quote[...] "Zur See" war ein Straßenfeger. Neun Folgen strahlte das 1. Programm des DDR Fernsehens ab Januar 1977 jeweils freitags zur besten Sendezeit aus. Da schalteten selbst diejenigen ein, die sonst lieber Westfernsehen sahen. Das Geheimnis des Erfolges? Wohl auch die Sehnsucht nach fernen Ländern, denn die Serie brachte eine Spur Exotik in die DDR-Wohnzimmer und erzählte vom Alltag einer Besatzung zwischen See- und Landgang in der sozialistischen Handelsflotte, Abenteuer inklusive.

Anfang August 1974 ging das Who is who der DDR-Schauspieler für eine Drehreise von Rostock nach Kuba und zurück an Bord des Frachtschiffs. Zwei Monate dauerte die Reise. An Bord waren neben den Filmleuten auch die eigentliche Besatzung, denn das Schiff hatte auch einen "normalen" Auftrag: Auf Kuba wurden 6.600 Tonnen Zucker geladen. 166 angehende Seeleute fuhren mit, die Fernseh-Crew bestand aus 23 Filmleuten, darunter neun Schauspieler. Günter Naumann, Jürgen Zartmann und Horst Drinda teilten sich eine Kabine. Drinda, der Star vom Deutschen Theater, spielte in der Serie den Kapitän und filmte selbst. ...

Der volkseigene Betrieb Deutsche Seereederei in Rostock erhoffte sich von der Zusammenarbeit mit dem DDR-Fernsehen Unterstützung bei der Rekrutierung von Nachwuchs. Man war auf der Suche nach angehenden Matrosen, denn Bewerber in ausreichender Zahl waren rar und mussten außerdem "politisch zuverlässig" für Reisen in die weite Welt sein. Da kam die DEFA mit ihren Plänen für die "Zur See"-Serie gerade recht.

Über 40 Jahre nach der Erstausstrahlung der DDR-Fernsehlegende widmet das Rostocker Schiffbau- und Schifffahrtsmuseum der Geschichte der "J. G. Fichte" und den Dreharbeiten an Bord eine Sonderausstellung. Entstanden ist sie mit Hilfe vieler Zeitzeugen, die Erinnerungsstücke zur Verfügung gestellt haben. Die Schau "Mit MS Fichte zur See" ist noch bis zum 5. Oktober 2018 zu sehen.

Das Schiff befährt schon lange nicht mehr die Weltmeere. Ende der 70er-Jahre wurde die "MS J. G. Fichte" außer Dienst gestellt, verkauft und im Rostocker Überseehafen unter anderem Namen an eine Reederei aus Panama übergeben. 1981 trat sie ihre letzte Fahrt an - zur Verschrottung nach Pakistan.

Mit "Zur See" hat das Ausbildungsschiff der DSR Fernsehgeschichte geschrieben. Die Serie war das handfeste sozialistische Gegenstück zur amerikanischen seichten Seifenoper "Love boat" und inspirierte den Westberliner Fernsehproduzenten Wolfgang Rademann für einen weiteren Fernsehklassiker. 1981, vier Jahre nach der Erstausstrahlung der DDR-Seefahrer-Serie, ging "Das Traumschiff" im Westen auf Sendung.

...


Aus: ""Zur See": Als die DDR das Traumschiff erfand" (06.09.2018)
Quelle: https://www.ndr.de/kultur/geschichte/Zur-See-Als-die-DDR-Traumschiff-erfand,zursee118.html (https://www.ndr.de/kultur/geschichte/Zur-See-Als-die-DDR-Traumschiff-erfand,zursee118.html)

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 27, 2018, 11:48:25 AM
Quote[...] Die ehemalige Stasiunterlagen-Beauftragte Marianne Birthler warnte davor, dieses Opferbild zu zementieren – etwa mit Blick auf die alte Bundesrepublik nach 1989, sprich: den Westen, auf den seither vielerlei Übel projiziert würden. Das führe letztlich nicht weiter. Die letzte Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD), wies hingegen auf reale Benachteiligungen hin, beispielsweise bei Führungspositionen.

Die Debatte, so viel ist sicher, ist zentral. Tatsächlich haben Ostdeutsche Grund zu klagen – zumindest wenn sie sich mit der alten Bundesrepublik vergleichen. Das ergibt sich unter anderem aus dem jüngsten Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit: Das Ost-Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner liegt nur bei 73,2 Prozent des Westwerts und stagniert, die ostdeutsche Wirtschaftskraft nähert sich nur noch langsam der westdeutschen an, bei den Löhnen liegt der Osten um fast 20 Prozent zurück, beim Vermögen ist die Kluft noch größer. Experten sind sich einig: Das alles wird noch sehr lange so sein, wenn in Ostdeutschland nicht ein Mangel behoben wird – der an großen Industrieunternehmen.

Hinterher hängen die Ostdeutschen ebenfalls bei den Eliten, und zwar sowohl gesamtdeutsch wie in Ostdeutschland selbst. Dies ist teils Spätfolge des Elitentransfers von West nach Ost im Zuge der Vereinigung. Damals kamen unter anderem Tausende Beamte aus der alten Bundesrepublik.

Mittlerweile fragt sich aber, ob sich die Unterrepräsentation fast 30 Jahre nach dem Mauerfall nicht rausgewachsen haben müsste. Dass dies nicht der Fall ist, legt den Verdacht nahe, dass Westdeutsche andere Westdeutsche auf Führungspositionen nachziehen. Das wiederum wäre keine Besonderheit, sondern ist Forschern zufolge bei Elitenbildungen fast immer so: Gleich und gleich gesellt sich gern.

Deshalb gibt es auch seit längerem die Debatte über eine etwaige Ostquote, die Fachleute jedoch für nicht praktikabel halten. Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, kritisierte unlängst jedenfalls, die Dominanz der Westdeutschen auf den Führungsposten werde von Ostdeutschen vielfach als ,,kultureller Kolonialismus" empfunden. Dies sei schädlich.

Kritiker der Opferthese verweisen auf die verbesserte Infrastruktur im Osten, die stark gesunkene Arbeitslosenquote oder die Situation in anderen osteuropäischen Ländern. Die müssten ja der Vergleichsmaßstab sein, nicht Westdeutschland. Die De-Industrialisierung des Ostens sei ihrerseits eine Konsequenz der DDR. Überhaupt spiele die Opferthese allein den Gegnern der Demokratie, allen voran der AfD, in die Hände. Nicht zufällig wird in deren Kreisen ja das Motto der 1989er-Zeit bemüht: ,,Wir sind das Volk". Das legt den Schluss nahe, es bestünde zwischen dem SED-Politbüro und der Bundesregierung gar kein Unterschied – obwohl letztere aus freien Wahlen hervorgegangen ist und Ersteres nicht.

Wie man es auch dreht und wendet: Unverändert fühlen sich zahlreiche Ostdeutsche Umfragen zufolge als Bürger zweiter Klasse. Teilweise wird dieses Gefühl vererbt. Die Debatte über die Frage, ob die Ostdeutschen Opfer seien, wird deshalb weitergehen.


Aus: "Warum sich Ostdeutsche als Opfer fühlen" Markus Decker (27.09.2018)
Quelle: http://www.fr.de/politik/ostdeutschland-warum-sich-ostdeutsche-als-opfer-fuehlen-a-1590194 (http://www.fr.de/politik/ostdeutschland-warum-sich-ostdeutsche-als-opfer-fuehlen-a-1590194)

Quotedanica

Naja, wenn Leuten ein neues Regierungssystem aufgedrückt wird, die eine neue Hymne bekommen, eine neue Fahne, wenn sie zu tausenden ihre Stellen verlieren, ihre Rentenansprüche verlieren, ihre Ausbildungen und Studienabschlüsse nichts mehr wert sind, weil sie zu "Sozialistisch " sind, dann ist das, als habe an einen Krieg verloren und ein Besetzer habe sich das eigene Land angeeignet.
Man muss sich das psychologisch mal vorstellen: teilweise stehen in den Personalausweisen Geburtsstädte, wie es einfach nicht mehr gibt, die zwangsumbenannt wurden, ohne dass jemand gefragt wurde.
Und eigentlich heisst unser Grundgesetz ja nur Grundgesetz und nicht Verfassung, weil man nach der Wiedervereinigung eine neue Verfassung schreiben wollte. Aber leider wurde die DDR annektiert. Es fand keine Wiedervereinigung statt, Millionen Bürger waren von einem Tag auf den anderen Menschen zweiter Klasse. Es gab keine Parizipation, die so nötig gewesen wäre um den Glauben in die Demokratie zu festigen.


QuoteRickdiver

Klar sind sie Opfer. Sie haben 40 Jahre lang beigebracht bekommen, dass der Staat an allem Schuld ist und für sie zu sorgen hat. Und in diesem Weltbild leben einige noch weiter. Anstatt Eigeninitiative zu entwickeln und zu begreifen dass jeder selbst für sich verantwortlich ist sind sie Opfer ihres früher eingeprägten Glaubenssatzes dass ein andere für sie sorgen muss. Und wenns nicht läuft ist irgendjemand anders schuld, nur niemals sie selbst. Daher machen soviele ihr Kreuzchen bei der aFd weil sie Fremde als Ursache ihres persönlcihen Unglücks ausgemacht haben.


QuoteAvatar
granne

Die De-Industrialisierung und Dominanz westdeutschen Führungspersonals ( im Rahmen des Anschlusses) kann man auch als Kolonialgeschichte interpretieren. ...


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Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 07, 2018, 06:49:55 PM
Quote[...] Die Schriftstellerin Manja Präkels ist in der DDR aufgewachsen, die Wendezeit hat sie als Heranwachsende erlebt. Ein Gastbeitrag über den Normalitätsverlust, der nicht erst seit Chemnitz im Osten der Bundesrepublik zu beobachten ist.

Frage an Radio Eriwan: Ist es wahr, dass die DDR ein so kleines Land ist, dass man es mit einer einzigen unserer Atombomben vernichten könnte? Antwort: Im Prinzip ja, aber warum so einen Aufwand, wenn drei Zentimeter Neuschnee genügen?

In meiner Kindheit gab es jede Menge solcher Witze. Ich verstand sie nicht, lachte aber mit. Die Anfragen an den fiktiven Sender eröffneten den Menschen eine Möglichkeit, die irrsinnigen Widersprüche des Alltags im real existierenden Sozialismus zu meistern. Dass uns Kindern keiner die Witze erklärte, war normal. Irgendwann würden wir es schon kapieren. Doch dann versprach sich der Genosse Schabowski bei einer Pressekonferenz, und der Rest ist Geschichte: Die Mauer fiel. Die Normalität endete. Seither herrscht Ausnahmezustand. Zumindest für jene am Ende des Tunnels, wo das Licht nur als Gerücht existiert.

Spätsommer 1991. Wir sassen im Kinderzimmer eines Freundes und starrten fassungslos auf die Fernsehbilder. Die älteren Geschwister versammelten sich bereits vorm Rathaus. Sie hatten genug gesehen. In dem kleinen roten Apparat, den mein Freund zu seinem 15. Geburtstag geschenkt bekommen hatte, umzingelten Hunderte Menschen ein Haus. Sie planten offensichtlich, es zu stürmen. Oder es wenigstens anzuzünden. Sie schrien, hasserfüllt, hämisch. Und sahen dabei aus wie wir. Die klatschenden und johlenden Leute in den hinteren Reihen glichen unseren Eltern. Die bedrohten Menschen in den Häusern dagegen kamen vorwiegend aus Vietnam oder Moçambique, aus Staaten, mit denen die gerade erst untergegangene DDR Verträge ausgehandelt hatte, die dem Austausch von Know-how und Arbeitskräften dienen sollten. Sozialistische Bruderländer waren das, hatten wir in der Schule gelernt. Diese Frauen und Männer waren das Pendant zu den westdeutschen «Gastarbeitern». Nur hatten die DDR-«Vertragsarbeiter» meist kaserniert in abgeschotteten Heimen gelebt.

Nun eskortierten riesige Polizeiaufgebote die einstigen Brüder und Schwestern gen Westen, in Sicherheit. Weg von ihren ehemaligen ArbeitskollegInnen, die sich einem rasenden Mob angeschlossen hatten. Systemzusammenbruch in einem Ort, der eben noch als «sozialistische Musterstadt» gegolten hatte. Wir vor dem Fernseher weinten. Und wussten: Das war erst der Anfang. Wir mussten uns jetzt entscheiden: dabei sein oder sich verstecken. Die auf dem Rathausplatz feierten. So fing es an.

Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt aus dem thüringischen Jena – die späteren Kernmitglieder der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) – hatten die Bilder auch gesehen und sich schnell entschieden. Sie trafen und radikalisierten sich in einem Jenaer Jugendclub. Unter Angela Merkel, der ersten ostdeutschen Jugendministerin im Kabinett Kohl, versuchte man, der zunehmenden Verrohung und der die Mauerreste überspringenden Welle rechtsradikaler Gewalt mit dem Konzept der «Akzeptierenden Jugendarbeit» zu begegnen. Orte, an denen Neonazis besonders stark in Erscheinung traten, wurden mit finanziellen Mitteln und Stellen für SozialarbeiterInnen bedacht. So entstanden im Schutz staatlicher Einrichtungen Netzwerke, Musikgruppen – rechtsradikale Parallelgesellschaften. Die Jugendlichen trugen Springerstiefel und Glatzen und bildeten bald die Avantgarde der Schulhöfe.

Es gab auch Menschen, die sich ihnen und ihrer Angstlust entgegenstellten. Es weiterhin tun. Gesundheit und Leben riskierten und riskieren. Doch nicht selten wurden diese HeldInnen der Zivilgesellschaft aus den Kollegien, den Dorfgemeinschaften, Kleinstadtgesellschaften, ihren Sportvereinen ausgeschlossen. Als Unruhestifter. Nestbeschmutzerinnen. Nazis sind schlecht für das Image. Also gibt es sie besser nicht. Denn es kann nicht sein, was nicht sein darf. Oder?

Nicht ein einziges Mal war mir in den vergangenen 28 Jahren am Tag der Deutschen Einheit zum Feiern zumute. Das Land, in dem ich meine zur Neige gehende Kindheit verbracht hatte, versank in einer langen, trunkenen Nacht. Ich mochte die Fahnenappelle nie. Die Aufmärsche, die piefige Enge und Autoritätshörigkeit. Die Begrenztheit der Welt, die an einer Mauer endete. Wer könnte das schon vermissen? In unserer kleinen Stadt, unweit Berlins gelegen, juchzten und grölten sie vor den Gaststuben rund um das Rathaus. In schwarz-rot-goldene Fahnen gewickelt, fielen sich die Menschen befreit um die Hälse. Keiner wollte nach Hause gehen. Unweit des Trubels fragte ich mich, im Bett liegend, wie nun alles werden würde. Am nächsten Tag. Wenn wir in einem fremden Land erwachen würden. Ganz ohne Umzug. Im Westen.

Eben waren wir noch Teil Osteuropas gewesen. Hatten die Werktätigen am 1. Mai, dem Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse, Losungen in den Frühlingshimmel gerufen: «Es lebe der feste und unzerstörbare Bruderbund zwischen der DDR und der Sowjetunion!» Schliesslich lebten immer noch Zehntausende Rotarmisten mit ihren Familien direkt bei uns im Wald, in einer riesigen Kasernenstadt mit kyrillischen Schriftzeichen, einer eigenen Schule, Läden und einem Kulturhaus. Ich war manchmal dort gewesen. Und nun?

In der Nacht zum ersten Tag der Deutschen Einheit zündeten Kinder das Asylbewerberheim an – draussen, gleich vor den Toren der Stadt. Ihre grossen Geschwister hatten sie, die noch nicht strafmündig waren, aufgehetzt. Zum Glück wurde niemand verletzt. Anders als im nordrhein-westfälischen Hünxe, wo drei Neonazis Brandsätze in das Kinderzimmer einer libanesischen Flüchtlingsfamilie geworfen hatten. Zwei Mädchen erlitten schwerste Verletzungen und überlebten, für ihr Leben gezeichnet. Der Spiegel titelte: «Das Boot ist voll». Helmut Kohl hatte bereits 1983 klargestellt: «Deutschland ist kein Einwanderungsland.» Das doppelt deutsche Land entpuppte sich nun als mörderisches Pflaster für jene, die nicht als zugehörig betrachtet wurden. Den «Gastarbeitern» im Westen, ihren Kindern und EnkelInnen, blies der völkische Einheitstaumel kalt entgegen. Mitunter tödlich. Die Bundesregierung spricht von 83 Toten seit der Wiedervereinigung. Recherchen der «Zeit» und des «Tagesspiegels» ergaben, dass seit 1990 in Deutschland mindestens 169 Menschen von Neonazis und anderen extrem Rechten getötet wurden. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.

Der Systemzusammenbruch hatte in Ostdeutschland alle Autoritäten ausser Kraft gesetzt. Neue formierten sich schwerfällig, unvermittelt. Die soziale Katastrophe hingegen, die Millionen in kürzester Zeit in Massenarbeitslosigkeit stürzte, war körperlich spürbar, betraf alle Familien. Das war nichts, das sich so einfach wegschmeissen liess. Wie ein Parteiausweis, eine Gesinnung. Es setzte eine Abwanderungswelle sondergleichen ein. Binnen vier Jahren zogen 1,4 Millionen Menschen, vor allem junge Frauen und gut ausgebildete Fachkräfte, fort, gen Westen. Die Deindustrialisierung ganzer Landstriche liess Ruinen zurück, Denkmale einer vergangenen Epoche.

Mit den roten Fahnen war jede Idee von Zukunft verbannt worden. Und wehe, es traute sich einer, daran zu erinnern. Misstrauisch beäugten Nachbarinnen und Freunde einander. «Du rote Sau», riefen sie meiner Mutter hinterher. Nicht ohne Grund. Der Tonfall machte Angst. Und das sollte so sein. Meine FreundInnen und ich, Jungs und Mädchen mit selbstgeschnittenen oder gar keinen Frisuren, Unangepasste, die sich der neuerlichen Uniformierung auf den Schulhöfen verweigerten, wurden durch die Strassen gejagt. Von Mitschülern, Nachbarskindern, einstigen Freundinnen.

Die Welt war live dabei, als im Sommer 1992 das Rostocker Sonnenblumenhaus brannte. Tausende jubelten den Flammen zu. Nur durch Zufall kam niemand ums Leben. In der Folge passierte der sogenannte Asylkompromiss am 26. Mai 1993 den Deutschen Bundestag. Diese drastische Einschränkung des Asylrechts schien den BrandstifterInnen recht zu geben. Sie gingen als SiegerInnen aus der Schlacht hervor. Machten auch vor den Kasernen der heimatlos gewordenen SowjetsoldatInnen nicht mehr halt, schmissen Molotowcocktails gegen die Tore und hatten nichts zu befürchten. Die Polizei schaute zu. Die Rote Armee war besiegt. Die Nazis stiegen nicht aus Gräbern, vielmehr schienen sich ihre Geister der Körper und Köpfe ihrer Enkel und Urenkelinnen bemächtigt zu haben. Sie jagten die «Russen» in rasender Wut aus Gaststätten und Diskotheken, warfen Leute aus Fenstern.

Ende 1991 war auch die Sowjetunion untergegangen. Nun, nur drei Jahre später, zogen die letzten der einst 500 000 auf ehemaligen preussischen Militärgeländen stationierten SoldatInnen aus Berlin und Brandenburg ab. Einige meiner FreundInnen, Überflüssige, die direkt aus der Schule in die Arbeitslosigkeit entlassen worden waren, würden später im Rahmen von «Arbeitsbeschaffungsmassnahmen» die ehemaligen Truppenübungsplätze von Kampfmitteln beräumen. In den Diskotheken spielten sie «Go West» von den Pet Shop Boys rauf und runter. Neue Zeit. Neues Leben. Oder?

Als vor wenigen Wochen die Bilder aus dem sächsischen Chemnitz durch das Netz schossen, war ich wenig überrascht. Rund um die monumentale Büste von Karl Marx, nach dem die Stadt zu DDR-Zeiten benannt war, hatte sich erneut ein wütender Mob versammelt. Hitlergrüsse. Hass. Schnappschüsse zeigten Menschen, die wegrannten. So merkwürdig vertraut wirkten auch die abwehrenden Reaktionen des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) und des da noch amtierenden Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maassen (CDU), dies seien keine Menschenjagden gewesen, sondern der Versuch Linksradikaler, vom eigentlichen Opfer abzulenken. Eine Ansicht, die Innenminister Horst Seehofer (CSU) unterstützte und damit die Bundesregierung in eine schwere Krise stürzte. Weil, was nicht sein darf, nicht sein kann? Aus eigener Überzeugung? Oder weil man besser mit den Wölfen heult als gegen sie – so kurz vor der Wahl in Bayern?

Im Kleinen war ich diesem ritualisierten Herunterspielen und Leugnen bereits Mitte der Neunziger als junge Lokaljournalistin in Brandenburg begegnet. Die Imagepflege und die Angst, mögliche Investoren abzuschrecken, waren stets wichtiger als Aufklärung. Darüber und über meine Kindheit im verschwundenen Land, über Freundschaft und Wut habe ich ein Buch geschrieben. Seit nunmehr einem Jahr toure ich damit durch das zerrissene Land. Mein erstes Interview gab ich einer Journalistin aus der Schweiz, die mir, obschon es rund um die Ankunft zahlreicher Kriegsflüchtlinge aus Syrien und Somalia bereits wieder heftige Auseinandersetzungen und brennende Flüchtlingsheime im Land gegeben hatte, meine Geschichte nicht glaubte. «Ich halte das für stark übertrieben», sagte sie und liess mich ratlos zurück. Hatte ich das Buch nicht genau deshalb geschrieben? Weil mir in all den Jahren kaum einer zugehört, geschweige denn geglaubt hatte? Erst kürzlich erklärte mir ein westdeutscher Kollege: «Wir haben damals gar nichts davon mitbekommen.» Eine Mischung aus Ignoranz und Ahnungslosigkeit hatte sich da breitgemacht. Bequem und gefährlich.

Bei einer Lesung im sächsischen Wurzen kam es zu einer Unterbrechung. Ein junger Mann erklärte: «Achtung, Leute, sie versammeln sich am Bahnhof. Geht nicht da lang.» Die Warnung hatte ihn über eine entsprechende Whatsapp-Gruppe erreicht. Später berichtete ein lokaler Abgeordneter von Steinwürfen auf sein Haus, Bauschaum im Auspuff, von lockergedrehten Radschrauben. Anschläge auf ihn, seine Familie, seine Arbeit. «Das ist hier normal.» Mein Hotel lag am Bahnhof. Im Flur stapelten sich die Ausgaben der «Jungen Freiheit», dem Sprachrohr der Neuen Rechten, treue Begleiterin des Aufstiegs der AfD.

Im thüringischen Ranis las ich vor Schulklassen. Die Mädchen und Jungen waren fünfzehn, so wie ich, als die Mauer fiel. Sie hörten halbwegs geduldig zu und stellten keine Fragen. Eine Lehrerin versuchte, die peinliche Stille zu unterbrechen: «‹Judensau›, das ist bei uns auf dem Schulhof ein normales Schimpfwort geworden.» Gesenkte Blicke. Nach der Veranstaltung hörten ein paar Jungs draussen extra laute Hassmusik. Einer zeigte den Hitlergruss. Die Erwachsenen reagierten nicht. Normal. Die Geschichtslehrerin sagte: «Früher haben mich Schüler als Lügnerin beschimpft. Heute denken sie es nur und schreiben eine Eins im Test.»

Christian Hirte war dreizehn, als die Mauer fiel. Er ist seit kurzem Ostbeauftragter der Bundesregierung. «Ich bin der festen Überzeugung, dass die übergrosse Mehrheit der Ostdeutschen mit rechtsradikalen Spinnern, die den Hitlergruss zeigen oder ein jüdisches Geschäft angreifen, genauso wenig zu tun haben will wie mit linksradikalen Spinnern, die marodierend durch Hamburg ziehen», meint er. Die AfD wurde in seinem Wahlkreis mit 22,3 Prozent zweitstärkste Kraft. Deren prominentester Vertreter vor Ort ist Björn Höcke, ein ehemaliger Geschichtslehrer, der die offen völkisch-rassistische Fraktion der Partei repräsentiert. Im kommenden Jahr will Höcke als Ministerpräsident Thüringens kandidieren. Er stammt – ebenso wie Bodo Ramelow, der aktuelle Amtsinhaber der Partei Die Linke – aus Westdeutschland. Ostdeutsche sind unter den EntscheidungsträgerInnen aller gesellschaftlichen Bereiche stark unterrepräsentiert.

Das ist kein Geheimnis. Man kann es alljährlich im «Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit» an konkreten Zahlen überprüfen. Christian Hirte kommentierte die aktuelle Ausgabe mit den Worten: «Ich will Lobbyist der Ostdeutschen sein.» 1993 war er mit siebzehn Jahren in die Junge Union eingetreten. Dann: Jurastudium in Jena. Genau in der Zeit, als dort der rechtsextreme Thüringer Heimatschutz gegründet wurde – mit zahlreichen Verbindungen zum Verfassungsschutz. Seit 2008 sitzt Hirte im Bundestag, die partielle Blindheit scheint ihn dorthin begleitet zu haben. Doch auch seine zurückgebliebenen ParteifreundInnen sind nicht frei davon. Erst im vergangenen Jahr beschloss der Erfurter Landtag, der Opfer des NSU-Terrors mit einem Mahnmal zu gedenken und einen Hilfsfonds für die Hinterbliebenen einzurichten. Die CDU stimmte gemeinsam mit der AfD dagegen. Ist ja schliesslich erledigt, das Thema. Oder?

«Sechs Festnahmen in Chemnitz» und «Neonazis planten Terroranschlag am Tag der Deutschen Einheit», titelte am letzten Montag ein grosses Boulevardblatt – 27 Jahre nach dem Pogrom von Hoyerswerda und 20 Jahre nachdem sich die untergetauchte NSU-Zelle um Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe in Chemnitz niedergelassen hatte. Die rassistischen Ausschreitungen, die die Stadt wenige Wochen zuvor in die Schlagzeilen gebracht hatten und die es laut Landesregierung, Bundesamt für Verfassungsschutz und Bundesinnenminister so gar nicht gegeben haben soll, seien so etwas wie der Probelauf für grössere, schlimmere Angriffe gewesen. Die Nachricht verdrängte eine andere. Wenige Tage zuvor waren, anlässlich des Staatsbesuchs des türkischen Präsidenten, BeamtInnen eines sächsischen Sondereinsatzkommandos nach Berlin entsandt worden. Ihre Einheit war schon einmal in die Schlagzeilen geraten – wegen ihres Logos, das deutlich an NS-Symbole erinnerte. Diesmal hatten sich zwei aus der Truppe in einer Dienstliste als «Uwe Böhnhardt» eingetragen. Einzelfälle?

Seit dem Fall der Berliner Mauer sind fast drei Jahrzehnte vergangen. Die ostdeutsche Wirtschaft hat sich stabilisiert, die Arbeitslosenzahlen sind rückläufig. Aber die Kontinuität rechter Gewalt ist geblieben und mit ihr ein nahezu reflexhaftes Verleugnen der Opfer. Der müden HeldInnen auch, die das Land mit ihrem Engagement dort zusammenhalten, wo sich staatliche Institutionen nach 1990 nie etabliert oder längst wieder zurückgezogen haben. Die gewaltbereite rechtsextreme Szene wächst weiter. In den Abgeordneten der Alternative für Deutschland findet sie parlamentarische Unterstützung für ihre Themen und Haltungen. Die anderen Parteien ziehen nach. Selbst links der Mitte wird heute viel über Identitätsverlust diskutiert, werden nationalistische Perspektiven wieder salonfähig. Dabei geht es heute wie vor 28 Jahren vor allem um Normalitätsverlust – die Auflösung dessen nämlich, was wir gestern noch als grundlegende gesellschaftliche Prinzipien, als Regeln eines zivilisierten Miteinanders kannten. Dazu gehört es auch, die Sorgen von achtzehn Millionen Menschen mit Migrationshintergrund ernst zu nehmen. An jedem Tag.

Die Schriftstellerin und Musikerin Manja Präkels, Jahrgang 1974, lebt und arbeitet in Berlin. Letztes Jahr erschien ihr Debütroman «Als ich mit Hitler Schnapskirschen ass» im Verbrecher-Verlag. Für das Buch wurde sie mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet.


Aus: "Ostdeutschland: Seither herrscht Ausnahmezustand" Manja Präkels, Berlin (Nr. 40/2018 vom 04.10.2018)
Quelle: https://www.woz.ch/1840/ostdeutschland/seither-herrscht-ausnahmezustand (https://www.woz.ch/1840/ostdeutschland/seither-herrscht-ausnahmezustand)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 07, 2018, 07:23:30 PM
Quote[...] Unser Autor ist vor Neonazis weggelaufen und er war mit Rechten befreundet. In den Neunzigern in Ostdeutschland ging das zusammen. Und heute?

Die eigene Hässlichkeit kann ein Rausch sein. Wenn man sie umarmt und das Grauen in den Gesichtern derer sieht, die einen beobachten und verachten, aber sich nicht an einen herantrauen, dann strömt Macht durch die Adern wie elektrischer Strom.

Als ich bei über hundert Kilometern pro Stunde einem BMW hinter uns auf die Motorhaube pisse, spüre ich diese Macht. Als ich da im Dachfenster stehe, die Hose bis zu den Oberschenkeln heruntergelassen, sehe ich das große weiße Gesicht des Fahrers: Die Augen geweitet, vor Schreck, Entsetzen, Empörung, bläht es sich auf wie ein Ballon, ich würde gern mit einer Nadel hineinstechen.

Ich bin neunzehn, ich bin zehn Meter groß und acht Meter breit, ich bin unverwundbar.

Als am 27. August 2018 Männer meiner Generation, so um die vierzig, in Chemnitz einen ,,Trauermarsch" veranstalten und einige ihre nackten Hintern in die Kameras halten, wie man es bei YouTube sehen kann, denke ich an meine Autobahnfahrt. Als schwere Männer Hitlergrüße zeigen und Menschen angreifen, deren Hautfarbe ihnen nicht passt, als die Polizisten nicht einschreiten, bin ich paralysiert, als würde etwas Dunkles hochkommen, von dem ich dachte, ich hätte es hinter mir gelassen. Aber ich erinnere mich auch an diesen Machtrausch, den Kick, wenn du jemandem klarmachst: Regeln? Und was, wenn ich auf deine Regeln scheiße, mein Freund? Was dann?

Ich sehe Chemnitz und frage mich: Was habt ihr mit mir zu tun? Was ich mit euch?

Zum Tag der Deutschen Einheit wird es wieder die geben, die erzählen, warum die Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte ist. Schon das Wort ,,Wiedervereinigung" ist eine Lüge, werden die anderen sagen, die vor allem sehen, was verloren ging: Betriebe, Selbstachtung, ganze Leben. Gerade sind die besonders gut zu hören, die sagen: Erkennt endlich die Leistungen derjenigen an, die sich eine neue Welt aufbauen mussten. Die auch oft sagen: Lasst mich in Ruhe mit den Opfergeschichten, wir sind stolz auf das, was wir geschafft haben, selbst wenn wir gescheitert sind.

Gerade, fast dreißig Jahre nach der Wende, erzählt die Generation meiner Eltern und Großeltern ihre Geschichten. Nicht das erste Mal, aber es scheint die richtige Zeit zu sein. Die sächsische Staatsministerin für Integration, Petra Köpping, hat einige dieser Geschichten aufgeschrieben in ihrem Buch ,,Integriert doch erst mal uns!" und sie füllt in Ostdeutschland zur Zeit jedes Haus.

Es geht viel um verlorene Arbeitsplätze und ja, das klingt hübsch technisch, wie ein leicht lösbares Problem. Aber in diesem preußischen Vollbeschäftigungsstaat namens DDR, in dem Arbeit gleich Lebenssinn war und die wenigen, die keine Jobs hatten, ,,Assis" gerufen wurden, bedeutete das eben auch: Kollegen, Brüder, Ehemänner, die sich erhängten, Geschwister und Cousins, die sich langsam zu Tode soffen, Familien, in denen es erst heiß aufwallte wie in einem Vulkan, weil einer jetzt mehr hatte als die anderen und dann erstarrte alles zu einer toten Landschaft kalter Schlacke. Frauen, die so sehr anpackten, um sich, ihre Männer und ihre Kinder durchzubringen, bis nichts mehr von ihnen übrig blieb als der Wille ,,es zu schaffen".

Ist da noch Platz für die Erzählungen der neunziger Jahre aus der Sicht derjenigen, die beim Fall der Mauer zu alt waren, um nichts von der Vergangenheit mitbekommen zu haben, aber zu jung um mitzureden, wie die Zukunft aussehen sollte? Über das Jahrzehnt, in dem auch die Menschen aufgewachsen sind, die heute Hitlergrüße zeigen und brüllen?

,,Mit den neunziger Jahren verbinde ich persönliche Erlebnisse, die derzeit wieder hochkommen", sagt Manja Präkels, ,,und wenn ich im Land unterwegs bin, sehe ich jetzt oft genau die Leute bei der AfD wieder, die sich als Sieger der Kämpfe der neunziger Jahre begreifen."

Präkels hat das Buch ,,Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß" geschrieben, über die letzten Tage der DDR und das barbarische Jahrzehnt, das Ostdeutschland danach erlebte. Präkels ist 1974 geboren und in Zehdenick aufgewachsen, einer Stadt nördlich von Berlin. Ihr Buch ist neben ,,Oder Florida" von Christian Bangel der zweite Roman mit autobiografischen Zügen, der im vergangenen Jahr erschienen ist und vom Ostdeutschland der neunziger Jahre handelt.

Ich habe sie angerufen, um sie zu fragen, ob auch sie sich an damals erinnert fühlt, wenn sie die Bilder aus Chemnitz und Köthen sieht. Sie sagt, wenn sie auf Lesereisen unterwegs sei oder bei Tagungen, dann treffe sie auf Rechtsextreme, die angetrieben sind von dem, was sie damals erreicht haben in Rostock-Lichtenhagen und bei den vielen kleineren Feuern, die kaum jemand sah. ,,Sie begreifen sich als Sieger dieser Kämpfe", sagt Präkels, ,,weil nichtweiße Menschen damals aus Ostdeutschland abtransportiert worden sind. Das hat die Gewalt jener Jahre in ihren Augen nachträglich legitimiert."

Wann fängt man also eine Geschichte über damals an? Für mich begann es nicht 1989. Für mich begann es in der DDR.

In der zweiten Klasse malt Ricardo mit dem Bleistift ein Hakenkreuz auf die Schulbank. An sich nichts Besonderes, auch ich habe das schon gemacht, einmal an einem Junitag 1987, während ich in mein Diktatheft krakele: ,,Heute kommt unsere Mutter spät nach Hause. Wir wollen helfen." Hakenkreuze malen ist das Verbotenste, was ich mir vorstellen kann. Jedes Mal brüllt ein kleines Tier in meinem Brustkasten seine Freude darüber hinaus, nicht erwischt worden zu sein. Die Kunst ist, aus dem Hakenkreuz gleich wieder ein kleines Fenster zu machen, bevor einen jemand sieht.

Aber Ricardo ist zu langsam gewesen oder vielleicht hat er vergessen, die Striche weiter zu ziehen, ich sehe es, zwei Freunde sehen es, wir nehmen ihn uns vor, als die Lehrerin nicht im Klassenzimmer ist. Es ihr zu sagen, geht nicht. Eine Petze zu sein, war schlimmer als alles andere. Wir müssen das unter uns regeln.

,,Du weißt, dass das falsch war?", frage ich.

Er heult. Er ist schwerer als ich und größer, aber er versucht nichts, zwei andere Jungs aus der Klasse stehen neben ihm. ,,Nimm die Brille ab", sage ich. Ricardo heult noch ein bisschen mehr, er fleht mit großen Augen und ja, na klar, wohnen wir im gleichen Block und ja, wir wollen uns am Nachmittag wieder beim Sandkasten vor dem Haus treffen, aber erst einmal muss das hier erledigt werden.

Der im sozialistischen Jugoslawien geborene Schriftsteller Tijan Sila hat dieses Verhalten von Jungen in seinem Buch ,,Tierchen Unlimited" so beschrieben: ,,Die Erziehung von Grundschülern sollte das Ethos der Partei spiegeln, und das erschloss sich mir damals nur in Gegensätzen: oben ein kaltes, appolinisches Gesicht, das Keuschheit, Nüchternheit und Leidensfähigkeit forderte, und darunter ein triebhafter, dämonischer Torso, der Härte, Kampf, Rivalität oder Opfer gut fand." Vielleicht blieb dieser Torso übrig, als der Kopf mitsamt der DDR verging.

Ums Kämpfen ging es in der DDR oft, die größten Kämpfer waren die, die nicht mehr lebten: die kommunistischen Antifaschisten, die in den Lagern gestorben waren, damit wir es besser hatten. Von Wandbildern und aus unseren Schulbüchern blickten uns muskulöse weiße Männer an. Von den Juden erzählten unsere Lehrerinnen nur, dass die Nationalsozialisten sie umgebracht hatten. Gekämpft hatten sie jedenfalls nicht.

Auf dem Nachhauseweg von der Schule erzählen wir Jungs uns Judenwitze. Zu viert oder zu fünft laufen wir über Kopfsteinpflaster und schwarzen Sand nach Hause, am Friedhof und an der Kneipe vorbei hin zu den vier Neubaublöcken am Rande des Dorfes.

Einer fragt: ,,Was ist der Hauptgewinn in der KZ-Lotterie?"

Ich sage: ,,Kenn ich doch schon. Eine Platzkarte in der Gaskammer."

Später habe ich unsere Witze in dem Buch ,,Das hat's bei uns nicht gegeben!" wiedergefunden. Veröffentlicht hat es vor einigen Jahren die Amadeu Antonio Stiftung, benannt nach einem angolanischen Vertragsarbeiter, den junge Männer 1990 in Eberswalde so lange schlugen, bis er ins Koma fiel und später starb.

Woher wir unser Witze hatten, weiß ich nicht mehr. Es hätte sie gar nicht geben dürfen. In der Verfassung der DDR stand, der Faschismus sei besiegt. Und weil er nun einmal besiegt war, durfte er nicht existieren. Die Staatssicherheit, das lässt sich in dem Buch der Stiftung ebenso nachlesen wie in den Berichten des Geheimdienstes selbst, nannte Hakenkreuze auf jüdischen Friedhöfen und Neonazis, die andere Menschen zusammenschlugen, ,,Rowdytum" und tat so, als gäbe es keinen politischen Hintergrund. Punks und alle, die anders aussahen als sich die sozialistische Elite ihre Bürger vorstellte, verfolgten Geheimdienst und Polizei dagegen hart als Auswüchse einer Dekadenz, die nur aus dem Westen kommen konnte.

Daran knüpft die AfD heute an. Die Partei setzt wie keine andere darauf, eine ostdeutsche Identität zu feiern und zu fördern. In Wahlkämpfen und Reden umwerben ihre Politiker die Menschen damit, wie fein deutsch und wenig verfremdet es in Ostdeutschland so zugehe. Und die Erzählung vom unpolitischen Rowdytum scheint bei vielen Polizisten ebenfalls heute noch zu funktionieren.

War das in der Bundesrepublik denn besser? Klassische Frage, die immer kommt, wenn man etwas über die DDR schreibt. Vielleicht ließe sich sagen, es gab in Westdeutschland wenigstens die Chance auf ein öffentliches Gespräch. In der DDR lief so eine Serie wie ,,Holocaust" nicht im Fernsehen, die Leute konnten danach nicht darüber reden, sich aufregen oder weinen – zu Hause, in der Kneipe, im Bus. Und bei allem Verständnis für den Willen, sich von Westdeutschen nicht mehr das eigene Leben ausdeuten zu lassen: Ist es wichtiger, das Andenken an die DDR zu retten oder sich Gedanken darüber zu machen, warum die eigenen Kinder von Nazis gejagt werden oder selbst andere jagen?

Nach dem Überfall von Neonazis auf ein Punk-Konzert in der Ostberliner Zionskirche 1987 wollte das Zentralkomitee der SED dann doch einmal die neonazistischen Umtriebe untersuchen. Die Forscher registrierten 1988 bis zu 500 Taten aus dem rechtsextremen Milieu pro Monat. Die Ergebnisse verschreckten die Machthaber so sehr, dass sie sie gleich wieder wegschlossen. Der Oberstleutnant der Kriminalpolizei, der das Team geleitet hatte, wurde ab da von der Stasi beobachtet.

Wir lesen ,,Pawel" in der vierten Klasse. Wir haben das grüne Schulbuch vor uns auf dem Tisch liegen, wir lesen abwechselnd ein paar Sätze vor. Ein Leutnant der Wehrmacht sitzt am Rande eines brennenden sowjetischen Dorfes und sieht einen spielenden Jungen. Er denkt: ,,Worin besteht der Unterschied zwischen diesem und einem deutschen Kind?" Er rettet den Jungen vor dem heranrasenden Auto eines Feldwebels, sie fliehen zusammen zu sowjetischen Soldaten und der Leutnant kehrt an der Seite der Roten Armee nach Deutschland zurück. Fünfeinhalb Seiten dauert die Transformation des Nazi-Offiziers zum Kommunisten und sie beschreibt in ihrer kindgerechten Kürze recht gut den antifaschistischen Mythos der DDR. Der Staat musste ein paar Verführer bestrafen, den großen Teil seiner Bürger konnte er dann, ohne groß über die Vergangenheit zu reden, zum Aufbau des neuen Staates einsetzen.

Zugleich wussten wir wenig vom Fremden. Selbst unsere angeblichen Brüder kannten wir nicht. ,,Wir zeigen unsere freundschaftliche Verbundenheit mit dem Sowjetvolk", schreibe ich am 8. Mai in meinen Heimatkundehefter. Aber wir sehen sie kaum, obwohl viele Kasernen gar nicht so weit weg sind. Manchmal marschiert ein Trupp mit Kalaschnikows auf dem Rücken an unserem Kindergarten vorbei und wir drücken uns an den Zaun und sehen ihnen nach. ,,Scheißrussen", sagt ein Junge neben mir, und als ich ihn frage warum, sagt er: ,,Wenn der blöde Hitler unsere Wehrmacht nicht kaputt gemacht hätte, wären die jetzt nicht hier." Das hatte ihm jedenfalls sein Vater erzählt.

Wir wussten nicht, wer die Juden waren. Wir wussten nicht, wer die Russen waren. Wer die Nazis waren, wussten wir. Der Nazi war einer, der aus dem Westen kam. Der Kapitalismus galt als Vorstufe des Faschismus, und tatsächlich saßen ja noch alte Nazi-Eliten auf genügend Machtpositionen, um die als Beweis zu präsentieren. Als die Staatssicherheit 1960 im Bezirk Rostock eine ,,Aufstellung über Hakenkreuzschmierereien" mit über fünfzig Delikten erstellte, sagte der Leiter der Bezirksverwaltung, diese seien ,,Teil der Provokation aus Westdeutschland". In ,,Käuzchenkuhle", einem der bekanntesten Jugendbücher der DDR, löst ein Junge zusammen mit seinen Freunden einen Kriminalfall, bei dem ,,der Fremde", ein ehemaliger SS-Mann aus Westdeutschland, zurückkehrt, um alte Nazi-Raubkunst zu bergen. Noch 2006 erklärte mir der SPD-Innenminister eines ostdeutschen Bundeslandes vor einem Interview, das Naziproblem käme aus dem Westen und, nein, in der DDR habe es das nicht gegeben.

Der Fall der Mauer brach mir das Herz. Ich hatte Angst vor dem Westen, vor den Faschisten, einfach davor, dass alles, was ich kannte, kaputt gehen könnte.

Die Erwachsenen rührten keinen Finger. Sie saßen vor dem Fernseher und sahen sich Demonstrationen an. Sie unterrichteten uns weiter in der Schule, als sei alles völlig normal. Dass wir wirtschaftlich keine Chance hatten, war mir ja klar, jeder Junge, der wusste, wo die Matchboxautos herkamen, begriff das. Aber mein Vater war Oberstleutnant der verdammten Nationalen Volksarmee, er hatte mal dreißig Panzer kommandiert, wo waren die denn jetzt?

Ich wollte eine chinesische Lösung, ich wollte Tiananmen-Platz in Berlin und Leipzig. Als mein Vater, der Feigling, nicht loszog, um die Irren da draußen zu stoppen, überlegte ich, wie ich ihm seine Makarow-Dienstpistole klauen könnte. Mein Plan war, in Westberlin ein paar Leute zu erschießen und einen Krieg zu provozieren. Denn den, da war ich mir sicher, den würden wir gewinnen.

Wir fuhren mit dem Begrüßungsgeld nach Berlin-Spandau. Bei Karstadt kaufte ich mir ein Telespiel, einen kleinen blauen Computer, mit dem ich Eishockey zocken konnte.

Mit jedem neuen Level wurde der Puck schneller und schwieriger zu erreichen. Es fing mit Piep – piep – piep an und steigerte sich pieppiep pieppiep pieppiep bis zu pipipipipipip. Wie hypnotisiert starrte ich auf die kleine blinkende Scheibe, bis die Welt um mich herum nur noch gedämpft zu hören war, wie hinter Watte. Die Erwachsenen hatten mich verraten, ich hatte mich für ein Computerspiel verkauft. Ich war wütend, aber ich hatte keine Ahnung auf wen.

,,Du warst im HJ-Modus", hat zwei Jahrzehnte später ein Freund zu mir gesagt, ,,wie die Hitlerjungen beim Volkssturm". Da wohnte ich schon lange in Berlin. Er hatte in den Jugoslawien-Kriegen genügend Jungen gesehen, die für Wut, Angst und Ohnmacht ähnlich der meinen gestorben waren.

In der zweiten Klasse sangen wir: ,,Soldaten sind vorbeimarschiert, die ganze Kompanie. Und wenn wir groß sind, wollen wir Soldat sein so wie sie." In unserem Musikbuch standen Lieder über den Frieden auf der Welt und ,,Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm." Aber eben auch: ,,Mein Bruder ist Soldat im großen Panzerwagen, und stolz darf ich es sagen: Mein Bruder schützt den Staat."

Vor wem der große Bruder uns schützte, war klar: Vor dem Westen. Aber niemand schützte mich jetzt. Kämpfen wollte ich, aber gegen wen? Wohin fliegt eine Rakete mit einem Freund-Feind-Zielsystem, wenn die eigenen Eltern zum Gegner übergelaufen sind?

War ich der einzige, dem es so ging? Ich weiß es nicht, ich habe mich mit Freunden nie darüber unterhalten.

Der Zerfall beginnt im Fernsehen. Ich sehe weinende Menschen, starre Menschen, graue Menschen, meistens vor irgendwelchen Schornsteinen oder Werktoren und immer macht irgendetwas zu. Dann zerfallen die Männer auf dem Dorf. Wenn ich von der Schule komme, sitzen sie an den Garagen. Sie haben früher Kräne gefahren, große russische Traktoren und Mähdrescher. Jetzt erzählen sie sich Witze über ihre Frauen, die mit irgendwelchen Putzjobs oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen versuchen, die Familien über Wasser zu halten. Sie sagen: ,,Die Alte nervt". Dann trinken sie noch einen Schnaps. Oft reden sie gar nicht.

In den Zeitungen, im Radio, im Fernsehen lesen, sehen und hören wir die passenden Botschaften dazu. Ostdeutsche sind zu doof, sich in der neuen Welt zurecht zu finden. Ostdeutsche sind faul. Ostdeutsche sind betrunken. Erst schäme ich mich noch, dann schaue ich der geworfenen Scheiße belustigt beim Fliegen zu und noch später bin ich stolz darauf, dass ,,wir" härter sind als die so leicht zu schockierenden Wessis, die ihr ganzes Leben als Kausalzusammenhang erzählen können, in dem es für alles einen guten Grund und keine dunklen Flecken gibt. Es kann auf eine dämonische Art befreiend sein, wenn von dir und den Leuten um dich herum nur noch das Schlechteste erwartet wird. Als Zwölf- oder Dreizehnjähriger sehe ich das noch nicht, ich sehe nur die Männer in ihren Garagen und ich sehe meine Zukunft.

Mein Vater trinkt dort nicht. Die Bundeswehr hat ihn übernommen. Im Frühjahr 1992 werden sie bei der Kontrolle eines sowjetischen Stützpunkts beschossen. Mein Vater verlässt die Armee und verkauft später Versicherungen. So wie viele andere Männer aus der Polizei, dem Ministerium für Staatssicherheit und der Nationalen Volksarmee. Ein Abstieg war es, aber er war nicht so hart.

Im Fernsehen sieht man Häuser brennen, in denen vietnamesische Vertragsarbeiter leben. Man sieht Männer, die mit Gehwegplatten auf Menschen werfen. Ich sehe, wie die Polizisten verloren vor der Meute stehen. Ich sehe, wie sie zurückweichen.

,,Offenbar ist vielen im Westen nicht klar, dass in Ostdeutschland zwei Generationenkohorten existieren, deren kollektive politische Erfahrung sich daraus speist, ein politisches System gestürzt und anschließend den neuen Staat in Hoyerswerda und Rostock gezwungen zu haben, vor ihrem rassistisch motivierten Willen zurückzuweichen." Das schreibt der Rechtsextremismus-Experte David Begrich nach den Märschen von Chemnitz in einem Text, den viele auf Facebook teilen. Begrich war damals in Rostock-Lichtenhagen, er war einer derjenigen, auf den die grölenden Männer Gehwegplatten warfen.

Bis Ende der neunziger Jahre weicht dieser neue Staat zurück – in den Kleinstädten und Dörfern. Viele Menschen, die so alt sind wie ich, rechnen nicht mehr mit ihm. Wir sehen alle dasselbe: Es kommen keine Polizisten, wenn dreißig Kahlrasierte vor einem Jugendklub auftauchen und Leute vermöbeln oder sie kommen nur zu zweit und bleiben dann in ihren Autos sitzen. Was sollen sie machen? Selbst verdroschen werden? Das passiert manchmal auch.

Die große Macht der Volkspolizisten ist ebenso gebrochen wie die unserer Lehrerinnen. In der DDR konnten diese Autoritäten noch im Alleingang ganze Biografien versauen – du darfst studieren und du nicht – und jetzt lachen wir sie aus, wenn sie vor uns stehen. Wir lachen, bis sie heulen. Sie haben Angst vor der neuen freien deutschen Jugend.

Heute bin ich öfter in osteuropäischen Staaten unterwegs, die früher ebenfalls sozialistisch waren. Wenn ich dort mit Leuten meines Alters über die Brüche der Neunziger rede, die Barbarei, die Entgrenzungen, die sie oft härter und krasser beschreiben, weil es dort härter und krasser war als in Deutschland, dann finde ich bei ihnen ein Verhältnis zur Polizei, was mich an meines damals erinnert: irgendetwas zwischen Furcht und Verachtung.

Und natürlich sind das heute nicht die Neunziger, der neue Staat hat sich konsolidiert. Aber wenn wie in Chemnitz dann doch zu wenige Polizisten dort stehen, wenn Beamte in Köthen eine rechtsextreme Rednerin bei ihren Vergasungs- und Mordfantasien nur filmen, statt sofort in die Demo zu gehen, dann bestärkt das Nazis wie ihre Gegner in dem, was sie gelernt haben: Der Staat weicht zurück.

Nach dem Mauerfall lernte ich noch etwas, in den folgenden Jahren, als die Liste der Toten immer länger wurde: Du kannst sterben, ganz leicht. Wenn in einer Horde von Nazis nur ein Psycho dabei ist, nur einer, dem deine Fresse nicht gefällt und der dann nicht aufhören kann, dann bist du tot. Manche Bekannte bildeten sich ein, sicher zu sein, weil sie weiß waren. Sie glaubten, sich verstecken zu können. Aber wer anders ist und wer nicht, das legst nicht du selbst fest, sondern der Nazi. Es starben Mahmud Azhar und Farid Guendoul ebenso wie Wolfgang Auch und Horst Hennersdorf.

Als ich dem Hass zum ersten Mal persönlich begegne, bin ich elf oder zwölf Jahre alt. Meine Mutter arbeitet noch immer als Agrochemikerin, sie berechnet, wie viel Dünger das gelbe Streuflugzeug auf die Felder um unser Dorf herunterfallen lässt. Der Pilot dieses Flugzeuges sitzt eines Tages bei uns im Wohnzimmer auf einem brauen Stoffsessel, er wartet auf meine Mutter und ich frage ihn, weil ich ihn mag, weil ich ihn cool finde, ich meine, er ist schließlich Pilot, jedenfalls frage ich ihn, wie es denn jetzt für ihn weitergeht. Und er erzählt von den ,,Wallstreetjuden", die das alles zu verantworten hätten, er wird lauter, erregter, brennende Röte erst am Hals, dann im Gesicht. Ich weiß das noch so genau, weil ich mit dem Wort ,,Wallstreet" nichts anfangen kann und Juden, denke ich, gibt es doch bei uns gar keine. Der Mann überrollt mich mit einer Wut, von der ich weder die Quelle kenne noch das Ziel.

Neue Regeln. Ich hätte sie gerne gelernt, wenn ich denn welche begriffen hätte. Ist es besser, den Bus zu nehmen, aus dem man nicht mehr rauskommt, wenn Glatzen einsteigen? Oder besser laufen oder Fahrrad, aber dann bist du zu langsam, wenn sie dich mit dem Auto jagen? Auch andere versuchten, die neue Welt zu ordnen: Die Kreisstadt ist rechts, die Dörfer sind links. Aber diese Ordnung zerbröselte sofort wieder, wenn fünfzehn, zwanzig, dreißig Nazis ein Dorffest aufmischten.

Viele Glatzen kamen aus großen Familien, die lebten in ihren Häusern inmitten von Hitlerbüsten und Reichskriegsflaggen. Die Clan-Söhne mit den Namen, die man fürchten musste, waren vier bis acht Jahre älter als ich. Mit ihren tiefergelegten Golfs oder zu Fuß patrouillierten sie durch die Stadt. Wen sie verschonten und wen sie sich vornahmen, folgte einem Kodex, den vor allem sie selbst verstanden. Wenn sie jemanden aus DDR-Zeiten kannten, aus der Schule, konnte das gut sein. Oder eben besonders schlecht, wenn sie ihn schon damals nicht mochten. Bunte Haare waren scheiße, lange auch. Aber wer aus der Kreisstadt kam, die übrigens Mitte der Neunziger zur Kleinstadt degradiert wurde, der war auch mit langen Haaren an einem Abend okay, und man mischte lieber eine andere Nazi-Gang auf, weil die vom Dorf nebenan war und ,,sich hier breit gemacht hatte".

In den neunziger Jahren habe ich diese Zusammenhänge nur vage begriffen. Vieles habe ich erst bei Gesprächen für diesen Text erfahren. Ich kannte keinen der wichtigen Nazis, ich kam vom Dorf, ich war weit entfernt vom Zentrum der Macht. Ich konnte nicht zwischen denen unterscheiden, gegen die ich mich vielleicht hätte wehren können, ohne dass gleich fünf Mann auf die Suche gingen, und denen, die Lebensgefahr bedeuteten.

Mir passierten einfach Dinge.

Ich sitze im Bus, drei Glatzen steigen ein, ohne zu bezahlen. Sie laufen nach hinten durch, ich tue so, als würde ich lesen. Sie laufen an mir vorbei, plötzlich ist es nass in meinem Gesicht. Einer hat mir ins Gesicht gespuckt. Bevor ich das kapiere, drückt mir der kleinste der Typen seinen Daumen in die linke Wange und reibt kräftig, bis mir die Zähne wehtun. ,,Du musst dich doch saubermachen", sagt er mit hoher Stimme. ,,Muss Mutti dir erst bis in den Bus nachlaufen, hm?" Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines Autos, die drei bepissen sich fast vor Lachen. Die Hand des Kleinen riecht nach altem Tabak.

Als ich die drei Kilometer von der Schule mal nach Hause laufe, hält ein Auto mit quietschenden Reifen neben mir. Ich renne sofort los, rein ins Feld. Hinter mir höre ich es lachen. Ich laufe über zartes Frühlingsgrün, schwere Brocken Matsch kleben an meinen Schuhen und fallen wieder ab. Sie fahren auf der Straße nebenher, rauchen und schauen mir zu. Ein Kilometer vor dem Dorf geben sie Gas und verschwinden.

Der Junge, der in der DDR auf die ,,Scheißrussen" geschimpft hat, erklärt mir die Bordbewaffnung seiner Karre. Er zeigt mir seinen Baseballschläger und wo er die Schreckschusspistole unter dem Beifahrersitz versteckt hat. ,,Ich fahr nicht mehr unbewaffnet raus", sagt er, ,,ich bin doch nicht blöd."

Wie durch die Milchglasscheibe eines Bahnhofsklos sehe ich die Zeit von 1991 bis 1998. Es fällt mir schwer, mich zu erinnern. Es geht nicht nur mir so. ,,Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich mir die ganzen Neunziger nur eingebildet habe", sagt Manja Präkels, als wir uns darüber unterhalten. Sie sagt: ,,Selbst Freunde, die dabei waren, konnten oder wollten sich nicht mehr erinnern."

Als Kind war ich noch klein und dick, aber in der Pubertät schieße ich in die Höhe. Genetisch bin ich Nazi, fast 1,90 Meter groß, blond, graublaue Augen. Ich trainiere mit Hanteln. Aber mir fehlt das Schläger-Gen, die Lust am Blut der anderen, ich sehe den Hunger in den Augen der Clan-Söhne und ihrer Handlanger und ich weiß, ich bin Beute. Also versuche ich zu verschwinden, ich trage grau, ich bin ein Mäuschen. Gott, wenn ich doch nur kleiner wäre.

Hatte ich nicht erst gestern noch alles über Ernst Thälmann und seine Genossen gelesen? Wie sie gestorben waren im Kampf gegen den Faschismus? Ich will nicht sterben, ich will nur in Ruhe gelassen werden. Ich schäme mich. Wir schämen uns alle. ,,Die neunziger Jahre sind in Ostdeutschland ein großes Tabu", sagt Manja Präkels. ,,Diese Zeit ist mit großer Scham behaftet." Jeder hat seinen eigenen Grund dafür. Der eine wird gefeuert und findet nie wieder Arbeit, der nächste steht hinter der Gardine und freut sich heimlich, weil das Asylbewerberheim brennt und ich, ich bin eben ein Feigling.

Es wäre durchaus anders gegangen. Es gab die aufrechten Antifaschisten, die Punks, ich wusste von ihnen, ich sah sie allerdings nie auf der Straße. Frauen, die mit mir zur Schule gingen und mit denen ich für diesen Text gesprochen habe, sagten mir, sie hätten keine Angst gehabt. Eine erzählte mir, die Glatzen aus ihrem Dorf hätten meist versucht, sie zu beeindrucken. Sie sagt auch, sie wüsste nicht, ob die schlimmsten Schläger wirklich Nazis waren. Es war und ist nicht ganz einfach, die Trennlinie zwischen denen zu ziehen, die schlagen wollten und sich dafür eine Rechtfertigung in ,,Mein Kampf" suchten und denen, die schlugen, weil sie es politisch geboten fanden. Gewalt war normal und in dieser Normalität schwammen die Nazis wie Fische im Meer.

Meinen Eltern erzählte ich nichts. Das wäre petzen. Die Jungs haben die Dinge früher unter sich ausgemacht und das sollen sie jetzt auch. Außerdem war mir ja nichts passiert. Kein Zahn ausgeschlagen, alle Augen noch drin, tot war ich auch nicht. Andere haben ihren Vätern und Müttern etwas erzählt, Manja Präkels schreibt darüber in ihrem Buch und sie schreibt auch, was viele Eltern geantwortet haben: Provozier doch nicht!

Die Erwachsenen konnten sich nicht vorstellen, dass die lieben kleinen Ricardos, Michaels und Kais von früher zu Kampfmaschinen mutiert sein sollten. Ich hätte es ihnen auch nicht erklären können. Also beschworen sie eine Parallelwelt herauf. Es gibt kein Problem mit Rechtsextremismus, sagten die Bürgermeister, wenn wieder mal einer verpocht wurde oder starb. Ich fragte mich, wer verrückt ist, die oder ich?

,,Über die Eltern brach die Katastrophe herein, die mussten überleben", sagt Manja Präkels dazu, ,,und dabei gingen ihnen die Kinder oft verloren." Und wenn ständig nur geleugnet werde, wenn sich gegenseitig permanent bestätigt werde, es sei normal, wenn bei den Spielen der A-Jugend das Horst-Wessel-Lied gesungen werde, dann entstehe eine neue Normalität.

Und heute? Ein sächsischer Ministerpräsident, der erst einmal betonen möchte, in Chemnitz sei alles nicht so schlimm gewesen. Ein Verfassungsschutzchef, der in der Bild sagt, ein Video von einem Angriff sei veröffentlicht worden, um von einem Mord abzulenken. Welche Realität ist die richtige? Die meisten Menschen glauben einem Ministerpräsidenten mehr als einem Mann, der nicht weiß ist und erzählt, wie er verfolgt wurde.

Ab der siebten Klasse, im Herbst 1991, gehe ich aufs Gymnasium. Meine Freunde vom Dorf treffe ich nur noch selten, ich war jetzt etwas Besseres, zumindest sehen sie das so oder ich denke, dass sie es denken. Ich ziehe mich zurück. Ich habe früher schon gern gelesen, jetzt lese ich eben noch mehr. Kurz vor der Wende sind wir in einen anderen Block gezogen, ich habe ein eigenes Zimmer und muss nicht mehr mit meinem Vater und meiner Mutter in einem Bett schlafen. Das macht es einfacher, mich zu verstecken. Als ich sechzehn Jahre alt bin, kaufen meine Eltern einen Computer und ich spiele Eishockeymanager. Diese Welten sind vom Draußen unberührt und kontrollierbar. Ab und an gehe ich raus, tauche auf wie ein U-Boot nach langer Fahrt. Die Nachrichten von der Oberfläche sind über Jahre die gleichen: Entweder es gibt Stress oder einer erzählt, wie es Stress gab.

,,Der hat seine Freundin gezwungen, als Nutte zu arbeiten und die dann mit dem Kabel erwürgt."

,,Neulich haben sie den einen an der Havel fast kaltgemacht."

,,Die sind mit der Axt in den Jugendklub rein. Die hinter der Tür hat es gleich erwischt. Die Bullen waren wieder bloß zu zweit da."

Freunde habe ich wenige. Ich bin ein Trottel vom Dorf. Meine Mutter hat mir zwar nach langer Bettelei eine Levis gekauft, aber an meinem dicken Hintern sieht die Jeans so aus, als versuchte jemand, meinen Arsch zu zwei dünnen Würsten zu kneten. Tragen muss ich sie trotzdem, die Hose war teuer. Im Schulbus lachen sie über mich. Ich bin oft alleine, also ein Ziel und deshalb gehe ich noch weniger raus.

Nach drei Jahren am Gymnasium finde ich andere Freunde.

Dabei sind: Ein kleiner Dünner, der oft lächelt und der mich mit dem Auto nach Hause fährt, wenn es spät wird. Er sagt: Schon mein Vater war ein Rechter. Dafür hatte er Ärger mit den Scheißkommunisten.

Ein anderer aus der Clique schaut oft finster, aber kitzelt einen ab, wenn es in der Schule scheiße gelaufen ist. Er findet die NPD gut und hat Kontakte zu einem Fascho-Clan in einem größeren Dorf in der Nähe.

Außerdem: Der Sohn eines Polizisten, der immer laut ist, immer Faxen macht, großzügig mit allen teilt und der Kanaken scheiße findet.

Dann einer, der immer ganz ruhig ist, obwohl ihm seine Mutter Stress macht, er dürfe nicht absacken, nicht versagen, nicht untergehen in dieser neuen Welt. Er hört zu Hause CDs von Bands wie Zyklon B und Zillertaler Türkenjäger. Auf der Heckscheibe seines Autos prangt in Fraktur der Schriftzug ,,Euthanasie". Die Band heißt eigentlich ,,Oithanasie", aber er findet es damals ein lustiges Wortspiel, den Namen so zu schreiben.

Wir durchstreifen das Land im Konvoi. Zum nächsten McDonald's an der Autobahn, an die Ostsee, nach Tschechien, nach Dänemark. Je mehr wir sind, desto mehr weitet sich unsere Landkarte.

Zwei Autos sind gut, vier Autos sind besser. Im Schwarm schrecken wir andere ab. Ich entdecke, wie geil es sein kann, jemandem Schiss zu machen statt selbst der Schisser zu sein. Ich pinkle einem Wessi auf die Motorhaube.

,,Rechts" und ,,links", das ist eine Sache der Klamotten, der Frisur und der ,,inneren Einstellung", wie wir das damals nennen. Die Mode der harten Nazis verbreitet sich in Molekülen auch an den Gymnasien, die grünen Bomberjacken mit dem orangefarbenen Innenfutter tragen viele. Ich habe lange Haare, ich habe ,,nichts gegen Ausländer", ich finde es scheiße, sie zu jagen und zu verprügeln. Das sage ich manchmal auch und dann streiten wir uns. Ich muss vor Nazis wegrennen. Also bin ich links.

In der Nahrungskette der Jungsgruppen stehen wir nicht weit oben. Wenn die Tighten aus der Muckibude anrücken, die tätowierten Riesenbrocken mit Kampfsport oder Knast im Lebenslauf und keiner der anderen hat irgendeine Beziehung zu jemandem, der jemanden kennt, dann machen wir uns klein oder lösen uns in Luft auf.

Stress gibt es immer noch, natürlich. Wir wollen zum Herrentag, wie das bei uns konsequent heißt, raus an einen See fahren. Zwei möchten da unbedingt mit dem Fahrrad hin. Scheißidee, sagen wir anderen, da kommt ihr alleine niemals an. Sie ziehen es durch. Wir sammeln sie später blutend von der Landstraße und lachen sie aus.

Der Soundtrack dieser Zeit kam von den Böhsen Onkelz. Ich hasste diese Band, bei ihren weinerlichen Liedern für gefallene Jungs dachte ich an die saufenden Männer in den Garagen. Ein Lied der Onkelz ist allerdings bis heute in meinem Kopf: ,,Wir waren mehr als Freunde/Wir war'n wie Brüder/Viele Jahre sangen wir/Die gleichen Lieder." Es heißt ,,Nur die Besten sterben jung" und ich mochte es, vielleicht, weil ich die blöden Jungpioniere vermisste, die Zeit, als wir lieber Papier und Flaschen gesammelt haben, als uns gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen und weil ich dachte: Ja, sterben kannst du ja wirklich.

Sicher bin ich noch immer nicht. Eines Abends fahre ich zufälligerweise nicht zu dem Parkplatz am Netto-Markt, wo wir uns immer treffen. Es sind nur wenige da und sie sind leichte Beute für eine größere Gruppe Schläger, die aus einem Nachbarort anrückt. Einen erwischt es besonders schlimm. Er fährt noch mit dem Moped nach Hause, bekommt dann aber seinen Kopf nicht mehr aus dem Helm, Tritte und Schläge haben ihn zu sehr anschwellen lassen. Er landet auf der Intensivstation.

Manche Erinnerungen reißt man sich ein wie Splitter und sie schmerzen noch Jahre danach. Der türkische Freund, den ich erfunden habe, ist so ein Splitter. Wir sind nach Ungarn gefahren, das letzte Mal zusammen. Wir liegen am Balaton, spielen Fußball. Wir reißen die Türen unserer Klos auf und fotografieren uns gegenseitig beim Kacken, wir rasieren einander die Brusthaare. Und dann, wir sitzen in einem Café, ich lese Zeitung, vielleicht habe ich da etwas über einen Überfall gelesen, ich weiß es nicht mehr. Ein Freund sagt irgendetwas über ,,blöde Kanaken" und dass sie es verdient hätten und ich bin sofort auf hundertachtzig. Ich schreie, ich hätte einen türkischen Freund und der läge in Berlin im Krankenhaus, ,,wegen Leuten wie dir". Es ist ein kurzer Moment, wenige Sekunden nur und sofort fühle ich mich mies.

Weil ich gelogen habe, ich habe keine türkischen Freunde und auch keine mit türkischen Namen, woher auch? Es gab an unserer Schule den Sohn eines Ingenieurs aus Angola oder Mosambik, der war nicht weiß. Selbst die Dönerfrauen, die ich kannte, waren in der Kreisstadt oder in einem der Dörfer geboren. Ich schäme mich auch, weil ich weiß: Es gibt Menschen, die sind wirklich verbrannt oder wurden zu Tode getreten. Und ich erfinde einen. Gleichzeitig habe ich Angst, dass jetzt unsere Freundschaft vorbei ist.

Das gehört auch zur Wahrheit jener Jahre, viele kannten die Rechten, die Rechtsradikalen, die Neonazis nicht nur von Weitem. Wir waren mit ihnen befreundet, wir mochten manche von ihnen, wir profitierten von ihrem Schutz. Im Buch von Manja Präkels hat der Obernazi der Protagonistin vielleicht das Leben gerettet. ,,Dass die Nazis oft unsere früheren Freunde aus der Schule waren, unsere Brüder, unsere Cousinen, das machte die Auseinandersetzung damals so schwierig", sagt Manja Präkels. ,,Und das macht sie auch heute schwierig."

Sie sagt auch, sie habe damals manchmal das Gefühl gehabt, jemand halte eine schützende Hand über sie. ,,Vielleicht aus der Zärtlichkeit der kindlichen Erinnerungen aneinander. Aber derlei Zärtlichkeit gibt es für Fremde, für Menschen anderer Hautfarbe nicht."

Heute haben dieses Dilemma nicht mehr nur Ostdeutsche, die AfD ist auch im Westen erfolgreich. Wenn man sich mit seinem Bruder oder einem Freund streiten muss, dann lässt sich der Nazi nicht mehr nach Sachsen auslagern, dann ist man mitten in einer deutschen Identitätskrise. Präkels sagt, das sei doch die große Frage: ,,Sitzen wir lieber mit einem uns vertrauten Rechtsextremen am Tisch und tun so, als wäre alles normal oder stellen wir ihn und damit auch uns selbst infrage, indem wir uns für die einsetzen, die für uns Fremde sind?"

,,Hm, scheiße, ist der schwer verletzt?", sagt der Freund. Ich murmle irgendwas von nicht ganz so schlimm, ich lüge weiter, wer damit einmal angefangen hat, kann nicht einfach aufhören. ,,Tut mir leid, habe ich nicht so gemeint", sagt er.

Für meinen Zivildienst gehe ich nach Berlin. Ab 1999 studiere ich in Leipzig. Ich habe Glück und treffe gute Leute aus dem Westen und dem Osten. Wenn ich mich in den richtigen Bezirken aufhalte, treffe ich keine Männer mit Glatzen. Nur ab und an höre ich Echos aus der Vergangenheit. Anfang der Nullerjahre findet ein Freund ein Loch in der Heckscheibe seines Autos, das Kind der Familie über ihm hat eine Vase aus dem Fenster geworfen. Der Vater des Kindes, eine Glatze mit Glatzenkumpels, hat keinen Bock, für den Schaden aufzukommen und das macht er meinem Freund klar. Ich überlege, ob ich meine Leute in Brandenburg anrufen soll, aber der Nazi ist aus Leipzig und muss nicht 200 Kilometer weit fahren, um mit mehr Leuten zurückzuschlagen.

In der Kleinstadt, in der ich zur Schule ging, leben heute auch Frauen mit Kopftüchern, die ihren Söhnen auf Russisch hinterherbrüllen, sie sollen gefälligst auf sie warten. In den Kneipen und Cafés bedienen Menschen, deren Eltern aus Vietnam und der Türkei kamen. Der Freund, der damals ,,Euthanasie" auf seiner Heckscheibe stehen hatte, und den ich für diesem Text wiedergetroffen habe, sagt, er sei mit ,,Kurden, Türken, Russen, Vietnamesen" befreundet. Er findet aber, man solle doch die Leute verstehen, die lieber nicht mit so vielen Ausländern zusammenleben wollen. Als ich ihn frage, ob er auch so leben will, sagt er: ,,Ach, ich weiß es doch auch nicht."

Ich habe nicht gekämpft und schon gar nicht gewonnen. Ich bin einfach gegangen.


Aus: "Jugendliche in Ostdeutschland: Wir waren wie Brüder" Daniel Schulz, Reportage und Recherche (01.10.2018)
Quelle: https://www.taz.de/!5536453/ (https://www.taz.de/!5536453/)

QuotePrimitivismuskeule
Mittwoch, 09:03

Danke für diesen Text. Er erinnert mich stark an mein Heranwachsen in einem rechtslastigen Dorf in Westdeutschland - nur deutlich extremer.


...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 23, 2019, 12:27:42 PM
Quote[...] Die Menschen in Ostdeutschland stehen der Demokratie deutlich skeptischer gegenüber als Westdeutsche. Dies geht aus einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hervor. Demnach gaben lediglich 42 Prozent der Befragten in Ostdeutschland an, dass die in Deutschland gelebte Demokratie die beste Staatsform sei. In Westdeutschland meinten dies 77 Prozent.

Auch das Vertrauen, dass der Staat seinen Aufgaben gerecht wird, ist in Ostdeutschland signifikant niedriger als in Westdeutschland. So vertrauen zwei Drittel der Westdeutschen, aber nur jeder zweite Ostdeutsche darauf, dass Grundrechte wie die Meinungsfreiheit wirksam geschützt sind. 56 Prozent der Westdeutschen, aber nur 39 Prozent der Ostdeutschen sind überzeugt, dass die Gerichte unabhängig urteilen.

Das Wirtschaftssystem wird in Ost und West ebenfalls sehr unterschiedlich beurteilt. In Westdeutschland meinten 48 Prozent der Befragten, es gebe kein besseres System als die Marktwirtschaft. In Ostdeutschland waren lediglich 30 Prozent dieser Auffassung.

In anderen Punkten hingegen gibt es laut der Umfrage, für die zwischen Anfang und Mitte Januar 1.249 Menschen befragt wurden, größere Übereinstimmungen. So war für die Mehrheit der Westdeutschen wie der Ostdeutschen das vergangene Jahr ein gutes Jahr. Nur jeder Fünfte zieht für 2018 eine negative Bilanz. In das neue Jahr sind Ost- und Westdeutsche demnach gleichermaßen optimistisch gestartet, lediglich 14 Prozent in Ost wie West mit Befürchtungen.

Auch mit ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage sind die Menschen sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland zufrieden: In beiden Landesteilen ziehen 53 Prozent von ihnen derzeit eine positive Bilanz. Als Wohlstandsverliererinnen sehen sich über die letzten Jahre hinweg 18 Prozent der West- wie der Ostdeutschen. 34 Prozent der Westdeutschen und 36 Prozent der Ostdeutschen bilanzieren hingegen eine Verbesserung ihrer ökonomischen Lage in diesem Zeitraum. Auch die Zufriedenheit der Rentner unterscheidet sich kaum: Im Westen sind 56 Prozent der Rentner mit der Höhe ihrer Rente zufrieden, im Osten 50 Prozent.

Knapp 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist indes die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung davon überzeugt, dass zwischen Ost und West eine Trennlinie verläuft. Der Herkunft wird dabei in Ostdeutschland eine ungleich größere Bedeutung zugeschrieben als im Westen: Laut der Umfrage ist dies nur für 26 Prozent der Westdeutschen, aber für 52 Prozent der Ostdeutschen eine der wichtigsten Trennlinien. Auch die politischen Einstellungen gelten demnach in Ostdeutschland weitaus mehr als Spaltungsthema als in Westdeutschland: 46 Prozent der Westdeutschen, aber 63 Prozent der Ostdeutschen sind überzeugt, dass hier besonders gravierende Trennlinien verlaufen.

Die Unterschiede machen viele Beobachter vor allem anhand des Wählerverhaltens und der Einstellung zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung fest. Die Allensbach-Umfrage zeigt dazu erstmals konkrete Zahlen. Demnach halten es 74 Prozent der Westdeutschen und 66 Prozent der Ostdeutschen für vordringlich, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern der Migranten zu bekämpfen. In der Frage, inwieweit man die Zuwanderung nach Deutschland begrenzen sollte, dreht sich dieses Verhältnis um: 65 Prozent der Westdeutschen halten dies für dringlich, in Ostdeutschland sind es 75 Prozent der Befragten.


Aus: "Allensbach-Umfrage: Ostdeutsche vertrauen der Demokratie weniger als Westdeutsche" (23. Januar 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-01/allensbach-umfrage-ostdeutsche-vertrauen-demokratie-marktwirtschaft (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-01/allensbach-umfrage-ostdeutsche-vertrauen-demokratie-marktwirtschaft)

Quote21prozent #1.35

Aus dem Artikel: Demnach gaben lediglich 42 Prozent der Befragten in Ostdeutschland an, dass die in Deutschland gelebte Demokratie die beste Staatsform sei.

Ihr Zitat: [...]Nur was wollen denn die Demokratieverächter und EU-Feinde? Honeckers Paradies 2.0, das 4.Reich? Kann da mal jemand helfen?


Interessant! Genau diese Frage habe ich mir beim Lesen auch gestellt. Schön wäre es, wenn Allensbach auch die Frage zur Alternative zur Demokratie gestellt hätte. Das würde uns sicherlich weiterbringen, denn dann hätten wir zumindest eine Idee davon, wo denn die Reise hin gehen soll.


QuoteKatrins Septembermärchen #1.66

"Da frage ich mich, wofür die Ostdeutschen 1989 auf die Straße gegangen sind."

Jedenfalls nicht dafür, dass jetzt schon wieder alles vollkommen anders wird. Eine große Bruchstelle pro Biographie reicht eigentlich. Westdeutsche können da nur bedingt mitreden.


QuoteDer Traum ist aus #1.61

Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass viele Menschen in Ostdeutschland ein besonderes Gespür für soziale Schieflagen oder gar Demokratiedefizite haben. Was ich jedoch nicht verstehe, warum entscheidet sich ca. jede/r 4. WählerInnen für eine Partei, die die Werte der Demokratie radikal zerstören und unsere (reformbedürftige) Demokratie durch eine autoritäre Staatsform ersetzen will? Wenn man seinen Demokratiehunger stillen will, wäre es sinnvoll, für mehr BürgerInnenrechte einzutreten, statt für ,,Grenzen dicht", ,,Ausländer raus", ,,Lügenpresse", ,,Gesinnungsjustiz", Geschichtsrevisionismus usw. Denn seien wir ehrlich, die AfD bietet für diese Themen keine sinnvollen Lösungen an, weil sie außerhalb unserer demokratischen (!) Rechtsordnung liegen würden, die in reale Politik gegossen nur sein können: Nationale Alleingänge, Beschneidung der Bürgerrechte hier lebender Menschen mit Migrationshintergrund, Einschränkung der Pressefreiheit und Beschneidung der Unabhängigkeit der Justiz. Die Liste der Gängelung vieler hier lebender Menschen ist damit noch lange nicht vollständig. Ich sage nur Lehrerpranger, ,,dann wird aufgeräumt" usw.
Halten Sie diesen Weg für geeignet, (subjektiv empfundene) Demokratiedefizite auszugleichen? Ich nicht.


QuoteBuonista verde #38

Die Ostdeutschen welche die DDR bewusst erlebt haben, sind eben sensibler für korrupte, verlogene Eliten, tendenziöse Medien, Systemkunst und Kultur, Verbrämung etc. ... und sie sahen zurecht die NSA-Überwachung kritischer als viele Westdeutsche. Was ereifern wir uns über die Stasi-Vergangenheit, wenn NSA und Konsortien da viel weiter sind.

Und wenn ich heute im Cicero vom korrupten Elmar Brok lese, weiß man: System-Skepsis ist liberal, ist demokratisch, ist Bürgerpflicht!


Quoteterra nullius #1.44


"DAS SYSTEM" - das ist seit den 20er jahren die Bezeichnung der Rechtsradikalen für eine demokratische Verfassung.


QuoteBratan187 #3

"Demnach gaben lediglich 42 Prozent der Befragten in Ostdeutschland an, dass die in Deutschland gelebte Demokratie die beste Staatsform sei."

Äußerst besorgniserregend.


Quotepeter_79 #1.71


"Die Wahrheit ist oft schmerzlich."

Das ist richtig, Sie sind aber nicht in der Lage, zu erkennen: Ihr Wessis habt erstmal nichts gepumpt. Sondern erstmal einen riesigen Markt und ausgebildete, willige, für weniger Geld als ihr arbeitende "Verbraucher" geschenkt bekommen. Und wie es im Kapitalismus so üblich ist, erstmal Konkurenz ausgeschaltet und die "neue Kolonie" mit euren Waren zugeschüttet und damit eure Wirtschaft ordentlich angekurbelt und die Gewinne eurer Konzerne ordentlich in die Höhe getrieben.
Die paar Milliarden für die Rentner und Straßen im Osten sind dagegen Peanuts. Und habt immer noch das Kolonialmacht-Gehabe, daher werden Sie im Osten so geschätzt.


QuoteFKOF #4.27

,,Wenn man noch 40 Jahre nach dem Krieg in einem Staat verbringen musste, der seine Bürger hinter Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl gehalten hat, ist ein feineres Gespür nicht verwunderlich."

Das feine Gespür, die AfD zu wählen, die den Schießbefehl wieder einübten will? Es scheint eher, man habe aus der Vergangenheit nichts gelernt und wählt nun wieder eine radikale Partei, die die Freiheit der Menschen einschränken will.


Quote
Ura5 #4.42

"Meine Verbesserungsvorschlag? Rollback."

Wie weit?

In die 50er als Frauen nur mit Erlaubnis des Ehemanns arbeiten durften?
In die 40er als der deutsche Mann heldenhaft im östlichen Lebensraum und die Juden im Gas standen?
In die 10er als der deutsche Mann heldenhaft für den Kaiser verblutete oder im Berliner Hinterhof Kohlestaub einatmete?

Aber klar, früher war alles besser. Es gab in dort auch nie Nudging, Indoktrination oder Fake News in der Presse. Die Zukunft liegt in der Vergangenheit!

/Ironie off


Quotejajaimmerdasgleichemiteuch #4.55

Die Meinungsfreiheit IST gefährdet. Stellen Sie sich doch nicht absichtlich dumm. Das sind sind Sie doch offensichtlich nicht.

Der Korridor das Sagbaren wird von der Regierung unter Zuarbeit der Grünen/Linken und der Medien Stück für Stück eingeengt. Auch Gewerkschaften sorgen dafür, dass man nicht mehr offen reden kann, ohne persönliche, weitgreifende Konsequenzen zu fürchten.

Unter diesen Umständen von Meinungsfreiheit zu sprechen, ist einfach dreist.


Quoteichgebsauf #4.61

Pegida?


Quote
JeanLuc7 #4.64

"Der Korridor das Sagbaren wird von der Regierung unter Zuarbeit der Grünen/Linken und der Medien Stück für Stück eingeengt"

Unsinn. Dieser "Korridor" wird hingegen von AfD, Pegida und Konsorten imemr wieter nach rechts geöffnet. In der BRD hätte man sich 1989 nicht getraut, von einem "Vogelschiss" zu reden.

Und falls Sie mit "einengen" eine weniger männerbezogene Sprache meinen - nun ja, Herrenwitze waren auch früher schon ein Privileg der Stammtische. Dass man heute Frauen nicht mehr ungestraft sexuell belästigen kann, ist ein Fortschritt, kein Einengen.


QuoteGOE101 #4.65 Antwort auf #4.60 von jajaimmerdasgleichemiteuch


"Sind Sie nicht fähig, größer zu denken? Muss ich erst Beispiele nennen, wie Amadeu Antonio-Stiftung oder IG Metall?"

Lassen Sie uns doch bitte an der Größe Ihres Denkens teilhaben und bringen Sie ein paar konkrete Beispiele. Ansonsten könnte der Eindruck entstehen Dresden sei immer noch das Tal der Ahnungslosen......


Quotebtc76 #4.67


"Der Korridor das Sagbaren wird von der Regierung unter Zuarbeit der Grünen/Linken und der Medien Stück für Stück eingeengt. "

Mmh seltsam, was kann man denn in Dresden nicht offen sagen ? Ich kenne Dresdner Polizisten welche offen darüber sprechen die AfD zu wählen. Offen über Ihre Wahrnehmung bezüglich der Kriminalitätsentwicklung in der Stadt parlieren und keinerlei Konsequenzen befürchten. Also werden Sie doch einmal konkret. Dann können wir reden und dann schauen wir uns einmal den "Rechten" Gesinnungskorridor an. Oder am Besten wir treffen uns Samstag Abend am Postplatz oder gehen am Montag zu Lutz und tragen Reefugies Welcome TShirts,.


Quotejajaimmerdasgleichemiteuch #4.68

Ja, die Frauen müssen heute keine Brüderle-Sprüche mehr über sich ergehen lassen, werden dafür aber eben vermehrt umgebracht.
Als Mann überlasse ich die Bewertung dieser Änderung natürlich großzügig den Frauen.

Antwort auf #4.64 von JeanLuc7


Quotesonneundmond #4.69

"die Meinungsfreiheit IST gefahrdet" Natürlich kann man nicht alles sagen. Wenn sie Leute beleidigen, dann mussen sie mit den Konsequenzen rechnen. Wenn sie jemanden verleumden auch. Das ist doch selbstverständlich. Wenn sie zu Gewalt aufrufen mossen sie auch mit Konsequenzen rechnen. Wir haben ein Grundgesetz an das mussen sich alle halten auch Sie. Wo ist das Problem? Allerdings möchte die AFD Lehrern ja auch gerne einen Maulkorb erteilen, wenn die etwas sagen, was DENEN nicht passt. Wie stehen sie dazu?

Antwort auf #4.55 von jajaimmerdasgleichemiteuch


Quotejajaimmerdasgleichemiteuch #4.71

https://www.cicero.de/innenpolitik/kita-broschuere-rechtspopulismus-amadeu-antonio-stiftung-franziska-giffey

http://www.metropolico.org/2017/03/24/ver-di-checkliste-zum-ausspionieren-und-denunzieren/

Pardon, es war nicht IG Metall, sondern ver.di.
Antwort auf #4.65 von GOE101

[Beim "Lehrerpranger" geht es um Verstöße gegen das Neutralitätsgebot. Da man vermutet, die Schulleitungen gehen nicht konsequent genug gegen Lehrer vor, die dieses verletzen, halte ich eine Initiative die auf Mitarbeit der Schüler setzt für nicht verkehrt.
"Maulkörbe erteilen" ist allein Ihre Interpretation und natürlich nicht die Intention der AfD.]


QuotePausD #4.74

Ohje, ohje. Wie wir in Bayern sagen:

Da sind Hopfen und Malz verloren.

Antwort auf #4.72 von jajaimmerdasgleichemiteuch


QuoteGeistschreiber #8


"aber nur 39 Prozent der Ostdeutschen sind überzeugt, dass die Gerichte unabhängig urteilen."

Auf welcher Basis entsteht so eine Überzeugung? Gefühlte Wahrheit?


QuoteCompatito #8.2


Wenn ich meine GEZ Gebühren nicht zahlen will, weil ich nicht einsehe, dass ein großer Teil der Einnahmen für überhöhte Pensionen der ehemaligen Mitarbeiter verwendet wird und der andere Teil für ein Programm, welches mich nicht anspricht, dann kann es mir mit großer Wahrscheinlichkeit passieren, dass ich dafür ins Gefängnis gehe! Wenn aber ein Intensivtäter mehr als hundert Straftaten verübt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dieser noch am selben Tag wieder freigelassen wird und wieder seiner "Arbeit" nachgehen kann.

Antwort auf #8 von Geistschreiber


QuoteGeistschreiber #8.7


"Wenn ich meine GEZ Gebühren nicht zahlen will, "

Und ich will nicht fürs Falschparken zahlen. Ich will im Laden nicht für Waren zahlen und sie einfach mitnehmen. Ich will auch keine Steuern zahlen...Sie verstehen?

Ihre Ausführungen haben 0 damit zu tun, ob die deutschen Gerichte unabhänig urteilen oder nicht. Wenn Sie nicht wissen, warum und unter welchen Voraussetzungen bestimmte Entscheidungen getroffen werden, machen Sie sich schlau oder seien Sie nicht so schnell mit Ihren Beurteilungen.

Krasse Einzelfälle gibt es immer, aber der Gesamtheit der deutschen Gerichtsbarkeit die unabhängige Urteilsfindung abzusprechen ist mMn bezeichnend für bestehende Unkenntnis der Materie.


Quote
Frank-Werner #8.10

Wenn ich meine GEZ Gebühren nicht zahlen will, (...)

Dann treten Sie in eine Partei ein und bringen Ihr Anliegen vor.
Wenn Sie es erreichen, für Ihr Vorhaben (Abschaffung des ÖR-Rundfunks) bei Wahlen eine entsprechende Mehrheit zu erreichen, so wird dies geschehen.
Bis zu diesem Zeitpunkt jedoch bestehen die demokratisch legitimierten Gesetze / Regelungen zur Finanzierung des ÖR fort.

[Falls Sie auf schärfere Gerichtsurteile aus sein sollten: Gerichtsurteile werden auf der Grundlage von Gesetzen gefällt, welche wiederrum demokratisch legitimiert beschlossen werden. ...]


Quote
Bernardo Soares #9


Alles sehr subjektiver Blödsinn. Wenn man die Leute im Osten fragen würde, welches politische System sie denn für besser halten oder warum so viele glauben, dass die Gerichte nicht unabhängig urteilen, würde wahrscheinlich nur noch heiße Luft kommen. Als Ossi kann ich mal wieder nur sagen: die Leute projizieren ihre Probleme halt in irrationale Ansichten. Irgendwer muss eben Schuld an den Verhältnissen haben und da die Sozialisten nicht mehr an der Macht sind, muss wer anderes dafür herhalten. Dass wird auch in Zukunft so bleiben, weil die Bevölkerung im Osten weiter schrumpfen wird und die neuen Bundesländer weiterhin keine große Wirtschaftskraft anziehen werden.

Die Ansichten spiegeln sich dann natürlich auch mit der Ignoranz gegenüber fanatischen Rechten wie Kalbitz und Höcke, die als Spitzenkandidaten mit ihrer Partei jeweils stärkste Kraft werden könnten. Regieren werden sie natürlich nicht, aber es zeigt trotzdem, dass die Spaltung in Deutschland nicht nur in der Migrationsfrage besteht, sondern seit der Wiedervereinigung und bis heute sehr tiefe Gräben zwischen Ost und West bestehen.


QuoteSuper-Migrant #11

Ost- und Westdeutsche sind grundverschieden. Als nicht-weißer Migrant - also jemand der allein durch seine Optik auffällt - habe ich schon die ein oder andere "meinungsfreie" Äußerung mitbekommen. Ich wurde vor ein paar Jahren am Dresdner Hauptbahnhof wüst rassistisch beschimpft und als ich den Kerl zur Rede stellen wollte, hat mich ein Bundespolizist mit den Worten "Lass Stecken Freundchen" hinauskomplimentiert.

Es ist auch kein Wunder, dass viele Ostdeutsche ihre Umgebung satthaben und in den Westen gegangen sind. Gewisse weltoffene Gesinnungen sind dort leider nach wie vor nicht gewünscht. Das bestätigen mir Ostdeutsche und einige meiner Kumpels, die sich dorthin zum Studieren verirrt haben. Zwei (1x Türke, 1x Tunesier) werden eigentlich regelmäßig auf der Straße rassistisch beschimpft. Kein schöner Anblick, wenn die Mutter zu Besuch ist man beim Vorbeialaufen an einer fragwürdigen Gestalt mit Affengeräuschen begrüßt wird.

Die Brüder auf der anderen Seite wurden jahrelang vom Westen gepampert, Zeit das diese mal etwas zurückgeben!


QuoteNemo Nolan #13

Muss es eigentlich immer diese Ost/West-Einteilung sein? Vielleicht wären andere Unterscheidungsmerkmale (z. B. Mieter/Eigenheimbesitzer; selbständig/angestellt; Gewerkschaftsmitglied/Nichtmitglied etc.) ganz interessant.


QuoteWieselDiesel #22

... Die Ostdeutschen wollten Sozialismus und Westgeld. Das Westgeld haben sie bekommen und den Sozialismus für Banken gibt es ja auch schon.


QuoteDr.Gott #25

Statt Ossi-Bashing sollte man eventuell erst mal den Sinnzusammenhang betrachten. Die ostdeutschen Bundesländer sind niemals wirklich integriert und auf den Standard westdeutscher Länder angeglichen worden. Viele verloren nach der Wende den Arbeitsplatz und die Karriere, nicht nur Arbeiter, sondern auch alles vom Bauern bis zum Akademiker. Stellen Sie sich vor, die BRD kollabiert morgen. Der Staat ist weg, die daram verbundenen Strukturen auch. Und niemand holt Sie ab. Das ist den meisten Ostdeutschen mittlerweile mehr als klar geworden, der Frust oder gar Hass gegen die BRD kommt nicht von ungefähr. Man hat viele Menschen einfach vergessen. Wenn ich das als Wessi sage, kommt von anderen Wessis immer sofort das Apologetentum und das "Jaja.." Wenn ich mir dabei vorstelle, ich wäre Teil des Schicksals vieler Ostdeutscher - mir würde die Hutschnur hochgehen.

Dazu kommt, dass Menschen ohne Demokratieverständnis dann über Nacht aus einem Einparteiensystem in eine Demokratie geworfen werden, an die nur Westdeutsche gewöhnt waren. Das ist gewissermaßen ein Kulturschock. Der zudem mit hohen Erwartungen gepaart kam. Und weil diese nicht erfüllt wurden, wählt man heute halt rechtsextreme Parteien. Weil die Identität litt, das Soziale und allem voran das Vertrauen. Und wir verallgemeinern nur allzu gerne, indem "die" Sachsen dann halt Nazis sind, oder "die" Chemnitzer allesamt Menschenjäger.

Von beiden Seiten muss Einsicht und Annäherung geschehen. Nicht nur von den Ossis.


Quoteprinzessin.leia #28


Kohl hat ihenen "blühende Landschaften" versprochen - erhalten haben sie eine Brache mit massenhafter Arbeitslosigkeit. Das soll sich jetzt im Bergbau wiederholen. Wie soll man da einen positiven Eindruck vom Wirtschaftssystem erhalten?

Und selbstverständlich ist "Herkunft" ein wichtiges Thema, nachdem man nach der Wende sich für seine Ossi-Herkunft und -Mentalität rechtfertigen mußte. #1 ist ein ganz typisches Beispiel dafür ("Da frage ich mich, wofür die Ostdeutschen 1989 auf die Straße gegangen sind. War es die Freiheit? Wenn ja. Für welche Art der Freiheit? Oder waren es doch eher materielle Dinge wie Bananen und Schokolade?") und zeigt, dass das Bashing bis heute andauert.


Quotecdurban #31

Es war 1990, da saß ich als irrelevanter Lokalreporter einem Vortrag von Frau Elisabeth Noelle-Neumann vor Burschenschaftern bei. Grauenhaft. Bereits damals hat Noelle-Neumann ausschließlich Wert darauf gelegt, in ihren Umfragen die eigenen Vorurteile gegen Ostdeutsche und -land zu belegen: Ossis sind demokratieunfähig, passiv, obrigkeitsgläubig, usw., das ganze Programm. Die Krönung bildete dann Neumanns Konklusion: Die Ossis müssen umerzogen werden. Kein Witz, leider. Als ob die DDR-Bürger nicht gerade eine Diltatur gestürzt hätten gerade auch um die elende Bevormundung zu beenden! Das Publikum aber fand's super - waren ja auch alles Wessis.

Es wird Zeit, die besondere Geschichte Ostdeutschlands als Ressource zu begreifen und nicht als Makel, der irgendwie überwunden werden muss. Fangen wir zum Beispiel bei der kritischen Distanz zu allen / allem an, was Macht im Lande hat. Ossis lassen sich nach wie vor viel weniger leicht von Politikergedöns einlullen, als Wessis. Das ist natürlich ein Problem für die "etablierten" Parteien, aber eben nur deshalb, weil sie glauben, dieses Problem könne durch eine Umerziehung der Ossis gelöst werden, und nicht etwa durch eine bessere Politik. Noelle-Neumann - Gott hab' sie seelig - lässt freundlich grüßen.


QuoteBCO #31.2

"Ossis lassen sich nach wie vor viel weniger leicht von Politikergedöns einlullen, als Wessis."

Kohl (im Grab) und die AfD-Spitze bekommen bei solch einer Aussage sicherlich einen heftigen Lachanfall.


QuoteTessa im Boot #32


2014 waren 82 % der Ostdeutschen für die Demokratie (West 90 %)
http://www.bpb.de/nachschlagen/datenreport-2018/politische-und-gesellschaftliche-partizipation/278503/akzeptanz-der-demokratie-als-staatsform (http://www.bpb.de/nachschlagen/datenreport-2018/politische-und-gesellschaftliche-partizipation/278503/akzeptanz-der-demokratie-als-staatsform)


QuoteHugo Henner #36

Die Allensbach-Umfrage sollte nur um einen Punkt erweitert werden: das Verhalten von Deutschland gegenüber Russland.
Diesbezüglich liegen sicherlich Welten zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen mit entsprechenden Auswirkungen auf viele andere Problemzonen im Verhältnis von Bürger zu Staat.


Quote
vincentvision #52

Die Nachwehen der ostdeutschen Diktatur zeigen sich eben immer noch.

Es natürlich ist zu kurz gegriffen, die statistisch höhere Quote an Demokratie- UND Fremdenfeindlichkeit einfach nur "den Ostdeutschen" zuzuschieben - damit macht man denselben pauschalen Fehler wie die, die oft gegen ,,die Muslime" sind...

Aber es scheint tatsächlich so zu sein, dass die Auswirkungen des DDR-Systems immer noch einen zu langen Schatten werfen.

Denn üblicherweise werden Menschen in Diktaturen auf schnelle, autoritäre Lösungen konditioniert.

Eine Debattenkultur, die Vermittlung, dass demokratische Entscheidungen immer kompromissbehaftete, oft unbefriedigende Prozesse sind und eine Förderung der Vielfalt und des Individuums finden nicht statt.

Zudem entstand durch die deutsche Wende ein hohes Maß an gebrochenen Biografien und bis heute ein verunsichertes Misstrauen gegenüber politischen Prozessen und Institutionen und Aussagen.

Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass diese Einflüsse über mehrere Generationen weitergegeben werden können.

Zusammengenommen kann dies schon Auswirkungen haben, die die Reaktionen in manchen ostdeutschen Provinzen erklären helfen und dazu führen, dass dort alles Fremde, die Politik und die Medien mit dermaßen roher Dynamik abgelehnt werden.

Und dass demokratiefeindliche Parteien wie die AfD ein leichteres Spiel haben.


QuoteBuonista verde #52.1

Das lässt ja dann für die Integration von Millionen Migranten aus autoritären Staaten, Diktaturen oder fundamental-religiösen millieus Afrikas und Arabiens nichts Gutes erahnen in Zukunft.

Komisch dass sie die soziologischen Mechanismen anscheinend so gut kennen, sie die aber für diese Gruppen in ihren Open-Border Kommentaren geflissentlich auszublenden vermögen.


Quote
vincentvision #52.3

@ Buonista verde

,,Das lässt ja dann für die Integration von Millionen Migranten aus autoritären Staaten, Diktaturen oder fundamental-religiösen millieus Afrikas und Arabiens nichts Gutes erahnen in Zukunft."

Weil es eben keine ,,Millionen" waren und hoffentlich nicht sein werden.

Das will keiner. Aber dass ihr Rechten immer mit den üblichen Katastrophenszenarien, mit fremdenängstlichen Übertreibungen und Schüren von Ängsten vorm schwarzen Mann glaubt, punkten zu können, macht die Diskussion nicht leichter.

Und erschwert zudem pragmatische Lösungen.


QuoteBuonista verde #52.4


Jetzt leugnen sie schon die Zahlen, sehr schade.


Quotevincentvision #52.5

@ Wolkenschaf: ,,Was würde nach Ihrer Meinung passieren, kämen weitere Millionen Menschen aus Diktaturen nach Deutschland?"

Die Frage stellt sich nicht, weil sie rein hypothetischer Natur ist.
Tun Sie also bitte nicht so, als ob Deutschland morgen von Horden radikalisierter Antidemokraten überrannt würde.

Aber abgesehen davon sehe ich schon einen Unterschied darin, ob theoretisch junge, verzweifelte Menschen auf der Suche nach Lebensperspektiven immigrieren - oder ob man sich mit einem älteren, frustrierten und demokratieskeptischen Rest im Land herumstreiten muss.


Quote
Inoagent #57

Das Problem bei vielen meiner "Landsleute" ist, dass sie glauben, Demokratie würde bedeuten, dass eine Mehrheit des "Volkes" losgelöst von allen Beschränkungen ihren Willen durch eine übermächtige Regierung durchgesetzt bekommt. Darum finden viele Ostdeutsche auch das System Putins so attraktiv. Der einzelne muss sich gar nicht um Politik kümmern, weil eine rechtschaffene übergeordnete Macht sowieso bestimmt und tut, was für das "Volk" richtig ist. Rechte von Minderheiten oder Religionen sind eher nervig. So entsteht dann angesichts des Parteiengerangels im Bundestag bei vielen der Eindruck, es fehle ein souveräner Staatsmann, der mal auf den Tisch haut. Und da setzt die AfD an und verspricht eine nationalistische und klar an autochthon deutsche Bürger addressierte Politik, bei der das Kollektiv " Volk" über allem steht.


QuoteNeapolitanische Nächte #56

In Westdeutschland meinten 48 Prozent der Befragten, es gebe kein besseres System als die Marktwirtschaft.

Diese 48 % an Westdeutschen sind die demokratiefeindlichste Gruppe überhaupt. Denn sie gehen offenbar irrtümlicherweise davon aus, dass diese kapitalistische Gesellschaftordnung, in der wir leben, vernünftig und gerecht wäre, weshalb sie jeden Fortschrittsglauben aufgegeben und sich in jener wohligen Gewohnheit eingerichtet haben, auf denen verbrämte Pfarrerstöchter wie Merkel und May ihr Regime der Alternativlosigkeit aufbauen. Diese Leute, bei denen schon Nietzsches letzter Mensch über die Schulter gafft, während sie sich der Banalität des konsumgesellschaftlichen Alltags hingeben und nur noch gehorchen wollen, sollten mal genauer hinschauen auf diese schreckliche Harmonie zwischen Freiheit und Unterdrückung (Niedriglohnbereich, Hartz IV), Produktivität und Destruktivität (Klimawandel), Wachstum und Regression (rechte Bewegungen, Abschottung), die das von ihnen präferierte System kennzeichnet. Weil Vernunft ja auch dazu dient, Dinge infrage zu stellen und zu sagen: nein, das, was ist, kann nicht wahr sein.


QuoteBuonista verde #56.2

Klasse Kommentar, danke dafür! - Ja, in der Tat sind unter diesen 48% viele Antidemokraten zu verorten, die mangels Bildung oder Einsicht den Widerspruch zwischen dereguliertem Kapitalismus und Demokratie nicht erkennen. ...


Quoteraengtengteng #62

Mir kommen hierzu spontan zwei Gedanken/Thesen:
- Vielleicht ist die BRD schlichtweg nicht so erfolgreich Menschen fair und gut in das System zu integrieren. Zu sehr werden "andere/neue" benachteiligt. Dann sind auch Effekte wahrscheinlicher, die z.B. die "ursprüngliche Herkunft" als besonders wichtig empfunden wird.(Das lässt sich auch wissenschaftlich ganz gut zeigen) Das kennen wir ja auch bei klassischen Migraten (z.B. türkischstämmmigen).
- Zum Thema willkommenheißen der Neuen: Wie Seradar Somunco es so schön provokativ sagte: "Scheiß Ossis kommen nach Deutschland und nehmen uns Türken die Arbeitsplätze weg" (IRONIE UND STARIRE!!!) Immer wieder sind es Abgrenzungen und imaginierte (Eigen-und Fremdgruppen) die uns allen das Leben schwer machen. Ach wie schön wäre ein WIR statt wir gegen DIE.



...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 02, 2019, 02:55:34 PM
Quote[...] "Ich bin Jahrgang 1975, habe die DDR, die Wendezeit, zwei Systeme, zwei Schulsysteme, zwei Kulturen miterlebt. Unsere Generation hat so viel zu erzählen, und keiner fragt uns. Zumindest nicht im Westen, in dem ich seit 1992 lebe. Als die Mauer fiel, war ich in der achten Klasse. Alles brach zusammen, Chaos, alles war aufregend. Die Ernüchterung folgte aber schnell. Die Nachwendezeit war schwierig. Wir Jugendlichen fühlten uns komplett alleingelassen. Wir hatten irgendwie nur uns. Unsere Eltern waren mit sich beschäftigt (Wo finde ich Arbeit? Wie bekomme ich den Kühlschrank voll?). Unsere Lehrer waren in ihrer individuellen Vergangenheitsaufarbeitung gefangen. Toll. Da sitzt du als Jugendlicher in Westmecklenburg fest, wo nichts los ist. Hohe Arbeitslosigkeit, existenzielle finanzielle Probleme, Alkoholmissbrauch, Zukunftsangst. Das war für uns der mentale Super-GAU.

Juli 1992, letzter Schultag und mit wehenden Fahnen in den Westen. Ich habe dann den Osten verlassen. Von einem kleinen Dorf in die Metropole. Die totale Reizüberflutung, neues System, andere Kultur, anderes Leben. Dann Handelsschule, Berufsausbildung. Unsere Eltern haben das nie verkraftet. Sie hatten so viele Sorgen und Ängste in dieser Zeit. Und dann hauen auch noch die Kinder in Scharen ab. Da ging ein Riss durch viele Familien. Viel Neid und Hässlichkeiten. Auch darüber spricht bis heute niemand. Als ich dann 1995 meine Berufsausbildung angefangen habe, begriff ich sehr schnell: Oute dich nicht als Ossi! Einige unserer Vorgänger hatten wohl für einen gewissen Ruf gesorgt. Aber ich bin meinen Weg gegangen. Ich lebe heute immer noch im Westen. Meine Entscheidung war für mich richtig. Aber ich habe mich vom Osten entlebt. Und mir geht es gut dabei. Ich glaube, viele Biografien ähneln meiner. Die Neunziger waren die geilste Zeit meines Lebens. Ich möchte nichts missen, ich habe so viel gelernt. Ich würde alles wieder so machen."

Andreas Grunberg, 43, stammt aus Mecklenburg. Er lebt in Hamburg und arbeitet im Marketing

"Erwachsene Ostdeutsche ab 40 haben eine zweigeteilte Biografie. Das macht sie einzigartig. Beide meiner Elternteile sind Akademiker. Hätte es die Wende nicht gegeben, ich hätte schlechte Voraussetzungen gehabt, im Arbeiter-und-Bauern-Staat in den Genuss höchster Bildung zu kommen. Die identitätsstiftenden Assoziationen mit der eigenen ostdeutschen Vergangenheit gliedern sich bei mir in drei Hauptkategorien: Stolz, Dankbarkeit und Unverständnis. Stolz auf meine Herkunft: Halle-Neustadt. Stolz zu sein auf die eigene Herkunft, das liest man von anderen Autoren, die sich mit ihrer ostdeutschen Herkunft auseinandersetzen, erstaunlich selten. Ich habe meine ostdeutsche Herkunft nie verheimlicht, nie versteckt – im Gegenteil, ich gehe damit sehr offensiv um. Meine Heimat ist und bleibt Mitteldeutschland – auch wenn ich schon seit 13 Jahren in Frankfurt am Main wohne und davor eine Zeit lang in Wien studiert sowie in Singapur, München und Düsseldorf gelebt und gearbeitet habe.
Die ostdeutsche Herkunft zu erwähnen, das sorgte in einigen wenigen Situationen für Ablehnung. In den allermeisten Fällen, und interessanterweise im Ausland ausschließlich, entwickeln sich daraus aber sehr interessante Gespräche. Regelrechte Verbrüderungen erlebe ich regelmäßig, wenn ich in den Ländern des Ostblocks unterwegs bin. Die Geschichte und auch die Mentalität eines Polen, Slowaken oder Ungarn ist der eines Ostdeutschen eben doch sehr ähnlich. Wer die Menschen dieser Länder verstehen will, sollte mit dem Osten des eigenen Landes beginnen (oder umgekehrt). Neben dem Stolz auf meine ostdeutsche Herkunft empfinde ich Dankbarkeit – für die sich mir eröffnenden Möglichkeiten, die sich mit Sicherheit ohne eine politische Wende in der DDR nicht ergeben hätten. Und zwischen Stolz und Dankbarkeit mischt sich in meiner Gefühlswelt aber zunehmend auch Unverständnis über die Ignoranz, mit der einer 40-jährigen Geschichte eines Teils der Republik begegnet wird."

Tobias Volk lebt in Frankfurt/Main und arbeitet bei der Bundesbank. Er stammt aus Halle/Saale

Quote"Vor etwas mehr als 16 Jahren bin ich von Greifswald nach Berlin gezogen. Mein damals 42-jähriges Leben hatte ich in dieser Stadt verbracht. Und alles Mögliche aus beiden Systemen kennengelernt. Ich fahre ungerne 'nach Hause', nach Greifswald. Es ist mir eigentlich etwas unverständlich, aber ich habe eine regelrechte Aversion, in die alte Heimat zurückzukommen. Wenn mich jemand fragt, behaupte ich immer, die Stadt ist mir zu klein geworden. Aber ich habe auch das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören. Die Stadt ist sehr hübsch geworden, bunt, niedlich und grün. Aber ich gehöre dort nicht mehr hin."

Andrea Schulteisz, 60, lebt als Buchhalterin in Berlin

"Ja, der goldene Westen lockte schon. Aber nicht jeder konnte gehen. Als meine Vorgesetzte bei einer Besuchsreise gleich im Westen blieb, wurde ich Chefin einer kleinen Sparkassen-Geschäftsstelle. Da hatte ich voll zu tun. An Auswandern war nicht zu denken. Mein Haus, meine Eltern hätte ich nie verlassen. Also habe ich meinen Weg hier im Osten bestritten. Die Währungsumstellung war für uns in der Sparkasse die größte Herausforderung. 14 Stunden am Tag haben wir Frauen gearbeitet. Wir wollten schon Campingbetten aufstellen. Nach der Währungsumstellung ging es weiter: Weiterbildungen, Weiterbildungen, Weiterbildungen. Wichtig war es, die Kunden zu behalten. Auf einmal waren jetzt ja noch andere Banken da. So begann für mich ein Weg mit einem Studium nach dem anderen. Jetzt bin ich Sparkassenbetriebswirtin. Arbeite jedoch nicht mehr in meinem Beruf. Ja, wir Dagebliebenen mussten einen hohen Preis bezahlen. Die Wege der Ost-Frauen sind so unterschiedlich."

Sibylle Hörtz, 57, lebt als Autorin in Stralsund



Aus: "Wir da drüben" (2. Februar 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/2019/06/ost-west-wanderung-persoenliche-geschichten (https://www.zeit.de/2019/06/ost-west-wanderung-persoenliche-geschichten)

QuoteUnterlinner #4

,,Und zwischen Stolz und Dankbarkeit mischt sich in meiner Gefühlswelt aber zunehmend auch Unverständnis über die Ignoranz, mit der einer 40-jährigen Geschichte eines Teils der Republik begegnet wird."

Geht mir genauso.

Wieviele der Ostdeutschen interessieren sich dafür, wie die BRD zu dem Staat wurde, der er 1990 war?

Spiegelaffäre, Fritz Bauer, 68'er, Wyhl [AKW-Widerstandes am Kaiserstuhl], heißer Herbst, NATO-Doppelbeschluß, Brockdorff usw.


Quoteunabhängiger beobachter #5

Der Westen lockte und lockt mit Jobs und besserer Bezahlung. 30% Unterschied nach nunmehr 30 Jahren 'Wiedervereinigung' ist immer noch schwer erträglich!


...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 12, 2019, 04:51:59 PM
Quote[...] Der Osten steckt schon längst im Wahlkampf. Auch wenn es nur drei Bundesländer sind, die in diesem Jahr neue Regierungen wählen. Und in allen dreien droht die AfD mit hohen Wahlergebnissen zu punkten. Logisch, dass der Wahlkampf auch die Bundesebene erreicht und dass die SPD nach Jahren der Stille wieder Vorschläge für die Niedriglöhner und Armutsrentner im Osten macht. Auf die ausgerechnet der Ostbeauftragte der Bundesregierung mit dem Vorwurf der Jammerei reagierte. Dafür bekam er jetzt einen Offenen Brief von Martin Dulig.

,,Die SPD hat den falschen Ansatz", erklärte der Christdemokrat und Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie Christian Hirte, der aus Thüringen stammt und deshalb auch die Funktion des Ostbeauftragten der Bundesregierung bekleidet, in der ,,Thüringer Allgemeinen". ,,Es hilft nicht, nur herumzujammern, dass die Ostdeutschen zu kurz gekommen sind und deshalb mehr Geld verteilt werden muss."

Und er legte noch einen drauf, der dann aber ganz schlecht ankam: ,,Die Larmoyanz, welche die SPD vor sich herträgt, bestätigt nur das falsche Image des Jammerossis und schadet uns als attraktiver Standort im Wettbewerb der Regionen."

Schon am 7. Februar hatte er im Interview mit der LVZ ganz ähnliche Töne von sich gegeben. Die hatte provozierend gefragt: ,,Ein letztes Feld des Unbehagens ist das mentale. Plötzlich stehen ,Besserwessis' und ,Jammerossis' wieder gegeneinander. Wie erklären Sie sich das?"

,,In der Tat, die Debatte war völlig weg, bis sie jetzt auf einmal wieder hochkam – besonders ausgelöst durch die AfD", meinte Hirte. ,,Dass dabei auch unser Koalitionspartner in den Jammer-Duktus einfällt, kann ich politisch nicht nachvollziehen. Wir haben mehr Anlass, mit Stolz auf das Erreichte und mit Optimismus in die Zukunft zu blicken, als auf die Dinge zu schauen, die eben nicht hervorragend funktioniert haben."

So habe es zwar ,,politische und wirtschaftliche Unfälle auf dem Weg nach 1990, gerade wenn man sich die Treuhand anschaut" gegeben, räumte Hirte ein. Gesamt habe man jedoch eine tolle Entwicklung gehabt und jeder ,,der rumjammert, der soll sich mal in Osteuropa umsehen". Um noch nachzuschieben, wie es denn gekommen wäre, wenn es keinen Mauerfall oder die Einheit gegeben hätte. Ein Totschlagargument, mit welchem nun seit Jahren jede differenzierte Diskussion über die ökonomische Sonderstellung in Ostdeutschland vor allem seitens der CDU abgebügelt wurde. Eines, welches zudem niemand anführt, wenn es um die Zeit eben nach 1990 geht.

Auf die Aussagen in der ,,Thüringer Allgemeinen" reagierte am Sonntag, 10. Februar, Martin Dulig, der sächsische SPD-Vorsitzende, schon mit einer geharnischten Kritik. ,,Die Aussagen von Christian Hirte offenbaren fehlendes Wissen und eine fehlende Haltung gegenüber den Lebensleistungen und die Lebenssituation der Menschen in Ostdeutschland. Dass Hirte das alte Klischee des ,Jammer-Ossis' bedient, ist seiner Funktion als Ostbeauftragter der Bundesregierung unwürdig. Er zielt auf die SPD, trifft aber die Würde aller Menschen, die hier leben. Das werde ich nicht zulassen", sagte Dulig, der seinerseits in der SPD der Sprecher für den Osten ist.

,,Herr Hirte nennt es ,herumjammern', wenn man eine Grundrente für jene fordert, die gerade im Osten ihr Leben lang gearbeitet haben und dennoch genauso in der Grundsicherung landen würden wie die, die nicht gearbeitet haben. Diese Einschätzung halte ich für falsch. Die Grundrente ist eine Anerkennung von Lebensleistung. Das hat etwas mit Respekt zu tun. Deshalb lehnen wir eine entwürdigende und bürokratische Bedürftigkeitsprüfung auch ab."

Da hat Dulig sichtlich mehr Kontakt zu den arbeitsamen Ostdeutschen, die gerade im Niedriglohnland Sachsen wissen, was am Ende übrig bleibt, wenn man jahrelang in prekären Jobs beschäftigt ist. Christian Hirtes Worte klingen nach all den Motivationskursen, die man auch im Osten seit 1991 erleben konnte.

Kurse, die ihren Teilnehmern auch ein Leben in Wohlstand verhießen – wenn sie sich nur eben anstrengen und ranklotzen. Aber genau zwischen diesen Verheißungen (die auch in der Eigenwerbung der Landesregierungen noch immer dominieren) und der finanziell sehr knappen Realität vieler Ostdeutscher klafft eine große Lücke.

,,Herr Hirte meint tatsächlich, es schade dem Standort Ostdeutschland, wenn man über Ungerechtigkeiten in der Nachwendezeit und ihre Folgen bis heute spricht. Ich kann verstehen, dass ein CDU-Politiker nicht gerne über die rücksichtslose Privatisierungspolitik der Treuhand und gebrochene Versprechen unter Helmut Kohl sprechen möchte. Aber ich glaube, wir müssen das tun, um die Herzen der Menschen für die Zukunft zu öffnen", sagte Dulig.

Mehr noch wahrscheinlich. Die Geschichte der Deindustrialisierung durch DDR- und Nachwendezeit ist maßgeblicher Bestandteil der neueren ostdeutschen Geschichte. Die Folgen bekam Hirte anlässlich seines Besuches bei der IHK Leipzig von IHK-Präsident Christian Kirpal am 20. Juni 2018 noch einmal deutlich vor Augen geführt. Nur 10 Prozent aller Leipziger Unternehmen beschäftigen mehr als 10 Leute, so Kirpal, den Sprung auf das wirkliche Mittelstandsparkett schaffe man nur mit Förderungen von 2 bis 10 Millionen Euro. Höchste Zeit also eigentlich für ein echtes Mittelstands-Förderprogramm, dessen Nutznießer ortsansässige Firmen sein müssten.

Da hilft auch Hirtes Blick nach Bayern nichts, die angebliche Begründung für den Reichtum des südlichen Bundeslandes geht zudem gründlich an den Fakten vorbei. Es läge am ,,souveränen Auftritt".

Was Dulig nun zur Replik nötigte: ,,Es ist außerdem bemerkenswert, wie wenig Ahnung Hirte von der Geschichte Bayerns hat: Bayerns wirtschaftlicher Aufstieg liegt nicht an einem ,souveränen Auftritt', sondern daran, dass Firmen wie Siemens, die Allianz oder Agfa ihren Sitz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von Berlin nach München verlegten. Genau diese Firmenzentralen fehlen im Osten bis heute. Deswegen plädieren wir als Ost-SPD auch dafür, dass der Osten insgesamt eine größere Rolle spielt. Zu häufig herrscht in der Bundespolitik ein Westblick. Spezifische ostdeutsche Bedingungen und Bedürfnisse werden oft zu wenig mitgedacht."

Ganz zu schweigen von den vielen gut ausgebildeten Mitarbeitern, die auch bayrische Firmen nach 1990 aus dem Osten ernten konnten, mindestens 700.000 waren es beim großen Braindrain nach der Wende.

Dulig empfahl Christian Hirte zudem, die kürzlich veröffentlichten Papiere der Ost-SPD zu lesen: ,,Natürlich sind neben der sozialen Frage die Themen von Innovation-, Forschung und Infrastruktur für Ostdeutschland zentral. Deswegen wundere ich mich, dass Hirte seiner CDU-Kollegin Karliczek nicht lauter widersprochen hat, als diese behauptete, man brauche 5G ,nicht an jeder Milchkanne'. Ich denke, Christian Hirte ist sich hier eigentlich mit der Ost-SPD einig: Wir brauchen im Gegenteil eine Versorgung bis in die kleinen Dörfer – also auch an jeder Milchkanne."

Und dann hat er sich hingesetzt, und auch noch einen ganz persönlichen Brief an Christian Hirte geschrieben. Obs dabei hilft, dem ,,Ostbeauftragten" der CDU den Osten jenseits der Titulierung als ,,Standort" zu erklären?

Hier ist er: Offener Brief Martin Dulig an Ostbeauftragten Christian Hirte (Berlin/Dresden, 10.02.2019)
https://www.l-iz.de/wp-content/uploads/2019/02/190210-Offener-Brief-Martin-Dulig-an-Ostbeauftragten-Christian-Hirte.pdf (https://www.l-iz.de/wp-content/uploads/2019/02/190210-Offener-Brief-Martin-Dulig-an-Ostbeauftragten-Christian-Hirte.pdf)


Aus: "Den Vorwurf Jammerossi will Martin Dulig dem Ostbeauftragten so nicht durchgehen lassen" Ralf Julke & Michael Freitag (11. Februar 2019)
Quelle: https://www.l-iz.de/politik/sachsen/2019/02/Den-Vorwurf-Jammerossi-will-Martin-Dulig-dem-Ostbeauftragten-so-nicht-durchgehen-lassen-258652 (https://www.l-iz.de/politik/sachsen/2019/02/Den-Vorwurf-Jammerossi-will-Martin-Dulig-dem-Ostbeauftragten-so-nicht-durchgehen-lassen-258652)

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 28, 2019, 12:32:27 PM
Quote[...] Nicht alles war in der DDR so einfach, wie sich scheiden zu lassen. Eine durchschnittliche Trennung erfolgte in der sozialistischen Republik innerhalb eines Monats, unkompliziert und kostengünstig. Vom Ehekonflikt und von den emotionalen Belastungen abgesehen, blieb das für Ostfrauen wirtschaftlich folgenloser als für Westfrauen. Sie sollten dem sozialistischen Ideal nach emanzipiert und unabhängig sein. Im Verlauf der knapp 40 Jahre DDR-Geschichte wurden sie das auch, mal staatlich verordnet, mal aus eigenem Antrieb – mit oder ohne Gatten.

Im Zuge meiner Forschungen habe ich unter anderem Juristinnen und Juristen aus Ost und West interviewt. Sie erinnern sich an die Verblüffung vieler ehemaliger DDR-Bürger, dass sie trotz der Trennung füreinander sorgen und miteinander verbunden sein sollten. Hatten sie sich nicht scheiden lassen, um genau das zu beenden? DDR-Familienrichterinnen wie Evelyn Tretschow* waren irritiert, dass Dinge wie nachehelicher Unterhalt – für die Frau! – plötzlich eine Rolle spielten. ,,Es gab ja kaum Hausfrauen. Die Eigenverantwortung war jedem klar." Rückblickend sagt sie, sie habe ,,wenig Einfühlvermögen für viele Westfrauen" gehabt, ,,die hier rüberkamen" und ,,flotte Locke Unterhalt geltend gemacht haben". Für die Ostfrau sei klar gewesen, ,,die muss arbeiten gehen". Der Westfrau habe sie entgegnet: ,,Du kannst dich hier nicht ausruhen."

Das DDR-Scheidungsrecht folgte dem Emanzipationsgedanken im SED-Regime. Die Trennung beendete jegliche familienrechtliche Bindung, außer bezüglich der Kinder. Die geschiedenen Gatten sollten ihr Leben unabhängig voneinander führen und sich entsprechend eigenverantwortlich versorgen. Das klassische Versorgermodell – also die Regelungen des sogenannten Ehegattenunterhalts – gab es nicht. Dieses Konstrukt war Ostdeutschen fremd. Sozialistische Gerichte gewährten es nur in Ausnahmefällen.

Seit den 1970er Jahren erhielten vor allem Mütter mit Kleinkindern finanzielle Unterstützung vom Ex-Ehemann, wenn sie beispielsweise keinen Krippenplatz hatten und den Unterhalt nicht selbst bestreiten konnten. Insgesamt war Ehegattenunterhalt bis zum Ende der DDR zur Marginalie geworden und wurde nur noch in etwa drei Prozent der Scheidungsfälle zugesprochen.

Der Anwältin Marie Bergmann* und der Richterin Hanna Nordmann*, die beide in der Bonner Republik sozialisiert wurden, aber in beiden Teilen Deutschlands tätig waren, ist noch sehr präsent, wie selten ostdeutsche Frauen nach der Einheit nachehelichen Unterhalt beantragten. Sie seien erst gar nicht mit dieser Erwartung gekommen, während westdeutsche Mandantinnen massiv auf Alimente gedrängt hätten. Marie Bergmann sagt, der Versorgungsgedanke aus der Ehe heraus sei im Westen noch heute ausgeprägter als im Osten, wo ,,man für sich selber verantwortlich war". Die 2008 in Kraft getretene Unterhaltsrechtsreform habe jedoch dazu geführt, dass ,,die gesamtdeutsche Wirklichkeit den Westen eingeholt" habe.

Hanna Nordmann pflichtet ihr bei. Aus ihrer Sicht sei es für ostdeutsche Frauen normal, ,,immer ihr eigenes Geld" zu haben. Sie wollten mit der Scheidung nicht nur unter die emotionalen, sondern auch unter die wirtschaftlichen Beziehungen einen Schlussstrich ziehen. Für viele ostdeutsche Frauen war es trotz der neuen Bedingungen nach 1990 keine Option, ,,nur" Hausfrau zu sein, sich vom Ehemann versorgen zu lassen und nach der Scheidung finanziell an den Ex-Mann gebunden zu bleiben. Fast 30 Jahre nach der deutschen Einheit hat sich die Gesellschaft in Ost und West weiter verändert. Ein Blick in die Familiengerichts-Statistiken der Jahre 2012 und 2017 zeigt aber, dass die Frage des Ehegattenunterhalts im östlichen Bundesgebiet im Vergleich zum westlichen bis heute deutlich seltener, nämlich weiterhin nur halb so oft, relevant ist.

Die Gleichberechtigung war ein sozialistisches Ideal. Frauen sollten nicht nur Familienarbeit als Hausfrau und Mutter, sondern auch Erwerbsarbeit leisten – offiziell im Interesse ihrer Selbstverwirklichung. Jenseits dieser ideologischen Vorstellung veranlassten das SED-Regime auch praktische Nöte dazu, Frauen für die Arbeit zu gewinnen. Es versuchte die Vereinbarkeit von Familie und Beruf also auch aufgrund des Arbeitskräftemangels in der DDR zu fördern. Insbesondere seit den 1970er Jahren setzte die Parteiführung auf zusätzliche Vergünstigungen für Mütter wie geringere wöchentliche Arbeitszeiten, den monatlichen Haushaltstag, finanzielle Unterstützung während des Studiums oder der Ausbildung oder das sogenannte Babyjahr. Zudem wurde das Kinderbetreuungsnetz ausgebaut, sodass 90 Prozent der Kinder 1989 einen Kindergarten besuchten. Die Frauenerwerbsquote lag bei etwa 80 Prozent. Die Doppelverdiener-Ehe wurde zum dominierenden Modell.

Das Postulat der Gleichberechtigung galt auch für die Ehe. Schon das Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau von 1950 trat dem tradierten Geschlechterbild des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) entgegen. Frauen durften demnach nicht daran gehindert werden, einen Beruf auszuüben, und sollten gleichberechtigt mit ihrem Ehemann über die eheliche Wohnung oder das Vermögen entscheiden. Nach dem Familiengesetzbuch von 1965 sollten explizit beide Ehepartner bei der Kindererziehung und Haushaltsführung mitwirken.

Trotz dieser ,,Emanzipation von oben" trugen Frauen im Alltag die Doppelbelastung durch Vollzeiterwerb und Familie. Sie verrichteten weiterhin etwa 80 Prozent der Hausarbeit, der nur sekundäre Bedeutung zugemessen wurde. Viele Frauen arrangierten sich aber mit dieser Rolle und empfanden sich insgesamt als gleichberechtigt. Zusammen mit dem in der Familien- und Arbeitswelt stetig propagierten Slogan der Gleichberechtigung entstand eine Art ,,innerer Emanzipation", die bis heute spürbar ist.

In der alten Bundesrepublik blieben Frauen häufig zu Hause oder arbeiteten in Teilzeit. Es dominierte das sogenannte Allein- oder Zuverdiener-Modell. Sie sollten ihren Lebensstandard auch nach einer Scheidung aufrechterhalten können. Entsprechend stellte nachehelicher Unterhalt bei westdeutschen Scheidungen einen gängigen Regelungsgegenstand dar. Im Zuge der deutschen Einheit 1990 trafen die gesellschaftlichen Prägungen der ostdeutschen Bevölkerung auf das bundesdeutsche Versorgerleitbild und seine familienrechtlichen Regelungen.

Den Versuch, Unterhalt geltend zu machen, unterließen ostdeutsche Eheleute oft, egal ob beide arbeiteten oder nicht. Es gab sogar eine ausgeprägte Neigung, darauf zu verzichten – selbst bei Not oder Berufs- und Erwerbsunfähigkeit. Wies eine Juristin oder ein Jurist auf die Tragweite eines solchen Verzichts hin, erklärten die scheidenden Eheleute bisweilen, sie beabsichtigten schließlich nicht, ihren Beruf aufzugeben.

Richterin Hanna Nordmann meint, die ,,Wende" habe in den vergangenen Jahren auch im Westen einen Bewusstseinswandel befördert. Das Verständnis dafür, dass Frauen arbeiten und die Kinder in eine Krippe gehen könnten, sei gewachsen. Die Realität ist auch, dass das Familieneinkommen selten ausreicht, in der Regel müssen beide arbeiten, weil ein Gehalt nicht mehr genügt. Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums werteten 2015 über 56 Prozent der West- und 77 Prozent der Ostdeutschen das System der Kinderbetreuung und die Frauenerwerbstätigkeit in der DDR als ,,positive Impulse für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf" und als Gleichstellungsgewinn für die gesamtdeutsche Gesellschaft.

Der Transfer zwischen West und Ost war keine Einbahnstraße. Beim Vereinigungsprozess wurden nicht lediglich westdeutsche Normen und Werte auf den Osten übertragen. Die innere Emanzipation der ostdeutschen Frauen überdauerte den Systemwechsel und seine umfangreichen Brüche. Bis heute wirkt sie in die vereinigte Gesellschaft hinein.

* Die Namen der Interviewten wurden geändert

Anja Schröter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Ihre Dissertation wurde unter dem Titel Ostdeutsche Ehen vor Gericht. Scheidungspraxis im Umbruch 1980 – 2000 veröffentlicht


Aus: "Wer braucht schon Kerle?" Anja Schröter (Ausgabe 04/2019 )
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/wer-braucht-schon-kerle (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/wer-braucht-schon-kerle)

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Grenzpunkt 0 | Community

Sehr guter Text, aber wer braucht solch eine Überschrift und welchem Denken entspringt diese?


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Magda | Community
@ Grenzpunkt 0

Da darf ich mal zustimmen. Vor allem haben die Frauen im Osten so nicht gedacht. Es gab einen sehr viel respektvolleren Umgang zwischen den Geschlechtern. Es gab durchaus Konflikte, aber die hatten mit Geld oder Versorgung weniger zu tun.

Das beste Lied aus jener Zeit stammt von der tragischen Gestalt Kurt Demmler mit seinen hervorragenden Liedern und Texten.

Lied für Maria: https://www.lyrix.at/t/kurt-demmler-dieses-lied-sing-ich-den-frauen-maria-e0b (https://www.lyrix.at/t/kurt-demmler-dieses-lied-sing-ich-den-frauen-maria-e0b)
QuoteKurt Demmler Dieses Lied sing ich den Frauen (Maria) Songtext

Künstler: Kurt Demmler
Titel:     Dieses Lied sing ich den Frauen (Maria)
Typ:     Liedertext

Dieses Lied sing' ich den Frauen
Die allein sind in den Nächten
Ihr Alleinsein nicht verdau'n
Und so gern bei ihm sein möchten
Dieses Lied sing ich Maria
Die schon auf der Penne alles ausprobierte
Und dann abging, denn sie kriegte etwas Kleines
Und der Vater von Maria
Und der des begonnen Kindes
Wollten nichts mehr von ihr wissen
Geh' Maria und verwind' es
Und Maria schluckte heftig
Und es lag ihr schwer im Magen
Und ihr Kindchen lag daneben
Und sie wollt 's nicht nur ertragen
Sie besorgte sich ein Zimmer
Schlug mit ihrer kleinen frommen Faust
Das Mutterschutzgesetz auf den Tisch
Bis sie 's bekommen
Und sie malte es auch selber
Wusste bald schon
Mit den Türen und Handwerkern umzugehen
Wenn sie knarren, muss man schmieren
Nach gesetzmäßigen Ablauf
Und wie man ihr sagte: "schmerzarm"
Schenkte sie 'nem Sohn das Leben
Der machte ihr das Herz warm
Klagte auf mehr Alimente
Denn das Söhnchen war ihr treuer
Zahlpflichtig ein Tanzmusiker
Der beschiss nämlich die Steuer
Später ging sie selbst verdienen
Lange stand es auf der Kippe
Arbeit gab es, wo sie suchte
Aber dort gab 's keine Krippe
Als sie eine Krippe hatte
War die Arbeit ihr nicht lieb
Doch was nicht war, wollt' man ihr machen
'S war ein Zulieferbetrieb
Abends ging sie noch zur Schule
Und das Abitur viel schwer
Ihre Augen kriegten Ringe
Und ihr Ringfinger blieb leer
Manchmal saß zwar ein dem Kinde
Fremder Mann am Tische früh
Doch 's war immer nur ein Onkel
Und ein Vati war es nie
Dann bekam sie noch ein Studium
Das man gerade reformierte
So dass sie es ein Jahr kürzer
Als vorher und nachher passierte
Und sie wurde Redakteurin
Einer guten Wochenzeitung
Kam, weil sie den Mund aufmachte
Gleich in die Gewerkschaftsleitung
Wurde Mitglied DFD, DSF
Na, und so weiter
Setzte sich nicht immer durch
Wurde doch Abteilungsleiter
Wurde mit dem Kollektiv
Sozialistische Brigade
Manchmal lag sie auch schief
Doch auch dafür stand sie g'rade
Elternbeirat war sie auch
Doch ihr Sohn war gut gelungen
Kürzlich hat sie nun dem Handel
'Nen Trabanten abgerungen
Und der fuhr die zwei in 'n Urlaub
Dort erholten sie sich sehr
An den Vater dachten beide
Angeblich schon längst nicht mehr
Heute Nacht sah ich Maria
Eine Frau von Mitte dreißig
Steh'n in einer Telefonzelle
Tränen sah ich und nun weiß ich,
Dass emanzipierte Frauen
Die uns ach so stark erscheinen
Noch Jahrzehnte lang und länger
Nachts um ihre Schwächen weinen


Eines ist allerdings auch wahr: Ich kannte viele Frauen, die ein Kind hatten, aber nie den Kindesvater heiraten wollten.


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christina.m | Community

Das war schon eine interessante Zeit. Wenn man solche Dinge liest, stößt das schon zum Nachdenken an. Kann gut sein, dass früher wirklich einige Dinge besser waren. Nicht unbedingt alles, aber einiges bestimmt.


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moinmoin | Community

"Nicht alles war in der DDR so einfach, wie sich scheiden zu lassen."

Es war in der DDR einfach sich scheiden zu lassen - wie vieles andere auch, z.B. eine Arbeit zu finden, einen Krippen- oder Kindergartenplatz zu bekommen, Ausbildung, Beruf und Familie dank stattlicher Unterstützung unter einen Hut zu bekommen, mit der ganzen Familie Urlaub zu machen, als alleinerziehende Mutter wirtschaftlich unabhängig zu sein und nicht in unwürdige, armselige Verhältnisse "abzustürzen" wie in der BRD und um Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe ... betteln zu müpssen usw.

" Sie sollten dem sozialistischen Ideal nach emanzipiert und unabhängig sein."

Es wird Sie jetzt total überraschen Frau Dr. Schröter, aber ich kenne zig DDR-Frauen, einschließlich meiner Wenigkeit, die nicht SOLLTEN, sondern WOLLTEN und KONNTEN und DURFTEN - mit mehreren Kindern und mit und ohne (nicht erwerbstätigen, sondern studierenden) Kindesvater - und großzügige staatliche Unterstützung bekamen.

Und in der BRD habe ich das erste Mal Frauen kennen gelernt, die sagten: "Ich lass mir ein Kind machen, dann hab' ich ausgesorgt."


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moinmoin | Community


"Die Gleichberechtigung war ein sozialistisches Ideal."

Gleichberechtigung von Frauen war und ist seit Jahrhunderten ein Wunsch von Frauen. Sozialistische, insbesonders aber kommunistische Bewgungen haben maßgeblich und unter großen Opfern dazu beigetragen, dass in sozialistischen Ländern dieser Wunsch (mehr oder weniger, da abhängig von unterschiedlichen Faktoren) realisiert werden konnte.

"Frauen sollten nicht nur Familienarbeit als Hausfrau und Mutter, sondern auch Erwerbsarbeit leisten – offiziell im Interesse ihrer Selbstverwirklichung."

Ist es für Sie als Frau so schwer sich vorzustellen, dass Frauen Familienarbeit und Erwerbsarbeit leisten WOLLEN? Es bedeutet nicht nur ökonomische/finanzielle Unabhängigkeit, sondern auch ein gesundes Selbstwertgefühl, Stolz, Gemeinschaft, Erfolgserlebnisse, ein großes Stück Freiheit und und und!


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Regenwärmer | Community
@ moinmoin

Scheiden lassen war aber schon unangenehm, schließlich saß immer ein Schöffe, der aus der näheren Umgebung stammte, dabei.

Was den Unterhalt betrifft, das war irgendwie seelisch schon ein Bedürfnis. Hab weit über das 18. Lebensjahr der Kinder hinaus monatlich 550 DDR-Mark bezahlt. Das war einfach mein Wille. Obwohl es keine so genannte "Schuld" gab, wegen der wir uns scheiden ließen. Ich war "fremd" gegangen, was mit 22 nicht schwer war, weil man ja dauend mit selbstbewußten Frauen zu tun hatte. Sie war auch "fremd" gegangen, weil sie es einfach ausprobieren wollte. Es war wohl eine Art Befreiung undnatürlich Bestätigung..

Damals heiratete man ja früh. Mit 20. Das war normal. Es gab Ehekredit 5000 Mark. Wir bekamen sofort Wohnung. Und schliefen in der neuen Wohnung 4 Wochen nur auf Matratzen, die auf dem Boden lagen. Daß man uns beim Vögeln zusehen konnte war uns egal. Sexuell waren wir - im Gegensatz zu den Eltern -völlig unverklemmt.

Die Frauen zu DDR-Zeiten waren nicht "OHNE". Mann war auch öfter mal *Objekt der Begierde*. Es war auch schwer zu widerstehen, wenn sich eine Frau hinstellte und zu der eigenen Frau sagte: "Den will ich und den krieg ich auch!"

Später mit Ende 20 Anfang 30 - ich war damals junger NVA-Offizier in Schwerin - kam ich mal ins Lederwarenwerk. Hohohoho! Da wurde gepfiffen und gejohlt, als wir jungen Männer da hinein gingen.

Die Frauen waren einfach selbstbewußt und unabhängig. Wenn wir Männer über längere Zeit nicht zu Hause waren, dann arbeiten die Frauen im Haus eng miteinander zusammen. Kinder abholen, Schichtdienst, ins Bett bringen der Kinder, Schularbeiten, lernen und Nachhilfe für Kinder, da halfen sich alle gegenseitig. Der Zusammenhalt war sehr stark. Die Frauen halfen sich natürlich auch seelisch untereinander. Bei Liebeskummer, Streß bei der Arbeit...und und und. Wenn etwas nicht in Ordnung war, dnn bekam man schon mal von 2 oder 3 anderen Frauen die Leviten gelesen.

Wir hatten uns einen süßen kleinen Club geschaffen. Dort wurde gefeiert oder Hausversammlung gemacht. Meist mehr gefeiert :)

Nach der Wende waren einige Frauen doch sehr erstaunt, daß vertraute Dinge dann weg waren. Meine Tochter nervt mich heute noch, daß alle älteren Frauen "aus DDR-Zeiten" ganz etwas anderes erzählen, wenn ich von den sozialpolitischen Maßnahmen erzähle. Speziell Babyjahr und Thema Kinder. Irgendann hab ich sie gefragt:"Du, könnte e sein, daß sie nicht daran erinnert werden wollen, was sie verloren haben?"

Ab 1991 mußte ich dann ja Geld im Kapitalismus verdienen. Man hatte am Beginn jede Menge Ängste. Plötzlich war die Miete von 89 Mark auf 680 DM hochgeschnellt. Die 550 - jetzt DM -Alimente wollte ich auch nicht beenden. D.h. die fixen Kosten waren plötzlich enorm. Also ran an den Speck und Kohle machen. Was auch prima geklappt hat. Bestimmte Firmen haben uns noch während der Zeit als NVA-Offizier praktisch die Türen eingelaufen. Die wußten einfach, daß wir selbstständig und erfolgreich arbeiten konnten.Was auch geholfen hat, man kannte die leninschen Prinzipien des Wettbewerbs. (Hahahaaa!) Und wenn ich eines gelernt hab nach der Wende, die Wessis können sich daran - also an "ihrer Produktion" - total aufgeilen.

Zum Thema: Es ist enorm, was nach der Wende zerstört wurde. Man kann von einem Wende-Trauma reden. Besonders für Frauen. ( Franz Ruppert und Gerold Hüther sind da meine Buchfavoriten)

Nachsatz: Nach der Wende war ich mit meinen spritzigen jungen Leutnants ja auch logischerweise in Hamburg, in St. Pauli...warja ein Muss für Männer. Warum eigentlich?

Damals wurde mann da angesprochen, von süßen jungen Damen. Meine Jungs wollten mich absolut überreden, da mitzugehen. Ha! Das geht nicht bei mir. Mann braucht doch ein Gefühl, oder? Bin halt Ossi.

Bei meiner Arbeit hab ich dann mehrere Frauen aus dem Westen kennen gelernt. Deren Männer hier her gekommen waren, teilweise ehrlich zu helfen, teilweise einfach Karriere zu machen oder nur abzuzocken. Diese Frauen hatten echt Probleme hier im Osten normale zwischenmenschliche Kontakte zubekommen. Darum wurde ich ausgefragt von ihnen. Sie hatten einfach keinen Schimmer von der DDR und dem Drum und Dran. Sie hatten ein Schema das bestand aus:"Ihr Armen, ihr hattet ja nichts!" und "Stasi".


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Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 07, 2019, 09:38:09 AM
Quote[...] Sexuellen Missbrauch von Kindern gab es nicht in der DDR – nicht offiziell. Die Vorstellung, im selbst ernannten Arbeiter- und Bauernstaat könnten sich einige Arbeiter und Bauern an Schutzbefohlenen vergehen, war mit dem Anspruch des SED-Regimes nicht vereinbar, das moralisch überlegene Gesellschaftssystem zu sein. So heißt es in dem 1970 in der DDR publizierten Buch Gewalt- und Sexualdelikte: "In der DDR wurden im Ergebnis der gesellschaftlichen Umwälzungen die kapitalistische Ausbeutung als soziale Hauptursache der Kriminalität und damit auch die Gewalt- und Sexualdelikte beseitigt." 

Dabei konnten die Machthaber sehr wohl wissen, dass das Ausmaß des sexuellen Kindesmissbrauchs im Osten ähnlich hoch war wie im Westen, ergab eine Studie im Auftrag der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs im vergangenen Jahr. Doch um dies zu vertuschen, wurden Opfer nicht gehört, Kriminalstatistiken geheim gehalten und unzureichend geführt, Täter in den wenigsten Fällen verurteilt und, wenn überhaupt, nur milde bestraft. Die Folge war ein erzwungenes Schweigen. Es überlebte die DDR und geriet erst nach 2010 mit der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs unter dem Dach der Kirche in den Fokus der Forschung. 

Was die Studie von 2018 jedoch nur unzureichend erfasste, waren die individuellen Schicksale der Überlebenden. Das holt eine Fallstudie nun nach. Einer der Betroffenen ist Siegfried M. Er wurde von einem Erzieher im Kinderheim vergewaltigt. "Irgendwann", beschreibt M. in der Studie, "hat er von mir gelassen, hat sich angezogen und hat gesagt: 'Du brauchst keinem was zu erzählen, dir glaubt keiner was.' Und ist gegangen." Am Abend lagen zwei Tafeln Schokolade auf M.s Kopfkissen, ein Geschenk des Heimleiters. "Da wollte ich nur noch eines: Ich wollte weg. Weg aus diesem Heim, dass mit mir so was nicht wieder passiert. Ich hatte eine Heidenangst."

105 Anhörungen führten die Forscher um Beate Mitzscherlich von der Westsächsischen Hochschule Zwickau und Cornela Wustmann von der Technischen Universität Dresden durch, 34 Betroffene schilderten schriftlich ihre Erfahrungen.

Sexuellen Missbrauch, so ein Ergebnis der Fallstudie, gab es in allen Schichten und Berufsgruppen der DDR. Meist geschah er wie auch im Westen im Schutzraum der Familie. In der DDR habe die Familie jedoch den "ideologischen Auftrag des gesellschaftlichen Erziehungsgedankens" zu erfüllen gehabt, wie es in der Fallstudie heißt. Schließlich sollte in der Familie die "sozialistische Persönlichkeit" entwickelt werden, weshalb die Familie auch unter besonderer Beobachtung des allgegenwärtigen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) stand. Opfer sexuellen Missbrauchs hätten unter einer "hochgradigen Verschwiegenheitsverpflichtung" gestanden, heißt es in der Fallstudie. Sie konnten mit niemandem darüber reden, was es im sozialistischen Einparteienstaat nicht geben durfte.

Doch nicht nur im Schutzraum der Familie gab es sexuellen Missbrauch. Er kam, wie die Fallstudie ebenfalls erforscht, auch in den staatlichen Institutionen der Heimerziehung vor. Dort wurde Siegfried M. zum Opfer gemacht. Wie er hat auch Corinna Thalheim das Repressionssystem der DDR-Heimerziehung er- und überlebt. Sozial auffällige Kinder und Jugendliche sollten in den Jugendwerkhöfen der DDR zu "guten Sozialisten" umerzogen werden. Dazu war den Erziehern jedes Mittel recht. "Wir waren der Willkür unserer Erzieher schutzlos ausgeliefert", erinnert sich Thalheim bei der Vorstellung der Fallstudie. Physische und psychische Gewalt waren an der Tagesordnung. Zum sexuellen Missbrauch kam es, weil niemand den Erziehern Grenzen setzte.

Im Jahr 1984 wurde Thalheim wegen "Schulbummelei" den Eltern entzogen und in den Jugendwerkhof Lutherstadt Wittenberg eingewiesen. Dort begann, was die Forscher der Unabhängigen Kommission die "Eskalation der Heimkarriere" nennen. Wie viele der Zwangseingewiesenen versuchte sie, zu fliehen, andere begingen Selbstmord. Nach einem Fluchtversuch kam Corinna Thalheim im Jahr 1985 in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Der Jugendwerkhof war berüchtigt in der DDR. Beate Mitzscherlich von der Westsächsischen Hochschule Zwickau nennt Torgau das "Herz der Finsternis" im Heimsystem der DDR. Bis Ende der Achtzigerjahre wurden Kinder hier systematisch gebrochen. "Es war die organisierte Gewalt", sagt Corinna Thalheim heute. 

Heime wie Torgau sind allerdings kein Alleinstellungsmerkmal der DDR. Es gab sie auch im Westen. Auch dort kam es in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in Heimerziehung und Kinderpsychiatrie zu sexuellem Missbrauch und systematischer Gewalt. Doch während im Westen im Zuge der 68er-Bewegung das Konzept der "schwarzen Pädagogik" ab den Siebzigerjahren zunehmend hinterfragt und Kinder durch unabhängige Kontrollinstanzen besser vor Willkür geschützt wurden, geschah dies in den Jugendwerkhöfen der DDR nicht. In Torgau wurden Kinder bis zum Mauerfall gequält. In anderen Heimen und Jugendwerkhöfen setzte erst die Wiedervereinigung den Repressalien ein Ende.

Danach spielte das Leid der Überlebenden viele Jahre keine Rolle. Viele Betroffene konnten und wollten ihre Geschichten nicht öffentlich machen. Hinzu kam ein spezifisches Institutionenmisstrauen: Weil die Umerziehung durch Missbrauch in der DDR staatlich gewünscht und organisiert war, haben viele Überlebende bis heute Hemmungen, sich an staatliche Organe zu wenden. "Man hat uns zu vertrauenslosen Menschen erzogen", resümiert Corinna Thalheim. Um anderen Überlebenden eine Stimme zu geben, engagiert sie sich seit einigen Jahren als Vorstandsvorsitzende der Betroffeneninitiative Missbrauch in DDR-Heimen. 

Einen Anspruch auf Entschädigung haben die meisten Überlebenden bis heute nicht. So gilt das Opferentschädigungsgesetz etwa nur für Missbrauchsfälle, die nach 1990 stattgefunden haben. Zwar können Betroffene aus einem Entschädigungsfonds des Familienministeriums Leistungen beziehen. Nur gilt der bislang lediglich für Überlebende des sexuellen Missbrauchs in Familien. Heimkinder wie Corinna Thalheim werden nicht berücksichtigt. Ein entsprechender Heimkinderfonds ist seit dem Jahr 2014 geschlossen.

Auch das von einigen Bundesländern initiierte Ergänzende Hilfesystem (EHS) für Betroffene sexuellen Missbrauchs in staatlichen Institutionen der DDR steht vielen Betroffenen nicht zur Verfügung. Zum einen sind die Antragsfristen abgelaufen. Zum anderen hat sich das Bundesland Sachsen-Anhalt gar nicht erst an der Finanzierung des EHS beteiligt. Corinna Thalheim ist empört und resigniert zugleich: "Wir sind auf uns allein gestellt."

Erschwerend komme das Wissen hinzu, dass die meisten Täter aufgrund der abgelaufenen Verjährungsfristen nicht mehr belangt werden können. Viele Täter leben heute als vermeintlich unbescholtene Bürger in Deutschland. Corinna Thalheim könnte einem von ihnen jeden Tag begegnen. Mit dieser Möglichkeit muss sie leben. Irgendwie. 


Aus: "DDR: "Wir waren der Willkür unserer Erzieher schutzlos ausgeliefert"" Raoul Löbbert (6. März 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-03/ddr-missbrauch-heime-familie-studie-sexuelle-gewalt/komplettansicht (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-03/ddr-missbrauch-heime-familie-studie-sexuelle-gewalt/komplettansicht)

QuoteE.Moritz #7

... und dabei hatte man immer gedacht, in der DDR gehe es humaner zu als in der Katholischen Kirche. Wieder mal bestätigt, wie misslungen der Mensch erschaffen wurde.


Quotemailo1 #12


Anderes System andere Art der Verschwiegenheit Grundproblem dort wie hier war und ist gleich. Aufarbeitung tut Not, ist aber schwer. Wie schnell ist ein Leben Zerstört weil jemand falsch beschuldigt wird, wie schnell ist ein Leben zerstört, weil keiner dem Betroffenen glaubt. Verschwiegenheit auch in der biederen Familie aus vielerlei Gründen. Das Thema ist ernst, traurig Aufarbeitung schwierig. Nur war es im Osten nicht schlimmer, diese Perversion zieht sich durch alle Gesellschaften und Schichten.


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Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 20, 2019, 03:25:53 PM
Quote[...] Ines Geipel, auch Ines Schmidt (* 7. Juli 1960 in Dresden), ist eine ehemalige deutsche Leichtathletin und heute Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst ,,Ernst Busch" Berlin. Sie betätigt sich als Schriftstellerin und Publizistin, besonders in der Aufarbeitung ihrer Erfahrungen als Opfer der DDR-Diktatur, vor allem des staatlich verordneten Dopings im DDR-Leistungssport. Als Themenfeld ergab sich in der DDR unterdrückte Literatur. Sie war maßgeblich daran beteiligt, die Schriftstellerin Inge Müller (1925–1966) bekannt zu machen. Zeitweise beschäftigte sie sich mit den Hintergründen von Massenmorden durch Einzeltäter.

... In ihrem 2019 veröffentlichten Buch Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass greift Geipel das für die DDR-Geschichte so signifikante Thema des Verschweigens aus der Sicht mehrerer Generationen auf. ... Ines Geipel ,,schreibt die Geschichte der DDR als ein Drama der jahrzehntelangen Schuldverdrängung", in dem die zahlreichen Belege für antisemitische Übergriffe in den Schubläden der SED-Funktionäre verschwanden, während in der Spätphase des Regimes ,,die versprengte, linke Punk-Szene kriminalisiert und zerrieben, die grassierende Skinhead-Kultur aber ignoriert oder sogar geduldet wurde. Auffallend oft, so Geipel, waren Skins Kinder von Stasi-Mitarbeitern, die dann Straftaten der eigenen Söhne deckten." Geipel ermöglicht einen objektiven, fast mikroskopisch-genau anmutenden Blick auf die politischen und psychologischen Wirkkräfte, die die DDR-Gesellschaft formte. Die Sprachgewalt der Literaturprofessorin Geipel stellt den erhellenden Innenansichten zur DDR-Geschichte die Wucht der Anklage zur Seite, die einer Aufdeckungsschrift per se innewohnt.


Aus: "Ines Geipel" (19. März 2019)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Ines_Geipel (https://de.wikipedia.org/wiki/Ines_Geipel)

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QuoteWas ist los im Osten? Die Frage stellen sich viele seit Pegida und hiesigen AfD-Erfolgen. Ines Geipel , 1960 in der DDR geboren und in einer Familie des bedrohlichen Schweigens aufgewachsen, Leistungssportlerin und 1989 Flüchtling, war bis vor kurzen Vorsitzende der Doping-Opfer-Hilfe. Jetzt beschäftigt sie sich in ihrem neuen Buch ,,Umkämpfte Zone" mit der Vergessenspolitik, die bis in die Eltern-Kind-Beziehung hin­ein unheilvoll wirkte. ...

[...] Jena/Berlin. Ines Geipel hat mit ,,Umkämpfte Zone – mein Bruder, der Osten und der Hass" ein sehr persönliches Buch geschrieben: Die einstige Spitzensportlerin und heutige Professorin und Schriftstellerin befasst sich mit ihrer Familiengeschichte – und sie zieht aus dem, was ihre Vorfahren in der Nazizeit und ihre Eltern in DDR-Zeiten getan, gelassen und verschwiegen haben, Rückschlüsse auf einiges, woran die Gesellschaft vor allem im Osten krankt. Anstoß für diesen Blick zurück gab die intensive Zeit, die Ines ­Geipel mit ihrem sechs Jahre jüngeren Bruder Robby verbrachte, als dieser Ende 2017 im Sterben lag.

Frau Geipel , die Großväter Nazis, deren Taten innerfamiliär immer verschwiegen wurden. Der Vater ein Stasimann, der heimlich im Westen zum Einsatz kam. Großmutter und Mutter sorgten dafür, dass der Nachwuchs nie die Wahrheit erfuhr. Wann haben Sie gespürt, dass das Ganze eine Lüge war?

Ines Geipel: Dass etwas nicht stimmt, nicht stimmen konnte, spürte ich schon als Kind. Das Schweigen, der Nebel, das Weggedrückte, die Gewalt. Aber wie dahinterkommen? Man läuft durch eine Zeit mit dem Gefühl: Hier ist so viel geschehen, aber es wird dir keiner sagen, was. Das war ein frühes Grundgefühl: Dass jeder von etwas anderem schwieg. In belasteten Familien existiert sicher noch einmal ein anderes Sanktuarium, sind die Mauern noch einmal dicker. Dabei geht es mir nicht um Vorwürfe, sondern um den Versuch, genau das zu verstehen: Was es so schwer macht, dafür eine Sprache zu finden.

Ihr Buch ,,Umkämpfte Zone" geht der Frage nach, warum die Menschen im Osten so sind, wie sie sind. Dabei kommen Sie zu dem Ergebnis, dass vor allem das seit Jahrzehnten anhaltende Schweigen – sowohl in und nach der Nazizeit, als auch in und nach der SED-Diktatur – die Menschen verbogen hat. Wenn Ihnen vorgehalten wird, Ihre Familie sei nicht typisch, was entgegnen Sie dann?

Ines Geipel: Mir ist natürlich klar, dass es auch viele gute, fürsorgliche Familien gegeben hat. Grundsätzlich aber mussten alle Familien im Osten mit Druck, Zumutungen, Ängsten, hochkarätigen Konflikten, Unbesprechbarem klarkommen. Das ist wie eine Lebenshaut, die sich über alles und jeden gezogen hat und die auch etwas Unentrinnbares hatte. Man ist nur sehr verschieden damit umgegangen. Und darum geht es mir: Das Dilemma des Ostens über eine lange Zeitschiene und den generellen Druck anzuschauen. Sicherlich ist in meiner Familie das Ganze zugespitzt, aber ein Extrem legt doch auch immer das Prinzip frei. Etwas wird kenntlicher dadurch.

Warum lässt sich aus dieser persönlichen Betrachtung ein genereller Schluss ziehen?

Ines Geipel: Ich erzähle von den Belastungen in einer Familie, die weit zurückreichen. Es ging mir dabei um historische Kontinuitäten und um lang wirkende Familienloyalitäten. Ich schreibe ja ausdrücklich, dass es schwer ist, damit klar zu kommen. Oft genug ist es unmöglich. Ich wollte noch einmal deutlich machen, dass der Osten damit zu kämpfen hatte und noch immer hat, eben, weil sich vieles unaufgelöst ineinandergeschoben hat. Ich schreibe von historischen Umschreibungen im Osten nach 1945 und von denen nach 1989. Das geht dann eben weg vom Einzelnen und bekommt etwas Symptomatisches, auch wenn die Ausprägungen natürlich sehr unterschiedlich sein ­konnten.

Jana Hensel und Wolfgang Engler greifen in ihrem Buch ,,Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein" ein ähnliches Thema, aber mit anderer Zielrichtung auf. Hensel etwa spricht vom ,,ossiphobischen Blick", wenn dem Osten sein Rechtsruck und seine latente Fremdenfeindlichkeit vorgehalten werden. Dieser Vorwurf der Ossiphobie könnte auch Sie treffen, oder?

Ines Geipel: Es gibt die unterschiedlichsten Ansätze. Aber die Phänomene sind ja nicht wegzublinzeln und belegt: 1. Jeder Zweite im Osten ist fremdenfeindlich. 2. Die Gewalt ist dreimal so hoch wie im Westen. 3. Jeder zweite Ostdeutsche will muslimische Zuwanderung untersagen. Es bringt doch nichts, das als Ossiphobie zu bezeichnen. Es sind Tatsachen. Sie tun weh und gehen auch nicht durch Entlastungsstrategien weg. Erst hatten wir die glückliche Einheitserzählung, grad finden wir es ganz angenehm, wenn all unsere Probleme mit der Einheit begonnen haben sollen. Wir haben aber, und das hat mit unserer speziellen Ostgeschichte zu tun, noch immer ein paar heiße Eisen im Eisschrank zu liegen, was nach mehr als einem halben Jahrhundert Diktaturgeschichte zwar nicht verwunderlich ist. Aber da werden wir wohl ranmüssen.

Ihr jüngerer Bruder, der Anfang 2018 so früh so schnell gestorben ist, hatte einen anderen Blick auf Familie und Geschichte als Sie. Steht er mit seiner Haltung auch für die Menschen, die vor allem ihre Ruhe haben wollen und die Vergangenheit verklären?

Ines Geipel: Verklärung, Entlastung oder auch Verdrängung sind ja nicht per se schlecht. Sie werden nur dann schwierig, wenn sie anfangen, einen zu blockieren. Mein Buch verzahnt Familiengeschichte und Zeitgeschichte. Da kann es nicht darum gehen: Der eine hat es richtig gemacht, der andere nicht. Ich liebe meinen Bruder. Das werde ich immer tun. Ich wollte anschauen, was mit dem Einzelnen ist, was er versucht oder eben nicht hinkriegt. Mein Bruder hatte zwei SS-Altväter und einen Vater als Terroragent. Also auf welches Männermodell konnte er zurückgreifen? Was war seine Orientierung? Nein, mein Bruder wollte keine Ruhe. Er hat in einem fort gesucht. Er war einer der sanftesten Männer und Menschen überhaupt. Aber was kann das Sanfte sein mitten im Terror? Wie findet man seinen eigenen inneren Ort? Das hat mich interessiert.

Was genau hatte Sie und Ihren Bruder entzweit, so dass sie sich jahrelang aus dem Weg gegangen waren vor seiner Erkrankung?

Ines Geipel: Es ging natürlich um die Familienlüge. Um das, was die SS-Altväter getan haben, was der Vater getan hat und was die Altmütter und die Mutter eisern beschwiegen haben. Das sind Kernfragen. Sie sind nicht nur sehr persönlich, sondern auch enorm angstbesetzt. Wenn es um Familie geht, geht es ja immer ums Eingemachte. Und im Osten halt um das psychische Erbe zweier Diktaturen und um Generationsweitergaben. Mein Bruder hat die Familiengeschichte verdrängt, aus Scham. Er wollte im Inneren nie mehr an den Ort zurück, wo er all die Gewalt erfahren hat. Er hat versucht, diesen Ort zu überlaufen. Sein Lebensprinzip lautete: positives Verleugnen. Das war unser Disput nach 1989. Und irgendwann war Sprechen nicht mehr möglich. Als er starb, waren wir uns sehr nah und auch versöhnt. Diese Nähe war unser Geschenk an den anderen im Abschied. Robby war, und das hat viel mit Kindheit zu tun, mein nächster Innenmensch.

Stellen Sie solche Entzweiung in vielen Familien gerade im Osten fest?

Ines Geipel: Jedenfalls ist heftig was los in den Familien. Man kann das auch als eine große Suche lesen, die noch immer mit der Wucht der Umbrüche nach 1989 zu tun hat. Soziologen sagen, dass die Familie im Osten nach dem Zeitenbruch zum Stabilisator, zur Orientierungs-Instanz und zum intimen Magneten gegen die große Verunsicherung werden musste. Umso wichtiger, was an den Familientischen, was an der Wurzel geschieht.

Sie erzählen in Ihrem Buch auch von Michael, einem einstigen Studienkollegen in Jena , widerständig zu Ostzeiten, engagiert zur Zeit der friedlichen Revolution, dann im Kulturbereich engagiert, eigentlich eher links ... Inzwischen ist er in Berlin , bei der AfD engagiert und hat offenbar keine Scheu vor Pegida und Neonazis bei der Chemnitz-Demo im Sommer 2018, weil er sich jetzt diesen Gruppen zugehörig fühlt ... Was ist mit Menschen wie Michael passiert?

Ines Geipel: Es gibt in unserer Kriegsenkel-Generation so viele, die ewig auf der Suche sind, nach der Zeit, nach guten Beziehungen, nach ihren Familien, nach sich selbst. Nun sind sie fünfzig, über fünfzig. Der Zeitraum für die große Klarheit oder den großen Zauber wird enger. Und nun bietet etwa die AfD etwas an, ihr ,gäriges Wir'. Das bedeutet Halt, Schutz, Kuhwärme. Das hat viel mit dem autoritären Charakter zu tun. Den sind wir nicht los. Und auf einmal ist so eine Partei plötzlich keine dramatische politische Verschiebung mehr, sondern ein Mainstream-Ding. Dabei geht es knallhart um Umschreibungen, Diskursräume, letztlich um politische Macht.

Der Michael von früher hätte wahrscheinlich dem Michael von heute die Meinung gegeigt, oder? Oder war dieses Unverortete, dieses Fundamentlose, dieses früher schon immer Dagegengewesene womöglich ein Anlass, sich jetzt, wo die Linken zum Teil sogar regieren, eben auf der anderen Seite außen anzusiedeln?

Ines Geipel: Es sind ja auch unsere Erfahrungen, die sich beschleunigen. Vieles kommt mir dabei wie eine Neubeatmung vor. Was wir nicht geklärt, nicht aufgelöst haben, die alten Gefühle, das alte Gift, siedelt sich nun leicht auf der anderen Seite an. Als gäbe es ein Diktat des vergangenen Jahrhunderts.

Die DDR ist jetzt bald 30 Jahre nicht mehr existent. Welche Rolle spielen denn konkret welche Art von Vereinigungsfehlern, wenn davon die Rede ist, dass sich Menschen im Osten als Bürger zweiter Klasse empfinden?

Ines Geipel: Ich habe in diesem Buch ausdrücklich nicht auf Treuhand, Geld, Rente geschaut, sondern auf das immaterielle Erbe der beiden Diktaturen, die den Osten geprägt haben. Es ging mir um seine Bewusstseinshaut, die mit der des Westens schlicht nicht kompatibel war. Hier kollidierten zwei politische Mythenströme, letztlich zwei Selbstverständnisse, die in meinen Augen nicht wirklich besprochen sind und regelmäßig zu harschen Missverständnissen führen. Das scheint mir aber als Verständigung, wohin Ost und West gemeinsam wollen, überfällig.

Im Trauerjahr haben Sie dieses Buch geschrieben. Was würde Ihr Bruder wohl dazu gen, wenn er es lesen könnte?

Ines Geipel: Ich wollte meinem Bruder mit diesem Buch einen Ort geben. Er sollte da sein, da sein können. In Bildern, mit Worten. Mehr kann ich nicht dazu sagen.

...

Ines Geipel: Umkämpfte Zone. Klett-Cotta-Verlag, 276 Seiten


Aus: "Ines Geipel beschäftigt sich in Buch ,,Umkämpfte Zone" mit der Vergessenspolitik" Gerlinde Sommer (18. März 2019)
Quelle: https://www.otz.de/startseite/detail/-/specific/Ines-Geipel-beschaeftigt-sich-in-Buch-Umkaempfte-Zone-mit-der-Vergessenspolitik-1755795807 (https://www.otz.de/startseite/detail/-/specific/Ines-Geipel-beschaeftigt-sich-in-Buch-Umkaempfte-Zone-mit-der-Vergessenspolitik-1755795807)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 24, 2019, 06:54:50 PM
Quote[...] Ines Geipel hat ein Archiv der unterdrückten DDR-Literatur mitgegründet. Es sammelt Texte, die nicht erscheinen durften und in Kladden überdauert haben. Bei ihrer Recherche stolperte die Schriftstellerin immer wieder über erschütternde Schicksale.

Ute Welty: Wie viel Freiheit braucht die Kunst? Literatur in der DDR war vielfältiger und ambivalenter, als es die publizierten Texte aus dieser Zeit vermitteln.

Etliches weiß man über staatstragende und über staatskritische Schriften, und dann weiß man wenig über das, was im Geheimen entstand. Schriftstellerin und Professorin Ines Geipel tritt an, um das Verborgene ans Licht zu holen. Sie nimmt heute teil an der Diskussionsrunde nach der szenischen Lesung im Museum für Kommunikation in Berlin. Was ist denn das für eine Literatur gewesen, die in der DDR keine Rolle spielen durfte?

Geipel: Sie sagen es ja schon, wir kennen die Staatsnamen – ich nenne einfach mal Namen: Hermann Kant. Wir kennen die Kritisch-Loyalen, Christa Wolf oder Brigitte Reimann, die ja auch heute noch sehr gelesen werden. Wen wir nicht kennen, sind die kritisch-illoyalen, also die subversiv-systemkritischen Autorinnen und Autoren.

Und Joachim Walther und ich, wir haben uns auf den Weg gemacht, haben Texte gesucht und haben ein Archiv unterdrückter Literatur zusammengestellt, über 100 Autorinnen und Autoren mittlerweile, an die 70.000 originale Manuskriptseiten, ein sehr, sehr intensives, reiches, auch disparates Material.

Welty: Sie haben die staatskritisch-loyalen Autorinnen und Autoren angesprochen im Gegensatz zu den staatskritisch-illoyalen, was bedeutet das für die Literatur, wie unterscheidet die sich?

Geipel: Dass man die einen kennt und die anderen tatsächlich nicht. Also es ist auch eine Geschichte der bislang verleugneten DDR. Wir sehen unsere Sammlung auch ein Stück weit als ein Versuch eines Gegengedächtnisses im Sinne des geschützten Bestandes der DDR-Literatur an. Was uns auch immer wieder ganz neu erschreckt, sind diese sehr, sehr harten Schicksale, also sehr viel Zuchthaus, früh verstummt, erkrankt, Suizid.

Die Staatssicherheit, das System hat sich schon sehr viel Mühe gegeben. Literatur – das wissen wir ja – wird in einer Diktatur immer extrem behandelt, und insofern ist diese Geschichte natürlich auch eine große Geschichte des denunzierten Wortes, der gestohlenen Sprache, aber eben auch des reduzierten und verstümmelten Denkens, und da haben wir viel zu entdecken.

Welty: Wie sind Sie dann auf die Idee gekommen, ein Archiv dafür zu gründen? Ich stelle es mir extrem schwierig vor, etwas archivieren zu wollen, was offiziell gar nicht existiert.

Geipel: Die DDR war lang und sie war gründlich, es gibt viel Material, aber das ist völlig richtig, was Sie sagen. Literaturgeschichte gründet sich ja oder auch eine Kanonfrage gründet sich ja natürlich auf Veröffentlichtes, und das haben wir versucht. Wir haben akribisch gesucht in den Nebennachlässen, zum Beispiel Franz Fühmann hat sich sehr für junge Autoren stark gemacht.

Wir haben, als wir begonnen haben mit dem Archiv, sehr viele Interviews gegeben, haben versucht, das Thema an die Öffentlichkeit zu bringen, aber das ist die Ironie der Geschichte: Der stärkste Materialgeber war für uns die Stasi-Unterlagenbehörde, eben gerade weil Autor*innen verhaftet wurden und die Texte eben auch immer Material für die Prozesse waren.

Welty: Welche Schicksale haben Sie für die Arbeit fürs Archiv kennengelernt, was hat Sie da besonders beeindruckt?

Geipel: Ein Beispiel nur: Edeltraud Eckert, 1930 in Schlesien geboren, Flucht mit den Eltern nach Brandenburg, in die Stadt Brandenburg, früher Widerstand, Gefängnis, Frauenzuchthaus Hoheneck, schwerer Haftunfall in dieser Zeit, kurz vor dem Unfall bekommt sie einmalig die Möglichkeit, ein Schreibheft, wo wir im Grunde auch jetzt diese Texte veröffentlichen konnten, mit 25 Jahren stirbt sie an Wundstarrkrampf im Haftkrankenhaus Meusdorf. Das sind diese Schicksale, denen wir begegnet sind und auf die wir nur mit Glück gestoßen sind, weil die Schwester sich bei uns gemeldet hat.

Welty: Und wie gehen Sie dann damit um, mit dieser Erfahrung? Das kann man ja dann nicht im Archivregal abstellen.

Geipel: Nein, eben, genau, darum geht es. Wir wollen nicht ein Archiv machen, um noch mal Leben zu archivieren, sondern es gibt eine Edition, die ,,Verschwiegene Bibliothek" bei der Büchergilde Gutenberg. Dort haben wir zehn Autorinnen und Autoren veröffentlichen können. Wir machen viele Veranstaltungen wie heute in Berlin, um eben auch die Texte, die Autoren mit ihren Schicksalen öffentlich zu machen. Wir finden, dass es richtig und Zeit ist, dieser in den Riss gefallenen Literatur und diesen Leben zu begegnen.

Welty: Im November ist der Mauerfall dann 30 Jahre her, das ist in einem Menschenleben eine lange Zeit, aber offensichtlich gelten für Geschichte und für Literatur andere Maßstäbe, oder?

Geipel: Ja, das wissen wir, und hier musste man ja auch ein bisschen um die Ecke denken, eben etwas, was so versteckt wurde, notwendigerweise, damit so ein System halten kann, versteckt wurde, in die Öffentlichkeit zu bringen. Und nun ist es da, nun kann es kennengelernt werden, und wir sind sehr gespannt auf die Resonanz.

Welty: Wen wünschen Sie sich als Leser, als Leserin?

Geipel: Alle, die Literatur lieben, es ist ein Literaturarchiv, und vor allen Dingen kann man in diesem Archiv ja den Gefühlen, nicht den Klischees, sondern den tatsächlichen Gefühlen in einer Zeit begegnen, und ich glaube, sich einfach hinsetzen – diese Texte sind möglich, sie sind da, sie sind öffentlich, und ein bisschen stöbern, das ist doch schon viel.


Aus: ",,Eine Geschichte der bislang verleugneten DDR""
Ines Geipel im Gespräch mit Ute Welty (05.03.2019)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ines-geipel-ueber-unveroeffentlichte-ddr-literatur-eine.1008.de.html?dram:article_id=442703 (https://www.deutschlandfunkkultur.de/ines-geipel-ueber-unveroeffentlichte-ddr-literatur-eine.1008.de.html?dram:article_id=442703)

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 16, 2019, 10:44:10 AM
Quote[...] Film [Der Funktionär Andreas Goldstein Deutschland 2018, 72 Minuten] - Andreas Goldstein spürt seinem lange verstorbenen Vater nach, dem einstigen DDR-Kulturminister Klaus Gysi

... Goldstein spricht an einer Stelle davon, dass er in der DDR-Schule keine Angst gehabt hätte, zu sagen, was er dachte. Erst später habe er begriffen, dass das ein Privileg war, das er nur als Sohn eines hohen Funktionärs genoss. ...


Aus: "Beschränkt funktional" Michael Suckow (Ausgabe 15/2019)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/msuckow/beschraenkt-funktional (https://www.freitag.de/autoren/msuckow/beschraenkt-funktional)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 23, 2019, 08:45:05 PM
Quote[...] Die Treuhandanstalt (THA, kurz Treuhand) war eine in der Spätphase der DDR gegründete Anstalt des öffentlichen Rechts in Deutschland mit der Aufgabe, die Volkseigenen Betriebe der DDR nach den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft zu privatisieren und die ,,Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu sichern" (§ 8 Treuhandgesetz) oder, wenn das nicht möglich war, stillzulegen. Im Umfeld der Privatisierung kam es zu Fällen von Fördermittelmissbrauch und Wirtschaftskriminalität. Zum 1. Januar 1995 wurde die Treuhandanstalt in Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) umbenannt. Die Treuhandanstalt hatte eine maßgebliche Rolle beim Aufbau Ost. ...


https://de.wikipedia.org/wiki/Treuhandanstalt (https://de.wikipedia.org/wiki/Treuhandanstalt) (29. März 2019)


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Quote[...] 30 Jahre nach der friedlichen Revolution in Ostdeutschland halten die Grünen im Bundestag eine Aufarbeitung der Treuhand-Arbeit für notwendig. Bis heute seien wesentliche Fragen im Zusammenhang mit den Privatisierungen durch die Treuhand und ihre Nachfolgeorganisationen Gegenstand der öffentlichen Debatte und nicht vollständig aufgearbeitet, sagte Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt am Dienstag dem Tagesspiegel. "Die Probleme und Fehler bei den Verkäufen sind ein Hindernis auf dem Weg hin zu gleichwertigen Lebensverhältnissen."

Göring-Eckardt zeigte sich grundsätzlich bereit, mit der Linksfraktion über die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Treuhand zu sprechen. Vor wenigen Tagen hatte Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch einen solchen Ausschuss gefordert. Ob dieser "das richtige Instrument ist, um damit Vergangenheitsbewältigung zu betreiben, werden die Gespräche ergeben, die wir miteinander führen werden", sagte Göring-Eckardt. Die Grünen-Politikerin erinnerte daran, dass der Bundestag bereits mehrfach Untersuchungsausschüsse zum Treuhandkomplex eingerichtet habe.

Für die Einrichtung eines solchen Ausschusses benötigt die Linke die Unterstützung anderer Fraktionen - mindestens ein Viertel der Abgeordneten müssten dafür stimmen. Bartsch hatte angekündigt, insbesondere mit Ost-Abgeordneten von Union, SPD, FDP und Grünen sprechen zu wollen. Das "Treuhand-Trauma" sei nicht überwunden, sagte er. Die politischen Fehler, die in der Nachwendezeit gemacht worden seien, müssten ans Tageslicht und aufgearbeitet werden.

Der Schaden, den die Treuhand angerichtet habe, sei bis heute eine wesentliche Ursache für den ökonomischen Rückstand des Ostens und für politischen Frust vielerorts, sagte Bartsch. In einem Untersuchungsausschuss will die Linke auch klären, inwieweit und warum "überlebensfähige" Unternehmen geschlossen und Jobs vernichtet worden seien, die hätten erhalten werden können.

Die Treuhandanstalt war im März 1990 gegründet worden, um die etwa 8500 Volkseigenen Betriebe der DDR zu privatisieren, zu sanieren oder abzuwickeln. Die frühere Ost-Beauftragte der Bundesregierung, die SPD-Politikerin Iris Gleicke, hatte die Arbeit der Behörde vor einigen Jahren scharf kritisiert. Sie gelte im Osten als "das Symbol eines brutalen, ungezügelten Kapitalismus, verbunden mit Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit".

Insgesamt hat die Bundesbehörde im Laufe der Jahre rund 45 Aktenkilometer produziert, die nun zu großen Teilen vom Bundesarchiv übernommen und absehbar der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Das Finanzministerium, dem die Treuhand früher unterstellt war, hat beim Institut für Zeitgeschichte in München eine umfangreiche wissenschaftliche Studie zur Treuhand-Geschichte in Auftrag gegeben. Doch nach Ansicht etlicher ostdeutscher Politiker reicht eine solche wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas nicht aus.

Angesichts der bevorstehenden Veröffentlichung der Akten hatte die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping eine "Wahrheitskommission" ins Gespräch gebracht - eine Forderung, die auch der SPD-Ostbeauftragte Martin Dulig aufgriff. Im Osten gebe es Vorwürfe der Marktbereinigung und Vermögensverschiebung zugunsten des Westens, über die 30 Jahre nach der Wende nun endlich geredet werden müsse, argumentiert Dulig. Man müsse eine offene Debatte darüber führen, was damals schiefgelaufen sei.

Der Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte (CDU), lehnt hingegen eine Wahrheitskommission ebenso ab wie die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses. Es werde der Eindruck erweckt, als sei der Osten mit Vorsatz und krimineller Energie über den Tisch gezogen worden. Die Ursachen in den Problemen der ostdeutschen Wirtschaft lägen zuallererst in der Zeit vor 1989, nicht danach.



Aus: "Grüne wollen mit Linken über U-Ausschuss reden" Cordula Eubel (23.04.2019)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/fehler-der-treuhand-gruene-wollen-mit-linken-ueber-u-ausschuss-reden/24246400.html (https://www.tagesspiegel.de/politik/fehler-der-treuhand-gruene-wollen-mit-linken-ueber-u-ausschuss-reden/24246400.html)

Quote2monitor 19:38 Uhr
Gute Idee! Der Untersuchungsauschuss kann dann auch mal klären, was mit dem DDR-Vermögen in der Schweiz passiert ist.
Die Bundesanstalt hatte die Bank auf Rückzahlung von mehr als 100 Millionen Franken (heute 88 Millionen Euro) plus Zinsen verklagt. Deutschland bemüht sich seit mehr als 20 Jahren, die nach dem Fall der Mauer wohl in der Schweiz versteckten DDR-Millionen wiederzubekommen. Damals sollen SED-Mitglieder große Beträge über das Konto einer DDR-Außenhandelsgesellschaft in die Schweiz geschafft haben. Die Alleingesellschafterin der Firma war Rudolfine Steindling, die lange Treuhänderin der österreichischen Kommunistischen Partei war und gute Beziehungen zu SED-Chef Erich Honecker pflegte.
Steindling soll das Geld später abgehoben und in Bank-Safes gelagert haben. Wohin es von dort aus verschwand, nahm die im Oktober 2012 mit 78 Jahren verstorbene Frau wohl mit ins Grab.
(SPON, Mittwoch, 06.02.2019   21:53 Uhr)
http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/schweizer-bank-julius-baer-verliert-rechtsstreit-um-verschwundene-ddr-millionen-a-1251964.html (http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/schweizer-bank-julius-baer-verliert-rechtsstreit-um-verschwundene-ddr-millionen-a-1251964.html)


QuoteGophi 18:50 Uhr

    Es werde der Eindruck erweckt, als sei der Osten mit Vorsatz und krimineller Energie über den Tisch gezogen worden. Die Ursachen in den Problemen der ostdeutschen Wirtschaft lägen zuallererst in der Zeit vor 1989, nicht danach.

Wäre das nicht genau die Fragestellung an einen Untersuchungsausschuss bzw. eine Wahrheitskommission? Oder soll das "der Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte (CDU)" ganz allein beantworten? Damit wären die Menschen in den neuen Bundesländern wahrscheinlich nicht richtig zufrieden, nehme ich mal an.


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Quote[...] Es waren nur einige Dutzend Bergleute, die sich 1993 in der Kantine des thüringischen Salzbergwerks ,,Thomas Müntzer" zum Hungerstreik verabredeten, doch ihre Verzweiflung gilt bis heute als Sinnbild für die dunkle Seite der Wiedervereinigung. ,,Bischofferode ist überall" skandierten sie damals, und in der Tat gibt es wohl niemanden, der diese Zeit erlebt hat und keine der vielen Geschichten von den Plattmachern, den Glücksrittern und den Selbstbedienern jener Tage zu erzählen weiß.

Massenarbeitslosigkeit, Zukunftsangst und der Niedergang ganzer Regionen: All das hatte eine Namen und trägt ihn bis heute: Treuhandanstalt. Synonym für den eiskalten Kapitalismus, der auf den Freiheits-Freuden-Taumel der Nachwendezeit folgte - und bis heute in den Augen vieler Ostdeutscher der Beleg dafür ist, wie der Westen dem Osten sein System gnadenlos übergestülpt hat. Manches von der Wut und der Schmach ist verblasst, die Betroffenen sind jenseits der 80, und ihre Kinder sind in die Fremde gezogen. Soll die Erinnerung an die Treuhand trotzdem jetzt, fast 30 Jahre danach, noch einmal hervorgekramt werden und alte Wunden aufreißen?

Dass die Linkspartei rasch einen Untersuchungsausschuss im Bundestag ins Leben rufen und dort die Geschichte der Birgit-Breuel-Behörde verhandeln will, versteht man. Schließlich treffen die rechtspopulistischen Warnungen der AfD vor Überfremdung der Heimat auf offene Ohren in Sachsen, Brandenburg und Thüringen. Die Linke muss fürchten, ihre jahrezehntelange Rolle als Sachwalter ostdeutscher Interessen an die AfD zu verlieren. Da passt es gut, alte Ressentiments rechtzeitig wieder auszupacken und das ,,Wir im Osten" gegen das ,,Die im Westen" neu zu befeuern.

Doch das durchsichtige Motiv sollte nicht als Argument für eine allzu rasche Ablehnung herhalten. Ja, es hat schon zwei U-Ausschüsse gegeben und niemand sollte erwarten, dass eine Neuauflage zu grundstürzlerisch neuen Bewertungen des Wirkens der Treuhand führt. Die meisten Fakten sind bekannt: Das Ausmaß der ökonomischen Katastrophe des DDR-Erbes war unterschätzt worden, die Treuhand wurde neben ihrer ursprünglichen Aufgabe der Privatisierung der ostdeutschen Industrie mit unverantwortlich vielen sozialen und gesellschaftlichen Aufträgen überfrachtet und so zum Sündenbock für jeden Fehler der Wiedervereinigung. Und am Ende, als die Treuhand geschlossen wurde, waren alle Parteien froh darüber, das unschöne Kapitel beenden zu können. Doch so leicht geht das mit dem Vergessen der Geschichte bekanntlich nicht.

Heute können weit mehr Unterlagen der einstigen Privatisierungsbehörde eingesehen werden als noch vor einigen Jahren. Sich ernsthaft mit den Fehlern von damals auseinanderzusetzen, könnte gerade für Union, SPD, FDP und Grüne eine Chance sein, sich Anerkennung im Osten zu verschaffen und ihre West-Dominanz wenigstens ein bisschen zu korrigieren. Wer die frühen neunziger Jahre noch einmal rekapituliert, wird Antworten auf die Frage finden, warum der Osten so ist, wie er ist: voller Wut und Ablehnung der demokratischen Strukturen des Westens und seiner Repräsentanten.

In diesem Zusammenhang können Politiker gleich auch noch verstehen lernen, warum ihnen die Menschen etwa im Braunkohlerevier der Lausitz nach den Erfahrungen mit der Treuhandanstalt nicht mehr glauben wollen, wenn diese beteuern, man werde die sozialen Folgen des Kohleausstiegs abfedern. Das ist umso wichtiger, wenn jetzt weitere Strukturveränderungen anstehen. Die frühen neunziger Jahre in Ostdeutschland bieten vor diesem Hintergrund einen nur allzu guten Raum des Verständnisses. Denn sie lehren unter anderem, wie groß die Bedeutung von Arbeitsplätzen für das Selbstbewusstsein von Menschen und den Zusammenhalt von Regionen ist - und welchen Schaden es anrichten kann, wenn Politiker darüber leichtfertig hinweggehen.


Aus: "Die Fehler von damals sind eine Chance für heute" Ein Kommentar von Antje Sirleschtov (23.04.2019)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/das-erbe-der-ddr-die-fehler-von-damals-sind-eine-chance-fuer-heute/24246866.html (https://www.tagesspiegel.de/politik/das-erbe-der-ddr-die-fehler-von-damals-sind-eine-chance-fuer-heute/24246866.html)

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Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 11, 2019, 10:28:25 AM
Quote[...] BERLIN taz | An diesem Freitag ist es mal wieder so weit. Der Bundestag in Berlin diskutiert vier Anträge der Opposition zum Thema Ostrenten. Es geht darin um Altersarmut, Lebensleistungen, Alterssicherung für bestimmte Berufsgruppen sowie in der DDR geschiedene Frauen. Es geht um gutes Leben im Alter, um das mühsame Ringen um Gerechtigkeit einer mittlerweile hochbetagten Bevölkerungsgruppe aus dem Osten. Reden werden gehalten, warme Worte wie Katzengold verteilt – doch am Ende werden die Abgeordneten der Großen Koalition mehrheitlich dem Vorschlag des Haushaltsausschusses folgen und alle Anträge ablehnen.

Keine rentenrechtliche Entlastung des Ostens, keine Gleichstellung der in der DDR geschiedenen Frauen mit ihren männlichen Altersgenossen. Wenn es gut läuft, könnte es demnächst einen Härtefallfonds geben für jene Rentnerinnen, die am Existenzminimum leben, obwohl sie ihr Leben lang gearbeitet haben. So steht es jedenfalls auf Seite 93 im Koalitionsvertrag.

Zu Hause in Chemnitz, Gera oder Schwedt können hochbetagte Frauen und Männer im Parlamentsfernsehen dabei zuschauen, wie das gesamtdeutsche Parlament ihnen mal wieder zeigt, wie egal sie ihm sind. Ostthemen sind im politischen Berlin nun mal keine Gewinnerthemen. Doch im Superlandtagswahljahr sind fruchtlose Parlamentsdebatten wie diese ein weiterer Grund für viele ostdeutsche RentnerInnen, sich noch weiter von ihren politischen VertreterInnen abzuwenden.

Wenn es eine Partei in der Regierung gibt, die sich zuständig fühlen sollte für die sozialen Belange der ostdeutschen Rentner, dann wäre das die SPD. Von den zurückliegenden 20 Jahren ist sie 15 in Regierungsverantwortung. Doch Carsten Schneider, Parlamentarischer Geschäftsführer der SozialdemokratInnen, antwortet auf die Frage, ob die noch lebenden etwa 250.000 benachteiligten in der DDR geschiedenen Frauen auf Unterstützung durch seine SPD hoffen dürfen: ,,Ich habe denen nie was vorgemacht. Das Recht, das zu DDR-Zeiten gegolten hat, kann nachträglich nicht durch Gesetzgebung geheilt werden. Deswegen lehnen wir das ab."

Das Recht, von dem Carsten Schneider spricht, ist kompliziert und sorgt seit einem Vierteljahrhundert für ein nagendes Gefühl der Ungerechtigkeit im Osten. DDR-Frauen, die wegen der Kindererziehung zeitweise weniger arbeiteten, konnten mit einem symbolischen Betrag von monatlich drei Mark ihre spätere volle Rente absichern. Der Betrag war deshalb so niedrig, weil für die Höhe der später auszuzahlenden Rente ohnehin nur die letzten 20 Arbeitsjahre berücksichtigt wurden, in denen die Löhne und Gehälter am höchsten waren. Jüngere Frauen sollten sich also keine Sorgen machen müssen, wie sie Familie, Beruf und Weiterbildung unter einen Hut kriegen – am Geld für die Rente sollte es nicht scheitern. Auch Ausbildungsjahre oder Teilzeitphasen wurden als volle Rentenjahre angerechnet.

Einen Versorgungsausgleich jedoch, wie ihn das westdeutsche Scheidungsrecht vorsah, kannte die DDR nicht. Man ließ sich scheiden und ging fortan als ökonomisch unabhängige, ihr Einkommen selbst erarbeitende Person durchs Leben. Es herrschte ja Vollbeschäftigung. 1989, im letzten Jahr der DDR, lag die Frauenerwerbsquote bei neunzig Prozent.

Mit der Wiedervereinigung änderte sich das. Der eilig von den Regierungen Helmut Kohl und Lothar de Maizière ausgehandelte Einigungsvertrag sah vor, dass für Frauen aus dem Osten das West-Rentenrecht erst ab dem 1. Januar 1997 gelten soll. Bis dahin sollte ein Gesetz erarbeitet und beschlossen werden, das die Anwartschaften der in der DDR-geschiedenen Frauen regelt.

Ein solches Gesetz fehlt bis heute.

Statt dessen wurden auch die frühen Kindererziehungsjahre als Verdienst gewertet – machte also bei drei Mark pro Monat 36 Mark Rentenbeitrag pro Jahr. Seit nunmehr 22 Jahren fehlen diesen Frauen – von einst 300.000 leben noch etwa 100.000 – mehrere hundert Euro. Viele arbeiten bis heute, um ihre Miete zahlen zu können, und wenn sie eine neue Brille oder neue Zähne brauchen, bitten sie ihre Kinder um finanzielle Hilfe. Ostdeutsche Männer – das nur nebenbei – passten exakt ins gesamtdeutsche Recht; ihre Renten genießen bis heute Bestandsschutz.

In Magdeburg hebt Gerlinde Scheer den Telefonhörer ab. Die frühere Maschinenbauingenieurin ist heute 76 Jahre alt. Scheer ist Vorstandsmitglied im Verein der in der DDR geschiedenen Frauen. Für acht Euro Jahresbeitrag können dort Frauen Mitglied werden, der Verein kümmert sich dann um ihre Belange. Bis zur UNO haben sie es mit ihrer Klage geschafft, benachteiligt zu werden. Eine Abordnung von ihnen reiste gemeinsam nach New York, um ihr Anliegen zu schildern. 2017 dann hat der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau die Bundesregierung aufgefordert, bis März 2019 dazu Stellung zu nehmen. Ob es diese Stellungnahme inzwischen gibt und was möglicherweise drin steht – die Vereinsfrauen wissen es nicht.

,,Zurzeit kriege ich laufend Mitteilungen: Verstorben! Verstorben!", erzählt Gerlinde Scheer. Sie führt die Mitgliederkartei. Von früher einmal zweieinhalbtausend Frauen leben mittlerweile nur noch etwa tausend. Das, was die Betroffenen seit Jahren fürchten – und manche PolitikerInnen möglicherweise insgeheim erhoffen – nimmt längst seinen Lauf. Die Frauen vom Verein nennen es ,,die biologische Lösung".

Gerlinde Scheer ist aber noch nicht bereit aufzugeben. Vielleicht, sagt sie, kann sich der Bundestag wenigstens auf einen Härtefallfonds für die ärmsten Rentnerinnen be­schließen. ,,Obwohl das eigentlich auch wieder eine Ungleichbehandlung wäre, Anspruch auf den Ausgleich haben wir schließlich alle. Wir haben unser Leben lang gearbeitet." Die meisten der geschiedenen Frauen waren Lehrerinnen, technische Assistentinnen, Ingenieurinnen, sie haben gutes Geld verdient. Dass ihnen das heute nichts nützt, sehen sie jeden Monat auf ihrem Kontoauszug. Es sind Geschichten wie diese, die im Osten von Mund zu Mund gehen; Erzählungen von Zweitklassigkeit und von der Tatenlosigkeit der Politik.

Seit vielen Jahren ist die Linkspartei an dem Thema dran. Für die Kümmererpartei des Ostens sind die Rentnerinnen eine wichtige Wählerinnengruppe. An diesem Freitag greift die Fraktion deshalb auf die Geschäftsordnung des Bundestages zurück, damit ausnahmsweise Bodo Ramelow, Thüringer Ministerpräsident der Linken, zum Thema sprechen darf. Der wird die richtigen Worte finden. Doch für die betroffenen Frauen ändert es nichts, die Opposition auf ihrer Seite zu haben. Sowohl der Haushaltsausschuss als auch der Wirtschaftsausschuss und der Familienausschuss empfehlen die Ablehnung des Linke-Antrags , die Forderung der Vereinten Nationen sofort umzusetzen.

In den Ausschussprotokollen ist nachzulesen, welche Fraktion wie argumentiert. Die Union zeigt Verständnis, verweist aber auf die Stichtagsregelung im Einigungsvertrag. Außerdem: Wenn die Frauen Recht bekämen, könnten sich auch andere benachteiligte Gruppen darauf berufen. Die FDP argumentiert, es handele sich um ,,unvermeidbare Strukturbrüche", die nun mal entstünden, wenn zwei Sozialsysteme verschmolzen werden.

Und die SPD sieht die Ungerechtigkeit, verweist aber auf den Koalitionsvertrag, in den sie den Nothilfefonds hineinverhandelt hat. Eine Nachfrage der taz in der Fraktion ergibt, dass man dort mehr als ein Jahr nach dem Start der Großen Koalition von einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe weiß, die sich mit der Frage befasst, wie viele Frauen überhaupt betroffen wären. Ebenfalls unbekannt ist, welches Ministerium federführend ist und welche Kosten auf den deutschen Staat zukämen. So recht scheint bei der SPD niemand daran zu glauben, dass Gerlinde Scheer und ihre Mitstreiterinnen jemals Geld sehen könnten. Wie sagt Carsten Schneider, der Parlamentarische Geschäftsführer mit Thüringer Wahlkreis? ,,Ich mache den Frauen lieber keine unberechtigten Hoffnungen."

Mittlerweile hat auch die AfD im Bundestag das Potenzial des Themas für sich entdeckt. Die Rechtspopulisten bringen an diesem Freitag gleich zwei Anträge zum Thema Ostrenten ein, für die geschiedenen Frauen fordern sie den von der SPD in den Koalitionsvertrag geschriebenen Härtefallfonds. Und die Regelung solle nicht nur von Altersarmut betroffenen Frauen zugute kommen, sondern allen Anspruchsberechtigten.

Gerlinde Scheel ist jede Unterstützung recht. Sie lobt den Wahlkämpfer Ramelow von der Linken, der ,,immer für uns eintritt", und ärgert sich, dass sich ,,die Politiker aus den alten Bundesländern" nicht für sie und ihre Mitstreiterinnen interessierten. ,,Aber wissen Sie", sagt sie am Telefon, ,,eigentlich ist es egal, wer für uns moniert. Wenn das die AfD macht – verkehrt kann es nicht sein."


Aus: "Die Pech-gehabt-Frauen" Anja Maier (10.5.2019)
Quelle: https://www.taz.de/Ostrenten-und-Altersarmut/!5593997/ (https://www.taz.de/Ostrenten-und-Altersarmut/!5593997/)

QuoteReinhold Schramm


Es sind vor allem westdeutsche Frauen in der Armutsrente. Hier liegt in allen westdeutschen Bundesländern die GRV-Altersrente für Frauen im Durchschnitt deutlich unterhalb der gesetzlichen Grundsicherung (Sozialhilfe).

Meine (westdeutsche) Mutter hatte nach 33. Vollzeitarbeitsjahren, davon etwa 10. Jahre eine 7.Tage-Woche in unterbezahlter Arbeit, auch im Haushalt von Multimillionären, eine eigenständige Armutsrente auf dem geringen Niveau der Sozialhilfe. Sie hatte zudem drei Kinder. // In der DDR wäre sie gewiss eine anerkannte ''Heldin der Arbeit'' geworden! // Die GRV-Durchschnittsrente für ostdeutsche Frauen liegt heute bei etwa 880 Euro.

Eine Ausnahme besteht lediglich für Beamtinnen und Pensions-Witwen. Auch Ehefrauen von Politikern und Bürgermeistern können auch ohne lebenslange Erwerbsarbeit mit sehr hohen Witwenpensionen rechnen. Sogar, nach dem frühen Tod des Partners, über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren, mit aktuell mtl. mehr als 6.000,- Euro. Hierfür ist die Gesellschaft auch dazu bereit, mehrere Millionen Euro an Bürgermeister- und Beamten-Witwen zu zahlen; auch wenn diese Damen der Gesellschaft keinerlei Erwerbsarbeit nachgehen!


Quoteamigo

Die AfD weiß doch, wer letztlich immer Schuld hat: Der Ausländer, der Asylant und anderes undoitsches.


QuoteHanne

Interessant wird es für einige nur, wenn es sie selbst betrifft.

Was sagen diese Damen zu Entschädigungen und Renten für ehemalige Zwangsarbeiter/innen oder gar Lagerinsassen, die diese nicht bekommen? Auch da sterben die Betroffenen einfach weg.

Den Damen ging es wenigstens ihr Arbeitsleben lang finanziell gut, dass kann heute bei Vollarbeitszeit auch kaum noch eine Frau - zumindest nicht die Mehrheit - sagen. Auch etlichen Männern geht es bei Vollerwerbstätigkeit finanziell nicht gut.

Und ja, wenn die AfD diesbezüglich was tut, auch okay.

Solche Typen sind mir sehr suspekt - egal, wo sie herkommen und was sie "geleistet" haben.

Wie viele von denen waren denn z.B. Spitzel und haben andere in ihren Positionen geknechtet? Wenn ich mir diese grimmigen Gesichter auf der Straße und in der Bahn im ehemaligen Ostgebiet ansehe, dann möchte ich oftmals gar nicht wissen, wie sie ihr Leben im System brav erfüllt haben.

Das mag bei den Männern genauso gewesen sein, aber auch Frauen in anderen Ländern, auch im Westen, bekommen aus welchen Gründen auch immer, keine oder kaum Lebensleistungsrente.

Sollen sie sich doch für eine Mindestrente für alle einsetzen, das hätte Charme und Sinn für die Zukunft und viele nach ihnen.

Diese Ego- und Opfergejammere nervt echt.

Es gibt so viele andere Benachteiligte, aber den Frauen geht es nur um sich selbst - egal, was es politisch kostet.


QuoteRolf B.

@Hanne Die Brutalität und Dummheit, die Sie hier verbreiten, ist erschreckend.


QuoteHolzhirn

Und urch solche Dinge verspielen sich die großen Parteien ihren Rückhalt in der Bevölkerung. Ist nur die Frage ob die Mitte nach Links oder Rechts zerbröckelt.


...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 28, 2019, 11:08:32 AM
Quote[...] Wieder hat die AfD bei einer Wahl in Ostdeutschland abgeräumt. Nichts hat die Radikalisierung von Cottbus bis Chemnitz aufgehalten. Ist der Osten noch zu retten?  ...

Es gibt progressive Menschen im Osten, an manchen Orten sind sie auch tonangebend, doch überall ist auch das, was der Rechtsextremismus-Experte David Begrich eine "regressiv-autoritäre gesellschaftliche Unterströmung" nennt, die in allen Milieus anzutreffen sei. Zugleich sähen sich viele "einer Art kulturellen Fremdherrschaft unterworfen, in der sie mit ihren Erfahrungen nicht vorkommen". Das Ergebnis ist bei vielen die Ablehnung dessen, was sie als westdeutschen Mainstream erleben: Pluralismus, Minderheitenschutz, eine kompromissorientierte politische Praxis.

Vielleicht befreit sich der Osten von dieser Grundströmung. Kann sein, dass sich mehr Städte so erfreulich wie Jena, Leipzig, Rostock, Frankfurt (Oder) oder Halle entwickeln. Doch angesichts der sozialen Konstellationen des Ostens besteht auch das Risiko einer viel düstereren Zukunft. Björn Höcke träumt schon lange von Wehrdörfern im Osten, von denen aus eines Tages die "Rückeroberung" der Bundesrepublik durch die Rechtsextremen ihren Ausgang nehmen soll.

Auch wenn vielen genau nach dem Gegenteil zumute ist: Wenn man diesen fatalen Zusammenhalt der Ablehnungsmilieus aufbrechen will, muss man zuhören und verstehen wollen, und zwar doppelt so viel.

Es führt noch immer kein Weg daran vorbei, ernsthaft und tiefgründig aufzuarbeiten, was in den vergangenen 30 Jahren im Osten geschehen ist. Mag sein, dass die Treuhand, dass die Alimentierung des Ostens gut und patriotisch gemeint waren. Doch es wird Zeit, auf das nüchterne Ergebnis zu schauen: Der Osten ist, abgesehen von einigen Aufschwungregionen im Süden, weitgehend deindustrialisiert, er hat infolgedessen eine Massenabwanderung und Überalterung erlebt, die vielen Regionen dort heute jede Perspektive rauben. Die Löhne sind unterirdisch, die wenigsten werden ihren Kindern etwas hinterlassen. Selbst nach dem historischen gesamtdeutschen Aufschwung des vergangenen Jahrzehnts empfehlen Experten, manche Gebiete besser der Natur zu überlassen.

Vielleicht gibt es auf all das keine schnelle ökonomische und politische Antwort, doch soll das verstärkte Ansiedeln von Behörden im Osten tatsächlich die letzte Idee sein, die einer der bedeutendsten Industriestaaten der Welt dazu hat?

Es ist diese Wurstigkeit, mit der in der Politik jede neue Hiobsbotschaft aus dem Osten behandelt wird. Es gab in den 30 Jahren seit der friedlichen Revolution nicht einen einzigen bedeutenden westdeutschen Politiker, der den Osten zu seinem großen Anliegen gemacht hätte – außer einigen Senioren, die dort ihre zweite Karriere machten. In der gesamtdeutschen politischen Öffentlichkeit gibt es nur wenige, die mit Ostthemen wirklich durchdringen. Die hin und wieder mal warnen, welche Abgründe sich in einer Region auftun können, in der nicht so wenige Bewohner zu der Überzeugung gelangt sind, sie seien feindlich besetzt worden.

Deswegen ist es leider nichts Neues, was man seit der Europawahl wieder auf Twitter lesen kann. "Baut die Mauer wieder auf", "Leipzig abspalten" und Ähnliches schreiben Leute. Sie wollen nichts mehr hören davon, dass es auch einen anderen Osten gibt, dass einfache bis überwältigende Mehrheiten auch im Osten die AfD ablehnen. Sie sehen es nicht ein, darüber nachzudenken, ob irgendetwas an der ostdeutschen Wut auch gerechtfertigt sein könnte. Sie wollen jetzt einfach mal schreiben, dass der ganze Osten naziverseucht ist. Aber wie viele von denen, die jetzt schreiben, sie wollten das Gelaber der demokratischen 75 Prozent nicht mehr hören, haben das Gelaber der demokratischen 87 Prozent nach der Bundestagswahl mitgemacht?

Dabei bräuchte es nur ein wenig mehr Differenzierung, um nicht alle Ossis zu Mitläufern einer rechten Revolution zu machen. Es gibt ihn ja, den schulterzuckenden oder sogar beifallklatschenden Rassismus mancher, die längst nicht mehr unterscheiden wollen zwischen Unbekannten und Böswilligen. Es gibt dieses Autoritäre, diese Knüppel-auf'n-Kopp-Welt derer, die Orbán und Putin so lieben. Diese Verachtung mancher gegenüber der Vorstellung, dass es Schwächere außer einem selbst gibt, die beschützt werden müssen.

Westdeutschland hin oder her. Es sind diese Herrenmenschen, die den Osten kaputt machen. An keinem der Orte, an denen sie seit Jahrzehnten immer wieder "Fuck you" wählen, ist irgendetwas dadurch besser geworden. Im Gegenteil, diese Regionen entleeren und verarmen noch mehr und noch schneller als die anderen. Wie auch anders. Wirklich niemand, der Menschen nach Religion oder Hautfarbe oder Wert sortiert, hat eine Ahnung davon, wie man eine Gegend für Menschen attraktiv macht. Nichts wird besser werden im Osten, wenn dort eines Tages Leute regieren, die nur ihresgleichen dulden.

Es ist so viel schiefgelaufen im Nachwendeosten, es gab so viele Ungerechtigkeiten. Aber das ist kein Grund, das war es nie, Rechtsextreme zu wählen und damit das Land von der Außenwelt abzuschotten. Niemand wird von der Geschichte gezwungen, ein Rassist zu sein. Niemand hat das Recht, andere zu misshandeln, weil ihm selbst übel mitgespielt wurde. Und auch sonst nicht.

Wo immer im Osten das nicht klar ist, wird es Zeit für mehr, nicht weniger Streit. Denn so sind nicht alle, bei Weitem nicht. Es gibt so viele, die das Grundgesetz jeden Tag in ihrem Tun und Reden respektieren. Sie sind an den meisten Orten in der Mehrheit, und es wird Zeit, dass sie sich durchsetzen.

Diese Menschen brauchen Unterstützung, manche brauchen konkret Geld. Was sie jedenfalls nicht brauchen, sind wohlfeile Kommentare aus Hannover-Linden. Die Lage im Osten ist zu ernst, um nicht zu differenzieren.


Aus: "Ernstfall Ost" Ein Kommentar von Christian Bangel (27. Mai 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-05/wahlergebnis-ostdeutschland-europawahl-afd-rechtsextremismus/komplettansicht (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-05/wahlergebnis-ostdeutschland-europawahl-afd-rechtsextremismus/komplettansicht)

QuoteBells of Freedom #8

"Ist der Osten noch zu retten?"

Solche arroganten Kommentare aus den Redaktionsstuben linksliberaler Medien sind sicherlich auch ein Beitrag für die wachsende Polarisierung.


QuoteNomeeNaomi #8.2

Ach Unsinn. Die Menschen wählen doch nicht AfD, weil ihnen die Zeit-Kommentare nicht gefallen. ...


Quotederi punkt partei #11 

Ablehnung von Pluralismus, Minderheitenschutz und kompromissorientierter politischer Praxis.
Warum sollte man dem zuhören?


Quotefolgt #11.1

Pluralismus, Minderheitenschutz und kompromissorientierter politischer Praxis.
Worthülsen - was wollen sie sagen?


QuoteNomeeNaomi #12

Alles eine Frage der Perspektive. Ist der Westen noch zu retten?


QuoteRahus #12.8

>>Ist der Westen noch zu retten?<<

Am ostdeutschen AfD-Unwesen wird und kann der Westen nicht genesen.

Der Osten wird weiterhin mit zig Milliarden Transfergeldern aus dem dekadenten, inter- und multikulturell gescheiterten Westen subventioniert werden.

Dass der Osten angesichts dieses Wahlergebnisses trotzdem noch zu retten ist, ist für alle Bewohner unseres lebenswerten Landes - mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft, mit und ohne Ressentiments gegen Einwanderer, Ossis oder Wesis, in Ost und West - sehr zu hoffen.

Die in Ostdeutschland lebenden Leser dieser Zeilen mögen das bitte nicht auf sich als Gruppe beziehen, ich bin ein großer Fan der deutschen Wiedervereinigung und habe viele - antifaschistische und tolerante - Freunde in Sachsen und Brandenburg. Aber einem unbelehrbaren AfDler wie NomeeNaomi muss man doch mal den Ossi-Wessi-Spiegel vorhalten.


Quoteastor131 #12.9

Die Grünen kann man wählen oder nicht, der Osten bleibt.


QuoteRahus #12.10

>>Die Grünen kann man wählen oder nicht, der Osten bleibt.<<

Der Osten bleibt, aber viele Menschen - insbesondere die jungen - werden nicht in den Regionen bleiben, die heute AfD-Hochburgen sind.
Sie werden nach Leipzig, Halle, Erfurt, Jena, Berlin oder in den Westen abwandern.
Finde ich bedauerlich, kann ich aber nachvollziehen.


QuoteTychus F1ndlay #13

In einer pluralistischen Demokratie muss man auch akzeptieren, dass jemand Dinge ablehnt. Migration mit der verbundenen Integrationsaufgabe kann man auch ablehnen.
Nicht aus rassistischen Motiven, sondern auch aus Egoismus. ...


Quote
Balschoiw #13.1

Ihr Motiv ist also Neid. Irgendwie erbärmlich.


QuoteBurning Daylight #13.2

"Wenn ihr schon für uns keine Jobs schafft, warum sollen wir dann noch mit Fremden teilen?".

Nennt sich Solidarität, eines der Grundprinzipien unseres Landes. War in großen Teilen sehr schön zu sehen nach der Wiedervereinigung...


QuoteSchnucki3 #13.3

Ich: 84er Ossijahrgang aus dem Grenzgebiet, wo heute Höcke wohnt, finde Sie haben recht. Viele wählen (meistens) aus egoistischen Motiven ihre Partei.
Wenn ich an Omi und Opi denke, an DDR-Hort und Schicht im Schacht, an Badeofen und Kohleeimer, sage ich Ihnen, dass ich die wir-kriegen-den-Hals-nicht-voll-Mentalität an den Ossis und ihrer blauen Geiz-ist-geil Partei zutiefst verachte. Sie scheint größer zu sein als die, die man den superkapitalistischen Haudegen hinter der Mauer je unterstellt hätte.
Meine Meinung: Die Ossis, die AFD wählen haben keinen Stolz und ganz ehrlich: es blamiert mich mit. Selbstachtung darüber beziehen, indem man sich mit nationalistischen Surrogaten (Scheinlösungen) für umme das Ego subventionieren lässt? ...


QuoteBakfiets22 #13.7

... Wenn man sich den Ossis gegenüber unsolidarisch verhält (= keine Jobs und keine gleichwertigen Lebensverhältnisse für sie schafft), dann kann man nicht erwarten, dass sie auf diesen unsolidarischen Angang mit einer Solidaritätsadresse reagieren. Die sprechen dann die Wahrheit aus, indem sie sagen: wenn wir keine Solidarität erfahren, geben wir auch keine, denn die Gelackmeierten sind in diesem Lande seit dreißig Jahren wir.
Wenn Sie jetzt auf den Soli anspielen, dann kann man sagen: ja, die Straßen in Ostdeutschland sind jetzt blitzblank, aber es können sich viel nicht das Auto leisten, um sie auch zu benutzen. In den schön renovierten Altbauten können die Ureinwohner in der Regel auch nicht leben (zu teuer, egal ob Miete oder Kauf), und die Führungsetagen in Wirtschaft, Politik und Kultur sind westdeutsch besetzt. Diese Menschen sind es, die an den Wochenenden sehr bequem auf den renovierten Straßen in ihre alte Heimat sausen und somit etwas vom Soli haben.


QuoteBurning Daylight #13.10

"Wenn man sich den Ossis gegenüber unsolidarisch verhält"

Der Westen hat sich dem Osten gegenüber unsolidarisch gezeigt? Das ist Ihr Ernst?

Weil wir da aktuell nicht genug Jobs schaffen? Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen, inzwischen gibt es dort grob 10% Arbeitslosigkeit. Wenn ich wieder meine Freunde und Familie dort besuche höre ich aber niemanden jammern, das diese Hohe Arbeitslosigkeit eine Folge mangelnder Solidarität ist

"denn die Gelackmeierten sind in diesem Lande seit dreißig Jahren wir."

In der DDR war alles besser, oder wie?.


QuoteOssilant #14

Die Überschrift ist missverständlich gewählt "Ist der Osten noch zu retten?".

Hier möchte keiner wieder "gerettet" werden, wer gerettet wird ist nicht auf Augenhöhe mit dem Rettenden.
Das ist genau der Punkt, der viele meiner Landsleute zu dieser unsäglichen Partei bringt.
Als sie das letzte Mal "gerettet" wurden, gab es gefühlte 90% Arbeitslosigkeit danach - in einem ehemaligen Arbeiterstaat, in der der Arbeitsplatz wie das Zähne putzen zum Leben gehörte.
Was "wir" brauchen ist eine Partizipation in -zumindest unsere- Ämter, Behörden, Gerichte. "Wir" wollen in der Politik auch stattfinden. Nicht als Jammerossis, als Soli-Zuschlagskassierer oder als Nazipack.
Doch genau dazu macht man uns.
Man redet über uns, seltener mit uns. Wir werden 30 Jahre nach der Wende immer noch nach "Osttarif" bezahlt.
Uns wird tagtäglich damit klar gemacht, dass wir weniger wert sind.

Unsere DDR-Ganztagsbetreuung wird "Finnisches Modell" genannt, weil man sich nicht traut, das wenig Gute an der DDR zu benennen. Natürlich wissen alle, dass das Ganztagsbetreuungsmodell von der DDR abgeguckt ist.
Da unsere DDR aber in der Wahrnehmung nur aus FKK, Broiler und Stasi bestand wird das unter den Tisch gekehrt.
Ich verstehe den Missmut meiner Landsleute. Ich habe selbst Protest gewählt - die PARTEI. Das war im übrigen die einzige Partei die sich in der Provinz mit ihrem Oberindianer hier hat blicken lassen. Mark Benecke war auch dabei.
Soviel Wertschätzung haben die etabl. Parteien vermissen lassen.

... Was meinen Landsleuten hier fehlt sind die positiven Wahrnehmungen, auch hinsichtlich Europa.


QuoteKrawallbürste #14.4 

> Soviel Wertschätzung haben die etabl. Parteien vermissen lassen.

Das fand ich auch krass, wenn ich mit dem Motorrad aus der sächsischen Großstadt raus auf die Dörfer gefahren bin - dort hängen nur AfD Plakate. Es war kaum eine andere Partei zu sehen. Die AfD dafür aber auch im letzen 40 Seelen-Nest. Das zieht dann halt leider.


Quotespringer1 #17.1

Würde ich im Osten leben, würde ich auch aus Protest dem Westen gegenüber die AFD wählen.


Quoteastor131 #17.3

"Würde ich im Osten leben, würde ich auch aus Protest dem Westen gegenüber die AFD wählen."

Und das bringt dann was? Wem haben Sie es damit gegeben?


QuoteBurning Daylight #17.5 

"Würde ich im Osten leben, würde ich auch aus Protest dem Westen gegenüber die AFD wählen."

Protestverhalten wie ein Kleinkind aber wie ein verantwortungsbewusster Erwachsener behandelt werden wollen. Sorry, aber so funktioniert das nicht.


QuoteÜbergangsweise #17.8

Genau! Warum nicht ,,aus Protest" sich selbst ins Knie schießen?


Quotefolgt #20

"Ist der Osten noch zu retten?"
Ich sehe das genau umgekehrt, ich denke der Westen ist nicht mehr zu retten.
Leider zieht der dann auch den Osten mit in den Abgrund.


QuoteDraußen nur Kännchen #20.6
 
Was ist denn das 2. Thema neben "Ausländer raus"?


QuoteBCO #21

Von den 11 gewählten AfD-Kandidaten kommen 10 aus dem Westen.

Danke, liebe Ossis!


Quote
gEd8 #21.1

Migranten.


Quotehunter100 #33

Der Artikel liefert die besten Begründungen dafür, warum die Menschen im Osten "rechts" wählen (was ist schon rechts, wo die gesamte ehemalige konvervative Mitte links abgebogen ist?): Sie haben einfach genug davon, als Bürger zweiter Klasse ausgrenzt und nicht für voll genommen zu werden und was Gesinnungsjournalismus angeht - ja, davon wissen sie sie nun wahrlich ein Liedchen zu singen.


QuoteMilch0815 #36
 
Die Deutsche Einheit als Illusion: gespalten Ost und West, in Schwarz und Rot, in Jung und Alt. Alle Parteien polarisieren und heucheln von Einheit - und tun kaum was dafür. Die Mauer ist wieder da; in den Köpfen. ...


Quoteddfrog #42

Ich denke, Herr bangel hat es aus seiner westdeutschen Journalistensicht ganz gut hinbekommen - ich finde den Artikel als Ossi nicht schlecht. Aber was nun? Es graust mich etwas vo der Landtagswahl in Sachsen im September. Herr Kretschmer sagt, er will nicht mit der AfD koalieren, aber siehe James Bond: Sag niemals nie. Übrigens haben in Chemnitz 22% AfD gewählt. Ist das schon Radiaklisierung? Was in der Tat auffällt, ist der zunehmende Gradient Stadt-Land. Gut zu sehen bei der Kommunalwahl in Dresden: Innenstadt, Grüne vorn, Außenstadt - AfD.



QuotePutschdämon #44

"Ist der Osten noch zu retten?"

Das Gleiche fragen sich dort viele über den Westen. Es gibt nun mal unterschiedliche Meinungen. Bitte gewöhnen Sie sich daran, dass nicht ganz Deutschland wie das hanseatische Bildungsbürgertum tickt. Die anderen müssen ja auch hinnehmen, dass nicht alle wie sie denken. Vielfalt statt Einfalt. ...


Quote
SubversionUndNegation #49

Ich bin viel zu Adorno-Verseucht um mir einreden zu lassen, dass im Westen irgendwas nicht autoritär ist.


Quote
Nazijäger seit 45 #53

"Wenn man diesen fatalen Zusammenhalt der Ablehnungsmilieus aufbrechen will, muss man zuhören und verstehen wollen, und zwar doppelt so viel."

An 'Ausländer raus' gibt es nichts, das es nicht zu verstehen gibt und genau das dringt durch die Zeilen der Rechtsextremen und der Rechtspopulisten mit, egal ob die Zeilen verpackt sind in irgendwelchen pseudowissenschaftlichen Behauptungen oder quasi auf "sachlich" getrimmt sind. Letztendlich geht es darum, einen Sündenbock zu finden, für die eigene Frustration, für die eigene Ambitionslosigkeit.


Quotebemüht #54

Vielleicht ist einfach die Vorstellung des westlichen Durchschnittjournalisten falsch, dass es den Menschen in der DDR vor allem um Freiheit ging und nicht um Wohlstand.


QuoteEpicurus #58

Man lese Falter: Hitlers Wähler.

Auch in Weimar wurde in diesen Gebieten zuerst rechts gewählt.
Das hat eine lange historische Tradition.


QuotePalmeras #71

Wenn man den Einheitsprozess nicht aus Archiven, Essays und Büchern kennt oder sich von Wolf Biermann vorsingen lässt, sondern ihn hautnah und leibhaftig in der ersten Reihe erlebte, was uns Westberlinern durch den territorialen Umstand in den Schoss fiel, muss man sich über die Wahlergebnisse im Osten bis heute nicht wundern. Es wurden von unserer West-Seite nicht nur Fehler begangen, wie es heute verniedlichend dargestellt wird. Politik, zentral die meisten Medien und vor allem die Wirtschaft sind mit eine Herablassung und Inquisitionshaltung auf den Osten los, haben dort tiefe Wunden hinterlassen, die selbst bei den Kindern der Geschädigten und Gedemütigten noch neue Narben wachsen lassen. Man versprach Demokratie und Freiheit, kam aber mit den Werkzeugen des Neoliberalismus und einem latenten Überlegenheitsgedusel in die neuen Bundesländer. Nun bestaunen wir, was wir selber gesät.


QuoteMaximus Decimus Meridius #78

Tja, die AfD feiert Erntedankfest.
Und besonders bedankt sie sich bei den Medien, die praktisch über gesamte Regierungszeit Merkel jubelpersernd der Regierung Beistand leisteten, anstatt durch kritische Distanz mit ihrem professionellen Einblick den Verantwortlichen eine Politik fürs Volk mit Weitsicht und Erklärungspflicht abzuverlangen.  ...


QuoteKrausinho1967 #82

Natürlich gibt es nicht den Grund für die relative Stärke der AfD im Osten. Ein gewichtiger könnte aber in der habituellen Differenz liegen. Zunächst durch die PDS aufgefangen, wurde diese im Zuge der gesamtdeutschen Entwicklung der Partei ,, die Linke" heimatlos. Die AfD profitiert zweifellos davon.


QuoteDieMenschheitIstGut #84

"Ist der Osten noch zu retten? " Geht es noch platter? Das klingt nach der - sorry - etwas dümmlichen Annahme, dass der Osten nicht wisse, was er tut und dass müsse man ihm Politik einfach nur besser erklären müsse. Dazu sage ich, als Wessie, dass die Ostdeutschen meist viel besser wissen über Politik und wie sie funktioniert als der notorisch verwöhnte Westen. Und Ossies scheinen besser zu wissen, was sie wollen, denn sie wurden jahrzehntelange politisch drangsaliert. Und vielleicht können deswegen Ossies auch politisch substanzlose Besserwisser klarer identifizieren?...


QuoteDeine Freiheit ist auch die der Anderen #85

Es ist erbärmlich und für mich als Ostdeutscher beschämend, dass nur wegen eigener Befindlichkeiten ( nicht berücksichtigt gefühlt, abgehängt gefühlt etc ) rechte Hetzer und Faschistenverehrer gewählt werden. Nichts rechtfertigt das! ...


QuoteRL59 #100

Alle reden immer davon, dass die EU gespalten ist. Es scheint Deutschland ist ein leuchtendes Beispiel für die Trennung einer Gemeinschaft.


QuoteBarbaer #104

Auch im Osten haben ~80 Prozent der Wähler nicht die AfD gewählt, selbst in den genannten rechtsextremen Hochburgen sind sie weit davon entfernt eine Mehrheit zu erreichen. Statt sich ständig auf ein paar braublaue Dörfer zu versteifen (Bautzen: 40.000 Einwohner), wäre doch mal ein freundlicher Aufmacher, dass in der größten Stadt die Grünen stärkste Kraft sind (in Berlin, ebenfalls im Osten, ja ohnehin). Offenbar können sich die Ostdeutschen auch selber "retten"...


QuoteInni-Lisa #107

Wie wär's mal mit der Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit?


QuoteSebastian G. #124

Tja, als Chemnitzer weiß ich auch nicht so recht, wo das hinführen soll. Es ist ja nicht nur die AfD sondern auch das noch rechtsradikalere Pro Chemnitz, was hier Erfolge feiert. Deren Wahlkampfbroschüre hatte ich im Briefkasten und seitdem ist mir klar, dass die Aussage, dass nur dumme und ungebildete Menschen solche Parteien wählen, keine Beleidigung oder Pauschalisierung darstellt. Wer das liest und dann tatsächlich noch dort sein Kreuz macht (egal ob aus Zustimmung oder aus Protest), dem ist nicht mehr zu helfen - schon gar nicht mit Sachargumenten.
Dazu kommt ja auch noch das Agieren der Rechtspopulisten im europäischen Ausland. Wo hat sich denn was gebessert? England, Polen, Ungarn, Italien - wo genau haben die Rechten was gerissen? NIRGENDS! Nimmt man dann noch die USA hinzu, zeigt sich, dass rechte Aufrührer eben nur schreien können, aber kläglich versagen, wenn es um Ergebnisse geht. Bei der AfD ist es nichts anderes. Was haben die denn bitte schön geleistet, seit sie Politik mit gestalten können? Null. Im Chemnitzer Stadtrat sitzt einer von denen in einem Ausschuss und der sagt zu allem Ja und Amen. Das ist die. Alternative? Lächerlich. Im Herbst wird Sachsen wohl AfD-Land werden. Toll. Man schämt sich schon bei dem Gedanken. Aber wahrscheinlich müssen die Rechten erst in der Praxis versagen, bevor ihre Wähler merken, dass sie nix taugen. Schade um 5 vertane Jahre...


QuoteGertrud. die Leiter #125

Das Problem ist ja kein rein deutsches. Es ist weltweit das gleiche und heißt nur überall anders: in den USA Trump, in Großbritannien Brexit, und bei uns eben AfD. Seit mehr als drei Jahrzehnten machen die sogenannten Volksparteien, großen Koalitionen und Parteien der "Mitte" eine scheinbar alternativlose neoliberale Einheitspolitik, die wenige große Gewinner erzeugt, viele Verlierer und noch viel mehr, die Angst haben, irgendwann zu den Verlieren zu gehören. Und von den letzten beiden Gruppen derer, die sich zurückgelassen, überrollt oder schlicht ver*rscht fühlen, rennen eben viele denen hinterher, die die einfachsten Antworten geben. Und die allereinfachste Antwort auf alles ist es, einen Sündenbock zu benennen, auf die Wut und Ärger projiziert werden können.

Alles schon mal da gewesen. Und nicht nur einmal.


QuoteJulier #133

"Aber das ist kein Grund, das war es nie, Rechtsextreme zu wählen..."
Das ist die entlarvende Passage. Die Menschen in Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen waren nun Jahrzehntelang Steigbügelhalter für Emporkömmlinge aus dem Westen. Deren Parteien sind abgefrühstückt, haben Aufschwung und Aufmerksamkeit versprochen, aber es kam nichts. Also wird Rechts gewählt.


QuotejustAmoonwalker #127

Ich für meinen Teil, welcher nun schon seit 3 Jahren in Dresden wohnt, habe es langsam aufgeben mit Afd Wählern zu diskutieren. Die Argumentationsstruktur ähnelt auffällig kleinen Kindern welche sich weigern vorm Bett gehen die Zähne zu putzen. Da kann man noch so viele Erfahrungen und Studien zitieren dass Karies langfristig die Zähne ruiniert. Die Wähler/Kinder behaupten dann einfach, sie hätten schon am Tag vorher keine Zähne geputzt und vom Karies sei nichts zu sehen. Also haben sie recht & ich Unrecht. Punkt.

Als Vater mag man da noch Gedult haben bzw. die Möglichkeit ein Machtwortes zu sprechen ist gegeben. Mit Erwachsenen mündigen Bürgern geht das leider nicht mehr so gut. Aber vielleicht wollen die Leute auch einfach so jemanden der für sie Entscheidungen trifft. Ein Papa a la Putin der seine Schützlinge behütet.


Quotethomaseisenhuth #139

Der Artikel beschreibt ein brisantes Thema und doch wird der Kern des Problems nicht getroffen. Leider! Ich bin ein Kind der DDR. Positive Kindheitserlebnisse gegenüber Freunden aus dem Westen zu erzählen ist all die 30 Jahre immer ein Problem gewesen. Egal, was ich aus meiner Kindheit erzählen wollte: Wenn ich nicht noch die Geschichte mit dem Satz beendete "und es war doch ein Unrechtsregime" wurde und werde ich stets misstrauisch angeschaut wie ein Ewiggestriger und sicher mit Gedanken meiner westlichen Freunde wie "War er bei der Stasi?" oder "Wählt er die AfD?". Es ist immer die selbe Leier. Man ist stets verdächtig. Ein Freund aus dem Westen erzählte mir vor Jahren ganz stolz wie er nach dem Mauerfall alte Westaustos den unwissenden Ossis zu vollkommen überhöhten Preisen verkauft hat. Seit einiger Zeit diskutieren wir immer wieder über den angeblich ach so rechten Osten. Kommentar von ihm: 'Warum sind den bloss die Menschen im Osten so undankbar? Sie können jetzt alles kaufen und haben schöne Autobahnen.' Leider denken so viel zu viele Menschen im Westen, die gern - auch als Journalist oberlehrerhaft über den Osten dozieren und urteilen über eine Situation, die sie selbst nicht verstehen und auch nicht verstehen wollen. Wenn Menschen und ein Land nicht vereinigt werden, sondern angeschlossen und der Westen seinen Plan, nach Vereinigung das Grundgesetz durch eine Verfassung zu ersetzen aufgibt, weil der Westen alles besser weiss, wundern mich die Wahlen nicht!


Quotekuhnoix #141

Eine westlich-abgrenzende Bevormundung muss wieder her

Der Arbeiter-und-Bauernstaat, von 1961 bis 1989, hat - dauerhaft -seine Spuren hinterlassen, bis heute.


Quote
Shenia #148

Es war auch Naivität des Westens zu glauben, dass die westliche Demokratie sofort von dem Osten übernommen wird. Es war auch für Westen ein langer Weg dorthin ...


QuoteAdam Kowalski #155

In einem hat der Autor zumindest recht: Über die Treuhand und anschließende Förderungspolitik muss diskutiert werden. Es ist doch beachtlich, dass genau in den Gebieten, in die Milliarden an EU-Fördergelder flossen, das System am meisten abgelehnt wird.


QuoteAlter Hartzer #156

Ich kann dem Autor nur empfehlen mal über seinen Tellerrand Deutschland hinaus zu sehen: es gibt da noch ganz viele andere Länder in Europa.

Und viele Menschen in diesen Ländern haben (leider) auch die Neuen Rechten gewählt. Sind Frankreich, Belgien, Italien, Polen, Ungarn oder England auch nicht mehr zu retten? Gilt da auch der Ernstfall? In diesen Ländern haben die Neuen Rechten nämlich ungefähr die selben Prozentanteile erhalten wie in der ehemaligen DDR - und teilweise deutlich mehr.

Wenn Sie ganz Europa berücksichtigen ist nicht Ostdeutschland der Sonderfall, ganz im Gegenteil; der Sonderfall ist Westdeutschland, mit den vielen Grünwählern in den prosperienden Großstädten.


QuoteSt.Expeditus #158

Vermutlich liegt das unterschiedliche Wahlverhalten zwischen West und Ost auch an der Altersstruktur. Denn im Osten machen die über 60-Jährigen mehr als ein Viertel der Bevölkerung aus.
Gerade auf dem flachen Land ist der Anteil der über 60-Jährigen noch höher. Diese Menschen haben also zwischen 20 und 40 den Umbruch der Wende erlebt und waren davon am Meisten betroffen. Vielleicht erklärt das, dass die AfD dort so stark ist.


QuoteSuperkommentator #166

Der "Osten" ist natürlich sehr pauschal, und niemand kann für alle Menschen im Osten in ein paar Sätzen alles gerecht kommentieren. Wenn der Osten aber mehrheitlich rechts wählt, dann ist der Osten mehrheitlich rechts. Wenn Universitätsstädte im Westen grün wählen, dann sind diese Stäste mehrheitlich grün. Im Osten wie im Westen gibt es arm und reich, soziale Härten und üblen Finanzkapitalismus. Jung und alt unterscheidet sich auch stark. Es gibt also keine Pauschalurteile und keine Pauschallösungen. Eins bleibt für alle aber gleich. Wer friedlich leben will, Reisen will, Infrastruktur (vom Bürgersteig bis zur Internet-Firma) haben will, der muss auch mit allen anderen zusammenleben können, nicht mal eben nur in Chemnitz, Ost-Deutschland oder Europa, sondern mit allen auf der Welt. Zur Welt gehört die Türkei, der Islam, afrikanische Migranten und sogar die AfD-Wähler. Die Jüngeren verstehen das meistens besser. Für diese ist primär auch die Zukunftspolitik wichtig. Oft heißt es im Osten, man wolle eben unter sich bleiben. Hier muss man doch denen mal klar sagen: Das könnt ihr total vergessen ...


QuoteSören Callsen #170

All diese Artikel verkennen, was mich schon über 30 Jahren erschreckt hat:
Die Mentalität war schon zu DDR-Zeiten genau so. Man hat es nur nicht so mitbekommen.


Quotem.schmidt67 #176

40 Jahre ein eingesperrtes Volk prägt eben.
Mit fremden Kulturen können die kaum was anfangen.
Dann kommt die AFD mit ihrer Polemik gerade recht, der man einfach folgen kann.


QuoteLillly #176.1 

70 Jahre Demokratie und immer noch Schwierigkeiten, Wahlergebnisse zu akzeptieren.


Quotesecret77 #179

Wie hat ein ca 50jähriger Sachse, der bei Audi einen guten Job hat, zu mir mal auf einer Fahrt gesagt:

"Die Ossis haben einfach ein paar Jahrzehnte zu wenig Kontakt zur Außenwelt gehabt, die haben immer irgendwo in ihrer eigenen Welt gelebt."

Dazu kommt - meiner Meinung nach! - noch atheistisch-materialistische, völlig unspirituelle Sozialisation. Die viele Menschen im Westen durch den Atheismus Hype und Konsum Wahn ja nun auch einholt, mit den bekannten unguten Veränderungen der Menschen.

Ich war schon seit nach dem Mauerfall entsetzt über den Ausverkauf des Ostens und auch Lohnungleichheit geht gar nicht (gleiches Recht für alle!) -
aber Rechtsextremismus ist durch NICHTS zu entschuldigen, und die brennenden Asylunterkünfte seinerzeit hatten auch eher mit "Fidschi"-Gewohnheiten als mit Lohnungleichheiten zu tun.

Wie sehr die "Ossis" unter sich bleiben wollten, das habe ich in 20 Jahren Berlin oft gespürt. Mir ist klar, dass sie nicht mega begeistert waren, als die "Wessi-Invasion" nach Ost-Berlin begann, aber wie gesagt: gleiches Recht für alle. Wie viele sind in den Westen?

Ich will sicher nicht alle über einen Kamm scheren, ich habe täglich auch normales und positives erlebt, aber eben auch abstruses, weltfremdes oder egoistisches.


QuoteTorrente #183

Wer glaubt Rechtsextremisten und ihre Fans durch "Zuhören" zum konstruktiven Miteinander bewegen zu können, hat offenbar noch nie ein Geschichtsbuch in der Hand gehabt.


...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 06, 2019, 06:21:20 PM
Quote[...] Auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer sind die Verhältnisse in Deutschland nicht überall gleich. Am Arbeitsmarkt zeigt sich das nicht nur an unterschiedlichen Gehältern, sondern auch an der Arbeitszeit: Im vergangenen Jahr haben Westdeutsche durchschnittlich 1.295 Stunden gearbeitet. In Ostdeutschland – Berlin eingeschlossen – waren es 1.351 Stunden, also 56 Stunden mehr. Auch die Löhne sind im Westen höher: Im Jahresdurchschnitt verdienten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit 36.088 Euro brutto fast 5.000 Euro mehr als die Beschäftigten im Osten (31.242 Euro). Die Bundestagsfraktion der Linken wertete diese Zahlen auf Grundlage der Daten der Statistischen Ämter von Bund und Ländern aus.

Die Linken-Sozialexpertin Sabine Zimmermann sagte, es sei inakzeptabel, dass sich die Bundesregierung offensichtlich mit einem "Sonderarbeitsmarkt Ost" abgefunden habe. Als Lösungsansatz nannte sie eine Stärkung der im Osten deutlich schwächeren Tarifbindung. Dafür müssten Tarifverträge in einer Branche leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Zudem fordert die Linke schon seit Längerem eine Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde. Aktuell liegt er bei 9,19 Euro, ab 2020 soll er auf 9,35 Euro angehoben werden.

Den Statistiken zufolge arbeiteten im vergangenen Jahr die Menschen in Sachsen-Anhalt mit 1.373 Stunden am meisten. Am niedrigsten war diese Zahl im Saarland mit 1.269 Stunden pro Arbeitnehmer. Der bundesweite Schnitt liegt bei 1.305 Arbeitsstunden.

Bei den Löhnen und Gehältern bleibt Hamburg an erster Stelle. In der Hansestadt verdienten Beschäftigte durchschnittlich 41.785 Euro brutto. Die niedrigsten Gehälter werden in Mecklenburg-Vorpommern gezahlt: 28.520 Euro betrug das mittlere Bruttogehalt. Bundesweit waren es 35.229 Euro je Arbeitnehmer.

Beim Arbeitsvolumen erfasst der Arbeitskreis Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden am jeweiligen Arbeitsort – auch bei Beschäftigten mit mehreren Jobs. Nicht einbezogen werden etwa Urlaub, Elternzeit, Feiertage, Kurzarbeit oder Abwesenheit wegen Krankheit.


Aus: "Ostdeutsche arbeiten mehr und verdienen weniger" (6. Juli 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/2019-07/ostdeutschland-mehr-arbeitsstunden-weniger-lohn (https://www.zeit.de/politik/2019-07/ostdeutschland-mehr-arbeitsstunden-weniger-lohn)


Quoteansv #8

Was soll diese Statistik eigentlich sagen? Es gibt unendlich viele prekär Beschäftigte, die sehr gerne mehr als 20 Stunden arbeiten würden, sind die berücksichtigt? Und was genau sagt der Durchschnittsverdienst eines ganzen Bundeslands aus? Von dem, was man im oberbayerischen Dorf verdient, bezahlt man in München auch keine Wohnung. ...


Quotebromfiets #8.1

Es gab 2018 weniger Vollzeitarbeitsplätze als 1998, obwohl die vielbejubelte Arbeitslosenquote 1998 weit höher lag. Dafür haben wir halt 4 Mio. neue Teilzeitarbeitsplätze bzw. eine Teilzeitquote von mittlerweile 40%. Rund 3.2 Mio. Menschen haben Nebenjobs. Details siehe hier: http://doku.iab.de/arbeitsmarktdaten/AZ_Komponenten.xlsx

Wenn es das Ziel der Agenda 2010 war, den Arbeitsmarkt zu amerikanisieren, dann kann nur sagen: Ziel erreicht. ...


Quoteansv #8.4

"Amerikanisierung" klingt irgendwie zu harmlos. Herr SPD-Schröder hat es 2005 in Davos deutlicher gesagt "Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt".

Das war das Ziel, das wurde erreicht. Mit den Hartz-Reformen hat man dafür gesorgt, dass Qualifikation sich nicht mehr rentiert. Wer arbeitslos wird, muss jede Arbeit annehmen, sonst wird die Unterstützung gestrichen. Und wer einmal im Callcenter sitzt, kommt dort nur schwer wieder raus.

Gleichzeitig wird alles unterlaufen, was einmal von Gewerkschaften erstritten wurde. Kündigungsschutz entfällt z. B. wenn man nur mit Teilzeitkräften arbeitet. Im Handel ist das nahezu standard, Discounter stellen ihre ganze Personalpoliltik darauf ab, dass bei einem Kranheitsausfall nie mehr als 20 Stunden zu verteilen sind. Und bei anderen gibt es gleich nur eine Garantie für 20 Stunden / Monat, der Rest ist auf Abruf und Goodwill.

Trotz allem - das betrifft ganz Deutschland. Nicht nur den Osten. Und ich kann mich gar nicht beruhigen über diesen Artikel. Was will man damit erreichen? Wohl kaum Zufriedenheit im Saarland (wir arbeiten am wenigsten) sondern Unzufriedenheit im Osten (wir habens immer gewusst, wir sind so arme Schweine)...


Quotexvulkanx #14

Was nützt das höhere Einkommen in den westdeutschen Metropolen, wenn das von den hohen Mieten aufgefressen wird. ...


Quotewd #26

Das mit der "Produktivität" ist eine lustige Sache.
Monteurstunde in Hamburg 120€
Monteurstunde Niedersachsen Provinz 60€
Beide Monteure erledigen die gleiche Arbeit in der gleichen Zeit.


...

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 25, 2019, 04:12:27 PM
Quote[...] Druschba, Freundschaft. Das wünschen sich viele Ostdeutsche. Doch die Beziehungen zu Russland zeigen alle Symptome eines neuen Kalten Krieges. Jüngsten Umfragen zufolge befürworten 54 Prozent der Westdeutschen eine neue Annäherung an Russland, bei den Ostdeutschen sind es 72 Prozent.

...  ,,Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!", erfuhren schon die Kinder in der DDR, was eine frühe Anlage zum Sarkasmus durchaus beförderte. Der Alltag Ost war durchzogen mit Gegensprüchen, wobei die Feststellung ,,Das gibt's in keinem Russenfilm!" die ultimative Reaktion auf Zumutungen aller Art darstellte. Russenfilm, das hieß: zu viel Pathos! Schon das Logo der sowjetischen Filmproduktionsgesellschaft Mosfilm, bäuerliche Heroine und Arbeiterheld kreuzen Hammer und Sichel, war eine schwere Bürde für alles Folgende, obgleich das manchmal auch ziemlich gut war.

Nein, die Russen hatten es nicht leicht in der DDR. Kurz vor ihrem Ende waren mehr als sechs Millionen ihrer Bürger Mitglied in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, meist, weil sie glaubten zu müssen. Die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft war ein großes Hindernis für die deutsch-sowjetische Freundschaft. Was aber am schwersten wog: Die Russen hatten den Rock'n Roll nicht erfunden! Die DDR-Jugend lernte Russisch mit Dauerblick gen Westen, natürlich über die Bundesrepublik hinweg gleich bis nach Amerika, eine Minderheit schaute mehr nach Paris.

Nein, die starke ostdeutsche Anteilnahme an Russland lässt sich nicht einfach aus der Vergangenheit erklären. Die Betonung liegt auf ,,einfach".

Immer mehr meist etwas ältere Leipziger betreten das Café Yellow in der Steinstraße. Sie wollen hier gleich zusammen einen Russenfilm sehen, und zwar einen, den sie schon kennen: ,,Die Kraniche ziehen" von 1957. Ein junges Paar, so alltäglich-unalltäglich wie Verliebte sind und wie es das sowjetische Kino bislang doch nicht kannte, blickt auf die Kraniche am Himmel über Moskau: ,,Schau einmal hin, schau zweimal hin, dann sieh' mich wieder an!" Es ist der 21. Juni 1941, der letzte Abend im Frieden, und keiner weiß es.

,,Die Kraniche ziehen" von Michail Kalatosow gewann 1957 in Cannes die Goldene Palme, aber dies hier ist kein Cineasten-Treffen, nein, es ist die etwas andere Art, des 22. Juni zu gedenken, des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Kino statt Sanktionen! Also ist das hier eine Zusammenkunft der letzten Veteranen der deutsch-sowjetischen Freundschaft? Lauter Russland-Versteher, wie jene sagen, die sich nichts vormachen lassen?

Wenn ihr wüsstet, was ihr euch alles vormachen lasst!, antworten dann gewöhnlich die Gäste des Café Yellow. Vor drei Jahren haben sie die Bürgerinitiative ,,Gute Nachbarschaft mit Russland e.V." gegründet. Wie nötig sie sei, hätten gerade die letzten Wochen gezeigt, begrüßt die Vorsitzende des Abends die Gäste. Wahrscheinlich haben die meisten Mitbürger West auf den großen Gedenkveranstaltungen zum D-Day-Jahrestag niemanden vermisst, die Ostdeutschen schon: die Russen. Schon im Namen der historischen Wahrheit.

Alle hier wissen, dass es den Westalliierte nicht eilig war mit dem D-Day. Dass sich Faschisten und Kommunisten im Osten gegenseitig die Köpfe einschlugen, schien ihnen so verkehrt nicht. Erst als klar wurde, dass die Rote Armee auf ihrem Weg gen Westen nicht mehr aufzuhalten war, spürten die Alliierten ernsten Handlungsbedarf. ,,Ich habe im Radio gehört, die Schlacht in der Normandie sei die größte Schlacht des II. Weltkriegs gewesen", ruft einer. Eine Art von trauriger Heiterkeit legt sich über den Raum. Cornelius Weiss, Mitgründer der Bürgerinitiative, Chemiker, bis 1997 Rektor der Leipziger Universität, SPD-Landtagsabgeordneter, zuletzt Alterspräsident des Sächsischen Landtags, lacht nicht.

Es gab bestimmt nicht viele deutsche Halbwüchsige, die wie er 1946 über die Schlachtfelder kurz vor Moskau gingen. ,,Die zerschossenen deutschen Panzer standen alle noch da, die russischen waren schon fort", wird Weiss nachher sagen. Bilder, die bleiben. Weiter im Süden war es noch apokalyptischer. Die Schlacht am Kursker Bogen war die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs und sein Wendepunkt, die größte Landschlacht der Geschichte überhaupt.

Wie sähe die Welt aus, hätten es die Deutschen noch geschafft, die Atombombe zu bauen? Die Radiumreserve des Deutschen Reiches – wichtig für die Nutzbarmachung der gerade erst entdeckten Kernspaltung – wog 21 Gramm. Millionen Dollar wert. Der Atomphysiker Carl Friedrich Weiss sollte die 21 Gramm im April 1945 SS-bewacht auf den Obersalzberg schaffen. Als die SS weglief, hat er es unterwegs vergraben. Doch zu Hause warteten die Amerikaner schon auf den 21-Gramm-Kurier: Ausgraben!

Sie wollten nicht nur die 21 Gramm, sondern auch den Atomphysiker gleich mitnehmen, aber der weigerte sich: er sei Sozialist! Als kurz darauf die Sowjets nach Thüringen kamen, fragten sie gar nicht erst. Und darum lebte sein dreizehnjähriger Sohn Cornelius nun in einem Lager 130 Kilometer vor Moskau, lief über die Schlachtfelder, begriff sich als Opfer einer Entführung und verstand doch allmählich, was die Deutschen diesem Land angetan hatten. Dass er nie Hass spürte, nicht von den alten, nicht von den jungen Russen, erstaunt ihn noch immer.

Cornelius Weiss schämt sich wie die anderen hier für die Europäer und Amerikaner, die so tun, als hätten sie den Krieg allein gewonnen – und die zugleich Sanktionen gegen Russland verhängen. Gerade haben sie dem Ministerpräsidenten aller Sachsen einen Beifalls- und Beistandsbrief geschrieben, denn Michael Kretschmer hatte im Juni eine neue Russland-Politik gefordert: ,,Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, ... unsere Leipziger Bürgerinitiative müht sich seit drei Jahren darum, dass dieses für den Frieden in Europa eminent wichtige Verhältnis aus dem Tal herauskommt, in das es geschichtsvergessene und kurzsichtige Politiker und Medien hineingesteuert haben."

Die Mehrheit der Sachsen sehe das übrigens genauso, erfuhr der Ministerpräsident, schließlich hat eine Bürgerinitiative das Ohr grundsätzlich am Volk. Aber was ist mit der Krim, was mit der Ostukraine, was mit Flug MH 17?

Der Film ist zu Ende. Weiss und der Architekt Johannes Schroth, der einst gemeinsam mit russischen Bauleuten ,,Experimentalwohnkomplexe" für Nischni Nowgorod plante, als es noch Gorki hieß, sehen sich an. Sie sitzen im Hofgarten des Kulturzentrums, zu dem das Café gehört. Schräge bunte Keramiken rahmen die Szene. Meist treffen sich hier junge alternative Gruppen, sie sind eine eher ältere alternative Gruppe.

,,Wir wissen, dass wir uns auf schwierigem Terrain bewegen", sagt Schroth, aber einfach zuzusehen, wie ,,der Russe" als Feindbild wiederkehrt, das sei ihnen nicht gegeben. Bei jedem neuen Nato-Manöver, das zumindest gefühlt den Grenzen Russlands nahekommt, stocke ihnen der Atem. Schroth und Weiss sagen, sie hätten das Versprechen des amerikanischen Außenministers James Baker aus dem Jahr 1990 nicht vergessen, dass die Nato ihre Ostgrenze nie über das Gebiet der DDR hinaus erweitern würde – als Vorbedingung der Sowjetunion für die deutsche Einigung.

Ein solches Versprechen indes ist in den Verhandlungspapieren nicht dokumentiert, formell hat es eine solche Zusage also nicht gegeben. Nur Baker selbst machte sich handschriftliche Notizen eines Gesprächs mit Michail Gorbatschow zu dem Thema, in einem Brief an Helmut Kohl erklärte er, er habe Gorbatschow nach seiner Meinung dazu gefragt.

Es kommt nicht darauf an, Putin zu mögen, ihn gar zu verteidigen. Aber Schroth und Weiss sind ihm dankbar für seine Besonnenheit, mit der er zugesehen habe, wie an der Westgrenze seines Landes zum Gründungsmitglied Norwegen schließlich auch Estland, Lettland und Litauen als Nato-Staaten dazukamen. Dass in Polen und Rumänien an einem Raketenabwehrschirm gearbeitet wird. Der Wittenberger Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer hat das einmal so formuliert: ,,Was wäre, wenn Russland auf die Idee käme, in Mexiko einen Raketenschutzschirm aufzubauen und zu behaupten, das richte sich nicht gegen die USA?"

Dass irgendwann Schluss sein würde, war beiden klar. Bei Georgien und der Ukraine würde Schluss sein. ,,Sollte die russische Schwarzmeerflotte plötzlich in einem Nato-Land liegen? Sewastopol, diese so hart umkämpfte Stadt?" Sieben Monate lang, bis zum 4. Juli 1942, verteidigte die Rote Armee den Hafen. Fast abgeschnitten von jeder Versorgung, unter Dauerbombardement. Am Ende standen nur noch neun unversehrte Häuser in der ganzen Stadt, eine halbe Million Soldaten der Roten Armee waren gefallen. Nein, Sewastopol ist kein guter Ort für einen Nato-Stützpunkt.

Und warum, fragen Schroth und Weiss, fiel die seit Katharina der Großen urrussische Krim überhaupt an die Ukraine? Weil der Ukrainer Chruschtschow 1954 auf die Idee kam, die Krim an die Ukraine zu verschenken. Eine kleine symbolische Aufmerksamkeit, mehr konnte es nicht sein innerhalb der Sowjetunion. Was man so macht, wenn man – nach Stalins Tod – noch Gefolgsleute braucht. Wir sind kein Präsent, wir sind nicht zu verschenken!, protestierten damals die Bewohner der Krim, sogar die örtliche KPdSU.

Das Verständnis der Ostdeutschen für Russland ist größer, schon weil sie es besser kennen. Und vielen fällt es schwer, sich eine nichtrussische Krim vorzustellen. Aus der einstigen Reserve ist doch eine nachträgliche Fernnähe geworden, wie es oft passiert, wenn Menschen eine gemeinsame Vergangenheit teilen. Bei dem Wort Dostoprimetschatelnosti fangen sie an zu lächeln, vielleicht, weil sie es so lange nicht mehr gehört haben, vielleicht aus Freude, dass sie es immer noch verstehen. Dostoprimetschatelnosti heißt Sehenswürdigkeiten. Aber es ist viel mehr.

Die innerdeutsche Grenze gibt es immer noch: Es ist eine unsichtbare, eine epistemologische Grenze. Osten und Westen denken verschieden. Der Westen denkt primär rechtsförmig, der Osten primär genealogisch. Er fragt zuerst, wie eine Sache geworden ist. Die Dinge ausschließlich rechtsförmig zu betrachten, heißt abstrakt zu bleiben. Aber Interessen sind nie abstrakt, Sanktionen sind nie abstrakt. Nahezu jedes Jahr am 22. Juni wurden die Sanktionen gegen Russland verlängert, am Tag des Überfalls auf die Sowjetunion. In diesem Jahr war es der 20.

,,Treffen Sanktionen nicht immer die Falschen?", fragt Ulrike Euen. ,,Russland ist unser Riesennachbar, die sind so dicht dran an uns, da können wir nicht einfach auf Konfrontation gehen." Da ist ein großes Unbehagen angesichts der westlichen Politik der Stärke.

Wer aus der DDR kommt, aus dem Land, das die Bundesrepublik lange Zeit in Gänsefüßchen setzte, hat ein feines Gespür für solche Dinge. Und weil sie einst selbst Sanktionierte waren, wissen Ostdeutsche auch, dass Druck von außen den inneren Zusammenhalt eher fördert. Manche vermuten, der russische Nationalismus sei unter tätiger Mitwirkung des Westens entstanden, gewissermaßen ein Kollateralschaden der europäischen Ostpolitik.

,,Ich mag diese Arroganz des Westens nicht, anderen zu erklären, wie sie zu denken, wie sie zu leben haben", sagt Andrea Roscher-Muruchi, Jahrgang 1957, ein eher jüngeres Mitglied der Leipziger Bürgerinitiative. Andrea Roscher-Muruchi aus dem Erzgebirge hatte sowjetische Brieffreunde wie viele andere auch, erinnert sich aber nicht mehr an ihre Namen, es war doch eine zu mühsame Verständigung. Sie war nie gut genug in Russisch, um mit dem ,,Freundschaftszug" in ein sowjetisches Ferienlager fahren zu dürfen, aber dafür machte sie mit achtzehn eine Lenin-Reise. Nach Moskau, Uljanowsk und Wolgograd.

,,Lenin war mir egal, aber es gab keine andere, und es war so großartig weit weg." Wer Russland gesehen hat, sagt sie, diese unerhörte Weite des Landes, der muss doch spüren, dass es sich nicht vom Westen aus regieren lässt.

Manchmal wird die Leipziger Bürgerinitiative darauf hingewiesen, dass Russland keine Demokratie sei. Meist antwortet sie nur: Wissen wir!

Es ist – noch immer – das Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft. Und das, obwohl die Ostdeutschen stets wussten, dass sie stellvertretend für ganz Deutschland die Kriegsschuld bezahlten, indem sie vierzig Jahre lang in einem besetzten Land lebten, in dem die Russen quasi noch die letzte Schraube abgebaut und mitgenommen hatten.

Das zentrale Ereignis im Leben vieler Ostdeutscher war der Herbst '89, und dessen Vater war ein Russe: Michail Gorbatschow. Er war, mehr noch als Kohl, auch der der deutschen Einheit. Kaum ein Ostdeutscher hat Gorbatschows schönes Bild vom gemeinsamen europäischen Haus, das man nun bauen werde, vergessen. Nichts anderes war nach 1990 vorstellbar, als der Kalte Krieg vorbei war. Doch die USA haben von dieser WG noch nie etwas gehalten. Nein, es ist kein Zimmer frei für Russland im europäischen Haus. Wahnsinn sei das schon, finden Schroth und Weiss.

Nicht die Politik der Konfrontation und der Stärke, sondern einzig die Politik der Entspannung hat den Ost-West-Konflikt gelöst und die deutsche Einheit möglich gemacht. Das ist die zentrale historische Erfahrung der Ostdeutschen. Sie ist nicht widerrufbar, nicht löschbar, sie ist nicht einmal relativierbar.


Aus: "Woher die Nähe der Ostdeutschen zu Russland rührt" Kerstin Decker (25.07.2019)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/schicksalsgemeinschaft-woher-die-naehe-der-ostdeutschen-zu-russland-ruehrt/24696258.html (https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/schicksalsgemeinschaft-woher-die-naehe-der-ostdeutschen-zu-russland-ruehrt/24696258.html)

Quotepeterfree 12:56 Uhr
Der Ossi ist ein Underdog. Im Mittel wenigstens. Und Putin ist auch einer. Aber einer, der sich wehrt. Dafür hat der Ossi großes Verständnis und ziemliche Sympathie. Und das überträgt sich auch auf Kinder und Enkel des gemeinen Ossis.

Der Ossi mag Typen, die von den Medien jahrelang niedergemacht werden, aber immer noch da sind. Und irgendwie auch recht behalten.
Ich vermute mal, dass der gemeine Ossi auch Boris Johnson ganz in Ordnung findet. Und kein großes Problem mit dem Brexit hat.


Quotepeterfree 14:49 Uhr
Antwort auf den Beitrag von Zbig_brzezynsky 13:34 Uhr
Da steckt keine Ironie, aber auch keine Böswilligkeit drin. Underdogs halten zu Underdogs. Ich finde das auch völlig in Ordnung. Der Ossi hat in Bezug auf ein gutes Verhältnis zur Russland meine volle Unterstützung.

Schreibt ein Ossi.


Quoteminimal 12:41 Uhr
Es gibt viele Gründe, warum viele Menschen im Osten anders ticken als im Westen. Einer besteht darin, dass die Ex-DDR-Bürger aufgrund ihrer Erfahrungen mit gleichgeschalteten Medien ausgiebig gelernt hatten, zwischen Propaganda, hohlen Phrasen, Erziehungsauftrag der Partei und der Realität klar zu unterscheiden. Die Menschen ließen sich nicht für dumm verkaufen, sie entwickelten regelrecht ein Gespür dafür selbst die meisten SED-Genossen durchschauten die Propaganda, hielten aber meistens die Klappe. (so taz-Redakteur Ambros Waibel)

Und heute?
,,Wenn man den Rechner anmacht: Putin. Wenn man die Zeitung aufschlägt: Putin. Wenn man den Fernseher einschaltet: Putin. Wenn man irgendwo in Europa einen Stein umdreht -
wahrscheinlich stößt man auf Putin. Vom Ukrainekonflikt über die Flüchtlingskrise bis hin zu Pegida: Der russische Präsident wird für alles verantwortlich gemacht, was auf dem Kontinent schiefläuft. Demnächst noch für Merkels Frisur.
Putin ist wie ein Geist. Aber wie für alle Geister gilt auch für
diesen: Den Putin, den wir überall sehen, den erfinden wir uns
selbst."(Jacob Augstein in SPON)

Im Osten haben alle 5 Ministerpräsidenten – parteiübergreifend - die Forderung von Sachsens MP Kretschmar nach Abbau der Sanktionen gegen Russland unterstützt. Nicht nur Linke und Rechte sind mehrheitlich dafür, auch große Teile von SPD und CDU, Vertreter der ostdeutschen Wirtschaft und die große Mehrheit der Bevölkerung im Osten.
Aber was zählt das schon? Der Osten eben!


QuoteDragonfighter 12:38 Uhr

    Woher die Nähe der Ostdeutschen zu Russland rührt

Schon die Überschrift ist so pauschal formuliert schlicht falsch.

Es gab zu DDR-Zeiten genauso wie heute viele Menschen, die eine Nähe zu Russland spüren, aber es gab und gibt auch viele, die von der (damals sowjetischen, heute) russischen Politik mindestens irritiert sind. Selbst im Politbüro der DDR wurde der Große Bruder nie als Freund auf Augenhöhe wahrgenommen. Und mit Gorbatschow war es dann ganz vorbei mit der Nähe.

Viele Ostdeutsche können mit Russland nur wenig anfangen. Genauso können viele Westdeutsche mit den USA nur wenig anfangen. Wichtiger finde ich daher die Frage: Was genau wird an anderen Ländern als positiv angesehen und mit welcher Art von Politik kann man sich nicht mehr identifizieren. ...


QuoteHavelmueller 11:40 Uhr
Ihren nächsten Artikel, verehrte Frau Decker, bitte zu dem Thema "Woher die Nähe der Westdeutschen zu den U.S.A. rührt".
Sie werden diesen dann, hoffe ich, ebenso klug und differenziert schreiben. ...


...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 12, 2019, 09:38:30 AM
Quote[...] ,,Geschichte wird gemacht", das wusste die Band Fehlfarben mit dem Maler Markus Oehlen am Schlagzeug schon 1980. Neun Jahre später wurde für jeden anschaulich, welche Macht von dem ausgeht, der die Deutungshoheit über die kulturelle Historie besitzt: Nach den politischen Umbrüchen in der DDR bekam die Kunst der sozialistischen Republik null Chance, sich im Westen zu profilieren.

Wer nicht schon dort gewesen – und erfolgreich – war, wie Gerhard Richter, A.R. Penck oder Georg Baselitz, an dem klebte das Etikett des Staatskonformisten. Ein Maler wie Baselitz befeuerte die Debatte noch, indem er 1990 in einem Interview behauptete, es gäbe ,,keine Künstler in der DDR" – und wenn doch, dann seien das ,,Arschlöcher". Anderswo ging man mit mehr Differenzierungswillen an die Sache, sah aber ebenfalls bloß Kunst, die nach dem berüchtigten Formalismusstreit vor allem ein Attribut auszeichnete: falsche Themen, falscher Stil, falsche Seite. Die Kunst verschwand, aus den Dauerpräsentationen der Museen ebenso wie vom Markt, der neben Bernhard Heisig oder Wolfgang Mattheuer nur wenige ostdeutsche Namen kennt.

Drei Jahrzehnte später ist das Museum der Bildenden Künste am ,,Point of No Return" angelangt. So heißt die Ausstellung, die noch vor den ersten Feierlichkeiten zum Mauerfall-Jubiläum ihre eigenen Schlüsse aus der Vergangenheit zieht. An die 300 Werke von 106 Künstlerinnen und Künstlern haben die Kuratoren – Christoph Tannert, Paul Kaiser und der Leipziger Museumsdirektor Alfred Wedinger – zusammengeholt. Sie zeigen, wie ungeheuer vielstimmig die Kunst aus der DDR und wie komplex ihre Geschichte ist. Da tauchen Maler wie der umstrittene Willi Sitte auf, dessen Biografie eine erstaunliche Kurve fährt: Vom staatlich überwachten Picasso-Anhänger wandelte er sich zum offiziellen Staatskünstler, der 1977 an der Documenta in Kassel teilnahm und gleichzeitig Präsident des Verbandes Bildender Künstler der DDR war. Sein berühmtes Bildnis ,,Chemiearbeiter am Schaltpult" hängt statt in Leipzig auf der Moritzburg in Halle. Doch dafür ist Moritz Götze mit einer poppigen Interpretation des Gemäldes vertreten, das 2003 und damit über drei Jahrzehnte nach dem Original entstand.

Der 1964 geborene Götze wiederum symbolisiert jene Generation, die in der DDR nicht als Künstler anerkannt und deshalb vom staatlichen Kunsthandel ausgeschlossen war. Götze arbeitete dennoch in seiner Werkstatt – und gehörte nach dem Mauerfall zu jenen, die im Westen und bald darauf international Karriere machten. Ein Maler wie Albrecht Gehse, 1955 nahe Leipzig geboren und Schüler von Bernhard Heisig, zeigt in der Ausstellung sein ,,Gesicht aus der Vergangenheit": ein zerfließendes Antlitz von 1989, lesbar als Abbild einer verunsicherten Existenz. Vier Jahre später entstand Gehses offizielles Kanzlerbild von Helmut Kohl. Im Westen herrschte also sehr wohl ein Bewusstsein für die Qualitäten einzelner Künstler, wenn ihnen wie bei Gehse der Ruf eines herausragenden Porträtisten vorauseilte.

Andere wurden abgedrängt. Die Malerin Doris Ziegler unterrichtete ab den frühen Neunzigern bis zu ihrer Emeritierung 2014 zwar an der Leipziger Kunsthochschule und sicherte so ihre Existenz. Zieglers expressiver, an Bilder von Max Beckmann erinnernder Zyklus ,,Große Passage" aus der Wendezeit aber bekam man in den vergangenen Jahrzehnten nicht zu sehen. Nun füllen die grauen Figuren, vorsichtig über eine Brücke in eine unbekannte Zukunft stolpernd, einen ganzen Saal. Auch Ziegler taucht als Figur auf, sie steht in der Menschenmenge, schaut etwas skeptisch und melancholisch auf einen Mann im gelben Shirt, in dessen Händen eine Kerze brennt.

Skepsis war angebracht, in den Jahren vor 1989 wie auch danach. Vor allem auf diese Umbruchs- und Übergangszeit konzentrieren sich die Kuratoren. Da erweist sich die Kunst der DDR mit ihren überwiegend figurativen Sujets als außerordentlich dankbar. ,,Spaziergang im Regen" nannte Peter Graf ein Bild von 1989, das eine dunkle Gestalt vor nächtlicher Kulisse zeigt – und vor einer Mauer aus vermummten Polizisten, die in jenem Oktober tatsächlich vor dem Dresdner Hauptbahnhof standen. Und wer würde im ,,Titanic"-Triptychon eines Lutz Friedel mit seinen verzweifelt sich aneinander klammernden Gestalten nicht jenen ,,ungeschönten Blick in den Maschinenraum des Sozialismus" um 1982 erkennen, den ihm Kurator Peter Kaiser attestiert? Schließlich assoziiert man auch Sighard Gilles' ,,Fähre" mit schwankendem Liebespaar auf gefährlichem Kurs von 1977 sofort mit einer Flucht aus der DDR.

Doch gibt es unter diesem Blickwinkel kaum ein Werk, das sich nicht als Reflex auf die politische Lage lesen ließe. Die fotografischen Körperfragmente von Thomas Florschuetz? Eine Identitätskrise des Künstlers vor seiner Übersiedlung nach West-Berlin 1988. Der sich im Schlamm wälzende Frank Herrmann auf den sechs Bildern seiner Serie ,,ER-Schöpfung": eine Antwort auf die Agonie der späten DDR? Ja sicher, aber vielleicht auch eine Auseinandersetzung mit dem radikalen Werk der Wiener Aktionisten.

Es entwertet die Werke, wenn sie nun wieder den inneren Zustand und Fall eines Systems nachzeichnen sollen. Diese Deutung kommt auffallend oft zur Sprache, ist am Ende jedoch das Einzige, was einem in dieser sonst so wichtigen, sehenswerten Ausstellung aufstößt. Dabei steht dreißig Jahre nach dem Mauerfall nichts weniger als die Aufarbeitung einer Ära unter ästhetischen Kriterien an – eine Revision der Kunstgeschichte, die längst überfällig war. Allein die Herkunft der Bilder, Skulpturen und Installationen spricht Bände. Die Leihgaben aus Museen sind deutlich in der Minderheit, und hätte das Kölner Sammlerpaar Peter und Irene Ludwig nicht nach dem legendären Ludwig-Staubsaugerprinzip auch ostdeutsche Kunst ab 1977 in ganzer Breite für die eigene Stiftung angekauft, fiele die Bilanz noch ärmer aus.

Rund zwei Drittel der Exponate stammen aus den Ateliers ihrer Schöpfer, Freunde und Nachlassverwalter halfen bei der Ergänzung. So gewinnt der Titel ,,Point of No Return" am Ende durchaus mehrere Bedeutungen. Zum einen war die DDR in den späten Achtzigern ein zerfallender Staat ohne Aussicht auf Restrukturierung. Zum anderen kann auch die Kunst nicht zurück auf Wendezeit: Selbst wenn das Recht jener DDR-Künstler auf Teilhabe am Kanon endlich eingelöst wird, fehlen vielen von ihnen nun Jahrzehnte in der biografischen Karriere. Schließlich behauptet die Ausstellung selbstbewusst ihren eigenen ,,Point of No Return". Nach der Schau in Leipzig, der 2019 noch diverse Projekte wie etwa im Düsseldorfer Kunstpalast folgen, kann die ostdeutsche Kunst nun nicht wieder in den Depots und Ateliers verschwinden.


Aus: "Ausstellung in Leipzig: Maschinenraum des Sozialismus" Christiane Meixner (11.08.2019)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/ausstellung-in-leipzig-maschinenraum-des-sozialismus/24892752.html (https://www.tagesspiegel.de/kultur/ausstellung-in-leipzig-maschinenraum-des-sozialismus/24892752.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 20, 2019, 10:43:53 AM
Quote[...] Zum Jubiläum hat Angelika Hampel drei Gerbera gekauft. Vor 45 Jahren hatten die ersten Bewohnerinnen und Bewohner im Haus ihre Schlüssel erhalten. Damals waren die Hochhäuser in der Pfotenhauer Straße 22 in der Dresdner Johannstadt ein Glückstreffer. Für die Wohnungen gab es lange Wartelisten. Ein Neubaugebiet, das nach frischem Beton roch und ein bisschen Luxus in der DDR versprach. Kaufhalle, Kindergarten, Schule direkt vor der Tür, die Wohnungen mit Zentralheizung, moderner Küche, schickem Bad. Der Traum vieler Familien. Kein bröckliger Altbau mit Etagenplumpsklo, wie auf dem Lausitzer Dorf, aus dem Angelika Hampel stammt.

Im Frühsommer 1974 zogen sie ein. 113 Quadratmeter Neubau für 154 Mark und 70 Pfennig Monatsmiete. Eine Familie mit zwei kleinen Kindern, Angelika Hampel war gerade zum dritten Mal schwanger. Sie arbeitete als Lehrerin, ihr Mann in einem Kühlhaus. "Etwas Besseres als diese Wohnung gab es für uns damals nicht", sagt sie.

Im Jahr 2019 ist von diesen Glücksgefühlen nichts geblieben. Angelika Hampel ist jetzt 78, immer noch eine quirlige Frau, stets zu einem Schwatz aufgelegt. Der Block, zehn Geschosse, vier Wohnungen auf jeder Etage, ist immer noch ihre Adresse. Sie lebt mittendrin, im sechsten Stock. Doch eine Heimat ist die Platte für sie nicht mehr. "Der Wandel kam schleichend. Irgendwann habe ich gemerkt, das ist nicht mehr mein Haus." Das liege am Dreck auf den Fluren, am Müll vor den Türen, am klapprigen, stinkenden Fahrstuhl. Viele Flure sind beschmiert wie Klowände.

Die Jubiläumsblumen hat sie im Haus verschenkt. An die drei Erstbezieher, die noch übrig geblieben sind. Eine ältere Nachbarin direkt nebenan, ein Herr in der vierten Etage, die dritte behielt sie selbst. Sie hat sie für sich und ihren Mann gekauft. Nach einem Schlaganfall wird er in einem Pflegeheim in der Nähe betreut. Hampel besucht ihn jeden Tag. Sie berichtet ihm auch, was sich daheim so alles verändert. Selten sind es schöne Dinge, so wie früher.

Die Johannstadt liegt nur zehn Fahrradminuten entfernt von der Dresdner Altstadt, hier stehen Bürgerhäuser, die während der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg verschont blieben, neben Neubaublöcken, die vor allem in den Siebzigerjahren errichtet wurden. Gutverdiener treffen auf Hartz-IV-Empfänger, Rentner auf Familien. Und viele der Häuser im Viertel erzählen von Umbrüchen.

Heute sehnt sich keiner mehr nach der Pfotenhauer Straße 22. Hier leben vor allem Rentner und Migranten. Menschen, die nur wenig verdienen oder Unterstützung vom Amt bekommen. Hinter vielen Türen sind Sozialwohnungen. Wer heute in diesem Haus wohnt, kann sich nichts Besseres leisten. Oder will auf seine alten Tage nicht mehr umziehen. Die meisten Nachbarn sind sich fremd.

Es ist nicht leicht, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Ständig ist jemand in Eile. Oder will seine Ruhe haben. Ein junger Mann will bloß noch packen. "Endlich weg aus diesem Haus, das geht hier gar nicht mehr", sagt er, Pinsel und Farbeimer in der Hand. Die alte Dame aus dem Erdgeschoss lächelt immerhin freundlich, versteht aber nur Russisch. Wie lange wohnt sie schon hier? Sie schüttelt nur den Kopf.

Über manchen Nachbarn gibt es seltsame Gerüchte. Den Herrn zum Beispiel, der an seine Wohnungstür das Bild eines Schäferhunds gepinnt hat. Wenn man klingelt, öffnet er nie. "Komischer Typ", wispern die Nachbarn.

Wenn Angelika Hampel durchs Treppenhaus läuft, ekelt sie sich. Bloß nichts anfassen. Sofort, wenn sie ihre Tür aufgeschlossen hat, wäscht sie sich die Hände. Ihre Wohnung ist für sie eine Insel geblieben. Alles da, was sie braucht: ein Balkon, von dem man weit in die Landschaft schauen kann, im Wohnzimmer ein Riesensofa, Topfpflanzen, an den Wänden Erinnerungen. Auch eine goldene Hausnummer, in der DDR eine Auszeichnung für vorbildliche Hausgemeinschaften. Die Pfotenhauer Straße 22 war so eine.

Irgendwann nach dem Mauerfall hat jemand die goldene Hausnummer neben der Eingangstür abgeschraubt, DDR-Schnickschnack, den keiner mehr brauchte. Angelika Hampel hat das Schild gerade noch gerettet. Ein Überbleibsel von früher, so wie die beiden dicken Bücher, in denen sie manchmal blättert, die Hauschroniken. Hampel hat sie viele Jahre geführt. Was sie wichtig fand, hat sie reingeschrieben, was ihr gefallen hat, reingeklebt.

"Ich habe an den Sozialismus geglaubt", sagt sie. Sie war ehrenamtliche Parteisekretärin. Nie unkritisch, sagt sie, sie habe auch Fehler im System gesehen. Die Mangelwirtschaft, der schleichende Niedergang, immer sichtbarer in den Achtzigerjahren. Die DDR war für sie aber auch: mehr Gemeinschaftsgefühl. "Wir waren ein gutes Haus. Es gab fast nichts, was wir nicht gemacht haben."

Die Chroniken sind Collagen aus vergilbten Fotos, eingeklebten Schnipseln, Dokumentationen der jährlichen Leistungen. Es gab Skatturniere auf den Etagen, Wanderausflüge, Willkommensaktionen für jeden neuen Mieter, Postkarten aus dem Urlaub, die im Haus die Runde machten. Ein Gemeinschaftsraum wurde eingerichtet, in dem die Bewohnerinnen und Bewohner regelmäßig gefeiert haben. Weihnachten, Kindertag, gern auch ohne Anlass. Lichtbildvorträge über das Bruderland Sowjetunion fanden statt, Wandzeitungswettbewerbe, Friedensaktionen und Arbeitseinsätze, die sogenannten Subotniks, etwa Gartenarbeit oder Putzaktionen. Gemeinschaft, das war damals auch ideologische Arbeit.

Angelika Hampel hat das nie gestört. "Wer bei irgendetwas nicht mitmachen wollte, wurde nicht gezwungen. Aber die meisten wollten eben gern." Hampel gehörte irgendwann zur Hausleitung. Nur die Einhaltung der Pflichten hätten sie genauer kontrolliert. Wer nicht Ordnung hielt oder sich um die VMI-Stunden drückte, die Volkswirtschaftliche Masseninitiative, eine andere Art der Arbeitseinsätze, sei schief angeschaut worden.

Im Haus habe ein Mikrokosmos der DDR gelebt, sämtliche Klassen und Typen. "Zeugen Jehovas, SEDler, aber auch Leute, die mit der Partei nichts zu tun hatten." In der Pfotenhauer Straße 22 wohnte die Schichtarbeiterin neben dem Stasi-Offizier, die bekannte Sängerin neben dem Lehrer. Und ganz oben sogar ein Politiker. Hans Modrow, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung in Dresden. In der Wendezeit wurde Modrow der letzte DDR-Ministerpräsident der SED.

In der Platte, sogar im Viertel, war Modrow eine Berühmtheit. Den Supermarkt gegenüber nannten sie Modrow-Kaufhalle. Die Versorgung, erzählte man sich früher, soll besser gewesen sein als in anderen Kaufhallen. Modrow war aber auch ein ganz normaler Nachbar. "Wenn der Hans sah, dass ich mit vollen Einkaufstaschen nach Hause kam, hat er mir sofort beim Hochtragen geholfen", erzählt Angelika Hampel. "Er war bei vielen Hausaktionen dabei, ganz selbstverständlich wie die meisten anderen." Später, in den Wendejahren, zogen die Modrows aus, der Kontakt brach ab. Inzwischen ist der Politiker 91 und lebt in Berlin. Vor einiger Zeit hat Hampel ihm eine Karte mit Geburtstagsglückwünschen geschickt, doch die Adresse stimmte nicht, die Karte kam zurück. Schade, sagt sie. Sie denke immer noch gern an diesen Nachbarn.

Und dabei auch an den Herbst 1989, der mit einem Schlag Unruhe in die Hausgemeinschaft brachte.   

Für Angelika Hampel war der Mauerfall "ein niederschmetterndes Erlebnis". Sie ging nicht auf die Straße, nahm an keiner Demonstration teil, rief nicht "Wir sind das Volk!" Sie saß mit ihrem Mann auf dem Sofa und sah im Fernsehen, wie das Land zerbrach, an das sie geglaubt hatte. Als Günter Schabowski bei der legendären Pressekonferenz am 9. November erklärte, dass DDR-Bürger ins Ausland reisen dürften, und zwar nach seiner Kenntnis "sofort, unverzüglich", da schaute Angelika Hampel ihren Mann an und sagte: "Das war's. Jetzt beginnt eine neue Zeit." So erzählt sie es heute.

Die Hampels verloren ihre Jobs. Das Vorratslager, in dem Herr Hampel gearbeitet hatte, wurde aufgelöst. Im wiedervereinigten Deutschland wurde er Versicherungsvertreter. Frau Hampel wurde als Lehrerin aussortiert, man prüfte, ob sie trotz SED-Verbundenheit noch tauglich für den Schuldienst war. Das Verfahren empfand sie damals als verletzend. "Ich habe in der DDR als Unterstufenlehrerin nie Staatsbürgerkunde oder so was unterrichtet, nur Geografie. Und trotzdem wurde ich da reingeritten." Später bekam Angelika Hampel einen Job bei einer Musikschule und arbeitete dort bis zur Rente.

Immer mehr Mieter verließen die Platte, gingen nach Westdeutschland oder bauten sich im Dresdner Umland Eigenheime. Manche starben. Hausbälle, Wanderungen, Geburtstagsgrüße, das alles gab es nicht mehr. Die Eigentümer wechselten. Zuerst gehörte die Platte der städtischen Gesellschaft Woba, später wurde sie an Investmentfirmen verkauft, inzwischen gehört sie Deutschlands größtem Wohnungsunternehmen, der Vonovia. Die Mieten stiegen, doch die Platte verfiel zusehends. In die Hauschronik, die Angelika Hampel jahrelang akribisch geführt hatte, schrieb sie immer seltener, irgendwann hörte sie ganz auf. Einer der letzten Einträge im Jahr 1997: "Unser Haus wird zunehmend anonymer. Der Schmutz nimmt zu. Große Hausordnungen werden unregelmäßiger gemacht. Für die Beete gibt die Woba kein Pflegegeld mehr aus. Hakenkreuze findet man im Keller geschmiert. An Renovierung/Sanierung ist nicht zu denken."

Die Fluktuation der Mieter ist hoch, ständig gibt es Umzüge. Im Erdgeschoss ist eine Migrationsberatung, die meisten Klienten kommen von auswärts. Auch in der Platte leben Menschen mit ganz verschiedenen Wurzeln: Syrer, Iraker, Russlanddeutsche, Vietnamesen, Deutsche. Ganz oben, zehnte Etage, in der Wohnung, wo viele Jahre Hans Modrow wohnte, gibt es auch schon wieder neue Mieter. Eine tschetschenische Großfamilie ist gerade eingezogen, Mutter, Vater, fünf Kinder.

Madina Satueva, eine junge Frau mit Kopftuch, öffnet die Tür. Schüchtern schaut sie heraus. Sie ist die älteste Tochter, 23 Jahre alt, und spricht gut Deutsch. Die meisten anderen Familienmitglieder verstehen kaum etwas. Von dem Mann, der hier früher mal wohnte, haben sie noch nie gehört. "Ist er ein Präsident?", fragt Madina Satueva. Kennt sie den früheren Staat, die DDR, überhaupt? Sie schüttelt den Kopf und bittet herein, serviert süßen Tee und Kekse.

Ihre Familie, erzählt die junge Frau, sei 2009 aus Tschetschenien geflohen. Ihr Vater habe dort Probleme gehabt, mehr will sie dazu nicht sagen. Für die Satuevas begann eine jahrelange Reise durch Europa, auf der Suche nach Asyl. Sie haben in Norwegen, in den Niederlanden und Frankreich gelebt, wurden überall wieder weggeschickt. In Deutschland sind sie nun schon seit sieben Jahren. Die kleinen Kinder gehen hier zur Schule und in den Kindergarten, der 20-jährige Bruder arbeitet bei einem Sicherheitsunternehmen. Die Eltern leben von Sozialhilfe. Madina ist oft zu Besuch, obwohl sie selbst zwei kleine Kinder hat. Mit ihnen wohnt sie in einem anderen Dresdner Plattenbaugebiet. Von ihrem Mann, auch Tschetschene, hat sie sich getrennt. "Er sitzt im Gefängnis, auch wegen Drogengeschäften. Damit will ich nichts zu tun haben", sagt sie.

Ist Deutschland inzwischen ihr Zuhause? Könnte es dieses Hochhaus vielleicht werden? Bei dieser Frage schaut Madina Satueva ins Leere. "Wir wissen nie, ob wir bleiben können. Wenn das Amt sagt, wir müssen gehen, reisen wir in ein neues Land. Ich bin in dieser Welt wie ein Tourist, nirgendwo zu Hause." Angelika Hampel kennt die Neuen in der Zehnten nicht. Sie hat nur gehört, dass es oben schon wieder Veränderungen gegeben hat. Früher hätte sofort ein Begrüßungskomitee vor der Tür gestanden.

Angelika Hampel ist immer noch eine aufgeschlossene Frau, sie sucht Kontakte. "Im Fahrstuhl fange ich lieber ein Gespräch an, als an die Wand zu starren." Mit einigen neuen Nachbarn hat Hampel sich angefreundet und war traurig, als sie doch wieder fortzogen. Inzwischen nimmt sie das ständige Kommen und Gehen bloß noch zur Kenntnis. Vielleicht ergibt sich irgendwann ein Gespräch mit den Neuen. Vielleicht nicht.

Manche Bewohner sagen: "Mit den Ausländern ist der Schmutz ins Haus gekommen." Aber es gibt auch genug Migranten, die sich über den Dreck aufregen. Eine junge Frau steht in ihrer Wohnungstür, drinnen wartet der kranke Vater. Sie spricht gebrochen Deutsch. "Es ist alles so eklig, der Fahrstuhl vollgepinkelt, überall Schmutz." Sie habe schon sauber gemacht, "aber das bringt gar nichts". Sie wünscht sich, dass ihr Vater in ein besseres Haus umziehen könnte, aber das sei aussichtslos. Er sei auf diese Sozialwohnung angewiesen. 

Angelika Hampel sagt, mit manchen Menschen mache sie gute Erfahrungen, mit anderen nicht. Sie hat arabischen Familien geholfen, beim Einleben und beim Deutschlernen. Als in der Wohnung über ihr eine Familie einzog und anfangs Krach machte, ging sie mit Filzstückchen hoch und bot an, sie unter die Stühle zu kleben. Es war der Anfang einer netten Bekanntschaft.

Aber einmal wohnte über ihr eine WG, junge arabische Männer, mit denen sie keinen Frieden fand. Einer der Männer habe sie im Fahrstuhl angemacht: "Hey, bist du Deutsche? Brauchst du einen Mann? Wollen wir heiraten?" Nachts sei es in der Wohnung laut gewesen. Die Rentnerin vermutete Drogengeschäfte und beschwerte sich beim Sozialamt. Wenig später zog die WG aus.

2003 sind die Hampels innerhalb der Platte umgezogen, in eine kleinere Wohnung, die Kinder hatten ja längst eigene Leben. Sie haben damals sogar überlegt, das Haus ganz zu verlassen. Schließlich habe sich das Paar aber doch für die Vorzüge des Viertels entschieden, für die gute Infrastruktur, die Ärzte in der Nähe, die Einkaufsmöglichkeiten vor der Haustür, erzählt Angelika Hampel. Dann wurde ihr Mann krank. Das Pflegeheim ist teuer. Die Miete für die Wohnung, rund 600 Euro warm für 80 Quadratmeter, muss Angelika Hampel allein von ihrer Rente bezahlen.

Und es könnte teurer werden. Denn nun gibt es noch größere Veränderungen. Das Hochhaus wird saniert. Die Gerüste stehen schon, Handwerker rücken an. Die alte Platte wird nach 45 Jahren auch äußerlich eine neue. Angelika Hampel hängt zwar nicht mehr mit dem Herzen an ihrem Hochhaus. Aber raus will sie auch nicht mehr. "Nur mit den Füßen zuerst", sagt sie. "Einen alten Baum verpflanzt man nicht."


Aus: "DDR: Ach, meine Platte"  Doreen Reinhard, Dresden (19. August 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-08/ddr-plattenbau-wandel-sozialismus-nachbarschaft-gemeinschaft/komplettansicht (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-08/ddr-plattenbau-wandel-sozialismus-nachbarschaft-gemeinschaft/komplettansicht)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 12, 2019, 12:50:43 PM
Quote[...]  Steffen Mau, geboren 1968, wächst in den 1970er Jahren im Rostocker Neubauviertel Lütten Klein auf. Als die Mauer fällt, ist er bei der NVA, nach der Wende studiert er, wird schließlich Professor. Sein Buch Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft erscheint dieser Tage bei Suhrkamp

... Die DDR hat eine enorme Sozialisationsleistung gegenüber der Bevölkerung erbracht. Die Leute wurden geradezu in die DDR hineingesogen. Und die so entstandenen Gemeinsamkeiten sind auch der Humus für dieses besondere Miteinander. Manches davon wird heute idealisiert, aber man stand schon näher beieinander. Es bildeten sich Formen der Gemeinschaftlichkeit, der sozialen Netzwerke, der wechselseitigen Hilfestellung heraus, natürlich auch eine informelle Ökonomie, die von Tausch und sozialer Reziprozität lebt. Die Kehrseite dieser Binnengemeinschaftlichkeit ist in gewisser Weise aber die harsche und ablehnende Haltung gegenüber Personen, die als andersartig, fremd wahrgenommen werden. ... Es gibt viele [ ] Verletzungen, die bei einigen das Zu-kurz-Kommen zum Teil des Lebensgefühls machen. Man könnte einen darauf bezogenen Hang zur emotionalen Buchführung diagnostizieren, bei dem vieles immer wieder verrechnet wird. Wenn man heute mit den Leuten spricht, hört man gegenüber den Flüchtlingen ganz oft das Argument: Als wir in die Bundesrepublik gekommen sind, da mussten wir alles abstreifen, neu lernen, nichts durfte so bleiben, wie es war, und wenn die Flüchtlinge jetzt kommen, sollen die weiterhin alles so machen können wie bisher. Die müssen sich nicht anpassen, die dürfen ihr Kopftuch tragen und so weiter. Kurz: Da werden die Zumutungen, die man selbst auszuhalten hatte, auf andere Gruppen projiziert.

...


Aus: "Der Sog der DDR" Katharina Schmitz (Ausgabe 32/2019)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/katharina-schmitz/der-sog-der-ddr (https://www.freitag.de/autoren/katharina-schmitz/der-sog-der-ddr)

Quote
reziplikativ

Was die Ostdeutschen immer auf der Couch oder unter der wissenschaftlichen Lupe sollen? Taugen dem Staat nicht als gleichberechtigte Bürger geben aber gute Studienobjekte ab. So gewinnt man Menschen. Man muss die Verwerfungen nicht in der DDR suchen, weil sie längst gesamtdeutsch. In der Politik der Regierungen von Kohl, Schröder, Merkel muss man suchen, da wird man fündig. Der eine überzieht das Land mit der Inquisition, nennt sie Treuhand, plündert für gesamtdeutsche Wahlsiege schon mal die Sozialkassen aus, der andere demontiert den Sozialstaat, schafft Niedriglohnsektoren, ein verniedlichendes Wort für moderne Sklaverei und erhebt den Neoliberalismus zur Staatsdoktrin. Die nächste am Ruder dreht nichts davon zurück, nimmt sich aber in der Flüchtlingskrise die Freiheit von ,,wir schaffen das" zu reden ohne je einen Plan oder einen Lösungsweg zu haben. Der untere Rand der deutschen Gesellschaft kann in Folge bei Sozialämtern und Behörden erleben, wie Flüchtlinge Mittel und Zuwendungen bekommen, die man ihm verweigert oder nur unter demütigenden Vorgängen zugesteht. Diese Realität ist in Lütten Klein so fatal wie in Duisburg-Marxloh.

Was glaubt ein Staat eigentlich von abgehängten und entrechteten Menschen noch erwarten zu können? Man kann auch einen Hund nicht beliebig lange treten, irgendwann beißt er zurück. Dazu kommt noch eine Medienlandschaft, deren Realitäts- und Alltagsferne den Leuten den Rest gibt. Mit DDR Sog hat das alles nichts zu tun, wohl aber mit einer kontinuierlich gegen weite Teile der Bevölkerung ausgerichteten Politik.

Die Unterschicht wächst und wächst. Ich muss nicht nach Duisburg oder Rostock. Ein Spaziergang durch das alte Westberlin reicht. In den zentralen Bezirken müssen immer mehr Menschen ihre Wohnungen und Mietshäuser verlassen und können sich in der angestammten Lebensumgebung keine Wohnung mehr leisten. (Mit der DDR hat das nichts zu tun.) Der Kapitalismus ganz real. Und die angeblich so tolle Mietenpolitik des Senates ändert daran gar nichts, ist nur fürs Schaufenster und für Medien, zeigt aber keinerlei Wirkung. Wie gesagt, ein Spaziergang und wacher Blick zu solch trauriger Erkenntnis reicht aus. ...


...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 07, 2020, 01:59:41 PM
Quote[...] Meine Mutter war mit mir schwanger, als die Mauer fiel. Hätte sie gewusst, dass die Wende kommt, hätte sie mich nicht bekommen, hat sie mir einmal erzählt.

Nicht, weil sie sich kein weiteres Kind gewünscht hätte, sondern weil sie damals –wie so viele – in einer Art Schockstarre war. Über Nacht verloren Hunderttausende Menschen ihre Arbeit und ein Stück ihrer Identität; manche ein kleineres, manche ein großes. Es war ein Schnitt, der auch meine Eltern traf, als sie mit Mitte 30 auf dem Höhepunkt ihrer Karriere waren.

Wie sie um Himmels willen arbeiten wolle, mit einem Kleinkind zu Hause, wurde meine Mutter kurz nach der Wiedervereinigung gefragt. Die Firma wurde abgewickelt, sie musste sich neu bewerben. Als ,,Formgestalterin" der Kunsthochschule Burg Giebichenstein, in der die ostdeutsche Designer-Elite ausgebildet wurde, war ihr Arbeitsplatz damals sicher. Nicht aber in der Bundesrepublik.

Diplome und Arbeitserfahrungen wurden selten anerkannt, viele Berufe verschwanden. Meine Mutter war eine Frau. Mit Kind. Und eigentlich überqualifiziert. ,,Uff, lassen Sie mal." Ein Bruch im Leben, im Lebenslauf. Noch einer.

Unter ostdeutschen Bekannten fragt man oft: ,,Was sind deine Eltern eigentlich?", und: ,,Womit verdienen sie heute ihr Geld?" Auf die Wende folgte meist ein beruflicher Rückschritt. Vor allem Männer mittleren Alters haben oft nicht mehr richtig in die Spur gefunden. Sie sind heute Einzelkämpfer, sehen sich als ,,Wendeverlierer". Frauen aus dem Osten konnten sich besser in die westliche Gesellschaft integrieren, analysiert der Soziologe Steffen Mau. Sie haben sich (häufig im Westen) ein neues Leben aufgebaut.

Hätte es diesen Bruch im Leben meiner Eltern nicht gegeben, würde ich mich heute nicht so ostdeutsch fühlen. Meine Generation, die erste Nachwendegeneration mit ostdeutschen Wurzeln, ist heute um die 30 Jahre alt, und sie ist gar nicht so ,,wiedervereint" und ,,gesamtdeutsch", wie die meisten vielleicht denken. Gerade, wenn sie die Abwertung ihrer Eltern miterlebt hat.

Immer wieder werde ich gefragt, was ich überhaupt noch mit Ostdeutschland zu tun hätte, ich hätte es schließlich gar nicht mehr miterlebt. Das ist natürlich richtig. Und doch: Nur weil die Mauer fiel, haben sich die Erziehungsweisen der Eltern und das direkte Umfeld noch lange nicht verändert. Unser Zuhause stand plötzlich in einem neuen Land, ohne dass sich jemand bewegt hätte. Wie in einer Zeitkapsel ging das Leben Anfang der 90er Jahre erst mal genauso weiter. Drinnen tickte eine andere Uhr als draußen.

Bei uns herrschte lange ein Lebensstil der Vorwendezeit. Die Bücher, die Möbel, die Werte. Malen lernte ich auf vergilbtem Papier (mit dem Aufdruck ,,EVP 0,55 M"), das doppelt so alt war wie ich. Ich wuchs in feministischer Selbstverständlichkeit auf, die Rückseite von Teebeutelverpackungen wurde als Einkaufszettel verwendet, Kleidung so lange getragen, bis sie wirklich kaputt war, ständig wurde an Heizöl und Wasser gespart. Das macht einen Unterschied. Meine Mutter hat mir am Frühstückstisch das kapitalistische Prinzip der Monopolbildung mit Milchkrügen erklärt. Sie setzte den großen Krug auf den kleinen. Weg war der kleine.

Westdeutschland tröpfelte langsam von außen in den Alltag ein. Für mich war es ein Gefühl zwischen Capri-Sonne und dem König der Löwen; etwas greller, aufregender und mit mehr Zucker. Zwitterhaft trage ich bis heute beide Seiten, beide Welten in mir: die äußere Westwelt und die innere Ostwelt. Immer schlage ich mir irgendwo zwischen den Stühlen das Schienbein auf, fühle mich zerrissen, wie viele. Bei großen Familienfeiern bin ich als Jüngste zwangsläufig der ,,Wessi", klar. Aha, roter Nagellack! Doch die ,,Wessis" selber sehen das ganz anders. Noch nie habe ich mich so ostdeutsch gefühlt wie unter Kollegen in Westdeutschland.

Kleine Sticheleien zu meiner Herkunft gehörten dazu, als wäre sie eine Schwäche, etwas Exotisches. Beim Mittagessen in der Kantine habe ich einmal eine Spargelcremesuppe nach dem Hauptgericht gegessen. Sie war sehr heiß, ich ließ sie abkühlen. Daraufhin fragte mich ein Kollege, ob wir denn im Osten nicht wüssten, dass man die Suppe vor dem Hauptgang zu essen habe. Ich wurde ostdeutsch in Westdeutschland, und dieses Gefühl ist kein Einzelfall (siehe Johannes Nichelmann, Freitag 37/2019).

Die Wendegeneration aus den neuen Bundesländern fühlt sich ,,ostdeutsch"; die vergleichbare Generation aus Westdeutschland hingegen ganz einfach ,,deutsch". Für den Soziologen Daniel Kubiak hat das einen klaren Grund: ,,Westdeutsch-Sein" entspreche so sehr der Norm, dem Normalen, dem ,,Deutschen", dass ,,Ostdeutsch-Sein" als Abweichung, als ,,anders", als unnormal empfunden – und dann oft abgewertet – werde.

Selbst diese Debatte um das deutsch-deutsche Othering ist eingefärbt: Dass die Westdeutschen sich nicht westdeutsch fühlen, wird nur von Ostdeutschen thematisiert. Kein Münchner, der um 1989 geboren wurde, würde sich jemals als ,,Wendekind" verstehen. Wer in der vermeintlichen Norm lebt, ist oft blind für seine eigene Position. Ostdeutsch-Sein ist wie die Dauerwelle, die doch bitte endlich aus der Geschichte herauswachsen soll, hat Alexander Osang vor Kurzem in einem Spiegel-Essay geschrieben. Aber wie soll das gehen?

Deutschlands Nachkriegsgeschichte wird zu oft stillschweigend mit westdeutscher Historie gleichgesetzt. Schlager-Hitparaden spielen zwar Dieter Thomas Heck, aber nicht Silly, die spielt man zur Sondersendung Ost. Im Grunde ist die DDR eine andauernde Sondersendung. Der Osten kommt im deutschen Narrativ nur als Spezialfall vor. Damit tut man Menschen nicht nur unrecht, man verfestigt auch auf eigentümliche Weise ihre Identität. Wer von anderen Gruppen kategorisiert oder abgewertet wird, entdeckt erst, was die eigene Gruppe ausmacht. Wer im Ausland ist, kennt das: Plötzlich gilt man als ,,typisch deutsch", weil man pünktlich zum Termin erscheint.

Die Urteile der anderen bilden dann den Hintergrund, vor dem sich das Eigene erst abzeichnet. Der Migrationsforscherin Naika Foroutan zufolge fühlen sich Ostdeutsche heute ähnlich benachteiligt wie Migranten. Beide Gruppen haben etwas durchlebt, das man ,,Migrationserfahrung" nennen kann. Sie vereint oft die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, eine Tendenz zur Verklärung der eigenen Vergangenheit und das Gefühl, nicht so richtig dazuzugehören. Beide Gruppen erleben Abwertung.

Nicht nur Einwanderer-, sondern auch Wendekinder sind in einem ähnlichen Paradox aufgewachsen: Einerseits möchte man aus Loyalität das Lebensmodell der Eltern weitertragen, andererseits versucht man sich im ,,neuen Land" an die Regeln anzupassen. Diese Regeln, zwar keine elementaren, aber die feinen Unterschiede, musste man sich allein erarbeiten – die Eltern konnten sie einem ja nicht erklären.

Manche Codes sind mir bis heute fremd. Selbstdarstellung etwa war in meiner Familie eher verpönt; bei meinen westdeutschen Freunden gehört sie zum kulturellen Kapital. Teil des westdeutschen Habitus ist auch, zu wissen, dass man manchmal etwas rücksichtsloser sein muss oder auch mal etwas hingebogen wird. Der eigene Lebenslauf beim Vorstellungsgespräch zum Beispiel, nur ein kleines, entscheidendes bisschen. Junge Westdeutsche können bis heute im Studium und im Beruf risikobereiter sein, weil sie weniger existenzielle Bedrohungen kennen. Es existieren über die Eltern Verbindungen in die Arbeitswelt und in vielen Fällen die Gewissheit, eines Tages etwas zu erben. Bei Ostdeutschen ist es häufiger ,,randgenäht".

Auf Familienfeiern spüre ich oft eine unterschwellige Wut. Über Ungerechtigkeiten, wie die Abwicklungen durch die Treuhand, oder darüber, als Bürger zweiter Klasse heruntergestuft (und dann noch als rückwärtsgewandt bezeichnet) zu werden.

Bis heute sind Ostdeutsche in einer gesellschaftlichen Minderheitenposition. Man findet sie kaum in Führungspositionen, sie verdienen weniger, haben deutlich weniger Vermögen, dafür aber höhere Arbeitszeiten als Westdeutsche.

80 Prozent der ehemaligen DDR-Betriebe wurden nach der Wende von Firmen aus der Bundesrepublik übernommen, während westdeutsche Führungskräfte die schönsten Brandenburger Seegrundstücke gekauft haben. In der Familie fallen häufig diese Begriffe: der ,,Ausverkauf" des Ostens, die ,,verlorene Schlacht" und ,,Sie haben uns den Stolz genommen". Man hätte sich gar nicht ,,wiedervereinigt", sondern den Osten schlichtweg angeschlossen, ihn einfach übernommen. Wie der große Milchkrug über den kleinen gestülpt wurde. Übrigens wählt niemand in meiner Familie AfD.

Es war ein warmer Tag im Juli, als mein Vater seinen Arbeitsplatz als Ingenieur verlor. Er hatte es längst kommen sehen. Das ehemalige Kombinat wurde um Millionen betrogen – von einem Kunden aus dem Westen, der eine Luxusjacht in Auftrag gab. Und dann mitnahm, ohne sie zu bezahlen. Der Betrieb wurde abgewickelt. Mein Vater wollte nicht noch einmal umsatteln.


Aus: "Halb hier, halb da" Juliane Marie Schreiber (Ausgabe 46/2019 )
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/halb-hier-halb-da (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/halb-hier-halb-da)

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 27, 2020, 10:31:11 AM
Quote[...]  Bei Rammstein ist er der "Tastenficker" – DDR-Jargon für Keyboardspieler. Eigentlich heißt er Christian Lorenz, nennt sich aber seit Jugendtagen "Flake", deutsch ausgesprochen, versteht sich. Seit einem Vierteljahrhundert gibt der gebürtige Ostberliner in der Deutschrockband den Außerirdischen, den dünnen Freak unter den starken Muskelmännern. Mittlerweile haut Flake auch als Autor in die Tasten: In "An was ich mich so erinnern kann" (2015) schrieb er seine DDR-Erfahrungen auf, 2017 folgte mit "Heute hat die Welt Geburtstag" eine literarische Autobiografie über Rammstein. Am 26. 3. kommt Flake für eine Lesung ins Wiener Globe-Theater.

Interview: Stefan Weiss (26. Jänner 2020)

STANDARD: Derzeit feiert man 30 Jahre Wende. Ihre Freude hält sich in Grenzen, wie man weiß. Wie nehmen Sie das Jubiläum wahr?

Flake: Wende und Wiedervereinigung muss man trennen. Die Wende habe ich als damaliger Punk miterlebt. Das verknöcherte alte Betonkopfgerüst des DDR-Politbüros war ja auch unser Feind. Wir wollten dieses idiotische Regime nicht mehr und haben dafür gekämpft, dass es aufgelockert wird. Als die Mauer fiel, wussten wir mit unserer plötzlich erlangten Freiheit zunächst überhaupt nichts anzufangen. Dann begann aber eine irre spannende Zeit, in der wir versucht haben, uns beruflich, politisch und musikalisch in jeder Richtung zu verwirklichen.

STANDARD: Und dann kam die Wiedervereinigung.

Flake: Ab da ging ganz viel schief. Wir wurden als unnützes Land angegliedert, ganze Biografien für wertlos erklärt, Firmen geschlossen, damit sich die Westfirmen breitmachen konnten. Wir sind so sehr zurückgesetzt worden, dass sich ein Groll und eine Enttäuschung aufgebaut haben, die bis jetzt anhalten. Im Großen und Ganzen war die Wiedervereinigung in dieser Form eine Sauerei.

STANDARD: Wenn Sie heute auf Deutschlands Osten blicken, hat dort politisch zuletzt der Rechtspopulismus großen Erfolg gehabt. Ein Erbe der Wiedervereinigung?

Flake: Viele Menschen sind enttäuscht, weil sich bestimmte Versprechungen nicht erfüllt haben. Das politisch Linke hatten sie aber schon in ihrem Leben, jetzt probieren sie es mit rechts. Ich persönlich kann nicht nachvollziehen, wie man AfD wählen kann. Aber die, die es tun, machen es zum Großteil aus Protest gegen die etablierten Parteien. Dass die AfD die Erwartungen auch nicht erfüllen kann, ist klar. Wenn die AfD regieren würde, würden viele Leute sehr schnell merken, dass es nicht besser, sondern schlimmer wird.

STANDARD: Sie sind in der Ostberliner Punk-Szene aufgewachsen. Wodurch unterschieden sich Ost- und Westpunks?

Flake: Es gab einen grundlegenden Unterschied: Die Ostpunks brauchten kein Geld, denn das Leben war absurd billig, Miete um die 25 Mark. Mit einem Konzert kam man über einen Monat. Also konnte man die Musik machen, die man machen wollte, und nicht bloß die, die sich gut verkauft. Absurderweise waren wir dadurch auch sehr frei.

STANDARD: Unter Ihren damaligen Bandkollegen gab es auch IM-Stasi-Spitzel (IM: Inoffizieller Mitarbeiter, Anm.). Sind Sie nicht wütend auf den repressiven Überwachungsstaat DDR?

Flake: Auf IM-Spitzel in den Bands bin ich nicht wütend. Denn die haben durch ihren IM-Status oft erst ermöglicht, dass die Bands überhaupt existieren konnten. Die Stasi hat ja nicht ihre eigenen Leute eingesperrt. Bestes Beispiel dafür ist die DDR-Band Die Firma. Die wurde von IM-Spitzeln gegründet. Der Gag bestand darin, dass "Die Firma" eigentlich ein Synonym für "Stasi" war. Von der Stasi gedeckt, haben die dann staatsfeindliche Texte gesungen. Fast schon wieder genial.

STANDARD: Verstehen Sie es, wenn es heißt, die DDR war ein Unrechtsstaat, Stasi-Repression eine Art von Terror?

Flake: Ich kann es verstehen, wenn das Leute sagen, die das so erlebt und darunter gelitten haben. Aber ich persönlich kann nicht sagen, dass der ganze Staat schlecht war. Ich möchte nicht wissen, wie viele unschuldige Menschen im Westen eingesperrt und überwacht wurden bzw. werden. Die Pauschalisierung "Unrechtsstaat" finde ich nicht in Ordnung.

STANDARD: Wäre Rammstein in der DDR denkbar gewesen?

Flake: Innerhalb der DDR hätten wir eine Band wie Rammstein nicht gegründet, weil es die falsche Antwort auf dieses System gewesen wäre. Rammstein haben wir gegründet, weil wir gemerkt haben, dass wir im Westen mit unserer Punkmusik nicht weiterkommen. Da brauchte es Härteres.

...


Aus: "Rammstein-Keyboarder Flake: "Die Wiedervereinigung war eine Sauerei"" Stefan Weiss (26.01.2020)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000113670270/rammstein-keyboarder-flake-die-wiedervereinigung-war-eine-sauerei (https://www.derstandard.at/story/2000113670270/rammstein-keyboarder-flake-die-wiedervereinigung-war-eine-sauerei)

Quote
Nepukadnezar

Flake hat schon Recht wenn er die Wiedervereinigung ... kritisch hinterfragt.
Schließlich ist das Produkt einer Vereinigung ja eine Mischung aus allen Elementen.

Hier wurde aber einfach alles was BDR war über die DDR darübergestülpt.
Egal ob Rechtssystem, Schulwesen, Vereinsangelegenheiten, Sportorganisation ... praktisch nichts wurde vom Westen als für Wertvoll angesehen und übernommen.

Man kann es Wiedervereinigung nennen so oft man will, faktisch ähnelt es mehr einer Okkupation ...


Quote
Andreas Pieper

Was wäre denn die Alternative gewesen? Nachher meckern ist einfach, Sie müssen sich die Größe der Aufgabe damals vorstellen, und dann bitte bedenken das nichts vergleichbares jemals stattgefunden hatte.


Quote
DeinKetzer

Die Treuhand hat auf ganzer Linie versagt
Dazu kann man ja gern Bücher lesen.

Viel einfacher ist es aber einfach Beispiele zu bringen.
Keine 100 km von der Salzgitter AG bestand um 1990 ein modernes Kali-Bergwerk.
Von der Salzgitter AG übernommen und schnellstens geschlossen.
Mit den billigen Ossis wäre es ein mehr als nur unbequemer Konkurrent gewesen.

Bekannter sicherlich: Rotkäppchen
Ostdeutsche Sektkellerei sollte nach der Wende abgewickelt werden.
Doch mehrere Mitarbeiter übernahmen den Laden.
Obwohl dies eigentlich nicht gern gesehen war.
Die Rotkäppchen Sektkellerei war ja wertlos.
Heute ist Rotkäppchen Marktführer in Deutschland.

Das größte Problem war die sorglose Deindustrialisierung weiter Bereiche Ostdeutschlands. Wenig hat sich davon bis heute erholt.


Quote
Glen Flagler

"Ich möchte nicht wissen, wie viele unschuldige Menschen im Westen eingesperrt und überwacht wurden bzw. werden."

Im Vergleich zur ehemaligen DDR? Flake, das ist jetzt schon ein bisserl deppert.


Quote
Cuca Racha

Standard: "Die Wiedervereinigung war eine Sauerei"

Original: "Im Großen und Ganzen war die Wiedervereinigung in dieser Form eine Sauerei."

Erkennen Sie den Unterschied?


Quote
aichfelder

Wenn jemand meint, die DDR war pauschal kein Unrechtsstaat, ... Naja... Die DDR hatte mehr Geheimdienstmitarbeiter pro Einwohner, als jedes andere Land. republikschädigendes Verhalten, Republikflucht und als Strafe "Zersetzung", um nur ein paar Stasibegriffe zu verwenden. Wenn jemand so relativiert, dann möcht ich gar nicht mehr weiterlesen!


Quote
KRW_Leaf

Es geht nich darum, das die Wiedervereinigung eine "Sauerei" war, sondern um das WIE.
Letztendlich war es eine feindliche Übernahme, keine freundliche Vereinigung.
"Geschichte der Treuhand"


Quote
WoS2u
Kraftwerk, Bier für die Roboter 1

Schon sehr eindimensional seine Sichtweise der Wiedervereinigung.
Die Westdeutschen haben ihren Solidaritätsbeitrag geleistet und zahlen heute immer noch.
Und auch als Linker muß man sagen, die Ostdeutschen Firmen waren in der damaligen Form nicht überlebensfähig, von Produktivität ganz zu schweigen.
Was stimmt ist, dass einiges zu billig verkauft wurde.
Auffallend auch, dass die ehemalige Führungsschicht der DDR, bis auf wenige Anklagen, wieder auf die Sonnenseite gefallen ist.


Quote
Der allerletzte Endgegner

Flake trauert nicht dem DDR Regime nach, noch der Wiedervereinigung, sondern die Art und Weise der Wiedervereinigung.
So schwer zu verstehen?


Quote
TimT.

Ich mag den Flake ja. Ich kenne ihn schon aus seiner Zeit bei Feeling B in den späten Achtzigern. Filmempfehlung: "Flüstern und Schreien" (Flüstern & SCHREIEN – Ein Rockreport)

Seine regelmäßigen Radiosendungen bei radioeins vom RBB sind große Klasse.

Mit seinen Ansichten über die Wende kann ich nicht ganz mit gehen, aber das ist letztlich auch nicht wichtig.
Auf alle Fälle ein kluger Beobachter und kritischer Mensch, von denen wir nicht genug haben können!


Quote
JFXXV

Diese Ostnostalgik langweilt mich
Redens mal mit Leuten dessen Freunde oder Angehörige an der Mauer erschossen wurden, oder mit Schlafentzug und sonstigen Methoden gefoltert wurden, von der dauerbespitzelung rede ich noch gar nicht.


Quote
Excom55

Es kommt nicht immer Kluges raus wenn sich Musiker politisch äußern..
Flake sollte sich mal mit den gigantischen Transfers die von West nach Ost gingen beschäftigen. Die DDR war faktisch pleite und wurde über Jahrzehnte vom Westen aufgepäppelt. Lächerlich all das auszublenden.


Quote
Dirty ol Bastard

Wo blendet er das aus? Und wenn wir schon beim Vergleich sind: Was ist mit den Transfers von Ost nach West? - Die Firmen und Immobilien waren Volkseigen. Man hätte die Besitze auch mal fragen können, bevor ihr Eigentum verkauft wird.
Großzügig wurde ihnen angeboten ihr Eigentum kaufen zu können.
Bauaufträge im Osten gingen großteils an westdeutsche Firmen. Der ostdeutsche Markt wurde von westdeutschen Produkten überflutet, mit der Konkurrenz die unvorbereiteten ostdeutschen Firmen nicht umgehen konnte... etc...


Quote
Kombucha-Jünger

Man mag von dem Interview halten was man mag, aber ich finde es immer wieder spannend, wie festgefahren hier Einige teilweise sind...

Wissen einfach alles besser. Sie wissen es sogar besser, als Menschen welche in/ unter diesem System Tag für Tag gelebt haben.
Andere Meinungen und Erfahrungen anzuerkennen, fällt hier sichtlich schwer...


Quote
LL MM

Zu den IM in den Bands: Die Antwort "Uns ist nix passiert, daher war eh alles nicht so schlimm" ist an Perfidie nicht zu überbieten. Dass solche Bands quasi als "Agent Provocateur" missbraucht wurden, um einzelne Konzertbesucher später zu drangsalieren, vergisst der nette Herr hier einfach.


Quote
Dirty ol Bastard

Wenn sie aufmerksam gelesen hätten, wäre ihnen aufgefallen, dass er nichts damit entschuldigt. Ganz im Gegenteil. Darüber hinaus wird die nicht unwichtige Frage gestellt, inwiefern die BRD nicht auch selbst auf die eigene Geschichte schauen sollte, bevor Andere so pauschal verurteilt werden.


QuoteDiogenes

Rechtspopulismus in Ostdeutschland als Folge der Wiedervereinigung

Allein diese Frage ist ein Schwachsinn! Besser könnte auch ein Stalinist nicht die Wahrheit verdrehen.


Quote
Ben Vassy

Ich habe ziemlich viel mit Menschen aus der Zone zu tun. Junge Menschen so um die 25. Die sehen den Grund für alles Schlechte in ihrem Leben in der Wiedervereinigung, hassen den Westen und wählen AfD, weil die angeblich als einzige Partei ihre spezifischen Ost-Probleme versteht. Ich halte die Theorie also für äußerst glaubwürdig


Quote
Hattie Caroll

Man stelle sich vor, Österreich würde mit Deutschland vereinigt und alle unsere Produkte (Mannerschnitten, Almdudler, Schwedenbomben etc.) verschwänden plötzlich vom Markt.
Die Gemeindebauwohnungen und die Gratiskindergärten in Wien würden privatisiert und plötzlich drei mal so teurer.
Unsere Musik sowie unsere Filme würden nur noch belächelt und der ORF abgeschafft.
Im Gegensatz zu den Deutschen bekämen wir weniger für die gleiche Arbeit bezahlt, dafür würde man uns aber bei jeder Gelegenheit erklären, wie gut wir es doch hätten, dass wir nicht mehr im rückständigen Österreich leben müssten.
So ungefähr hat sich die Wiedervereinigung für viele Ossis angefühlt.


Quote
Erzsébet Lucas

,,Aber ich persönlich kann nicht sagen, dass der ganze Staat schlecht war. Ich möchte nicht wissen, wie viele unschuldige Menschen im Westen eingesperrt und überwacht wurden bzw. werden."

Da habe ich aufgehört zu lesen.


Quote
Joe Z.

Ist hart von jemandem zu hören der als Punk in Ostdeutschland aufgewachsen ist, nicht wahr? Ich bin mir sicher Ihr Bild ist wesentlich genauer durch Ihre Erfahrung in der DDR.
Aufhören eine Meinung zu lesen nur weil sie von der Ihren abweicht, zeugt von ihrer intellektuellen Deprivation.


Quote
gnadevorrecht

"Aber ich persönlich kann nicht sagen, dass der ganze Staat schlecht war."

Danke, keine weiteren Fragen. Man könnte auch genausogut ssgen: "Es war nicht alles schlecht".


Quote
...l...

Man kann von BRD aber auch nicht sagen, dass der ganze Staat gut war. so what


...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 03, 2020, 12:04:26 PM
Quote[...] Das Jahr 1990 freilegen Editiert von Jan Wenzel Spector Books 2019 ...

... Als der Diskurs sich noch um das Für und Wider eines wie auch immer gearteten ,,Dritten Weges" drehte, standen die westdeutschen Konzernchefs längst Schlange vor den ostdeutschen Werkstoren, um die Erbmasse zu begutachten. Unverblümt stellte der damalige FDP-Vorsitzende und verurteilte Steuerhinterzieher Graf Lambsdorff in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung Anfang Januar seine Bedingungen, als er süffisant feststellte, natürlich entscheide die Bevölkerung der DDR frei darüber, in welcher ökonomischen und gesellschaftlichen Form sie leben wolle. Aber ,,ohne marktwirtschaftliche Entscheidungsformen, ohne etwa ein Gesellschaftsrecht, das privatwirtschaftliche Beteiligungen zulässt", könne es keine wirtschaftliche Kooperation geben, die zum Erfolg führt. Schon am 2. Januar eröffnete die Dresdner Bank ihre erste Filiale in den zukünftigen ,,neuen Bundesländern". Wie unmittelbar die ökonomischen Mechanismen der Marktwirtschaft gleich nach dem Mauerfall zu wirken begannen, macht der Schriftsteller Rolf Schneider an einem Detail deutlich: In den hessischen Ortschaften nahe der Grenze zu Thüringen gerieten die Friedhofsunternehmen infolge der Grenzöffnung in Bedrängnis, weil die Bestattungsinstitute ihre Einäscherungen flugs in die östlich der Grenze gelegenen Krematorien verlegten, wo die Preise unschlagbar niedrig waren. Allerdings auch die Umweltstandards, was bei ungünstigem Wind auch im Westen bemerkbar war.

... Der Spiegel konstatierte eine ,,unglaubliche Naivität" unter den Neuzuzüglern, deren Erwartungen, im Westen mit offenen Armen empfangen zu werden, schnell an der Realität in den Übergangswohnheimen und Notquartieren zerschellte. Das ,,erhoffte flotte Leben" rückte für die meisten Ostbürger in weite Ferne und die Massenquartiere wurden zu Dauerlösungen, was den Unmut unter den Bundesbürgern schürte, die ihre Turnhallen gerne wieder nutzen wollten.

Auch in der DDR selbst wuchs allmählich die Abwehr gegen die basisdemokratischen Zumutungen der Bürgerrechtler. Allzu mündig wollte der deutsche Michel eigentlich gar nicht werden, und in einem Brief an das ,,Neue Forum" vom 17. Januar 1990 beklagten sich die ,,Werktätigen" eines nicht näher bezeichneten Betriebes über die Unruhe, die in ihr Leben getreten war: ,,... aber wir wollen wieder Ruhe, Ordnung, Sicherheit, wie wir sie hatten, und verzichten auf die Freiheit der Anarchie, unbedachte Streiks und Vandalismus ... – wir legen auch nicht übermäßigen Wert auf Reisefreiheit, da wir es uns gar nicht leisten können, große Flausen zu haben und froh sind, ab und an in unser Betriebsferienlager zu fahren!" Dass es diese Ferienlager bald schon nicht mehr geben würde, kam ihnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht in den Sinn.

Das Füllhorn an Geschichten und Anekdoten auf den 600 Seiten des Buches scheint unerschöpflich, und dabei ist noch nicht einmal etwas über die Bilder gesagt. Die zum Teil ausführlichen Fotostrecken verleihen dem Band eine zusätzliche visuelle Ebene und stehen als Bildessays für sich. Stellvertretend sei Ute Mahlers fotografische Erzählung vom Aufstieg und Fall des Manfred (,,Ibrahim") Böhme genannt. Mit der ihr eigenen Empathie Menschen gegenüber besuchte sie den gefallenen Hoffnungsträger der Ost-SPD auch noch lange nach dessen Enttarnung als Stasispitzel, als alle Weggefährten sich längst von ihm abgewandt hatten. Dank ihrer Ausdauer entstand eine eindrückliche Bildserie über eine der seltsamsten Karrieren in dieser an Seltsamkeiten reichen Zeit.

Rückblickend erscheint vor allem die Naivität erstaunlich, mit der viele DDR-Bürger sich noch an ihrem Land rieben und für dessen Erneuerung fochten, als die Zeichen längst auf Anschluss standen, die ,,Altbesitzer" ihre Grundstücke inspizierten, Manager Übernahmeverhandlungen vorbereiteten, Verleger die ostdeutschen Regionalzeitungen auf ihre Verwertbarkeit hin taxierten und sich all die anderen Glücksritter der Marktwirtschaft auf Schnäppchenjagd in den Osten begaben. Die Unbedarftheit vieler Ostdeutscher mag aus heutiger Sicht drollig wirken, doch angesichts des aktuellen Ost-West-Diskurses dürfte Cees Nooteboom recht behalten haben, als er in seinen Berliner Notizen 1989/90 schrieb: ,,In der Geschichte geht nichts verloren, jedes Atom der Schmach und Erniedrigung summiert sich und bleibt erhalten."


Aus: "Ein stilles Ende" Frank Schirrmeister (Ausgabe 13/2020)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ein-stilles-ende (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ein-stilles-ende)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 29, 2020, 02:38:37 PM
Quote[...] Ich bin 1987 in Potsdam geboren und aufgewachsen und lebe, nach einigen Jahren in Frankreich und der Schweiz, nun in Berlin. ... Das Jubiläum zu 30 Jahre Einheit nehme ich zum Anlass, über den Osten im Zusammenhang zur Klassengesellschaft nachzudenken. Dabei kommt unweigerlich meine eigene Generation in den Blick, und ihr gespaltenes Verhältnis zur Leistungsgesellschaft, das zwischen 80-Stunden-Woche und Ausbeutungsverweigerung pendelt.

Mein Geburtsland DDR, an das ich keine eigenen Erinnerungen habe, beschäftigt mich zunächst nur als widersprüchliche Zuschreibung von außen: Ich werde zum Ossi gemacht, als mich mein erster westdeutscher Freund, in Wortverspielung der Wespe, liebevoll Ospe nennt. Von ihm lerne ich auch, dass man über Geld nur spricht, wenn man keins hat. Fest in meiner Erinnerung zementiert ist außerdem der Satz eines Unternehmers aus dem Westen, der etliche Firmen aufgebaut hat: ,,Es gibt nichts Besseres, als auf dem Klo zu sitzen und zu wissen, dass deine Firma gerade Umsatz macht."

Es ist ein Satz aus einer anderen Welt. Dort, wo ich herkomme, ist es undenkbar, Geld auf dem Klo zu verdienen; Geld verdient man durch Arbeit. Und ebendort werde ich etwa zeitgleich zum Wessi gemacht, als mir am Küchentisch attestiert wird, von der DDR keine Ahnung zu haben und ein Kind des Kapitalismus zu sein. Es dauert fünf Jahre Auslandsaufenthalt und einen Roman, bis ich beide Zuschreibungen von mir weise und in der Ostsozialisierung ein begriffliches Zuhause finde.

In der Zeitung sehe ich eine Infografik. Der Osten erbt anders, ist sie überschrieben und zeigt anhand der Erbschaftssteuer pro Einwohner, dass in westdeutschen Familien ein Vielfaches an Vermögenswerten von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Kein Wunder, in ostdeutschen Familien fehlen 40 Jahre, in denen Vermögen hätte angehäuft werden können. Ich denke an das Grundstück, auf das meine Großeltern in den 1960ern eine Datsche gebaut haben.

Ein Ankaufsrecht, wie es das für Eigenheime auf fremdem Boden nach der Wende gab, ist bei Wochendendhäusern und Garagen nicht eingeräumt worden. Der Pachtvertrag für die Datsche fällt damit unter das Schuldrechtsanpassungsgesetz, das die unterschiedlichen Eigentumsverhältnisse von DDR und BRD nur befristet regelt: Bis 2022 gilt ein Investitionsschutz, danach müssten wir das Grundstück in seinem unbebauten Zustand zurückgeben, sollte der städtische Eigentümer den Pachtvertrag kündigen. Im Klartext kann das Abrisskosten um die 10.000 Euro bedeuten. Das ist das Kleingedruckte ostdeutscher Erbschaften, das sich auch die nächste Generation durchlesen muss.

Gregor Gysi schreibt über den Wiedervereinigungsprozess: ,,Diese Entwicklung, die den Ostdeutschen und dem Osten seit 1990 nie das Gefühl von Gleichwertigkeit vermittelte, hat vielleicht mehr zur Herausbildung einer ostdeutschen Identität beigetragen, als es die Führung der DDR je vermochte." Mag sein, dass sich die Ostdeutschen in der Bundesrepublik ostdeutscher fühlen als je zuvor. In Umfragen stimmt die Mehrheit jedenfalls der Aussage zu, sie fühlten sich gegenüber Westdeutschen als Bürger zweiter Klasse – bilden die Ostdeutschen eine ökonomische Klasse? Wenn wir mal großzügig die sehr verschiedenen Nachwendebiografien in einen Topf werfen, bleiben klar strukturelle Gemeinsamkeiten erkennbar. Angesichts niedrigerer Löhne, Renten und Vermögenswerte kann ökonomisch von Einheit keine Rede sein. Erstaunlich daran finde ich den optimistischen zweiten Platz. In Deutschland besitzen die reichsten zehn Prozent mehr als die Hälfte des Vermögens. Der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit von Vermögensverteilung beziffert, ist seit 1991 von 0,25 auf fast 0,3 gestiegen. In diesem Land kann höchstens von einer dritten Klasse die Rede sein.

Als ich gefragt werde, welcher Klasse ich mich zugehörig fühle, ist meine erste Antwort nicht ,,ostdeutsch", sondern ,,kreatives Prekariat" – kaum ökonomisches, aber viel kulturelles Kapital. Mir fällt L. ein, die Philosophie studiert hat und jetzt im Wendland Gemüse anpflanzt – welcher Klasse wäre sie zuzuordnen? Unsere mehrschichtigen Herkünfte und Selbst-Neuerfindungen ergeben so wilde wie verwirrende Biografien in den Zwischenräumen der herkömmlichen Klassenbegriffe. Wenn wir in dieser Unübersichtlichkeit über Klasse sprechen, brauchen wir mehr als nur die Ost-West-Unterscheidung – und vor allem die Bereitschaft, überhaupt über Klasse zu sprechen. Die Frage danach zerrt die eigenen Eltern ins Rampenlicht. Wir wollen aber eine Gesellschaft sein, in der egal ist, woher man kommt, und nur zählt, wo man jetzt ist, als hätte das eine nichts mit dem anderen zu tun – eine Utopie, die ich mag, der wir aber nicht näher-kommen, indem wir sie einfach behaupten und dabei Unterschiede tabuisieren. Tatsächlich benutze ich das Wort Klasse so selten, dass es sich wie aus einer Fremdsprache anfühlt. Meiner Vokabelliste füge ich das kreative Prekariat hinzu.

[...] Zu Hause gibt es den Glaubenssatz: In unserer Familie bereichert man sich nicht. Als Abgrenzung zum Raubtierkapitalismus überträgt er das Konzept Klassenfeind auf mich, auf die nächste Generation. Dabei entsteht eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Geldverdienen, gleichzeitig wird die vergleichsweise schlechte Lage aller Ostdeutschen beklagt. Man gehört dazu, wenn man prekär lebt, und man steht unter Verdacht, wenn man zu Geld kommt. Meine Höhenangst betrifft nicht nur Schluchten, Türme und Flugzeuge, sondern auch das obere Ende der Karriereleiter. Zum Glück verdiene ich als Autorin nicht besonders viel. Die Ostsozialisierung beinhaltet ein diffuses Orakel: Die Erzählung, dass von heute auf morgen alles anders sein kann, ist so fest in meine DNA eingeschrieben, dass ich nicht an eine politische und ökonomische Stabilität glaube. Worte wie Bausparvertrag und Rente gehen mir nicht über die Lippen, weil ich Zweifel habe, dass es das System, innerhalb dessen diese Dinge erst sinnhaft werden, noch geben wird, wenn sie für mich relevant werden. Das Orakel beschwört den Zusammenbruch des Kapitalismus mal utopisch, mal dystopisch herauf und verhindert, dass ich bauspare oder altersvorsorge. ... Das Prekariatsrisiko für die Kunst in Kauf zu nehmen, ist vertrauter Kinderzimmerboden, oder wie J. es mal formulierte: ,,Ich habe genug Hartz IV im Blut."

Anlässlich eines Stipendiat*innen-Empfangs bin ich zu Gast in der reichsten Privatwohnung über drei Etagen, in der ich je gewesen bin. Während mir ein weißhemdiger Bediensteter den Mantel abnimmt, denke ich an einen Satz von K.: ,,Die Sprache verrät uns", und frage mich, welches Wort mich an diesem Abend verraten wird. Dann hält ein FAZ-Journalist für die kleine Gesellschaft einen Kurzvortrag, frei und derart eloquent, dass ich heimlich Atemübungen mache, bevor ich in der anschließenden Vorstellungsrunde an der Reihe bin. Auf dem Buffet steht, wie der weiße Milchzahn in all der Dunkelheit von Wald bis Wasserglas, eine ja! – Flasche Orangensaft. Ich behalte sie im Augenwinkel, während ich spreche, und trinke sie später aus, nachdem ich mich getraut habe, die Angestellten nach Bier zu fragen, das es nicht gibt, und vielleicht hätte mich diese Frage verraten, wenn es denn etwas zu verraten gegeben hätte. Beim Abschied bezeichnet mich eine Frau als ,,erfrischend", und als ich heimgehe, halb Getränk, halb Pool, denke ich: Es ist schön, dass mich nichts verraten kann, weil ich kein Geheimnis bin.


Aus: "Er nennt mich Ospe" Paula Fürstenberg (Ausgabe 11/2020)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ich-bin-eine-ospe (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ich-bin-eine-ospe)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 04, 2020, 12:55:50 PM
Quote[...] Sehr häufig wird in den nächsten Jahren die Debatte über die Lage der deutschen Einheit nicht mehr strapaziert werden. Das Thema verschwindet langsam im Hintergrund. Man sollte es meinen, mit 30 Jahren Abstand. Und dann empfängt man wieder Beispiele, die anderes bezeugen, Abstand, Trennung, Herablassung. Christoph Hein, ein deutscher Schriftsteller, seit seine Novelle Der fremde Freund 1982 im Osten und im Westen des Landes veröffentlicht worden ist und ein außerordentlicher Erfolg wurde. Hein gab in einem Interview mit der Zeit im März 2019 ein Beispiel seiner Erfahrung mit der Einheit: ,,Letztens ist mir während einer Buchvorstellung etwas Amüsantes passiert. Der westdeutsche Moderator, jemand, den ich sehr schätze, sagte, meine Novelle Der fremde Freund sei zunächst in der DDR veröffentlicht worden, erst später in Deutschland. Mit Deutschland meinte er die BRD. Das ist nun wirklich kein Skandal, aber es ist ja nicht untypisch. Im deutschen Feuilleton gibt es bis heute deutsche Schriftsteller und ostdeutsche Schriftsteller, aber keine westdeutschen Schriftsteller." Schulze konstatierte Ähnliches, und auch Hein ist weit davon entfernt, sich über diese Gedankenlosigkeit zu erregen. Er hat sie als ,,etwas Amüsantes" verbucht und betont, dass sie ,,nun wirklich kein Skandal" ist. Ist sie auch nicht, ein Skandal. Aber was ist mit Willy Brandts legendären Worten vom 10. November 1989: ,,Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört?" Das Versprechen, vor 30 Jahren gegeben, ist nicht erfüllt. Oder?


Aus: "Der Westen als Norm" Michael Hametner (Ausgabe 31/2020)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-westen-als-norm (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-westen-als-norm)

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 11, 2020, 12:29:14 PM
Quote[...] [ Zu: "Prostitution in der DDR: Eine Untersuchung am Beispiel von Rostock, Berlin und Leipzig, 1968 bis 1989" (Deutsch) Taschenbuch – 9. Juli 2020
von Steffi Brüning (ISBN-13: 978-3954102174)
]


Wer an Sexualität in Deutschland im Jahr 1968 denkt, hat wahrscheinlich Rainer Langhans und die freie Liebe vor Augen. Doch während in der Bundesrepublik die sexuelle Revolution in vollem Gange war, gab es in der DDR mit dem 1968 beschlossenen neuen Strafgesetzbuch ein weiteres Repressionsinstrument, das speziell auf die weibliche Sexualität zielte. Denn dort galten mit Einführung des Paragrafen 249 Prostituierte als Asoziale und konnten mit mehrjährigen Haftstrafen belegt werden. Der Paragraf betraf jedoch nicht nur Frauen, die sich prostituierten: Schon sexuelle Freizügigkeit wurde unter der Prämisse "Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten" unter Strafe gestellt.

Die SED verwendete mit "Asozialität" den gleichen Begriff, der im Nationalsozialismus zur Verfolgung und Ermordung von Menschen diente, die auf verschiedene Art von der Norm abwichen. "Die SED übernahm diesen Begriff und verknüpfte ihn mit dem Fehlen einer legitimen Form von Arbeit, ohne die Kontinuität zum Nationalsozialismus zu thematisieren, obwohl diese Kontinuität nicht zu leugnen ist", sagt Historikerin Steffi Brüning, die mit ihrer neu erschienenen Arbeit "Prostitution in der DDR" die erste Untersuchung der vielfältigen Facetten des Rotlichtgewerbes im Sozialismus veröffentlicht hat.

Brüning hat sich auf die Städte Berlin, Leipzig und Rostock konzentriert. "Finanzstarke Kunden trafen Prostituierte in allen drei Städten, oft in den Bars der Interhotels. Überall sicherten und organisierten Netzwerke mit. Kellner vermittelten beispielsweise Kontakte, Prostituierte sorgten im Gegenzug für guten Umsatz und hohes Trinkgeld. Sexuelle Kontakte verlagerten sich oftmals in den privaten Raum der Frauen, da es keine Bordelle oder andere Arbeitsorte gab", so Brüning.

Brünings Analyse zeigt: Faktisch war Prostitution verboten, doch die Realität war komplizierter. Denn einerseits wurde Prostitution nicht immer geahndet, sondern teilweise sogar unterstützt, wenn sie der SED zuträglich erschien. Gleichzeitig fand der Paragraf 249 auch Anwendung, wenn es darum ging, Frauen zu unterdrücken, die ihre Sexualität allzu aktiv lebten oder deren Leben den Normvorstellungen des SED-Regimes aus anderen Gründen nicht entsprach. So war Prostitution im Sozialismus mit dem Fehlen einer legitimen Arbeit verknüpft, wurde also erst dann strafbar, wenn man sich Frauen der sozialistischen Wirtschaft nicht als Arbeitskraft zur Verfügung stellten. Hier, wie in anderen Bereichen, bekommt das Bild der "emanzipierten Ostfrau" bei näherer Betrachtung Risse.

"Die SED rühmte sich damit, quasi automatisch durch die Einführung des 'Sozialismus' Geschlechtergerechtigkeit hergestellt zu haben. Der Umgang mit Prostituierten zeigt, dass das nicht gelang", sagt Brüning. "Frauen wurden enge Normen gesetzt, aus denen sie nicht ausbrechen sollten. Sexuelle Freizügigkeit, der Kontakt zu verschiedenen Männern, die nicht aus der DDR kamen, mit Sex Geld zu verdienen, sich selbstbestimmt Freiheiten zu nehmen - all das verstieß gegen die konservativen Moralvorstellungen und arbeitspolitischen Interessen der SED. Sobald Frauen sich wie selbstbestimmte Akteurinnen verhielten, konnten sie Probleme bekommen, und das betraf nicht nur Prostituierte", so Brüning.

Ihre Analyse offenbart auch das engstirnige Frauenbild der SED: Die Partei sah sie als sexuell passiv, regimekonforme Sexualwissenschaftler unterstellten ihnen, nur bei Liebe Lust empfinden zu können. Die monogame Beziehung zwischen Mann und Frau galt als Ideal - und "kleinstes Kollektiv in der DDR".

Amtsdeutsch hießen Frauen, die viele Partner hatten, Personen mit "häufig wechselnden Geschlechtspartnern" oder kurz "HWG". War eine Frau einmal als eine solche erfasst, so konnte sie zu regelmäßigen ambulanten Kontrollen auf Geschlechtskrankheiten verpflichtet oder in geschlossene Krankenanstalten wie die venerologische Station in Berlin-Buch zwangseingewiesen werden. Die Station in Buch wurde in der Umgangssprache abwertend als "Tripperburg" bezeichnet. Dabei waren die Mädchen und Frauen, die dort nach Geschlechtskrankheiten untersucht wurden, zu etwa 70 Prozent gesund, sagt Birgit Marzinka, Leiterin des Dokumentationszentrums "Lernort Keibelstraße". Ziel dieser Stationen sei die Disziplinierung der Frauen und Mädchen gewesen sowie ihre Erziehung zu dem, was als sozialistische Persönlichkeit galt.

Prostitution wurde von der SED als kapitalistisches Phänomen dargestellt und damit auch instrumentalisiert, um den Westen abzuwerten. An junge Mädchen wurde die Warnung verschickt, sie würden in westdeutschen Rotlichtvierteln versklavt, sollten sie Republikflucht begehen. Gleichzeitig war den Herrschenden des SED-Regimes jedes Mittel recht, um an Informationen aus dem Westen zu gelangen - auch der Einsatz von Prostituierten.

Als "Honigfallen" wurden Informantinnen auf Diplomaten, Unternehmer und Journalisten überwiegend aus dem nichtsozialistischen Ausland angesetzt. "Dabei waren sexuelle Kontakte immer auch Mittel zum Zweck, aber nie das ausschließliche Ziel der Tätigkeit. Es ging darum, dass Frauen als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) möglichst langfristige vertrauensvolle Beziehungen zu diesen Männern aufbauen und keine schnellen sexuellen Begegnungen stattfinden. Diese Informantinnen waren intelligent, gut ausgebildet, sehr attraktiv und politisch loyal gegenüber der SED. Sie wurden oft nicht als Prostituierte wahrgenommen", sagt Brüning. Zu den Anforderungen für diese Frauen zählte unter anderem eine "vaterländische Gesinnung".

Auf der anderen Seite wurden Prostituierte von der Staatssicherheit unter Druck gesetzt, als Informantinnen mit ihr zusammenzuarbeiten. "Angedroht wurden zum Beispiel Inhaftierungen, die Wegnahme der Kinder, der Verlust von Arbeit. Das führte dazu, dass Prostituierte sich oft sehr schnell auf eine Tätigkeit als IM einließen", so Brüning. Für ihre Untersuchung befragte sie vier Frauen, die in der DDR als Prostituierte gearbeitet hatten. Diese zu finden sei umständlich gewesen, so die Historikerin - doch als sie schließlich erzählen konnten, taten sie dies sehr umfassend. "Die Frauen wählten für sich in der Rückschau sehr verschiedene Beschreibungen. Für eine Frau, die sich aufgrund von Armut und Sucht auf der Straße prostituierte und nur eine geringe Bezahlung erhielt, war diese Zeit mit Scham verbunden. Eine andere Frau, die mit wohlhabenden internationalen Kunden in Kontakt war und Luxus erlebte, schwärmte von ihren Erlebnissen. Beide sehen sich im Nachhinein als Prostituierte, haben sich in der DDR aber selbst nicht so wahrgenommen", so Brüning.

Quelle: ntv.de


Aus: "Zwischen Honigfalle und asozial: DDR lehnte Prostituierte ab und benutzte sie" Sarah Borufka (Montag, 10. August 2020)
Quelle: https://www.n-tv.de/leben/DDR-lehnte-Prostituierte-ab-und-benutzte-sie-article21899486.html (https://www.n-tv.de/leben/DDR-lehnte-Prostituierte-ab-und-benutzte-sie-article21899486.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 15, 2020, 10:41:09 PM
Quote[...] DIE ZEIT: Frau Michel, Frau Grimm, Sie plädieren in Ihrem demnächst erscheinenden Buch dafür, dass die Generationen des Ostens ins Gespräch miteinander kommen sollen. Warum ist es gerade jetzt an der Zeit dafür?

Sabine Michel: Ich habe schon lange das Gefühl, dass uns dieser Dialog fehlt. Wir brauchen eine kritische Selbstbefragung. Die hat bisher kaum stattgefunden. Das erste Mal ist mir das vor inzwischen sieben Jahren extrem aufgefallen. Damals, 2013, kam meine Dokumentation Zonenmädchen in die Kinos. Eigentlich bin ich ja Filmemacherin. Ich setze mich in dem Film mit der Vergangenheit meiner Schulfreundinnen und auch meiner eigenen auseinander – und suche zwangsläufig den Dialog mit unseren Eltern.

ZEIT: Wie waren die Reaktionen darauf?

Michel: In den Filmvorführungen saßen viele Leute, die ungefähr so alt waren wie ich damals, Anfang 40, und vor allem viele ältere Frauen um die 60. Es stellte sich in den Gesprächen mit den Zuschauern heraus, dass viele von ihnen noch nie so richtig innerhalb ihrer Familien über ihre DDR-Vergangenheit und die Zeit nach 1989 geredet haben. Gleichzeitig gab es aber das große Bedürfnis, sich auszutauschen. Manchmal haben die Zuschauer von mir Erklärungen erwartet, die sie eigentlich in ihren Familien suchen sollten. Die Sprachlosigkeit schien mir ein strukturelles Problem zu sein. Sie sitzt wie ein Deckel fest auf all dem Erlebten. Aber wir wissen: Wo keine Luft rankommt, dort entsteht Schimmel oder Druck.

Dörte Grimm: Oder Wut.

ZEIT: Frau Grimm, woher rührt diese Sprachlosigkeit?

Grimm: Mein Eindruck ist, dass die Generation unserer Eltern – ich bin jetzt 42 – in den ersten Jahren nach dem Mauerfall voll und ganz damit beschäftigt war, das neue Leben irgendwie zu organisieren. Da standen wirtschaftliche, also existenzielle Fragen im Mittelpunkt. Und als endlich Zeit gewesen wäre, darüber nachzudenken und vielleicht auch darüber zu sprechen, was eigentlich passiert ist im Osten – da hatte sich die Stimmung im Land längst gedreht. Die Euphorie der Jahre 1989/90 war verschwunden, im gesellschaftlichen Diskurs hatten sich mehr und mehr Zuschreibungen des Westens über den Osten durchgesetzt.

ZEIT: Was genau meinen Sie?

Grimm: Diejenigen, die im neuen System nicht so schnell zurechtkamen und sich vielleicht darüber beklagten, wurden "Jammerossis" genannt. Das hat schnell dazu geführt, dass die Älteren sich verschlossen haben und in eine Art Verteidigungshaltung gegangen sind. Eine eigene Auseinandersetzung mit all dem Erlebten war dann kaum mehr möglich.

ZEIT: Und die jüngere Generation, Sie nennen sie die "Wendekinder", hat das einfach so hingenommen?

Michel: Diese Generation hat sich schneller im neuen System zurechtgefunden, sie wusste die vielen neuen Chancen oftmals besser zu nutzen. Insgeheim hätten die Jüngeren ihren Eltern sicher gern einige kritische Fragen gestellt, aber es wäre wie Verrat aus den eigenen Reihen gewesen.

Grimm: So entstand auf beiden Seiten Schweigen. Bei den Eltern aus Scham. Bei den Kindern aus Scheu. Wir haben unsere Eltern geschont, gewissermaßen, weil sie ja schon genug zu kämpfen hatten.

ZEIT: Sie beide haben in Filmprojekten das Gespräch mit Ihren Eltern gesucht. Wie war das?

Michel: Ich habe mir lange gewünscht, dass meine liebevollen Eltern aus ihrem biografischen Hintergrund heraus eine kritischere Sicht auf die DDR entwickelt hätten. Hatten sie vielleicht auch, aber das haben sie nicht mit mir geteilt.

ZEIT: Sie werfen ihnen Angepasstheit vor?

Michel: Es ist komplizierter. Es gibt besonders in der Familie meiner Mutter eine lange Geschichte der Sprachlosigkeit, und dafür gab es auch Gründe. Aber mich schmerzt das auf eine Art bis heute.

ZEIT: Nun haben Sie für Ihr Buch Die anderen Leben zehn Generationengespräche innerhalb ostdeutscher Familien erst arrangiert und dann dokumentiert. Wie viel Überzeugungsarbeit mussten Sie leisten, damit die Dialoge zustande kamen?

Grimm: Sehr viel, deswegen haben wir auch fünf Jahre an dem Buch gearbeitet. Wir haben unzählige Absagen bekommen, vor allem von den Älteren. Bei den Kindern ist der Gesprächsbedarf größer.

ZEIT: Woher kommt das?

Grimm: Die jüngere Generation musste keine schwerwiegenden Entscheidungen in der DDR treffen. Sie muss sich weniger rechtfertigen. Vielleicht empfinden das Eltern manchmal als ungerecht. Nach dem Motto: Ihr hattet es ja leicht, ihr musstet nicht wählen, ob ihr als Grenzsoldaten dient, ob ihr in die SED eintretet.

ZEIT: Alle Gesprächspartner im Buch sind anonymisiert. Warum?

Michel: Unser Ziel war es, eine Atmosphäre für bedingungslos ehrliche Gespräche zu schaffen. Die Anonymisierung half dabei.Wir geben das Gesagte im Buch wörtlich wieder und erzählen gleichzeitig subjektiv von den Begegnungen.

ZEIT: Welche Geschichten haben Sie besonders berührt?

Michel: Die Geschichte einer Frau, die im Buch Anja heißt. Sie hat als sehr kleines Kind eine Wochenkrippe besucht ...

ZEIT: ... also eine Einrichtung, in der man von montags bis freitags rund um die Uhr untergebracht war.

Michel: Genau, ihre Mutter war berufstätig und alleinerziehend. Das und anderes konnte zwischen ihnen nie thematisiert werden. Ein Gespräch der beiden dann doch zu organisieren war schwierig. Und als es schließlich stattfand, war die Atmosphäre ziemlich angespannt. Aber am Ende hat die Mutter der Tochter zuliebe auch die schmerzhaften Kapitel ihres Lebens geöffnet.

ZEIT: Wir drucken einen Auszug aus Ihrem Text über diese Begegnung [https://www.zeit.de/2020/34/die-anderen-leben-generationengespraeche-ost-doerte-grimm-sabine-michel (https://www.zeit.de/2020/34/die-anderen-leben-generationengespraeche-ost-doerte-grimm-sabine-michel)]. Gibt es eigentlich etwas, das Sie persönlich aus diesem Gespräch gelernt haben?

Michel: Ich beschäftige mich schon lange mit ostdeutschen Frauen, sie sind ja die "Erfolgsgeschichte" der Wiedervereinigung. Die Mutter, die wir im Buch Ingrid nennen, ist stolz auf das, was sie allein geschafft hat – und zum Teil hat die DDR ihr das ermöglicht. Davon erzählt es sich toll, und das ist es auch. Aber ihre Geschichte zeigt, dass in den Familien dafür auch harte Preise gezahlt wurden.

ZEIT: Haben Sie sich manchmal gefragt, ob es wirklich richtig ist, die Elterngeneration nach so vielen Jahren noch mit ihren Verfehlungen in der DDR zu konfrontieren?

Michel: Ja, aber wir brauchen diesen selbstbewussten Austausch.

Grimm: Ich kenne viele Geschichten von Menschen, die entweder ihre ostdeutsche Herkunft komplett unkritisch idealisieren oder nach wie vor verschweigen. Vielleicht, weil sie glauben, so besser Karriere machen zu können. Vielleicht aber auch, weil sie sich mit ihrer Geschichte selbst noch nicht richtig auseinandergesetzt haben. Beides ist wenig hilfreich.

Michel: Die Aussprache bewirkt auch etwas bei den Eltern. Wenn sie einmal die Themen auf den Tisch packen können und das so stehen gelassen wird, ohne dass es gleich ein Etikett bekommt – das kann befreiend sein. Und es ist gut, wenn auch Leserinnen und Leser, die all das nicht erlebt haben, merken, wie unterschiedlich Ost-Biografien verlaufen sind. Das kann den Weg öffnen für eine Weiterentwicklung im gesamtgesellschaftlichen Diskurs.

ZEIT: Nun ist es ja nicht so, dass in allen ostdeutschen Familien über die Vergangenheit grundsätzlich geschwiegen worden wäre. Aber Sie würden am liebsten einen Generationenstreit in ganz Ostdeutschland anzetteln, eine Art ostdeutsches '68, oder?

Grimm: Das muss kein Kampf der Generationen werden, im Gegenteil. Es geht darum, die persönlichen Geschichten zu beleuchten, ohne dass gleich alles unter einem Generalverdacht landet.

Michel: Ein ostdeutsches '68 wäre produktiv gewesen, nach zwei aufeinanderfolgenden Diktaturen. Aber das gab es nicht, und das hat eine Leerstelle hinterlassen, die inzwischen andere Bewegungen auszufüllen suchen. Ich habe für meinen Dokumentarfilm Montags in Dresden mehrere Pegida-Anhänger über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet. Und eine meiner Lehren daraus ist, dass noch viel mehr Gespräche vonnöten sind, dass es mehr Aufarbeitung braucht. Sprechen allein ist natürlich kein Wundermittel. Es braucht viele andere, auch politische Maßnahmen. Aber wenn man will, dass sich viele Menschen in diesem Land beteiligt und in ihrer Lebensleistung respektiert fühlen, braucht man den Dialog.

ZEIT: Und die Kritik soll nun – statt von außen – von den eigenen Kindern kommen?

Michel: Die jüngere Generation muss das aussprechen, was sie nicht versteht, anders sieht. Auch das, was sie in der DDR anders gemacht hätte. Nur durch diese kritische Selbstbefragung kann eine selbstbewusste ostdeutsche Haltung entstehen.

Grimm: Wenn man wirklich versteht, wie sich Biografien in Ostdeutschland entwickelt haben, erhält man einen ganz anderen Blick, auch auf das Wahlverhalten oder die wachsende Wut und Resignation. Ich glaube, dass im Betrachten der kleinsten Zellen der Gesellschaft, also der Familien, eine große Kraft liegt. Daran kann jeder anknüpfen.


Aus: "DDR: "Wir haben unsere Eltern geschont"" Interview: Martin Nejezchleba (12. August 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/2020/34/ddr-leben-familien-sabine-michel-doerte-grimm (https://www.zeit.de/2020/34/ddr-leben-familien-sabine-michel-doerte-grimm)

QuoteKapaster d.J. #2

Viel Schuld, viel Schweigen.
Die Anzahl der Menschen, die das System gestützt haben, ist viel größer, als es der Westen je wahrhaben wollte. Denn auch dort wollte niemand Millionen Diktaturhelfern gegenüber stehen. - Wie hätte man sonst auch die Wiedervereinigung feiern können?

Repression war Alltag, wurde in ganz alltäglichen Situationen exerziert, von ganz "normalen" Leuten. Sie war Teil der Alltagskultur.
Und das verschwindet nicht so einfach.
Die Mehrheit verkaufte das ihren Kindern als unausweichlich.


QuotePrimarch der Ultramarines - Roboute Guilliman - #2.8

Typische Betrachtungen eines Wessis der schon immer sein gesamtes Wissen und Weltbild aus seinen bevorzugten Medien aufgebaut hat und damit fast immer mehr daneben als richtig liegt...


QuotePlanloser #3.1

Ich stelle mir immer vor wenn Deutschland in seiner jetzigen Form zusammenbrechen würde und sich ein neuer Staat etabliert - würden wir über die BRD genauso darüber denken wie wir jetzt über die DDR? Ich denke schon, je mehr dokumentiert und je mehr nachweisbar ist umso wahrscheinlicher wird es das v.a. negative Aspekte in der Geschichte zum Vorschein kommen. Wir haben heutzutage viel mehr überforderte Eltern, Menschen in finanzieller Not, Armut und Ghettos als noch zu DDR-Zeiten, mit welchen Summen ein heutiger Politiker privat herumhantiert ist zum Vergleich der DDR gering, man sieht es heute ebenso kritisch.

Wobei Ghetto und Armut immer in Relation zu bestehenden Wohlstand der Gesellschaft steht, heute geht es einen ALG-II Empfänger i.d.R. konsumtechnisch besser als ein Arbeiter mit unteren Verdienst in der DDR aber dafür war sowas wie Gettoisierung und der daraus resultierende soziale Druck fast unbekannt.

Man ist als Mensch eben auch dazu konzipiert negative Erfahrungen besonders gut einzuprägen aber eins verstehe ich sehr gut: Man kann ein Staat nur führen wenn der Großteil der Bevölkerung mitzieht und das ist völlig unabhängig ob das politische System wie in Nordkorea, Schweden oder Deutschland ist.Ohne die Zustimmung fliegt es auseinander, letztlich ist es immer ein demokratischer Entscheid der Bevölkerung.


QuoteWolframW #3.4

Ich habe zwei Kinder Baujahr 1979 und 1975. Diese können mich gerne zu und nach meiner Zeit in der DDR fragen.
Jetzt würde ich aber gerne wissen, was diese fragen sollen. Welchen Dialog sollen diese mit mir führen?

Vielleicht kann ja Kapaster, Frau Grimme oder Frau Michel mal einen Fragenkatalog zusammenstellen?!

Ich wurde nicht vom MfS festgenommen, ich hatte kein Bedürfnis die Grenze in Richtung Westen zu übertreten, ich habe gefeiert, ich habe gelacht, ich habe gearbeitet, ich habe geliebt, ich habe Kinder gezeugt und erzogen, ich habe die Kinderkrippe und den Kindergarten besucht. ich war Mitglied der Pioniere (leider ein Jahr zu spät, wegen Fehlverhalten:-)), ich war Mitglied der FDJ, ich war Mitglied der SED, ich habe den zinslosen Ehekredit von 5.000 Mark der DDR genutzt, ich war über den FDGB im Urlaub mit den Kindern, ich brauchte kein Auto, ich hätte gerne einen Farbfernseher gehabt, ich nutzte Butter als Nahrungsmittel, ich versorgte mich mit saisonbedingten Gemüse- und Obstsorten.

Mir fehlten unwichtige Dinge! Ich musste keine existenziellen Sorgen haben!
Das wissen meine Kinder aber alles.

Was sollen sie mich also noch fragen?
(...) Dass ich nicht reisen durfte, wohin ich wollte, wie auch die Bewohner der Bundesrepublik, denen dazu einfach die finanziellen Mittel fehlen?

Gekürzt. Bitte verzichten Sie auf überzogene Vergleiche. Danke, die Redaktion


QuoteOssilantin #3.9

Ich war nicht in der SED, habe vieles in der DDR kritisch gesehen und verfügte über keine Care-Pakete aus dem Westen, trotzdem bin ich froh über drei Jahrzehnte im Osten gelebt zu haben. Wir waren glücklich und kreativ Das Gleiche gilt für unsere Kinder. Unsere Alltagssorgen waren Peanuts gegen die Sorgen, die viele Deutsche aus Ost und West heute unverschuldet haben.


Quote
Thomas Coltran-Jazzsaxer #4

Entfernt. Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen. Danke, die Redaktion/as


QuoteZetti78 #4.1

Der Kommentar, auf den Sie Bezug nehmen, wurde bereits entfernt.


Quotekcaco #4.6

Wiese wurde denn dieser Kommentar gelöscht?! Das waren doch keine Unterstellungen. ...


QuoteThomas Coltran-Jazzsaxer #4.12

Liebe ZON Redaktion: Leider keine Unterstellung. Selber zigfach erlebt, dass ganze ost-deutsche Familien dem Nazi-Wahn verfallen sind und nicht wenig.Allein in meinem Nachbar-Umfeld kann ich ihnen 3 Familien nennen, welche genau in mein dargestelltes Schema passen. Warten wir auf die nächste wissenschaftliche Soziologenarbeit zu diesem Thema und auch sie werden es, wie ich, mit Angst zu tun bekommen.
Aber schon OK verallgemeinern darf man das natürlich nicht, gell! :)

[Durch den Verschluss des Dampfkochtopfes DDR durch das DDR-Regime hat sich eine Pseudo-Opposition von Nazis gebildet, die ob ihrer oppositionellen Haltung gegen diese Unterdrückung mehr und mehr etabliert hat und munter vor sich hin köchelte. Die Folgen sehen sie nun den neuen Bundesländern klar, nach der "Wende" entfaltete sich dieses unrühmliche Blatt der DDR-Geschichte vollends, der Kochtopf oder sagen wir mal besser die Büchse der Pandora öffnete sich!]


QuoteGumbalaya #7

Die ostdeutsche Geschichte ist durch viele intensiven Brüche in relativ kurzer Zeitspanne gekennzeichnet.
So haben verschiedene Altersgruppen überlappend Kombinationen dieser Brüche erlebt.
Deswegen glaube ich, dass das Erleben der DDR sehr individuell war. Es gibt nicht DIE DDR Generation oder DIE DDR Erfahrung oder DIE Schuld.
Die meisten Menschen, die in dieses System hinein geboren waren, versuchten unter den gegebenen Umständen ihren Familien ein lebenswertes Leben zu gestalten.
Unrecht und Missstände waren eigentlich allen klar. Aber wenige hatten den Appetit ihre Perspektiven und Ihre Familien zu verheizen.
Meine Eltern wuchsen im Krieg und während der Nachkriegszeit auf. Eine Zeit über die sie wenig sprechen wollten, sie taten es aber auf Anfrage.
Um auf den Titel des Artikels zu projizieren: vielleicht taten sie das um uns Kinder von diesen Erfahrungen zu verschonen.
Genauso wie sie uns im Alltag damit verschonten, welche Kompromisse sie für das Wohl der Familie eingingen.

Geschont habe ich meine Eltern keinesfalls. Nicht als ich das Regime frühzeitig infrage stellte und schon garnicht durch meine 16-monatige Stasihaft oder den daraus resultierenden Freikauf durch die Bundesregierung. Sie alterten während dieser Zeit um ein Vielfaches.

Dass sie 88 ausreisen konnten war dann auch diesem Dialog geschuldet. Er hatte sie letztlich überzeugt, dass sie mich nicht mehr schonen und besser ihre Lebensansprüche verwirklichen sollten.


QuoteZeitGeistGestörter #7.1

(...) Erleben der DDR sehr individuell war. Es gibt nicht DIE DDR Generation oder DIE DDR Erfahrung oder DIE Schuld.(...)

Ja, bevor die Duskussionen beginnen, sollte das klar gezeichnet sein. Die DDR hatte vier unterschiedliche Phasen. Intensiv und drakonisch/ideoligisch nach der Gruendung aufstrebend, erfolgreich und gefestigt bis zum Ende der Ulbricht-Aera. Im Zenit um die Jahrzehntmitte der 70er, im wirtschaftlich/politischen Abstieg in den 80ern. Entsprechend reagierte das Regime nach innen verschieden radikal. Unter Ulbricht grob mit etwas linksliberaler Offenheit zu den Weltfestspielen, wurde die Ideologie in den Schulen und Betrieben perfektioniert und die vlt. strikteste Linie von 70-82 exerziert, dann gab es einen Bruch und die straffe Durchsetzung/Wahrnehmung in der Gesellschaft ging merklich zurueck. Man konnte schon mal Westklamotten anziehen und musste nicht mehr mit vollstaendiger Montour zu diversen Apellen und Veranstaltungen in der Schule erscheinen, das Käppi der Pioniere war z.B. nicht mehr noetig (noch 1979 undenkbar an unserer Schule), aber auch im Land gab es starke Binnendifferenz, d.h. in sehr linientreuen Staedten wie Gera oder Rostock gab es weniger Toleranz als in Vororten. Meine Frau hat das Blauhemd im Vorort insgesamt 2x angehabt. Ich brauchte sogar zwei davon, weil in der sozialistischen Musterstadt jede Woche irgendwas in dieser Uniform gefeiert wurde.


QuotePeter Meyer HH #8

Mit den Kindern darüber zu reden, wie es war, mit allen Fehlern, die man gemacht hat und denen, die man nicht erkennen konnte, wäre eine Möglichkeit und könnte ganz befreiend sein.
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Thema dieses Artikels ist, dass dies bezüglich der DDR-Vergangenheit kaum geschieht, auch 30 Jahre nach dem Untergang der DDR. Verglichen mit dem 3. Reich stehen wir also in der alten Bundesrepublik von etwa 1975. Da war es so, dass die vorbehaltlose Aufarbeitung gerade erst begann. Herr Filbinger musste, wenn ich mich recht entsinne, 1978 zurücktreten.
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Sieht man sich Fernsehberichte aus der 68er-Zeit an, stößt man sehr verbreitet auf Interviewaussagen von Erwachsenen am Rande der Demonstrationen, die ganz unbefangen nicht nur "dann geht doch 'rüber", womit die DDR gemeint war, rufen, sondern vor den Mikrofonen auch von "Lagern" und sogar von "Gas" zur Begegnung der Studentenunruhen reden. Ganz offen, in Fernsehinterviews. In den 10 Jahre von Ende der 60er bis Ende der 70er-Jahre hat sich also viel getan. Die Rede Herrn von Weizsäckers 1985 wäre noch in den 70er-Jahren nicht denkbar gewesen.
·
Und die Rede war 40 Jahre später. Warten wir also mal bis 2030 ab: durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass wir erst dann zu einem nüchternen Blick auf die DDR finden, finden können. Zeit heilt alle Wunden, da ist schon was dran: Rückblicke aufs eigene Leben und vor allem auf eigene Fehler und Versäumnisse fallen mit zuehmendem Abstand weniger schwer.
·
Ihnen allen wünsche ich einen angenehmen Tag.


QuoteOF-am-Meer #8.1

Danke dafür, dass Sie hier mit der Mär von der 68er Revolte aufräumen.
Hier (in der neueren Deutschen Geschichtsschreibung) wird so getan, als wäre das eine zig Millionen umfassende Bewegung gewesen.
Die weit übergroße Mehrheit hier hat das bestenfalls schweigend hingenommen, selten mal toleriert, dafür war eigentlich niemand. Viele haben genau das gesagt, Was sie schon geschrieben haben.
Außer die Protagonisten selbst war niemand dafür und für die hat man in Berlin hinter den sieben Bergen ein wunderbares Habitat vorgehalten, wenn der Boden in Hessen oder Ba-Wù oder gar Bayern mal wieder zu heiß wurde ...
Die DDR musste ihre Menschen einsperren.
So viel dazu.


Quote
ZeitGeistGestörter #8.2

(...) in Berlin hinter den sieben Bergen ein wunderbares Habitat vorgehalten ... Die DDR musste ihre Menschen einsperren.(...)

Sehr gut beobachtet!! Erst 70/80 konnte mit dem Freikauf politischer Haeftlinge eine gewisse Reduktion des Druckes im Kessel herbeigefuehrt werden. Die ganzen Diskussionen verkennen aber, das nur die Weltlage die Vorgaenge in den beiden dt. Staaten bestimmte. Keiner der beiden Teile konnte selbstbestimmte Politik machen. In gewisser Weise gilt das noch heute. Die infantilen innerdeutschen Schuldzuweisungen wegen dieser Geschichtsphase sind daher vlt auch ein gewisser sozialer Luxus.
Haette der Ostblock den kalten Krieg fuer sich entschieden, stuenden die westdt. Eliten heute winkend vor den Tribuenen der SED.


QuoteOF-am-Meer #8.5

"Allerdings hat diese Bewegung wohl einiges verändert!"

Verändert hat das die zeitgleich, spätestens um 1970 einsetzende Pensionierungswelle, die per Biologie (Alter) die ganzen Betätigungsstellen von Altnazis gleichsam "gesäubert" hat.
Ende der 1970er Jahre war niemand mehr in den Hochschulen, Ministerien, Gerichten und Amstsstuben usw. vorhanden, der vor 1945 in irgendeiner Weise mit dem NS-Regime verstrickt war.

Hier am Beispiel die TU Darmstadt:

"An vielen Hochschulen fand bis in die 1970er-Jahre hinein keine systematische Aufarbeitung der Verstrickungen in den NS-Staat statt. Das unterstrich bei der Darmstädter Veranstaltung der renommierte Historiker Christof Dipper. Der Grund: Erst zu diesem Zeitpunkt verließen viele Professoren und wissenschaftliche Mitarbeiter endgültig ihren Arbeitsplatz, die noch selbst während der Nazi-Zeit an Unrechtshandlungen der Hochschulgremien beteiligt gewesen waren. Und deswegen kein Interesse an der Aufarbeitung hatten."

,,Wir finden deswegen die erste kritische Selbsterforschung einer Universität am Beispiel Tübingen im Jahre 1977."

https://www.deutschlandfunk.de/tu-darmstadt-spaete-aufarbeitung-der-nazi-vergangenheit.680.de.html?dram:article_id=309869 (https://www.deutschlandfunk.de/tu-darmstadt-spaete-aufarbeitung-der-nazi-vergangenheit.680.de.html?dram:article_id=309869)

Und so war es auch in den Ministerien, Gerichten und Amtsstuben der Republik.

...


QuoteOtto2 #9

So wird das nichts,
wenn man das Leben in der DDR verstehen will. Man kann all die üblen oder belastenden Dinge des Lebens wieder hervorholen und große Fragen feinfühliger stellen als bisher meist üblich.
Wer begreifen will, warum sich wer mit der DDR (inwieweit) identifizierte oder sie ablehnte oder wem das politische System mehr oder weniger egal war, muss anders herangehen.
Das Land existierte 40 Jahre, das ist nicht wenig für ein Menschenleben. Selbst die Bürgerbewegung zum Ende der DDR wollte lange Zeit eine bessere DDR - nicht aber einen Beitritt. So etwas hat doch Ursachen!
Wie könnte es gelingen?
Man müsste sich in die Lage der Menschen dieses Landes - ausgehend von dem, was nach 1945 war - hineinversetzen. Deren Beweggründe für ihr Handeln erfragen, sich deren persönliche Entwicklung beschreiben lassen und vor allem erklären lassen, was sie damals (!) dachten. Ähnlich kann man an die Beweggründe der jüngeren Generationen herangehen.


QuoteDG #10

Für Menschen, die in einer halbwegs freien Gesellschaft leben, ist es schwierig, sich in das Leben in einem totalitären System hineinzuversetzen.
Bei den meisten ist nicht einmal der Wille dazu da, dann ist keine Diskussionsbasis gegeben.
In einer totalen Diktatur können sie entweder mitmachen (25% SED) oder sich in eine private Nische verkriechen (75% Rest) und auf eine reale Chance des Umbruchs warten.


QuoteComputer sagt NEIN #10.1

"entweder mitmachen (25% SED) oder sich in eine private Nische verkriechen (75% Rest) und auf eine reale Chance des Umbruchs warten."

Die Grenzen waren viel fließender.


Quotewatisiti #12

Ich denke, es ist schwierig mit Menschen über ihre Vergangenheit zu reden, wenn sie erwarten dafür verurteilt zu werden. Wenn ihre Erfahrung einfach als Tatsache hingenommen und als Vorlage zum Lernen aus der Vergangenheit genommen werden würde, hätten sich sicher viele geöffnet. Es ist doch wirklich immer noch so, dass der Ostdeutsche als der "Böse" und der Westdeutsche als der "Gute" hingestellt wird. Tatsache ist doch aber, dass Westdeutschland einfach nur Glück hatte von Amerika und England kontrolliert zu werden und der Osten Pech, dass es dort die Russen waren. Auf keiner Seite gibt es bessere oder schlechtere Deutsche. Wir Westdeutschen mussten nicht zwischen der richtigen politischen Einstellung und unseren Familien wählen. In den Fünfzigern gab es zum Beispiel bereits einen Aufstand im Osten, der aber niedergeschossen wurde. Danach überlegt man sich einen Protest, wenn man Familie hat. Das klingt nicht heldenhaft, ist aber menschlich. Ich habe Familie im Osten und konnte auf Anfrage mit ihnen über ihre Vergangenheit offen reden. Ich hatte allerdings auch ehrliches Interesse und habe niemanden verurteilt.


Quoteleioans #12.3

Am Lustigsten fand ich es bei Maischberger, als die Helmut Schmidt fragte,
warum er nicht so ein Widerstandskämpfer wie die Geschwister Scholl war.
Da hat es der "Schmidt-Schnauze" doch die Sprache verschlagen. Was hätte
er ihr auch antworten sollen? Ob sie sich lieber mit seinem Grabstein unterhalten würde...


QuoteZeitGeistGestörter #13.12

(...) Wollen Sie trotzdem hören, wie es für MICH in der DDR war?(...)

Nein, das [...] wollen auch die Meinungsfuehrer/macher nicht. Das Bild der DDR zeichnen die 2-3% inhaftierter Buergerrechtler und Guido Knopp gibt das dann mit inbruenstigem Grinsen in den moralischen Geschichtsmixer, fragt, bevor er auf den Knopf drueckt, rhetorisch nach: "Stasi, Mauer, SED-Apparat - war das nicht FURCHTBAR?!!" Dazu ein paar Interviews mit Querulanten und Zeitzeugen aus DDR-Gefaengnissen; Fertig ist der Unrechtsstaat.

Sicher, das gab es alles und viele haben gelitten - aber es war nicht die Erfahrung des normalen DDR-Buergers. Der Staat mischte sich subtil in die Biografien ein. Drei Jahre NVA, nein? Dann kritisieren sie aber bitte auch nicht die Wohnraumvergabe, wenn sie eine Familie gruenden!.. So in etwa lief das. Niemand kam wegen so einer Verweigerung in den Knast - Wenn man aber im Wehrkreiskommando Honneckerwitze machte, war das eine naive Dummheit.


QuoteThür #14

Jeder Ostdeutsche hat seine eigenen Erfahrungen in der DDR gemacht, gute und schlechte. Jeder Westdeutsche hat seine DDR-Erfahrungen nur von Außen betrachtet machen können. Das macht den Unterschied. Deshalb wird es den Westdeutschen nie ganz gelingen die besondere Lebensweise und Erfahrungen nachzuvollziehen, ...


QuoteIgelstachelbart #20

"...wenn man will, dass sich viele Menschen in diesem Land beteiligt und in ihrer Lebensleistung respektiert fühlen, braucht man den Dialog."

Da hilft kein Dialog. Unterschiedliche Lebenserfahrungen lassen sich nicht einfach "wegquatschen". Es müssen auch nicht alle stromlinienförmig ausgerichtet werden.
Respektvoller Umgang reicht und die Akzeptanz des Andersseins. Das ist auch eine Form der kulturellen Vielfalt.


QuoteLapis Revolvendus #24

In der Aufarbeitung gibt es keinen Unterschied zwischen den deutschen Diktaturen.


Quote
Thomas Coltran-Jazzsaxer #27

Eine Erbsünde haben Ost und West gemein: Das Nazi-Regime.
Das direkt nach einer Diktatur die Menschen in der DDR in die Nächste geschickt, das sich Arrangieren Usus war, darf und soll nicht überraschen. Diese perfide "Unschuld" soll mindernd wirken! Kaiserreich, kaum zeitlich wahrnehmbar "Weimar", dann direkt 3. Reich und gleich darauf DDR. Das korrumpiert viele. Insofern muss "Mit "LEID"" den Menschen gedacht sein, die diese Straflager DDR überstanden haben und relativiert Mitläufertum zu traurigem: "Was sollten wir denn machen".
Das ist die grausame Tragik des Lebens in Diktaturen, die Gratwanderung des Gewissens, jeden Tag. Ein unglaublicher Druck, den ich als 1960 ziger Wessi erst beginne zu verstehen. Gerade im Gespräch mit Alten und Jungen!


QuoteComputer sagt NEIN #27.2

... Die DDR darf, trotz aller Defizite, nicht mit dem 3. Reich vergleichen werden. Das ist ein Fehler, wenn man Ostdeutsche erreichen will. Das ist ein Fehler, der das 3. Reich unfreiwillig verharmlost.
2. Fehler in der Kommunikation, der Vorwurf: viele waren korrupt, konnten ja gar nicht anders. Kennen Sie Ostdeutsche, die das von sich behaupten? Das sind doch immer die anderen, stimmts? Wer erzählt denn wirklich alles?
Zwischen Straflager und Mitläufertum gab es schon noch ein paar Graustufen.


...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 19, 2020, 10:35:02 AM
Quote[...] Regelmäßig veröffentlicht der Online-Sexfilmdienst Pornhub seine Statistiken – und die verraten viel über die Gesellschaft: dass Menschen scharenweise Sex anschauen, wenn ein Virus ausbricht. Oder: dass in allen ostdeutschen Bundesländern weniger Porno geschaut wird als im Westen.

...


Aus: ",,Porno hilft gegen Angst"" Elsa Koester (Ausgabe 31/2020)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/porno-hilft-gegen-angst (https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/porno-hilft-gegen-angst)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 24, 2020, 09:42:27 AM
Quote[...] Sozialpolitik wurde in der DDR als Korrektur von Deformationen verstanden, die allein im kapitalistischen Gesellschaftssystem vorkämen. Im Sozialismus hingegen geschähe alles zum Wohle und im wahren Interesse des Volkes. Erst mit Beginn der Ära Honecker 1971 fand der Begriff Sozialpolitik Eingang in die Politik der SED. Vom 15. bis 19. Juni 1971 tagte der VIII. Parteitag der SED. Diese alle 5 Jahre staatfindende Großveranstaltung der SED formulierte die politischen Schwerpunkte der kommenden Jahre. Das sozialpolitische Programm wurde mit der Formel planmäßigen Steigerung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes umschrieben. Das Kernstück dieses Programms lautete: Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990 . Es sollten 3,5 Millionen Wohnungen neu errichtet oder von Grund auf saniert werden. Das Ziel dieses Programms hieß: Jedem eine warme, trockene und sichere Wohnung!

Es herrschte Wohnungsmangel, nicht selten Wohnungsnot in der DDR. Obwohl von 1949 bis 1961 mehr als 3 Millionen Menschen die DDR gen Westen verlassen hatten, blieb Wohnraum eine Mangelware. Junge Eheleute fanden keinen Wohnraum, mussten getrennt in den Haushalten ihrer Eltern leben. Geschiedene mussten sich weiterhin die gemeinsame Wohnung teilen. Sich vergrößernde Familien mussten enger zusammenrücken. Der Wohnungsstandard in vielen Altbauten lag nahe an oder gar unter der Zumutbarkeitsgrenze. Wohnungsneubauten entstanden nur punktuell, nämlich dort, wo industrielle Schwerpunkte errichtet wurden. 1950 wurde der Bau eines Eisenhüttenwerkes an der Oder in Angriff genommen. Das Motto hieß Stahl – Brot – Frieden.

... Dem Bombenkrieg waren viele Wohnungen durch Zerstörung oder Beschädigung zum Opfer gefallen. Der DDR fehlte die wirtschaftliche Kraft für einen wirksamen Wiederaufbau. Die Siegermacht Sowjetunion forderte Reparationen, die bis in die 50er Jahre hinein von der DDR erbracht werden mussten. So flossen demontierte Maschinen und Gleisanlagen, Waren aus der laufenden Produktion und Geldmittel im Wert von geschätzten 16 Milliarden US-Dollar aus der Sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR ab. Durch die Teilung Deutschlands war die DDR von schwerindustriellen Zentren abgeschnitten. Zum Aufbau einer eigenen Schwerindustrie wurden langfristig Geld, Baumaterialien und Arbeitskräfte gebunden, für einen flächendeckenden Wohnungsbau blieb wenig übrig.

... Die Politik der SED verfolgte das Ziel, dass niemand sich durch Immobilienbesitz bereichern sollte. So wurde schon 1945 ein Mietstopp verfügt, der auf äußerst niedrigem Niveau lag und bis zum Ende der DDR beibehalten wurde. Die staatlich festgesetzten Mieten galten für jeglichen Wohnraum, unabhängig davon, ob es sich um privates, genossenschaftliches, kommunales oder staatliches Eigentum handelte. Die Mieteinnahmen waren so niedrig, dass notwendige Reparaturen kaum und Modernisierungen überhaupt nicht bezahlbar waren. Die Leidtragenden waren vor allem die privaten Hausbesitzer und deren Mieter. Aber auch der Altbaubestand im kommunalen oder staatlichen Besitz war dem Verfall preisgegeben. Es fehlte an Geld, an Baustoffen und an Arbeitskräften. Der Volksmund fand für diese unwürdigen Zustände die treffende Bemerkung: Wenn du deine Erben ärgern willst, hinterlasse ihnen ein Haus! In der DDR gab es keinen freien Wohnungsmarkt, auf dem sich Anbieter und Nachfrager hätten treffen können. Aller Wohnraum war staatlich erfasst. Jede Gemeinde verfügte über ein Amt für Wohnungswesen, das allein für die Vergabe von Wohnungen zuständig war. Die Größe der Wohnung war nicht in das Ermessen der Mieter gestellt, auch dafür galten staatliche Vorgaben. Eine vierköpfige Familie hatte Anspruch auf rund 60 Quadratmeter Wohnfläche.

Die positive Kehrseite der niedrigen Mieten kam den Mietern zugute. Im Monatsbudget spielten Miete und Kosten für Grundnahrungsmittel eine Nebenrolle. Die Mietpreise lagen je nach Zustand und Ausstattung einer Wohnung zwischen 0,40 und 1.20 Mark der DDR. Unverändert seit 1945 kostete das einfache Brötchen 5 Pfennige und das Pfund Brot 26 Pfennige, staatliche Subventionen machten es möglich. Die Löhne und Gehälter waren wie die Preise staatlich festgeschrieben. Wer sich über zu niedrige Arbeits- oder Renteneinkommen glaubte beschweren zu müssen bekam zur Antwort, er bekomme durch niedrige Mieten und Preise für den Grundbedarf eine zweite Lohntüte ausgehändigt.

... Dass der Wohnungsbau nach dem VIII. Parteitag der SED 1971 zum Schwerpunkt wurde, hatte auch mit dem Wechsel in der Partei- und Staatsführung von Walter Ulbricht zu Erich Honecker zu tun. Der neue Mann wollte und musste sich profilieren. Er rückte die Sozialpolitik in den Mittelpunkt der politischen Arbeit und rechnete wohl damit, dass die Anerkennung millionenfacher individueller Bedürfnisse in der Rückwirkung mehr Zustimmung der Bürger zu seiner Politik bewirken könnte. In offiziellen Verlautbarungen erschien als Begründung für die Neuorientierung immer wieder das Argument, die wirtschaftliche Kraft der DDR sei so gewachsen, dass nun diese große, gesellschaftliche Aufgabe in Angriff genommen und bewältigt werden könne. Das Baugeschehen vollzog sich auf drei Ebenen: Neubauten in Form industrieller Bauweise, nämlich als Plattenbauten, waren zu errichten, Altbauten waren zu rekonstruieren und zu modernisieren und Eigenheime als Einfamilienhäuser für kinderreiche Familien sollten errichtet werden. Plattenbausiedlungen entstanden an den Rändern der Städte, Monotonie und Anonymität solcher Siedlungen wurden in Kauf genommen, ökonomische Erfordernisse rangierten vor sozialen und wohnkulturellen Wünschen. Die Rekonstruktion der Altbauten erfolgte nach dem Takt- und Fließstreckenverfahren. Die Häuser eines Straßenzuges oder eines Quartiers wurden wie am Fließband, Takt für Takt, erneuert. Vom Dach über den Innenausbau und die Fassade erfolgte grundlegende Renovierung und Modernisierung. Eigentumsverhältnisse spielten eine untergeordnete Rolle, private Eigentümer wurden zu den Kosten herangezogen, die Staatsbank stellte günstige Kredite oder zinslose Darlehen zur Verfügung.

Mit dem Ende der DDR begann eine völlige Neuorientierung im Wohnungsbau. Der Eigenheimbau wurde forciert und die Sanierung der Altbausubstanz voran getrieben. Die Plattensiedlungen verloren viele Mieter. Zahlreiche Häuser wurden abgerissen oder zurückgebaut. Die Eintönigkeit wurde durch Fassadengestaltung gemildert, der Innenausbau und Isolierung auf neuesten Wohnkomfort angehoben. Die Ämter für Wohnungswesen verschwanden, der freie Wohnungsmarkt etablierte sich und die Mieten orientieren sich seit-her am Angebot und an der Nachfrage.

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Aus: "Alltag in der DDR - Wohnen" Gerald Syring (2009)
Quelle: https://www.planet-schule.de/wissenspool/alltag-in-der-ddr/inhalt/hintergrund/wohnen.html (https://www.planet-schule.de/wissenspool/alltag-in-der-ddr/inhalt/hintergrund/wohnen.html)

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Quote[...] Stefan Kunath: Kaum ein Gebäudestil steht mehr für den Osten als die Platte. In Ostdeutschland wurden die leerstehenden Platten nach der Wende vielerorts rigoros weggerissen. Nur ihrer massenhaften Verbreitung ist es zu verdanken, dass sie aus dem ostdeutschen Stadtbild auch 25 Jahre nach der Wende nicht wegzudenken ist. Doch die Platte und ihre Bewohnerinnen und Bewohner haben einen schlechten Ruf. Zu Unrecht, findet Rüdiger Hahn. Er ist Kulturwissenschaftler und interessiert sich neben den architektonischen Aspekten vor allem für die historischen, sozialen und ästhetischen Gesichtspunkte der Platte. Er behauptet, dass sich anhand der Platte exemplarisch die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten von Ost und West ablesen lassen. Unter anderem führte er Stadtspaziergänge in Berlin Friedrichsfelde für das Bürgerbegegnungszentrum Quatschtrommel durch. Dort befindet sich Deutschlands älteste Siedlung in Plattenbauweise. Die Besonderheit an diesen Spaziergängen war, dass nicht er, sondern vor allem die Bewohnerinnen und Bewohner der Plattenbausiedlungen zu Wort kamen.

Mit Rüdiger Hahn traf ich mich an einem lauen Nachmittag im Mai, natürlich in einer Plattenbauwohnung, die sich in Berlin-Mitte befindet, ganz nah an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Kaum in der Wohnung angekommen, fällt Hahn sofort die Durchreiche zwischen Küche und Wohnzimmer auf. Diese ist typisch für Plattenbauten, sagt er. Eigentlich sollten Kochen und Wohnen zusammengelegt werden. Doch diese Idee ist seinerzeit bei der Bevölkerung nicht auf Gegenliebe gestoßen. Die Durchreiche ist deshalb ein Kompromiss. Weil viele Plattenwände keine tragende Funktion haben, wird die Durchreiche heute teilweise weggerissen, um auf individuelle Wünsche heutiger Mieterinnen und Mieter einzugehen. Vor dem Interview räumt Rüdiger Hahn also gleich mit einem Vorurteil auf: Die Platte ist gar nicht so sehr standardisiert, wie immer angenommen, sondern die Wohnungen haben ein hohes Maß an Flexibilität und Variabilität. Doch unser Interviewort ist trotz Durchreiche nicht mehr ganz authentisch, schließlich fehlt der Originalboden, den Hahn als ,,ekelhaft, weich" in Erinnerung hat.

Welche Assoziationen haben Sie, wenn Sie den Begriff ,,Platte" hören?

Rüdiger Hahn: Na gut, wo ich schon mit der Materie befasst bin, habe ich natürlich schon die Assoziation vom Großtafelbau, also Platte im Sinne einer technologisch gefertigten Platte. Ich habe die Assoziation DDR beziehungsweise Ostdeutschland, denn das ist schon miteinander verbunden. Auf andere Länder aus meiner Sicht übertragen funktioniert der Begriff einfach nicht mehr, auch wenn man Parallelen findet.
Das ist das, was mir sehr häufig begegnet ist: Viele Menschen identifizieren sich sehr stark mit dem, was sie unter Platte verstehen, das heißt mit der Architektur und mit den hauptsächlich existierenden Großwohnsiedlungen. Das ist meines Erachtens etwas, das deckungsgleich in ganz Ostdeutschland ist.

Stefan Kunath: Was hat Sie dazu gebracht, sich mit der Platte auseinanderzusetzen? Was ist so besonders an der Platte?

Rüdiger Hahn: Da gibt es jetzt mehrere Ebenen: Erstmal bin ich selbst ein Kind der DDR und ich bin Teil der Nachwendegeneration, auch wenn ich nicht in der Platte groß geworden bin. Ich habe zwar eine gewisse Distanz zum Thema und zu den Zeiten. Aber ich kann mich irgendwo auch damit identifizieren und das macht das ganze Feld über die Nachwendezeit und DDR-Geschichte für mich interessant. Ich habe zwar eine andere Perspektive als meine Eltern, aber ihre Perspektive kenne ich zu einem gewissen Punkt auch aus eigenen Erfahrungen.
Das zweite Feld ist, dass ich in Frankfurt (Oder) auf die Platte gestoßen bin. Ich komme aus einer ostdeutschen Kleinstadt, da hatte ich mit der Platte nicht so viel zu tun. Das war dort alles mittelalterliches Gemäuer. Ich bin dann tatsächlich in Frankfurt auf die Platte gestoßen. Ich habe da zum ersten Mal selber in einer Platte gewohnt, in der Großen Scharrnstraße im Zentrum von Frankfurt. Ich habe mich dann auch im Verein Studierendenmeile [https://studierendenmeile.weebly.com/ (https://studierendenmeile.weebly.com/)] engagiert, der in diesen leerstehenden Plattenbauten und in den Ladenlokalen, die dort im Erdgeschoss sind, eben versucht hat, Kunst- und Kulturleben dort zu etablieren und zugleich die Verbindung zur Uni zu wahren, um eben auch dieses studentische Leben da unter zu bringen. Aus meiner Sicht waren dafür die Plattenbauten in Frankfurt hervorragend geeignet, eben weil sie leer standen. Ich habe dann dort die Erfahrung gemacht, dass die Menschen in Frankfurt und gerade diejenigen in der Großen Scharrnstraße, dass sie da sehr genau und sehr interessiert darauf schauen und fragen, was passiert denn da? Sie kannten das alles noch aus DDR-Zeiten und sie haben sich tierisch geärgert, dass die Straße jetzt so verfällt und leer steht. Da habe ich gemerkt, wie wichtig das Thema für die Menschen ist, die dort leben und dort groß geworden sind und über die Zeiten und Zeitenwenden die Entwicklungen beobachten. Da dachte ich, das ist ein interessantes Gebiet, das offensichtlich noch nicht so im Fokus der Öffentlichkeit und der Wissenschaft steht. Da wollte ich mit meiner kulturwissenschaftlichen Perspektive beitragen.

Stefan Kunath: Sie sagen, die Platte ist Teil der ostdeutschen Identität und dass die Menschen im Osten zumindest mit der Platte vertraut sind. Aber inwiefern ist denn die Platte nicht auch typisch für den Sozialismus? Es gab schließlich Plattenbau nicht nur in der DDR, sondern auch in anderen ehemaligen Ostblock-Staaten oder im ehemaligen Jugoslawien.

Rüdiger Hahn: Sie ist insofern typisch für den Sozialismus, als dass die Verbreitung der Platte in sozialistischen Staaten weiter ist als in nicht-sozialistischen. Das hat hauptsächlich mit den politischen Rahmenbedingungen zu tun: Wenn ich eine zentral gesteuerte Wirtschaft und Politik habe, kann ich leichter größere Siedlungen bauen, was in kapitalistischen Staaten schwieriger ist, wo Grund und Boden in Privatbesitz sind. Man hat dort kleine Zellen, die man erst zu einer großen zusammenfügen muss, was sehr schwierig ist, um größere Siedlungen zu bauen. Da waren die Voraussetzungen in den sozialistischen Staaten anders und das verbindet sie auch. Was die DDR nach meinen Kenntnissen recht einzigartig macht an der Stelle ist der Grad der Typisierung.
In Polen sieht man zum Beispiel eher die Siedlung, mit der man sich identifiziert und weniger die Typen der Platte. Nach meinem Erfahrungsstand ist in Ostdeutschland die Identifikation mit dem jeweiligen Typus der Platte höher.
Mich interessiert aber auch die Westperspektive. In den Großwohnsiedlungen in Berlin in Gropiusstadt oder im Märkischen Viertel waren die grundsätzlichen Ideen am Anfang die gleichen. Das geht auf eine gleiche Entwicklung zurück: Also schneller Wohnraum plus die Paradigmen der Moderne. Ich denke an die Charta von Athen unter anderem von Le Corbusier. Da berufen sich Ost wie West darauf. Also die geistesgeschichtliche Entwicklung ist zumindest bis in die 1970er Jahre identisch und knüpft aneinander an. Also die Ideen von Satellitenstädten und der autogerechten Stadt, das ist hier wie da gewesen. Auch im Westen wurde es anfangs als Verbesserung der Wohnverhältnisse verstanden, natürlich. Wenn man sich die Wohnverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg anschaut, ist es auch so gewesen.

Dann gab es dahingehend im Westen den Bruch, wo nach meinen Kenntnissen die Regierungen durch politische Instrumente die Großwohnsiedlungen nicht mehr weiter gefördert haben, sondern dann der Eigenheimbau gestärkt wurde. Das wurde dann zum vorherrschenden Bild und zum Ziel des Einzelnen, dort zu wohnen. Damit wurde natürlich der Plattenbau oder die Großsiedlung massiv abgewertet. Dieser Schritt wurde im Osten nicht vollzogen. Das gab es nicht, dass man gesagt hat, zieht in Einfamilienhäuser. Es ist ein interessanter Aspekt, den ich aber noch nicht überblicken kann, wie eben heute Menschen in diesen Großsiedlungen im Westen das sehen.

Ich bin mir relativ sicher und ich habe es auch schon gehört, das man auch in Gropiusstadt in Westberlin noch Menschen findet, die schon von Anbeginn der Zeit dort wohnen und vielleicht auch gerne dort wohnen. Aber die Frage ist, wie verbunden sind sie mit ihrem Viertel? Und wie stark ist diese Verbindung? Und wie sieht sie aus vom Charakter her? Das kann ich aber nicht beantworten.

Stefan Kunath: Sie sagen, dass sich anhand der Platte verschiedene Diskurse in Ost und West festmachen lassen. Die Platte stehe stellvertretend für Differenzen und Probleme, aber auch für das Gelingen im Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten.

Rüdiger Hahn: Mir fallen spontan die Stereotype ein, die an der Platte hängen und die ich bezogen auf meine Vortragsreihe auch annahm und die sich dann auch bestätigt haben. Hierzu gehört, dass die Menschen in der Platte zumindest in Berlin, und ich nehme an, auch woanders in Ostdeutschland, unter einem Stigma leiden. Das muss man fast sagen. Ich habe wirklich das Gefühl gehabt, sie leiden ein bisschen darunter. Es ist dieses Stigma, das industriell gefertigten Bauten im Westen anhängt, dass sie nämlich sozial schwache, prekäre Milieus beherbergen und mit Gewalt und Verbrechen in Verbindung gebracht werden. Das ist zwar durchaus eine reale Entwicklung, die aber erst später kam. Aber im Westen ist das bis heute vorherrschend. Also wenn man in Berlin von der Gropiusstadt spricht, kann man dann die Menschen mal fragen, was sie damit verbinden. Das ist hauptsächlich Gewalt und Verbrechen und Armut. Und das wurde nach meinen Annahmen und meinen Erfahrungen in den 90er Jahren übertragen auf diese ostdeutschen Plattenbausiedlungen, wo dieses Bild aber gar nicht bekannt war und auch nicht auf Fakten traf. Die Realität sah gar nicht so aus. Und da haben sich dann die Menschen schon sehr herabgesetzt gefühlt. Und sie haben dann, ich sage mal, so eine Art kollektiven Minderwertigkeitskomplex entwickelt, der nicht nur in Bezug zu Plattenbauten existiert, sondern auch in anderen Themenfeldern vorherrscht.

Deswegen sage ich, dass die Platte für diese Diskurse stellvertretend steht. Das ist ein Feld, wo man die Stereotype anhand der Platte festmachen kann. Ich habe jetzt häufig die Erfahrung gemacht, dass die Menschen ihre Platte noch viel heftiger verteidigen, weil sie eben immer der Kritik ausgesetzt war von außen und sie jetzt immer sehr, sehr stark sagen, nein, das ist schön hier! Wir wohnen gerne hier! Und das überbetonen sie dann, dass es keine Gewalt gibt und dass ihr Wohngebiet ordentlich und sauber ist. Manchmal wird da schon zu viel Achtsamkeit darauf gegeben.

Stefan Kunath: Es gibt schon viele ostdeutsche Großsiedlungen, wo die Menschen diese Siedlungen verlassen haben in den 90ern und 2000ern und insofern frage ich mich, ob es nicht auch Herausforderungen der Transformation gibt, die man anhand der Platte festmachen kann. Ich denke an das Schrumpfen der Städte, den Stadtumbau Ost, wo vor allem die Platten abgerissen werden.

Rüdiger Hahn: Diese Entwicklung sehe ich. Woran das liegt, kann ich dir nicht sagen. Aber es war natürlich so, dass sich das vorherrschende Paradigma in Bezug auf Stadtentwicklung im Westen schon in den 80er, wenn nicht schon in den 70er Jahren verändert hat. Dort ging die Entwicklung zu einer Verdichtung der Innenstädte. Das ist das, was bis heute anhält, dass Menschen wieder eher im Zentrum leben wollen und nicht in Peripheriestädten, die draußen vor den Toren der alten Städte stehen. Das hat sich auf den Osten einfach übertragen. Durch die Abwanderung, die natürlich Fakt war und auch noch ist in einigen Gebieten, war es natürlich so, dass zuerst diese Großsiedlungen leer gezogen wurden. Aber ich denke, das hängt wirklich mit diesem vorherrschenden Paradigma zusammen.

Stefan Kunath: Böse Zungen würden behaupten, so schnell wie die Platte entstanden ist, so schnell verschwindet sie auch wieder.

Rüdiger Hahn:  In einigen Städten ist es so. Das ist richtig. Ich sage mal, etwas, das nicht historisch gewachsen ist, sondern auf diesen Bildern der Moderne, also aus den 20er Jahren zurückführend, entstanden ist, und das nicht 1000 Jahre alt ist, sondern 50, das kann man natürlich auch wieder einfacher beseitigen. Da sind weniger Gefühle mit verbunden. Das ist so diese Assoziation: Ein 500 Jahre altes Gebäude abzureißen ist wesentlich schwieriger als ein Gebäude, das 50 Jahre alt ist. Das ist rational betrachtet absurd, weil eigentlich das viel länger stehen müsste, was neu ist.

Stefan Kunath: Wer lebt denn heute in der Platte? Was gibt es für Typen von Plattenbaubewohnern? Und warum finden diese Leute die Platte attraktiv?

Rüdiger Hahn: Was ich in Berlin sehe, gerade in Ostberlin, hat man auf der einen Seite diese alten Plattenbaubewohner, die wirklich seit Anbeginn der Gebäude dort wohnen. Das sind wirklich Erstbewohner. Das fand ich interessant, dass da mir sehr viele begegnet sind, die Ende der 60er, Anfang der 70er dort eingezogen sind und bis heute da wohnen. Manche haben die Wohnung nochmal gewechselt, weil jetzt saniert wurde und Aufzüge eingebaut wurden oder sie barrierefreie Wohnungen brauchten. Aber die, die ich auf meinen Stadtspaziergängen getroffen habe, sind auch in der Wohnung geblieben beziehungsweise fast im gleichen Haus oder im Viertel zwei Häuser weiter. Das ist ein Typ. Das Gegenläufige:      Man sieht heute, zumindest in Berlin und in Polen ist es mir auch schon begegnet, dass die Platte zu einem Phänomen geworden ist, das hip ist. Dass es also auch wirklich junge Leute gibt, die gar nichts mit der DDR zu tun haben. Die sagen, das sind moderne Gebäude, die minimalistisch sind und dann entsprechend drin leben. Die diesen Betoncharakter mögen, die den Kontrast mögen zum Grünen, das draußen ist. Man wohnt in einem sehr einfachen und zurückhaltenden Raum, hat aber gleichzeitig draußen die Natur. Das ist ein starker Gegensatz und das ist etwas, was viele als hippen Faktor sehen und deswegen in die Platte ziehen.

Natürlich ist es auch eine Preisfrage, in Berlin-Mitte aber nicht mal mehr das. Da sind die Mieten schon fast auf Altbauniveau. Und man hat natürlich auch, das darf man nicht verschweigen, gewisse Gebiete wie zum Beispiel Berlin-Marzahn, wo sozial prekäre Milieus wohnen, wo fast ausschließlich Hartz-IV-Empfänger wohnen und wo auch, was meine persönliche Erfahrung ist, die Wohnungsbaugesellschaften das zum Teil befördern, indem sie andere Blocks sanieren und dadurch Hartz-IV-Empfänger verdrängen in Blocks, die nicht saniert sind. Zum Beispiel wird an einem Block ein Aufzug angebaut und dadurch hat man natürlich höhere Mieten, die das Jobcenter nicht mehr bezahlt. Das ist eine Entwicklung, die ich in Marzahn, Hellersdorf kenne ich nicht so gut, durchaus beobachtet habe.

Stefan Kunath: Vom Außenbild könnte man auch denken, im Grunde genommen geht es um die Idee der Gleichheit, aber offensichtlich ist dieser utopische Anspruch, dieser visionäre Anspruch auch gestorben dadurch, dass ein sozialistischer Gedanke nicht mehr prägend ist in der Wohnungswirtschaft.

Rüdiger Hahn: Ich bin relativ skeptisch, was die Idee der Gleichheit angeht, ob das wirklich so vorherrschend war oder noch ist. Es war natürlich zumindest auf die DDR bezogen der Fall, dass man gesagt hat, Wohnraum ist erstmal ein Grundbedürfnis. Das müssen wir sicherstellen. Und wir wollen allen, ich sage mal, ähnliche Wohnverhältnisse ermöglichen. Dafür steht die Platte. Was dagegen spricht ist, dass man rein theoretisch in diesen Plattenbauten völlig unterschiedliche Wohnkonzepte verwirklichen kann. Das heißt, es gibt von Ein-Raum-Wohnungen bis zu großen Wohnungen mit fünf oder sechs Zimmern alles. Und das widerspricht eigentlich diesem Bild der Gleichheit.

Man darf sich glaube ich nicht täuschen lassen von dem, was man von außen sieht. Von außen hat man schon eine strikte Formsprache, das häufig auf ein Raster oder ein Muster zurückgeht. Aber im Inneren muss das nicht immer alles gleich sein. Es ist nur, dass ich meinen Wohnstatus nicht nach außen kehre, aber im Inneren ist da durchaus sehr viel individueller Spielraum, und auch früher schon gewesen. Es waren natürlich auch die Politik und die wirtschaftlichen Verhältnisse, die dem entgegen gewirkt haben. Ich nenne den Wohnraummangel, den wir heute auch wieder haben. Es war eine scheinbare Gleichheit. Es gibt mit Susanne Hopf und Natalia Meier auch zwei Künstlerinnen, die diese Plattenbauwohnungen immer im gleichen Typ fotografiert haben, vom gleichen Grundriss sogar. Und dann sieht man, wie unterschiedlich die Wohnungen auch sind und wo man auch einen sehr unterschiedlichen Charakter festmachen kann. Da ist von Gleichheit nichts zu sehen.

Stefan Kunath: Sie haben das Thema Platte und Kunst angesprochen. Darauf würde ich gerne noch etwas mehr eingehen. Es gibt zwar die Phänomene von Wegzug und Abriss. Aber es gibt auch die Ideen von Recycling und der Stärkung der Zivilgesellschaft in diesen Großwohnsiedlungen. Daraufhin sind auch viele Kunstprojekte entstanden.

Rüdiger Hahn: Erst kürzlich habe ich über Paul Eis [https://www.paul-eis.com/ (https://www.paul-eis.com/)] gelesen, der Plattenbauten fotografiert und dann einfach koloriert, was erstmal sehr simpel klingt. Aber da ist natürlich dieses Raster, was immer gleich ist: Das zieht Künstler an, um dann da Vielfalt reinzubringen oder damit irgendwas anzustellen. Ich glaube, solche monotonen Formen sind für Künstler sehr interessant, weil man da viel machen kann und es verändern kann.

Das ist ja auch das, was man sieht, wenn man draußen rumgeht. Ich weiß nicht, ob man da von Kunst sprechen kann, aber das, was die Wohnungsbaugesellschaften zum großen Teil machen, aus meiner Sicht manchmal gelungen, manchmal auch nicht, vom Platten einfärben über das Anfügen eines neuen Musters bis hin zu Wein und Laub oder gar große Murals. Gerade in Berlin hat man da sehr viel, was Kunst am Bau ist. Es ist eine große Fläche, die präsent im Stadtbild ist. Warum sollte man die nicht für Kunst nutzen? Es zieht Kunst sehr stark an. Es ist prädestiniert dafür. Das ist Kunst im öffentlichen Raum, die damals wie heute gefördert wird: Das ist auch etwas, was durchaus Anspruch der DDR war, dass ein oder zwei Prozent der Baukosten in Kunstwerke mit zu investieren waren. Soweit ich das weiß, wurde das auch bis zum Ende durchgezogen. An der Kunst wurde nicht gespart. Auch heute ist es ähnlich, dass ein paar Prozente des Budgets im Wohnungsbau in Kunst im öffentlichen Raum investiert werden müssen.

Stefan Kunath: Nun, wo wir schon  über Gegenwart und Vergangenheit der Platte gesprochen haben, frage ich mich, wie sehen denn die Zukunftsaussichten der Platte aus?

Rüdiger Hahn: Das ist eine gute Frage. Was ich im Rahmen der Vortragsreihe mitgenommen habe, aber auch aus einem Gespräch mit einem Architekten, ist das Potential der Platte auf dem Gebiet der Nachhaltigkeit.
Die Meinung vieler Architekten und Materialwissenschaftler ist, dass die industriell angefertigten Platten ein sehr hochwertiges Bauelement sind. Damals wurde sehr viel Energie in die Produktion der Platten verwendet und man kann die Platte im Grunde über mehrere hundert Jahre verwenden. Deshalb ist es im Prinzip nicht nachhaltig, die Platten zu zerstören und zu Schotter zu machen, weil sie energetisch gar nicht so schlecht sind.
Ein Architekt meinte, und das fand ich interessant, der hatte da gar nicht erst den Blick darauf, aber er ist im Verlaufe der 80er Jahre darauf gekommen, dass die Häuser auch von ihrer Struktur her sehr gut angelegt sind, was die Energieeinsparung angeht. Die ganzen wärmeerzeugenden Elemente sind im Hausinneren. Das heißt, die Wärme, die aus Küchen und Bad kommt, strahlt nicht direkt nach außen, sondern heizt die Wohnung. Und das Raster von sechs Metern beziehungsweise zwölf Metern ist ziemlich günstig, weil das Verhältnis von Innenwänden zu Außenwänden ein sehr gutes ist, was man selten hat, und es dadurch zu geringen Wärmeverlusten nach außen kommt. Außerdem sind aus technologischer Sicht die Platten, die nach außen gehen, recht gut gedämmt. Ich glaube schon, dass das für die Zukunft ein Argument ist. Die heutigen Platten sind auf jeden Fall nachhaltiger als diese Wohnungen, wo jeder sich ein eigenes Häuschen baut. Und natürlich stellen sich beim Diskurs über den Wohnraummangel, den wir heute haben, die gleichen Fragen, die sich nach dem Krieg in den 50er und 60er Jahren gestellt haben: Wie können wir relativ schnell für viele Menschen an einem Ort viel Wohnraum schaffen? Da ist industrielles Bauen zumindest wieder ein potentieller Lösungsweg.

Stefan Kunath: Abschließend würde ich gerne wissen, wo denn Ihrer Meinung nach die schönsten Platten stehen.

Rüdiger Hahn: (lacht) Ich denke sehr wenig in solchen Superlativen. Die schönsten Platten? Wir können uns mal aus Deutschland rausbewegen, auch wenn ich grundsätzlich sagen muss, dass die Plattenbauten aus der DDR recht schön sind, weil sie schlicht sind. Ich bin ein Anhänger der sehr einfachen und sehr schlichten Sachen. Den Plattenbauten wird sehr häufig ihre Monotonie vorgeworfen, aber ich mag diese Monotonie, die man dann vielleicht irgendwie durchbricht mit Farbe oder was auch immer, aber man hat ein klares Raster und das finde ich grundsätzlich erstmal schön. Was dem dann ein bisschen entgegensteht sind häufig Plattenbauten in Polen, die dann doch zum Teil sehr verspielt und auch manchmal sehr futuristisch sind. Man hat dann interessante Einfälle gehabt, wie man die Balkonbrüstungen gestaltet. Zum Teil ist das rund, zum Teil ist das nach außen gewölbt. Dann hat man auch ganz andere Raster mit ganz einfachen Veränderungen. Das finde ich schon sehr spannend, weil das diesem Monotonie-Vorwurf entgegenwirkt. Es gibt ein Beispiel in Wrocław, wo es große Plattenbausiedlungen gibt. Einige Wohnungen sehen aus wie Raumschiffe (lacht). Die finde ich sehr, sehr schön und sehr, sehr spannend.

Um den Berliner Gendarmenmarkt herum gibt es auch Plattenbauten, was mir gar nicht so bewusst war. Die finde ich schon sehr schick. Das sind Plattenbauten, so wie das Nikolaiviertel auch. Das ist eine andere Phase des Plattenbaus. Wenn wir jetzt von diesen Großwohnsiedlungen wegschauen, das ist alles in den 1980er Jahren entstanden, wo dann auch in der DDR dieses Paradigma vom Streben in die Innenstädte aufgegriffen wurde. Das ist der postmoderne Plattenbau, wo man eine Stilsammlung versucht hat. Das industrielle Bauen wurde verbunden mit historischen Straßenzügen und historischen Formen, die aber keine Kopie waren. In der Hinsicht ist es schon interessant, wenn auch nicht in jedem Fall schön aus meiner Sicht.

Das hat man nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Städten, wo dann in den 80er Jahren die Innenstädte wieder mit Plattenbauten errichtet wurden, dann zum Teil nur dreistöckig oder noch kleiner.

...


Aus: "Plattenbau trifft auf Kulturwissenschaften" Einleitung und Fragen von Stefan Kunath (8. November 2017)
Quelle: https://www.ost-journal.de/plattenbau-trifft-auf-kulturwissenschaften/ (https://www.ost-journal.de/plattenbau-trifft-auf-kulturwissenschaften/)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 06, 2020, 09:14:15 PM
Quote[...] Als ich auf dem Parkplatz vor der Schule aus dem Auto steige, mustert mich ein älterer Mann.

"Waren Sie schon mal in Meiningen?", fragt er barsch, mit Blick auf das Dortmunder Nummernschild meines Miet-Polo. Und bevor ich "Noch nicht, aber schönes Städtchen haben Sie hier" flöten kann, fährt er fort: "Da haben Sie aber was verpasst."

"Was denn?" – "Na mich", sagt er und prüft meinen Gesichtsausdruck. Aus meiner Zeit als Reporter im Osten weiß ich, wie kompliziert es ist, als Fremder Ostdeutsche zum offenen Sprechen zu bringen. Das hat wenig mit Angela Merkel und angeblichen Sprechverboten zu tun. Es sitzt tiefer. Im Westen, in dieser hochpolitisierten, achtsamen Gesellschaft, erfährt man von jedem und jeder, wie sich eine Rentenerhöhung oder ein Tempolimit, nun: anfühlt. Jede und jeder lernt frühzeitig, seine Bedürfnisse zu äußern.

Im Osten ist das anders. Eigene Bedürfnisse haben bei manchem noch immer hinter denen der Gemeinschaft zurückzustehen. Und bei Themen, die den Raum vor der eigenen Wohnungstür betreffen, haben viele nie ganz aufgehört zu prüfen, welche Folgen ihre Aussage haben kann. In den Neunzigern warnte mich meine Oma mal davor, mich in die Politik einzumischen. Sie sagte: "Irgendwann stellen sie dich an die Wand."

... Solange ich mich erinnern kann, kenne ich Menschen aus dem Osten, die über die Westdeutschen pauschal und abwertend sprechen. Sie werfen ihnen vor, sich nicht für die Ostdeutschen zu interessieren, ihnen ihre Diskurse aufzuzwingen. Ich weiß, dass manche im Osten sich in dieser Vorwurfshaltung eingemauert haben. Dass sie für kritische Fragen – Was tut ihr gegen Rassismus und Rechtsextremismus? Warum trauen sich so wenige Migranten hierher? – nicht zugänglich sind. Und dass aus dieser Konfrontation eine politische Energie entstanden ist, die in Form der AfD droht, Osten und Westen noch weiter zu spalten.

Eine Wiederannäherung wäre nötig, aber sie wird nicht gelingen, wenn die Gräben beschwiegen werden.

... Also reden: Kleinmachnow, die dritte Station auf der Reise, liegt so nahe an Berlin, dass es ohne Weiteres als Stadtteil durchgehen könnte. Man fährt auf der A 115 einige Kilometer im SUV-Trail Richtung Wannsee und Zehlendorf mit. Kleinmachnow, zu DDR-Zeiten abgeschieden gelegen an der Grenze zu West-Berlin – auch Christa Wolf lebte mehr als ein Jahrzehnt hier –, ist einerseits zwischenzeitlich zum Lebensort schillernder Gestalten wie Bushido und Clanchef Arafat Abou-Chaker geworden, andererseits so etwas wie ein vorgelagertes Berlin-Mitte, ein grüner Sehnsuchtsort von Rappern wie Regierungsbeamten.

Da kann leicht untergehen, dass Kleinmachnow einmal einer der bedeutendsten Schauplätze des Misstrauens zwischen Ost und West war. Um Kleinmachnow wurden juristische Schlachten zwischen Ost- und Westdeutschen gekämpft. Ausgerechnet vor den Hochhäusern der neuen Bundeshauptstadt entstand ein clash of cultures, wie es ihn sonst kaum irgendwo so deutlich zu beobachten gab. In taz, ZEIT und Spiegel kann man nachlesen, mit welcher Verachtung sich Alteingesessene und Zugezogene begegneten. Damals gründete sich sogar eine Partei, die die Kleinmachnower Ostdeutschen vertrat. Mit Erfolg.

Kern der Auseinandersetzungen waren das im Einheitsvertrag festgelegte Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" und die Frage, wer schutzbedürftiger sei: westdeutsche Alteigentümer oder ostdeutsche Besitzer. In Kleinmachnow, der Perle zwischen Potsdam und Berlin, wurde schon 1991 eine große Zahl der 3200 Häuser des Ortes von Westlern beansprucht.

Der Rathaussaal ist groß, und er ist schon eine halbe Stunde vor Beginn gut gefüllt. Brückweh, Villinger und Zöller haben zwei Gäste aufs Podium geladen. Keine der alten Opponenten, sondern Andrea Weinrich, die zur Wende 20 Jahre alt war, und den DDR-Architekten Gottreich Albrecht, der nach der Wende im Schweriner Bauausschuss saß und dort mithalf, eine vollkommen heruntergekommene Altstadt zu sanieren – und zwar Hand in Hand mit Alteigentümern. Es war, Brückweh betont das immer wieder, nicht überall so konfrontativ wie in Kleinmachnow.

Das Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" hat das Vertrauen vieler Ostdeutscher in die neuen Zeiten erschüttert, aber anders als bisher besprochen. Es sind nämlich nur 22 Prozent der beantragten Rückgaben von den Behörden auch tatsächlich genehmigt worden. Fast die Hälfte der Anträge wurde abgelehnt, viele andere wurden zurückgezogen. Auch in Kleinmachnow endeten viele Verfahren erst nach schier endlosen Jahren quälender Rechtsstreite und immer neuer Gesetzesänderungen. Jahre, in denen die Besitzer nicht davon ausgehen konnten, dass sie das Haus, in dem sie lebten, auch behalten dürften. Brückweh berichtet von Interviews mit Betroffenen, die in jenen Jahren ihren Glauben an den Rechtsstaat verloren.

Mittlerweile ist es nicht mehr das Rückgabegesetz, sondern die Gentrifizierung, die die Ärmeren vertreibt. 80 Prozent der Einwohner, schätzte der Bürgermeister kürzlich, seien mittlerweile nach der Wende Zugezogene. Der Kampf ist entschieden, die öffentlichen Konfrontationen sind vorbei. Man könnte sagen: Befriedung durch Verdrängung.

Wenn man nach dem Osten sucht, dann muss man auch nach denen suchen, die nicht mehr da sind. Seit der Wende verlor der Osten jedes Jahr viele hoffnungsvolle junge Menschen an den Westen. Fast vier Millionen sind gegangen seit 1991. Die Abwanderung hat den wirtschaftlichen Rückstand immer wieder neu zementiert und ein demografisches und politisches Ungleichgewicht geschaffen.

Allerdings ist mittlerweile nicht mehr der Westen das Ziel der ostdeutschen Abwanderung, sondern zunehmend die ostdeutschen Großstädte. Und weil Städte wie Leipzig, Jena, Potsdam, Rostock, Dresden und Frankfurt (Oder) auch für westdeutsche Studenten attraktiver werden, haben sich mitten im Osten neue Wachstumsmagneten entwickelt. In den neuen Zentren gibt es Szenen, deren Lebenswelten sehr weit entfernt sind von vielen der im Osten verbliebenen Wendezeitzeugen.

Leipzig ist die letzte Station der Forscherreise. Etwa 100 Menschen kommen ins Zeitgeschichtliche Forum. Als Gäste sitzen die ehemalige grüne Landtagsabgeordnete Gisela Kallenbach und die junge Vikarin Charlotte Bornemann auf der Bühne.

Beide gehen ohne Zweifel als Vertreterinnen des anderen Ostens durch, etwa wenn Kallenbach die Ostalgie anprangert und bei der Betrachtung der Ostdeutschen auf Differenzierung beharrt. Oder wenn Bornemann provoziert: "Das Gerede von Demokratie in der Schule war im Osten wie im Westen immer schon heiße Luft, und das ist es auch heute noch." So vergeht ein unterhaltsamer Abend, der keine klare Erzählrichtung nimmt, an dem Kerstin Brückweh aber irgendwann der Frage nach einem ostdeutschen Narrativ mit klugen Worten begegnet. "Wir können"", sagt sie, "keine neue Meistererzählung vom Osten liefern. Differenzierung ist die neue Meistererzählung."

Und dann ist die Reise zu Ende.

Es gibt ein Gefühl, das mich während dieser Reise nicht losließ: dass hinter der nun vielleicht endlich beginnenden Aufarbeitung der Wendejahre immer lauter der Abrisslärm der Gegenwart zu hören ist. Dass es den reflektierenden, vielleicht sogar zu sich findenden Osten ebenso gibt wie einen zerstörerischen, wutentbrannten gegenwärtigen, der eine Bilanz der Nachwendezeit so schwierig macht.

Ich beobachte die verzwickten Konflikte zwischen Ost und West, aber auch zwischen Ost und Ost seit Langem. Und obgleich sie sich seit einigen Jahren immer weiter zu verschärfen scheinen, fiel mir nie eine andere Lösung ein als das Reden. Als sich über Perspektiven und Interessen des anderen kundig zu machen, was immer einschloss, vor allem über die rasante Wiedervereinigung und all das, was danach geschah, zu sprechen. Dialog – was sonst?

Aber in diesen Tagen denke ich zum ersten Mal: Kommen wir vielleicht zu spät für den Dialog? In den Tagen, als wir durch den Osten reisten, spitzte sich die Krise in Thüringen zu einer Staatskrise zu. Wenig, was seitdem geschah, kann den Eindruck widerlegen, dass die ostdeutsche Demokratie nicht sehr gefestigt ist. Dass manche Normen des Westens hier einfach nicht gelten und vor allem auch nicht mehr von außen geltend gemacht werden können.

Der Text ist ein gekürzter Beitrag für den Band: Die lange Geschichte der "Wende". Herausgegeben von  Kerstin Brückweh, Clemens Villinger, Kathrin Zöller. Verlag Ch. Links; Berlin 2020, 272 S.


Aus: "Ostdeutschland und die Wiedervereinigung: Wende ohne Ende" Christian Bangel (6. September 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/2020/37/ostdeutschland-wiederveinigung-zeitzeugen-ost-west-konflikt/komplettansicht (https://www.zeit.de/2020/37/ostdeutschland-wiederveinigung-zeitzeugen-ost-west-konflikt/komplettansicht)

QuoteDichtender und Denkender #2

Insgesamt war die Wiedervereinigung ein Erfolg für die Menschen. War gerade an der Ostseeküste. Schön da. Und ich fühle mich da als Deutscher unter Deutschen.
Ist ja jetzt auch schon 30 Jahre her, dass die DDR zerfiel. Vielleicht sollte man die Selbstbespiegelung mal ruhen lassen.


QuoteNibbla #2.1

"Vielleicht sollte man die Selbstbespiegelung mal ruhen lassen."
falls das ihr Ziel ist, erreichen solche Aussagen halt das Gegenteil.


Quotebsdfh #3

Das letzte bisschen Wiedervereinigung wird noch lange auf sich warten lassen, denn dafür müssten die Menschen im Osten ihren Opferbonus aufgeben.


QuoteUxmal #3.1

Schöner Kommentar, der garantiert Ost und West näher zusammenführt. Nicht.


Quote
Am Anfang war Vernunft #6

Danke für den Versuch einer offenen Darstellung!

Mich erinnern diese Vorgänge an die Situationen in anderen europäischen Ländern nach einem Systemwechsel dort, an die Flüchtlingsströme nach dem 2. Weltkrieg und die Verteilungskämpfe sowie an Aufbaugenerationen und all jene Verlierer, die schon immer nicht begreifen wollten, dass wir kein Anrecht auf dauerhafte stabile Verhältnisse haben.

Die Wiedervereinigung war ein stümperhaftes Werk auf politischer Ebene; Lafontaine wurde nicht gehört, wer warnte, war verhasst; der Osten hatte eine eigene Art des Lebens und des Überlebens entwickelt ...... und es braucht halt immer Zeit und zwei oder drei Generationen, bis ein Systemwechsel oder ein Krieg, eine verheerende Katastrophe "verarbeitet" sind.
Das liegt im Wesentlichen an uns Menschen, weil wir eher an das Gute im Bestehenden glauben, als an das Neue, dem wir eine Chance geben sollen oder wollen.

Ich war 20 Jahre in den NBL und sehe heute den "Konflikt" historisch gelassen.


QuoteHofrat Behrens #7

Nach 30 Jahren erkennt man, daß es Alternativen zur Vereinigung gegeben hätte. Eine Möglichkeit wäre die friedliche Koexistenz zweier deutscher Staaten mit unterschiedlichen Systemen und politischen Kulturen gewesen, mit offenen Innen- und gesicherten Außengrenzen und festen europäischen Bindungen. Aber immer noch tun sich Politikerinnen und Politiker schwer, sich dies einzugestehen.


Quote
Quotenozzy #10

Mich nervt diese stehts düstere Grundstimmung bei Artikeln über den Osten. Ich finde, das hat mit der Realität ziemlich wenig zu tun. Brandenburg war nach der letzten Statistik (2018) Spitzenreiter bei der Binnenzuwanderung. In Sachsen und MV ist der Saldo ebenfalls positiv. Brandenburg ist dazu noch Spitzenreiter bei der Geburtenrate, Sachsen ist auf dem dritten Platz. Probieren Sie mal heute ein Haus in MV zu kaufen - der Immobilienmarkt ist wie leergefegt. Der Westen ist heute nicht mehr attraktiv. Die meisten sind ziemlich zufrieden mit ihrer ostdeutschen Heimat.


Quoteeaster33 #11

Die Wiedervereinigung ist dann beendet, wenn derartige Artikel eines Ostdeutschen über eine Reise ins westdeutsche Niemandsland oder westdeutsche Städte mit Bevölkerungschwund, hohem Ausländeranteil usw. in Leitmedien wie der Zeit erscheinen. Und der sich wundert weil er seine asl besser empfundene Lebenswirklichkeit und politische Haltung mit dieser vergleicht und warum ihm die Menschen so und nicht anders begegnen.

Einen zugegebenermaßen wahllosen Fragenkatalog hätte ich da auch vorzuschlagen, bspw:
- Warum brauchtet Ihr 13 Jahre fürs Abi, wo wir das in 12 Jahren schon immer schafften?
- Warum habt Ihr weggeschaut als sich in Ballungsräumen die Clankriminalität entwickelt?
- Warum habt Ihr Einweg und Wegwerfprodukte massenhaft benutzt, wo es doch bei uns auch anders ging?
-Warum tut Ihr so, als ob der Platz an der Sonne im Westen ist und im Osten die Looser leben?

Schon die Tatsache, dass sich diese Vorstellung "ungewohnt" anfühlt, zeigt wo wir stehen. Das Problem ist nach wie vor, die verinnerlichte Haltung - hier auch im Artikel - dass die Sieger der Geschichte diese meinen deuten zu können.


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Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 28, 2020, 12:44:46 PM
Quote[...] ntv.de: Der Titel Ihres neuen Buches ist "Das gespaltene Land". Meinen Sie damit noch eine Trennung in Ost- und Westdeutschland?

Hans-Joachim Maaz: Ja, auch. Aus meiner Sicht ist das Land weiterhin oder auch erneut in West- und Ostdeutschland gespalten. Es gab ja diese Euphorie mit der Wende und der Hoffnung der DDR-Bürger, dass jetzt alles besser wird - mehr Demokratie, bessere Konsummöglichkeiten, Reisefreiheit. Aber das hat nicht so lange angehalten. Es gab dann doch eine spürbare Ernüchterung. Für viele Menschen sind diese Hoffnungen nicht aufgegangen. Aber für besonders wichtig halte ich, dass selbst Menschen, denen es deutlich besser ging, nicht zufriedener wurden. Sie leiden an den westlichen Lebenszwängen.

ntv.de: Was meinen Sie mit westlichen Lebenszwängen?

Hans-Joachim Maaz: Im Osten war man gut beraten, sich unterzuordnen, sich ins Kollektiv einzupassen, sich zurückzuhalten und nicht zu kritisch zu sein. Im Westen muss man laut sein, sich darstellen und verkaufen können. Das sind zwei sehr unterschiedliche Sozialisationen. Das ist der Grund, warum es diese Spannungen und ein Unverständnis zwischen Ost und West gab. Aber inzwischen erleben wir eine umfassendere gesellschaftliche Problematik, bei der die bisherige Konsum- und Wachstumsgesellschaft des Westens eine kritische Grenze erreicht hat. Das zeigt sich an der Finanz- oder Klimakrise oder an der Migrationsproblematik. In dieser Krise gibt es jetzt neue Gegensätze.

ntv.de: Welche Gegensätze sind das aus Ihrer Sicht?


Hans-Joachim Maaz: Menschen müssen sich an gesellschaftliche Verhältnisse anpassen, auch gegen ihr eigenes Wollen und Vermögen. Das führt oft dazu, dass sie gestresst und unzufrieden sind oder sich entfremdet verhalten müssen. Die bisherigen gesellschaftlichen Erfolge wurden durch solche Anpassungen erreicht. Wenn für eine zunehmende Zahl von Menschen die soziale Sicherheit nicht mehr gegeben ist, der Wohlstand und die Konsummöglichkeiten, dann sind sie geängstigt und verunsichert. Dann werden die persönlichen Ängste wieder aktiviert, die durch Kompensierung befriedet waren. Das ist aus psychotherapeutischer Sicht der Grund für die Spaltung, nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch Alt und Jung, Mann und Frau, Stadt und Land, Migrationsfeinde und -freunde oder Coronamaßnahmenbefürworter und -gegner.

ntv.de: Wie definieren Sie an dieser Stelle Spaltung?

Hans-Joachim Maaz: Spaltung ist eine Reduzierung des kritischen Nachdenkens. Es ist ein primitiver seelischer Abwehrmechanismus, bei dem es nur schwarz oder weiß gibt. Ich beobachte, dass diese Spaltungen immer feindseliger werden. Das ist für mich Ausdruck einer seelischen Abwehr. Man möchte einen Schuldigen finden. Dann wird der eigene Anteil an einem falschen Leben und der Notwendigkeit, sich verändern zu müssen, erträglicher.

ntv.de: Nehmen denn Ost- und Westdeutsche in dieser Gesellschaftskrise verschiedene Positionen ein?

Hans-Joachim Maaz: Wenn wir davon ausgehen, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, haben die Ostdeutschen damit Erfahrung. Sie wissen, wie es ist, wenn man sich anpassen muss und diese Anpassung plötzlich sinnlos wird. Das ist eine bittere und schmerzliche Erfahrung, aber auch eine, die hilft, bestimmte Dinge kritischer zu sehen. Und die haben die Westdeutschen nicht. Die Ostdeutschen sind aber mit dieser Erfahrung einfach sensibler und allergischer gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen oder auch politischer Heuchelei oder falschen medialen Darstellungen. Die Kritik, die aus dem Osten kommt, hat damit viel zu tun – dass man den Medien und Politikern nicht mehr traut. Das kennen Ostdeutsche. Deshalb ist die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen stärker als im Westen. Dass es Pegida gibt und eine höhere Zustimmung für die AfD, das erkläre ich mir damit. Das ist nicht vordergründig politisch gedacht, sondern als Gesellschaftskritik.

ntv.de: Sie sprechen von unvereinbaren Polen, einem Entweder Oder, die meisten Menschen sind aber eher im Sowohl-Als-Auch unterwegs.

Hans-Joachim Maaz: Ich finde auch, dass ein gutes demokratisches Leben immer "Sowohl Als Auch" ist. Das ist die gesündere Variante, und das gibt es immer noch. Es haben eben immer beide Seiten Recht, es gibt nicht die eindeutige objektive Wahrheit. Es ist ja die Grundlage einer Demokratie, dass man Dinge so oder so sehen kann. Ich beobachte aber, dass das "Sowohl als Auch" zunehmend zu einem "Entweder Oder" wird. Das ist die Spaltung, der psychosozial primitive Abwehrvorgang oder die gestörtere Haltung. Damit nehmen die Feindseligkeiten in der Gesellschaft zu.

ntv.de: Wie kann man das ändern?

Hans-Joachim Maaz: Was wir brauchen, ist, dass wir alle Positionen zu Wort kommen lassen und ein wirklich kritischer Disput möglich wird. Das wird immer weniger. Stattdessen wächst die Tendenz zu sagen, das sind die ganz Bösen, mit denen reden wir nicht. Wenn in einer Gesellschaft auffällige Außenseiter- und Extrempositionen entstehen, dann bringt Abwertung nichts. Das sind Symptomträger einer gesellschaftlichen Entwicklung. Da muss man sich fragen, warum es mehr Kriminelle, Extremisten oder Gewalttäter gibt.

ntv.de: Innerhalb der pluralistischen Meinungsbildung werden ja diese verschiedenen Positionen durchaus diskutiert. Wie kann man das Einander-Zuhören auch im therapeutischen Sinne besser ermöglichen?

Hans-Joachim Maaz: Ich bin da anderer Meinung. Wenn sich heute jemand deutlich gegen Migration ausspricht, dann hat er es wesentlich schwerer, wird mehr kritisiert und abgewertet, als jemand, der für Migration ist. Es wäre wünschenswert, wenn es so wäre, dass alle Positionen diskutiert würden. Deshalb fürchte ich, dass sich die Verhältnisse zuspitzen, dass immer mehr Meinungen, die andere nicht hören wollen, ausgesperrt oder diffamiert werden.

ntv.de: Sie rufen dazu auf, das eigene Leben kritisch zu bewerten, statt vermeintlich Schuldige zu suchen. Was sehen Sie dabei für Defizite?

Hans-Joachim Maaz: Ich glaube, bei der Betrachtung des Nationalsozialismus und der DDR kommt die individuelle Beteiligung zu kurz. Solche Systeme sind nicht nur denkbar durch eine auffällige, pathologische Elite, sondern nur durch ein stützendes Mitläufersystem. Ich verwende dafür den Begriff der Normopathie und meine, dass etwas Gestörtes für normal gehalten wird, wenn eine Mehrheit diese Meinung vertritt. Das hat etwas mit dem menschlichen Grundbedürfnis zu tun, zu einer Gruppe dazuzugehören. So entsteht die Gefahr, dass man auch einer kollektiv falschen Meinung anhängt. Das kennen wir aus dem Nationalsozialismus und aus dem DDR-Sozialismus. Ich erkenne das auch in dieser aus meiner Sicht narzisstischen Gesellschaft. Wichtig ist, auf sich und auf seinen eigenen Anteil zu schauen. Was ist meine Schuld, wo bin ich Opfer, aber auch Täter einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung? Das geschieht nicht ausreichend.

ntv.de: Steht 30 Jahre nach der Wiedervereinigung mehr persönliche Weiterentwicklung an, damit sich die Gesellschaft weiterentwickeln kann?

Hans-Joachim Maaz: Das wäre mein Wunsch. Ich sehe Zusammenhänge mit der Entwicklung des Kindes. In den ersten Lebensjahren wird die Persönlichkeit geprägt, die dann für ein Leben weiterwirkt. Deshalb ist es die beste Investition, wenn man für die beste Frühbetreuung von Kindern sorgt. Dann bekommt man emotional sichere, stabilere, friedfertigere Menschen, als wenn man die Kinder schlecht behandelt. Es wäre gut, wenn Politik und Wirtschaft das mehr berücksichtigen würden. Gerade gibt es die Tendenz, sehr rasch eine Fremdbetreuung zu favorisieren. Das sehe ich und viele meiner Kollegen kritisch, Krippe vom ersten bis dritten Lebensjahr eher nein, Kindergarten eher ja. Dazu gehört aber ökonomische und psychologische Unterstützung.

ntv.de: Sie werben sehr für das Zuhören, warum?

Hans-Joachim Maaz: Häufig ist es so, dass man nur darauf wartet, bis man die Stelle findet, an der man sein Argument anbringen kann. Das ist kein gutes Zuhören. Für meine Arbeit ist das aktive Zuhören wichtig. Mir sagt jemand etwas, aber ich höre nur das, was ich hören kann und will. Das ist mitunter sehr verzerrend zu dem, was gesagt wird. Also versuche ich zu formulieren, was ich verstanden habe und frage, ob das richtig ist. Eventuell wird das bestätigt oder präzisiert. So wird auch das Gemeinte mit verstanden. Das könnte schon in der Schule geübt werden. Das wünschte ich mir auch in der Gesellschaft und auch im Bundestag.

ntv.de: Politiker würden vielleicht argumentieren, dass zur politischen Auseinandersetzung eine gewisse Zuspitzung dazugehört. Schließt sich das aus?

Hans-Joachim Maaz: Entscheidend ist die Grundhaltung. Wenn ich immer davon ausgehe, ich muss den Gegner fertigmachen, schwächen und unbedingt meine Position durchsetzen, dann halte ich das für schädlich für das soziale Auskommen. Das ist keine Verständigung. Die Schärfe einer Aussage sollte in den Inhalten bestehen. Dafür muss man sich Mühe geben, die vertretenen Inhalte gut zu begründen. Eine Beschimpfung des Gegners ist das Gegenteil von dem, was gutes Zuhören bedeutet. Auch da gibt es wieder Parallelen zu Eltern-Kind-Beziehungen. Wir empfehlen auch da immer Ich-Botschaften statt Du-Botschaften, also zu sagen: Ich empfinde das so und nicht Du bist so. Die Ich-Botschaft hält die Beziehung lebendig, die Du-Botschaft belastet sie.

ntv.de: Sie selbst schauen auch auf 30 Jahre im wiedervereinigten Deutschland zurück. Wie fällt Ihr persönliches Fazit aus?

Hans-Joachim Maaz:

Ich habe sehr unter den DDR-Verhältnissen gelitten, weil ich mich da nicht einordnen wollte. Ich bin dann bei der Kirche untergeschlüpft und war dort sehr zufrieden, weil ich da frei arbeiten konnte. Ich war begeistert über den Zusammenbruch der DDR und war auch aktiv bei den Demonstrationen. Dann habe ich die neuen Verhältnisse genossen und auch beruflich neue Möglichkeiten gefunden. Das war alles positiv. In den letzten Jahren bin ich enttäuscht über die Entwicklung in ganz Deutschland. Ob das bei der kindlichen Frühbetreuung ist oder bei den demokratischen Defiziten, die ich sehe, das entsetzt mich. In der DDR gab es eine starke politisch-ideologische Abhängigkeit, heute gibt es eine starke und zunehmend auch moralische Abhängigkeit. Aus meiner Sicht steht in beiden Fällen als Resultat ein unsicherer und abhängiger Mensch. Das bleibt mein Thema. Ich unterscheide zwischen äußerer und innerer Demokratie. Es fehlt aus meiner Sicht die innerseelische Verankerung demokratischen Erlebens bei vielen Menschen, und das gefährdet demokratische Verhältnisse.

Mit Hans-Joachim Maaz sprach Solveig Bach


Aus: "Hans-Joachim Maaz im Interview "Ostdeutsche sensibler bei Veränderungen"" (Samstag, 26. September 2020)
Quelle: https://www.n-tv.de/politik/Ostdeutsche-sensibler-bei-Veraenderungen-article22058173.html (https://www.n-tv.de/politik/Ostdeutsche-sensibler-bei-Veraenderungen-article22058173.html)

Hans-Joachim Maaz (* 17. Februar 1943 in Niedereinsiedel, Böhmen) ist ein deutscher Psychiater, Psychoanalytiker und Autor. ... 2017 war Maaz Unterzeichner der von der Dresdener Buchhändlerin und Pegida-Sympathisantin Susanne Dagen initiierten Unterschriftensammlung Charta 2017, die das Verhalten des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels im Hinblick auf die Proteste gegen die Präsenz von als rechts eingeordneten Verlagen bei der Frankfurter Buchmesse kritisierte. Nach den Ausschreitungen in Chemnitz 2018 warb er um Verständnis für die Demonstranten, wehrte sich gegen deren generelle Einordnung als Rechtsextreme und kritisierte in diesem Zusammenhang pauschalisierende Reaktionen der Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) und der Bundesregierung. ... ... 2020: Das gespaltene Land. Ein Psychogramm. Beck, München 2020, ISBN 978-3-406-75087-8.
https://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Joachim_Maaz (https://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Joachim_Maaz)

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Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 01, 2020, 10:13:41 AM
Quote[...] 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands halten knapp zwei Drittel der Deutschen das Zusammenwachsen von Ost und West noch nicht für abgeschlossen. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur sagten 64 Prozent, dass dafür der Unterschied der Lebensverhältnisse noch zu groß sei. Nur 24 Prozent meinten dagegen, die Einheit sei vollendet. 12 Prozent machen keine Angaben.

In den Gebieten, die früher zur DDR gehörten, halten sogar 83 Prozent die Wiedervereinigung für unvollendet. In Westdeutschland sind es dagegen nur 59 Prozent. An diesem Samstag jährt sich die Vereinigung der westdeutschen Bundesrepublik Deutschland und der ostdeutschen Deutschen Demokratischen Republik zum 30. Mal.

60 Prozent halten die deutsche Einheit für eine Erfolgsgeschichte, fast jeder Dritte (29 Prozent) sieht das nicht so. Zwischen Ost und West gibt es hier kaum einen Unterschied. Im Westen würden 60 Prozent sagen, dass die Wiedervereinigung eher ein Erfolg war, im Osten sind es 61 Prozent.

Unter denjenigen, die zur Wendezeit noch nicht geboren waren, ist die positive Sicht auf die Einheit am weitesten verbreitet. Von den 18- bis 24-Jährigen sehen 65 Prozent die Einheit als Erfolgsgeschichte und nur 15 Prozent nicht.


Aus: "Umfrage : Zwei Drittel der Deutschen halten Wiedervereinigung für unvollendet" (01.10.2020)
Quelle: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/umfrage-zwei-drittel-der-deutschen-halten-wiedervereinigung-fuer-unvollendet-16980394.html (https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/umfrage-zwei-drittel-der-deutschen-halten-wiedervereinigung-fuer-unvollendet-16980394.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 01, 2020, 02:14:04 PM
Kurt Drawert – Sohn eines Kriminalbeamten – wuchs in Borgsdorf und Hohen Neuendorf bei Berlin sowie ab 1967 in Dresden auf. Er absolvierte eine Ausbildung zum Facharbeiter für Elektronik und holte später auf einer Abendschule das Abitur nach. Er übte verschiedene Hilfstätigkeiten aus, u. a. in einer Bäckerei, bei der Post und als Hilfskraft in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden. Von 1982 bis 1985 studierte Drawert am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig, wo er ab 1984 auch seinen Wohnsitz hatte. Seit 1986 ist er als freier Schriftsteller tätig. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Drawert (https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Drawert)

Quote[...] Sprachskeptischer Blick, auch auf politische Verhältnisse: Kurt Drawert misst mit ,,Dresden. Die zweite Zeit" die historischen Abgründe Dresdens aus.

Große Literatur beginnt immer mit der Aufkündigung aller Gewissheiten: mit dem existenziellen Zweifel des Schreibenden nicht nur an der ,,Prosa der Verhältnisse" (Hegel), sondern auch an sich selbst.

Kaum ein Gegenwartsautor hat die erzählerische Entfaltung dieses Zweifels so weit vorangetrieben wie der 1956 geborene Kurt Drawert, der seit seinem ersten, 1987 veröffentlichten Buch, dem Gedichtband ,,Zweite Inventur", das Unbehagen an einer von Stereotypen ausgehöhlten Sprache formuliert: ,,Die Worte gehörten mir nicht, / kalt lagen sie unter der Zunge als / nichtgemachte Erfahrung ...". [https://www.tagesspiegel.de/kultur/kurt-drawerts-der-koerper-meiner-zeit-das-zersprungene-ich/19466470.html (https://www.tagesspiegel.de/kultur/kurt-drawerts-der-koerper-meiner-zeit-das-zersprungene-ich/19466470.html)]

In seinem Roman ,,Spiegelland", der ihn als Schriftsteller bekannt machte, hatte Kurt Drawert 1992 die Erfahrung einer Traumatisierung durch Sprachgewalt beschrieben: Es war, in den virtuosen Satzperioden dem Stil Thomas Bernhards folgend, ein Vater-Buch von äußerster Schärfe.

Denn der herrschsüchtige Vater, ein linientreuer Polizeioffizier, wird in ,,Spiegelland" als Exekutor der DDR-Staatsräson porträtiert. Er versucht dem ängstlichen Sohn mit Brachialgewalt die Alphabete des real existierenden Sozialismus einzuprügeln, bis dieser ins zwanghafte Verstummen zurückfällt.

In seinem ,,Dresden"-Roman (Verlag C.H. Beck, München 2020. 294 S., 22 €.) führt Drawert jetzt diese schmerzhafte Erinnerungsarbeit fort. In einer präzise die eigenen Ambivalenzen und Selbstwidersprüche erfassenden Prosa topografiert er die Erschütterungen, die sein Vater und seine Mutter in der Nachwendezeit durchlebten.

Aus dem linientreuen Kriminalpolizisten wurde ein Anhänger der sudetendeutschen Vertriebenenverbände, dem aber eine Stabilisierung der eigenen Identität versagt blieb. Nachdem ,,Spiegelland" erschienen war, reagierte der Vater mit einer Geste erbitterten Protests, indem er eine zweihundertseitige Rechtfertigungsschrift verfasste und den Sohn, der einst den Namen des Vaters abgelegt hatte, mit einem Brief aus der Familie ausstieß. In ,,Dresden. Die zweite Zeit" rückt nun die Mutter ins Zentrum der erzählerischen Suchbewegung.

Zu Beginn des Romans kehrt der Erzähler nach einem halben Jahrhundert in die Stadt seiner Kindheit zurück – diese erweist sich als vermintes Gelände, besiedelt von reizbaren Bürgern.

Kurt Drawert war elf Jahre alt, als seine Familie 1967 aus der brandenburgischen Provinz nach Dresden umzog. 1984 ging er nach Leipzig und studierte hier am Institut für Literatur, das damals noch den Namen des ersten DDR-Kulturministers Johannes R. Becher trug. Im Sommer 2018 kommt es dann zur Wiederbegegnung mit der Heimatstadt. Kurt Drawert wird Stadtschreiber in Dresden.

Eine Wiederbegegnung mit weitreichenden Folgen. Die Stadt tritt ihm nun als Fremdkörper entgegen, ein politisches Kraftfeld, in dem die Pegida-Bewegung den ,,verpassten Vatermord" am SED-Staat in seltsamer psychogener Verschiebung an der Berliner Republik nachholt.

Die Bücher, die der verlorene Sohn der Stadt in seiner Stipendiatenwohnung auspackt, zeigen die Perspektive an, aus der Kurt Drawert seine Heimatstadt wahrnimmt. Es sind die Bücher seiner intellektuellen Gewährsleute Jacques Lacan, Maurice Blanchot und Julia Kristeva, die Portalfiguren einer strukturalen Literatur- und Gesellschaftsanalyse.

Mit Pegida, so lautet denn auch die erzählerische Zwischenbilanz, formiere sich eine ,,mythische Empörungsgemeinschaft", die sich in ,,narzisstischer Eigenliebe" gegen alles ,,Fremde" verkapsele.

Die Tiefbohrungen im kulturellen Gewebe der Stadt und auch in den Abgründen der eigenen Familiengeschichte, die Drawert vornimmt, lassen in ihrer Radikalität der Selbstbefragung alle gängigen kulturkritischen Erklärungsmuster zum Thema Heimat und Heimatverlust hinter sich. Drawert geht viel weiter als alle vergleichbaren Romane zur Wendezeit und zu den Aufwallungen der Gekränktheit im deutschen Osten.

Er versteckt sich nicht hinter wohlfeilen Entlarvungsformeln zur Pegida-Bewegung, inszeniert sich nicht als Opfer repressiver Familienverhältnisse, sondern stellt sich in all seinen Widersprüchen und narzisstischen Empfindlichkeiten selbst auf den Prüfstand, bis hin zur Bezweiflung der eigenen schriftstellerischen Identität.

Bereits in dem ,,Spiegelland"-Roman war die Suchbewegung des Erzählers verbunden mit jenem existenziell gewordenen Sprachzweifel des berühmten Chandos-Briefes von Hugo von Hofmannsthal, dem die Wörter zu ,,Wirbeln" werden, ,,in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt".

Drawert verschärft den sprachskeptischen Blick auf die Verhältnisse, indem er seine Position als Autor an einen Nullpunkt führt, an dem nichts mehr gültig ist, am allerwenigsten eine souveräne Haltung des Erzählers: ,,Diese Stimme, dieser innere Ort, er geht mir verloren. Ich suche ihn in mir auf, spüre ihm nach, warte auf Resonanz – nichts. Nur Leere, Ödnis, schwarzes Licht. Nichts fügt sich aneinander, jeder Zusammenhang bricht, an sich selber, entzwei."

Die quälerische Suchbewegung des Erzählers intensiviert sich immer mehr, seine Kräfte werden nach einem Sturz und einer misslingenden OP von rasenden Schmerzen in der Schulter fast aufgezehrt.

Kurt Drawerts ,,Dresden. Die zweite Zeit" ist ein verstörendes Buch. Es ist das Selbstporträt eines Schriftstellers, der in die Abgründe der eigenen Familiengeschichte und einer politisch erregten Stadtgesellschaft blickt und schließlich ,,im Loch im Gewebe der Existenz" zu verschwinden droht. Am Ende schaut der Erzähler ins Gesicht des sterbenden Vaters – ein ergreifendes Bild der späten Versöhnung.


Aus: "Loch im Gewebe, Pegida in der Elbstadt" Michael Braun (16.09.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/kurt-drawerts-buch-dresden-die-zweite-zeit-loch-im-gewebe-pegida-in-der-elbstadt/26182464.html (https://www.tagesspiegel.de/kultur/kurt-drawerts-buch-dresden-die-zweite-zeit-loch-im-gewebe-pegida-in-der-elbstadt/26182464.html)

Quote[...] Kurt Drawert kehrt in ,,Dresden. Die zweite Zeit" in seine alte Heimat zurück. Konfrontiert mit der Gegenwart der Stadt versucht er zu begreifen, woher Pegida und der rechte Hass kommen. Entstanden ist ein gewaltiger, essayistischer Bericht.

Es gehört nicht unbedingt zum originellsten Genre, wenn Schriftsteller ihren Stipendienaufenthalt zum Gegenstand ihres nächsten Buches machen.

Bei Kurt Drawert ist das anders. 2017 nahm er das Angebot an, Stadtschreiber von Dresden zu werden, obwohl ihm die damit verbundenen Verpflichtungen – Interviews, freundliche Artikel und Elbspaziergänge im Abendlicht für die Lokalpresse – zutiefst zuwider waren und es Beklemmungsgefühle in ihm auslöste, welche Kollegen vor ihm die Stadtschreiberwohnung bewohnt und im selben Bett geschlafen hatten.

Doch weil ihm dieses Amt Gelegenheit bot, nach 50 Jahren in die Stadt zurückzukehren, in die er 1967 – zwölf Jahre alt – mit seiner Familie gezogen war und in der er die 1970er und 1980er Jahre verbracht hatte, nahm er an. Nicht zuletzt auch, weil seine Mutter noch immer dort lebt.

Sein essayistischer, autobiographisch-erzählerischer Bericht ,,Dresden. Die zweite Zeit" handelt von einer Rückkehr in die Fremde. Drawert verknüpft auf eindrucksvolle Weise die eigene Herkunft mit der Geschichte der DDR und der Familiengeschichte, was über die Figur des autoritären Vaters, eines Kriminalpolizisten, gewissermaßen zusammenfällt.

Doch auch die Mutter mit ihrem Putzwahn und der tief verinnerlichten allgemeinen Pflicht, beim Betreten der Wohnung die Schuhe auszuziehen, hat ihren Anteil daran. Auf diesem Boden, wo das Historische sich in den eigenen Leib eingeschrieben hat, konfrontiert Drawert sich mit der Dresdner Gegenwart der Montagsdemonstrationen, Pegida und AfD, und versucht zu begreifen, was 50-jährige Frauen dazu bringt, sich mit der Sachsenfahne zu schmücken und ,,Fotze Merkel!" zu brüllen.

Drawert, der Lacan, Marx, Julia Kristeva, Zygmunt Bauman, Annie Ernaux und vor allem sein 1992 erschienenes Vater-Abrechnungsbuch ,,Spiegelland" im Gepäck hat, ist viel zu schlau, um sich mit einfachen Einsichten zu begnügen. Eine der möglichen Antwort besteht jedoch darin, dass das große Nein zur Gegenwart, das auf den Straßen so voller Hass zelebriert wird, ein verschobenes, nachträgliches Nein des einst versäumten Nein zur DDR sein könnte.

Drawert wundert sich darüber, warum die Kunstaktion des deutsch-syrischen Künstlers Manaf Halbouni, der zum Jahrestag der Zerstörung Dresdens 2017 zwei zerstörte Busse aus Aleppo aufstellte, so viel Empörung hervorrief, weil damit angeblich das Gedenken an die Opfer Dresdens entwürdigt und entweiht werde. Warum gibt es in Dresden einen Monopolanspruch auf Schmerz? Warum wurde Dresden zum Synonym der Zerstörung und nicht Hamburg, Nürnberg oder Darmstadt? Warum kann die Stadt ihre Trauer nicht mit der Welt teilen? Drawert erkennt in den Affekten von rechts außen einen in sich verkapselten Narzissmus, der das kleine Eigene so herrlich findet, dass alles Fremde nur feindlich sein kann.

Das Großartige an Drawerts erzählerischer Reflexion besteht jedoch darin, dass er selbst als Fremd-Zugehöriger nicht bloß von außen spricht, als der Westler, zu dem er geworden sein mag, sondern als einer, dem die Kategorien Ost und West fragwürdig geworden sind.

Das subkutane Weiterwirken der DDR registriert er sehr genau, weil er ihre Gewalt am eigenen Leib erfahren hat – über den Vater und die Familie ebenso wie über die Schule und die Fabrikarbeit, zu der er einst degradiert worden war. Alles war schuldbehaftet, alles zielte auf die Vernichtung der Person, und schon die Ankunft in Dresden glich einer Flucht, nachdem er noch im Brandenburgischen Hohen Neuendorf beim Nazi-und Partisan-Spiel einem Freund mit Pfeil und Bogen ein Auge ausgeschossen hatte.

Es gibt viele blutige, demütigende Geschichten in diesem Buch, das mehr und mehr zu einer Geschichte des Schmerzes wird. Es ist mehr als bloß symptomatisch, dass der Stadtschreiber beim Kuchenkaufen für den Mutterbesuch auf Blitzeis ausrutscht, sich die Schultersehnen reißt und von da an auch körperlich ein Schmerzensmann ist, der kaum noch die Kaffeetasse zum Mund führen kann, aber trotzdem weiter schreibt und denkt.

Es scheint so, als schärfe sich sein Denken am und im Schmerz. ,,Dresden. Die zweite Zeit" ist ein gewaltiges, großes Dokument eines ums Verstehen ringenden Blickes auf die eigene Zerrissenheit und die der Stadt und des geteilten Landes.

Kurt Drawert: Dresden. Die zweite Zeit
C. H. Beck, München 2020, 294 Seiten



Aus: "Kurt Drawert: ,,Dresden. Die zweite Zeit "Monopolanspruch auf Schmerz" Jörg Magenau (28.08.2020)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/kurt-drawert-dresden-die-zweite-zeit-monopolanspruch-auf.1270.de.html?dram:article_id=483056 (https://www.deutschlandfunkkultur.de/kurt-drawert-dresden-die-zweite-zeit-monopolanspruch-auf.1270.de.html?dram:article_id=483056)

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 04, 2020, 08:31:48 PM
Quote[...]
30 Jahre Mauerfall
"Euch sollte man vergasen": Was es hieß, in der DDR Punk zu sein

Sie waren Außenseiter, Jugendliche, die gegen das Eingesperrtsein rebellierten. Sie wurden von staatstreuen Bürgern verachtet, von DDR-Behörden drangsaliert, ins Gefängnis gesperrt. Doch Punk sein hieß auch Freiheit.

Punkband auf der Bühne mit Graffittis im Hintergrund (picture-alliance/dpa/Neue Visionen)

Es begann Anfang der 1980er Jahre. In Ostberlin und Leipzig - später in der ganzen DDR - entstanden kleine Punk-Gruppen, die schnell wuchsen. Sie trafen sich in Kellern, Hinterhöfen, Kirchen. In normalen Kneipen oder Clubs waren sie nicht willkommen. Auf der Straße wurden sie angefeindet, beschimpft - manche jugendlichen Punks mussten sich Sätze anhören wie "Euch sollte man vergasen". Vom Staat wurden sie drangsaliert. Stasi-Chef Erich Mielke nannte sie "dekadent" und "Dreck aus dem Westen". Und Eltern wollten ihre eigenen Kinder nicht mehr kennen.

Wer mit Irokesenschnitt und Hundehalsband durch die Straßen lief, wurde schon mal angespuckt oder grundlos von der Polizei angehalten, Zugfahrten endeten in Verhaftungen. Es war nicht sehr gemütlich und schon gar nicht dekadent, in der DDR ein Punk zu sein.

Die "echten" Punks haben schnell festgestellt, wer wirklich Punk war und wer nicht. Die Gruppe entschied, wer dazugehören durfte. Wer es nicht sein sollte, wurde "gebeten", etwa seine Sicherheitsnadeln abzulegen. Andere waren weniger höflich und "ruppten" die Lederjacke des Anwärters, was heißt: Man nahm ihm die Jacke ab.

Punkkleidung war nicht einfach zu besorgen, und wenn, dann zu hohen Preisen. Dann wurde darauf geachtet, dass die Lederjacke an genau der richtigen Stelle kaputt oder beschmiert war. Wer vor die Tür ging, wollte schockieren. Und zwar richtig. Im Outfit steckte viel Mühe und Zeit vor dem Spiegel. Haare wurden mit Tusche gefärbt und mit Rasierschaum oder Seife fixiert, was bei Regen zu Problemen führen konnte, wenn einem alles in die Augen lief.

Das Anderssein war das Lebenselixier, ein Stück Freiheit in einem unfreien Staat. Und die Punkmusik war der Soundtrack dazu. Der einfachste Weg sich Punkplatten aus dem Westen zu beschaffen, war die Oma, denn Rentner durften in den Westen reisen. So sind Omas mit Einkaufszetteln in westliche Plattenläden geschickt worden. "Wenn die Oma da bei der Einreise 'ne B52's-Platte in der Hand hatte, dann konnten die Grenzer auch nicht viel mit anfangen. Die dachten eher, das wird schon in Ordnung sein, wenn die Oma sowas mitbringt", erzählt der frühere Punk Bernd Stracke in der Filmdokumentation "Too much future".

Andere besorgten sich die Platten in Bulgarien und schmuggelten sie in den Schiebetüren der Züge in die DDR.

Konzerte fanden in Wohnungen statt, in Künstlerateliers. Da waren nicht nur Punks anwesend, auch Künstler, Theaterleute, Lyriker. Oft kam die Polizei und beendete die Veranstaltung.

Später verlagerte sich das Ganze in die Kirchen. Es gab evangelische Pfarrer, die den Außenseiter-Jugendlichen ihre Räume zur Verfügung stellten, so dass die sich entfalten konnten. Die Kirchen waren eine sichere Zone - für staatliche Organe quasi unantastbar. "Man wurde zwar von außen beobachtet, aber die Bullen sind nie reingekommen und haben das Ding zugemacht", erzählt der Ost-Berliner Punk Colonel in dem Dokumentarfilm.

Die Bands hießen Planlos, Die Fanatischen Friseure, L'Attentat, Bandsalat, Schleim-Keim, Namenlos oder Wutanfall. Bernd Stracke, genannt "Stracke", war Sänger bei der Leipziger Band Wutanfall: "Schon der Name war ein Auslöser für Ärger", erzählt er. Die Band stand schnell im Fokus der Stasi - Strackes Bandkollege und Freund "Chaos" hat die Schikanen mit aller Härte zu spüren bekommen. Einschüchterung, wiederholte Vorladungen, Führerscheinentzug, Verlust der Wohnung bis hin zur Misshandlung. Manche jugendliche Punks zerbrachen unter dem Druck, nahmen sich sogar das Leben.

Stasi-Chef Mielke blieb bei seinem harten Kurs. Die Staatssicherheit ging nicht nur auf einzelne Protagonisten los; sie setzte eine perfide Taktik ein, um die Szene von innen zu "zersetzen". Um die jugendlichen Punks zu verunsichern, streute sie Gerüchte, dass sie eigene Leute, "Inoffizielle Mitarbeiter", in der Szene habe. Was viele nicht ahnten: Die Gerüchte stimmten. Es waren schon längst IMs in ihren Reihen. Sie gaben sich als Punks aus, waren Musiker in Bands.

Gleich zwei von ihnen waren Bandmitglieder von Wutanfall. Stracke erfuhr erst viel später in seiner Stasi-Akte davon. Auch er selbst war angeworben worden: "Dann kannst du in der Szene bleiben und machen was du willst", haben sie Stracke erzählt, im gleichen Atemzug jedoch: "Wir können aber auch anders. Wir können dir auch das Leben zur Hölle machen." Stracke wählte den unbequemen Weg. Und kam dafür zweimal ins Gefängnis.

"Das erste Mal war es die Eröffnung der Dokumentar- und Kurzfilmwoche in Leipzig. Unser Pfarrer hatte uns noch gesagt, lasst euch bloß nicht mit Kerzen, lila Tüchern und Blumen erwischen. Natürlich kamen wir mit Kerzen, lila Tüchern und Blumen. Wir wurden festgenommen wegen Rowdytum. Mit Rowdytum hatte das nichts zu tun, wir standen da einfach nur rum. Aber es war groß in der Westpresse, es waren ja alle da und haben gesehen, wie wir vor dem Kino zusammengeknüppelt wurden."

Als Stracke aus dem Gefängnis kam, waren viele seiner Freunde schon in den Westen abgeschoben worden. Und er bekam die Stasi-Zersetzungsmaßnahmen am eigenen Leib zu spüren. "Ich hab überall auf Granit gebissen, nichts ging mehr für mich." Aber er wollte da bleiben. Weil er in der DDR etwas verändern wollte. Dann hat er mit seiner nächsten Band L'Attentat beschlossen: "Jetzt nehmen wir kein Blatt mehr vor den Mund. Nix mehr zwischen den Zeilen. Jetzt straight ahead."

Die Folge: wieder Vorladungen, Verhöre, im DDR-Jargon "Klärung eines Sachverhalts" genannt. Schließlich fand man in Strackes Wohnung die Songtexte seiner Band und von ihm verfasste Berichte über den DDR-Untergrund, die in Westzeitungen veröffentlicht worden waren. Erneute Verhaftung wegen "Herabwürdigung der sozialistischen Ordnung" und "Verbreitung von Nachrichten im Ausland, die geeignet sind, den Interessen der DDR zu schaden". Stracke bekam ein Jahr und sieben Monate. Nachdem er wieder rauskam, verließ er die DDR - der Westen hatte ihn freigekauft.

Die Punks ließ man gerne gehen. Manche mussten gar nicht erst den Ausreiseantrag stellen - sie wurden rausgeschmissen und durften nicht mehr zurückkehren. Der Dresdner Journalist Torsten Preuß hat seine Erlebnisse in seinem Buch "Eine Liebe, zwei Welten" geschildert. Wie er versuchte, sich als unangepasster Jugendlicher im "langweiligsten Land der Welt" durchzuschlagen, mit allen Schikanen. Als Punk und "Träger pazifistischen Gedankenguts" hatte die Stasi auch ihn auf dem Kieker.

Für ihn ist es heute noch unbegreiflich, wie dumm die meisten Menschen in der DDR waren: "Du bist geistig völlig verblödet großgeworden. Wenn du nicht wie wir irgendwie versucht hast, dir irgendwas zu besorgen. Du musstest ja um jedes Buch kämpfen, in dem es andere Gedanken gab." Er lehnte sich auf, war ungehorsam und stellte schließlich für sich und seine kleine Familie den Ausreiseantrag. Der Preis: eine jahrelange Trennung von seiner Frau und dem kleinen Sohn - denn ausreisen durfte nur er.

Preuß wurde am Tag nach dem Mauerfall freier Reporter bei der Tageszeitung "taz", wanderte mit seiner Familie nach Australien aus, lebt heute wieder in Dresden und betreibt einen Youtube-Kanal, auf dem er aufklären will und dafür kämpft, dass die DDR nicht idealisiert wird.

"Ostalgie" verspüren die früheren Rebellen genau so wenig, wie sie damals in den 1980ern die Haltung der West-Punks verstanden haben: "No Future sagen und dabei alle Möglichkeiten haben ... bei uns wurde die Zukunft vorgegeben," sagt Stracke. In der DDR wurden sie verfolgt, weil sie frei leben wollten. "Wir standen mit unserem Gesicht und unserem Namen für unsere Sache ein und haben dafür gezahlt."


Aus: "30 Jahre Mauerfall: "Euch sollte man vergasen": Was es hieß, in der DDR Punk zu sein" (07.11.2019)
https://www.dw.com/de/euch-sollte-man-vergasen-was-es-hie%C3%9F-in-der-ddr-punk-zu-sein/a-51141603 (https://www.dw.com/de/euch-sollte-man-vergasen-was-es-hie%C3%9F-in-der-ddr-punk-zu-sein/a-51141603)

"Punk – Rebellion gegen den Stasistaat: Vorwärts, vorwärts, nie zurück" Ulrich Gutmair (4.10.2020)
Punk wurde in der DDR nicht verstanden, aber brutal verfolgt. Die Kompilation ,,too much future" zeigt, wie sich die SED ihr eigenes Grab schaufelte.
https://taz.de/Punk--Rebellion-gegen-den-Stasistaat/!5715658/ (https://taz.de/Punk--Rebellion-gegen-den-Stasistaat/!5715658/)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 05, 2020, 10:13:37 AM
Quote[...] 30 Jahre nach der Wiedervereinigung haben sich westdeutsche Frauen in Sachen Rückkehr in den Beruf nach der Schwangerschaft den Ostdeutschen oft angepasst, auch wenn Traditionen noch immer dominieren. Das ist das Ergebnis einer Studie von Wissenschaftlerinnen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), des University College London, der Queen Mary's University London und der Universität Köln, die am Freitag veröffentlicht wurde.

Der Studie liegt laut IAB eine Vollerhebung des anonymisierten Datenmaterials der Bundesagentur für Arbeit zugrunde. Davon sei ein Stichprobe von 50 Prozent gezogen worden. Damit sei die Hälfte aller deutschen Frauen, von denen Sozialversicherungsdaten existieren, der Jahrgänge 1946 bis 1994 in die Studie eingeflossen. Besonders seien die Mütter betrachet worden, die zwischen 1986 und 2006 in den Mutterschutz gegangen sind.

,,Nach der Wiedervereinigung, die viele Ost- und Westdeutsche plötzlich mit der jeweils anderen Kultur konfrontierte, kam es durch die darauffolgenden Migrations- und Pendlerströme zu einem regen Austausch zwischen beiden Kulturen", heißt es in der Untersuchung. Die Unterschiede seien nach wie vor groß.

Während sich ost- und westdeutsche Frauen im ersten Jahr nach der Geburt des Kindes gleich verhielten, kehrten viele ostdeutsche Mütter nach einem Jahr in den Beruf zurück, wie es der Norm der DDR entsprach. Dort wurde Frauen ein vollbezahltes Babyjahr gewährt. Nach zwei Jahren seien 50 Prozent der ostdeutschen Mütter wieder regulär beschäftigt, hieß es. In Westdeutschland hingegen seien die 50 Prozent erst nach drei Jahren erreicht. Die Folgen seien finanziell gravierend: Sieben Jahre nach der Geburt verdienten ostdeutsche Frauen im Schnitt wieder 70 Prozent des Einkommens, das sie vor der Geburt bekamen. In Westdeutschland liege die Quote zum selben Zeitpunkt nur bei 45 Prozent.

Arbeiten westdeutsche Frauen in Ostdeutschland, passten sie sich den Gegebenheiten vor Ort an und übernähmen die Muster ostdeutscher Frauen, fanden die Wissenschaftlerinnen heraus. Arbeiten hingegen ostdeutsche Frauen in Westdeutschland, bleiben sie mehrheitlich ihrem tradierten Verhalten treu. Eine Ostdeutsche, die in Westdeutschland arbeite, habe eine um 7,9 Prozentpunkte erhöhte Wahrscheinlichkeit, vier Jahren nach der Geburt noch regulär beschäftigt zu sein, die Wahrscheinlichkeit eine Vollzeitstelle zu haben ist noch um 5,1 Punkte erhöht.

,,Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die kindliche Prägung für Frauen, die in einer Gesellschaft mit stärker angeglichenen Rollenbildern der Geschlechter aufgewachsen sind, eine größere Bedeutung für ihre Rückkehrentscheidung nach der Geburt hat (66 Prozent) als das aktuelle kulturelle Umfeld (32 Prozent)", schreiben die Wissenschaftlerinnen. Im Vergleich dazu würden Frauen, die in einer traditionelleren Kultur aufgewachsen sind, im Erwachsenenalter stark von einem Umfeld mit weniger traditionellen Rollenverteilungen beeinflusst. Weibliche Beschäftigte hätten selbst dann ihr Rückkehrverhalten nach der Geburt geändert, wenn sie zwar nie selbst in einem der neuen Bundesländer gearbeitet hatten, aber mit Frauen aus Ostdeutschland in einem westdeutschen Betrieb zusammenarbeitet haben.


Aus: "Westdeutsche Frauen passen sich im Job oft Ostdeutschen an"  (02.10.2020)
Quelle: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/buero-co/rueckkehr-in-den-beruf-westdeutsche-frauen-passen-sich-im-oft-ostdeutschen-an-16982898.html (https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/buero-co/rueckkehr-in-den-beruf-westdeutsche-frauen-passen-sich-im-oft-ostdeutschen-an-16982898.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 05, 2020, 10:35:17 AM
Quote[...] Mandy Tröger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München

Mein Name ist Mandy. Ich lebe in München. Das scheint auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine außergewöhnliche Kombination. Wenn ich gefragt werde, ob mein ostdeutscher Name ein Problem sei, frage ich mich, wo das Problem eigentlich liegt.

Denn von ,,uns" gibt es viele. Abwanderung von Ost nach West war weiblich geprägt. Gut gebildete Frauen zogen, wie ich, insbesondere nach Süddeutschland, in die großen und mittelgroßen Städte Bayerns und Baden-Württembergs. Fast zwei Drittel der Menschen, die zwischen 1991 und 2007 vom Osten in den Westen gingen, waren Frauen; erst 2007 endete der weibliche Überschuss in der Westwanderung. Während in der Post-Wende-Debatte meist auf die Folgen des dadurch entstandenen Männerüberschusses im Osten geblickt wird, lässt sich die Frage auch umdrehen: Welche Folgen hatte der Ostfrauen-Überschuss eigentlich für das Leben im Westen?

Darüber habe ich mit drei Frauen gesprochen. Sie stammen aus verschiedenen Regionen Ostdeutschlands und leben nun im Norden und Süden der alten Bundesrepublik. Caroline Stachura etwa wohnt in Augsburg, mit Auto, Mann und zwei Kindern, gutbürgerlich. 1980 wurde die Psychologin in Ost-Berlin geboren, ihr Vater ging in den Westen, da war sie sechs. Damit galt er als ,,Republikflüchtiger". Die Mutter wurde verhört, die Staatssicherheit wurde zum Teil des Lebens. Carolines DDR-Erinnerungen sind entsprechend negativ – Repression, Überwachung und staatliche Willkür, das sei ihre DDR.

Nach außen hin verrät nichts, dass sie und ihr Mann ursprünglich aus dem Osten kommen. Beide sind, wie ich, Teil der ,,3. Generation Ost" und haben die DDR nur als Kinder erlebt. Sie sei ,,genauso Ost- wie Wendekind", sagt Caroline Stachura. Die prägende Zeit war also die nach 1990: der Zusammenbruch aller Strukturen und eine Jugend ohne Eltern. Ihre Mutter, eine Psychologin, die in der DDR eigentlich keine hätte werden sollen, es aber dennoch wurde, sicherte den familiären Halt. Ihre Mutter habe ,,immer ihr Ding gemacht" entgegen allen Widerständen, berichtet Stachura mit Stolz. ,,Ostfrauen", das sind vor allem unsere Mütter.

Wie sie den Westen geprägt haben, das zeigen nun Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin. Nach einer aktuellen Studie hat sich die Erwerbstätigkeit westdeutscher Frauen vor allem dort in Westdeutschland erhöht, wo viele Frauen aus dem Osten zugezogen sind. ,,In der DDR sozialisierte Menschen, die nach Westdeutschland zogen, könnten neben dem Umfang der Erwerbstätigkeit also auch die Einstellungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Westdeutschland beeinflusst haben", erklärte Studienautor Felix Weinhard. Haben Westfrauen also von Ostfrauen gelernt?

Eine Dokumentation des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) aus dem Jahr 2019 schreibt den ,,Ostfrauen" als Protagonistinnen schon im Titel die Attribute ,,Selbstbewusst. Unabhängig. Erfolgreich" zu. ,,In der DDR", heißt es da, ,,arbeiten Frauen Vollzeit, müssen niemanden dafür um Erlaubnis bitten", dort gab es ,,andere Wege und andere Formen der Frauenemanzipation – eine von oben verordnete und eine im Alltag gelebte."

Eine Reduzierung der Ostfrau auf die volle Berufstätigkeit sei aber zu verkürzt gedacht, meint Jana Fröbel, Lektorin des Buches Ostfrauen verändern die Republik (Ch. Links 2019). ,,Ostfrau" stehe für den ,,Anspruch, sich im Leben nicht nur über Kinder zu definieren", dieser sei schon sehr ausgeprägt. Neben Kindern und Erwerbsarbeit gebe es jedoch vieles mehr im Leben, das identitätsstiftend sei. Und mehr noch: Ihrer eigentlichen Lohnarbeit konnten viele Frauen aus dem Osten im Westen gar nicht nachgehen.

Sabine Friedrich kommt aus Halle-Neustadt, sie war in der DDR ausgebildete Friseurin. Ihr Sohn Sebastian war vier, als sie im November 1989 ausreisten, sie selbst damals 24. Sie gingen in den Westen, weil alle gingen, erzählt mir Sabine; nicht, weil es ihr in der DDR schlecht ergangen sei. Die Zukunft in der DDR sei unklar und der Traum vom Westen groß gewesen. Letztlich, so weiß sie jetzt, war vieles davon Illusion, aber auch die müsse es ja geben. Arbeitssuche, Jobwechsel und Existenzängste bestimmten ihr Leben in den 1990ern. Es sei eine äußerst schwierige Zeit gewesen. Ihr Sohn Sebastian, inzwischen Journalist und Freitag-Autor, hat ihrer beider Geschichte in einem Radiofeature mit dem Titel Die Ost-West-Migrantin erzählt.

30 Jahre später arbeitet Sabine Friedrich im IT-Bereich, lebt in einem Fachwerkhaus an der französischen Grenze und ist verheiratet, mit einem gebürtigen Ost-Berliner. Noch nie sei sie mit einem Westdeutschen zusammen gewesen, fällt ihr beim Erzählen auf. Und ja, bis heute sei ihre Herkunft Thema, aber eher durch fehlende Regionalität als durch ihre ostdeutschen Wurzeln. Ob Menschen sich denn für ihre Geschichte interessierten, frage ich. Nein, das komme sehr selten vor. Einmal, 1991, habe sie eine Kollegin nach Halle mitgenommen. Die hatte gedacht, in der DDR habe es kein fließend Wasser oder Strom gegeben. Als beide dann durch Halle fuhren, habe die Kollegin gestaunt. ,,Das sieht ja aus wie in Karlsruhe, genau wie Karlsruhe!", wiederholte sie. Als Sabine diese Geschichte erzählt, lacht sie. Sie habe sich mit ihren Friseur-Kolleginnen gut verstanden, auch wenn sie selbst immer anders gewesen sei. Dabei spricht sie stets von ,,Frauen aus dem Osten und Westen". Das Wort ,,Ostfrau" kommt ihr nicht über die Lippen.

Im Streit zwischen Selbstbild und Fremdzuschreibung denkt Bettina Berger bei ,,Ostfrau" vor allem in Bildern: ,,Pippi Langstrumpf und Ronja Räubertochter am FFK-Strand." Das stehe für eine ,,unbefangene weibliche Frechheit" und die ,,große Schnauze am richtigen Fleck". Genauso erzählt die 1967 bei Berlin geborene Pfarrerstochter von ihrem Leben. Es ist eine Geschichte voller Brüche. Nach der Schulzeit in Magdeburg durfte sie nur Theologie studieren und schmiss das Studium 1988. Dann kam die Wende und eine lange Phase der Orientierungslosigkeit. ,,Da war ich sehr verzweifelt", erzählt sie. Ihr habe die Sprache gefehlt, ihre Bedürfnisse auszudrücken. So kamen Hausbesetzung, Ausbildung und Ausland, und letztlich dann doch ein Studium in Frankfurt (Oder). Seit dem Jahr 2001 arbeitet sie an verschiedenen Universitäten, erst in Hamburg, dann Bremen, aktuell an der Privatuniversität Witten/Herdecke. Dieser Weg war nicht vorgezeichnet.

Für die promovierte Kultur- und Gesundheitswissenschaftlerin steht zweiterlei fest. Erstens: ,,Denken durfte man im Osten nicht", und zweitens: Gleichberechtigung der Frau hieß Familienarbeit plus Beruf. Aber auch im Westen ging vieles nicht. Hier kam mit dem ersten Kind ein Bruch in der Karriere, gleichzeitig durfte über Geld nicht gesprochen werden. Die Finanzierung ihres Studiums war ein jahrelanger Kampf.

Frauen aus Ostdeutschland trafen im Westen auf die Gesellschaft einer alten Bundesrepublik, die beim Thema Gleichberechtigung im Erwerbsleben weit hinterherhinkte. Die geschlechtliche Arbeitsteilung war noch stark vom Alleinernährermodell mit dem in Vollzeit erwerbstätigen Mann geprägt.

Für Sabine Friedrich kam der erste ,,richtige Schock" nach ihrer Ankunft im Westen, als die Vollzeitstelle das Überleben nicht sicherte. Irgendwann verstand sie, es lag nicht an ihr, der Beruf der Friseurin war schlecht bezahlt. ,,Das konnte ich gar nicht glauben", erinnert sie sich, ,,dass ich von meinem erlernten Beruf nicht leben konnte." So verbrachte die alleinerziehende Mutter Nachmittage in der Stadtbibliothek und las Gesetzestexte. Sie informierte sich über ihre Rechte.

Dass Frauen und ,,Frauenberufe" so schlecht bezahlt werden, war neu für Frauen aus dem Osten. Nach der Wende pendelte sich der Gender Pay Gap in Ostdeutschland ziemlich schnell bei verhältnismäßig niedrigen sieben Prozent ein, im Westen hingegen liegt die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern derzeit bei 21 Prozent. Ähnlich desolat stand es um die Kinderbetreuung als Voraussetzung für die Erwerbstätigkeit von sowohl Müttern als auch Vätern. Noch immer klafft zwischen der Kinderbetreuungsquote eine große Lücke zwischen Ost und West. Während in Bremen oder Baden-Württemberg nicht einmal 30 Prozent der Kinder unter drei Jahren in einer Kita betreut werden, sind es in Brandenburg oder Thüringen mehr als die Hälfte. Erst seit 2013, seit es den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung gibt, fand im Westen eine beschleunigte nachholende Entwicklung statt. Mit Folgen für die Erwerbsquote von Müttern junger Kinder. Die DIW-Studie zeigt, dass sich auch die Erwerbsquoten der westdeutschen Mütter seit der Wende langsam angenähert haben. Betrug der Unterschied zwischen West und Ost Anfang der neunziger Jahre noch 22 Prozent, liegt er seit ungefähr einem Jahrzehnt bei nur noch vier Prozent. Der unterentwickelte Westen holte etwas auf, kommt in Sachen Gleichberechtigung jedoch noch immer nicht an den Osten ran. 2019 arbeiten nur zwölf Prozent der Mütter kleiner Kinder im Westen Vollzeit, im Osten sind es 29 Prozent.

Sabine Friedrich hat inzwischen drei Berufsausbildungen, ihr Sohn promoviert. Mit Frauen aus Ostdeutschland komme sie dennoch anders ins Gespräch als mit westdeutschen Frauen, das geht auch Caroline Stachura und Bettina Berger so, das sei fast wie ein ,,geschwisterliches Verhältnis".

Und das geht auch mir so. Viele Jahre lebte ich in den USA – auch dort lernte ich einige ,,Ostfrauen" kennen. Man findet sich. Eine Freundin, die 1970 aus der DDR floh und seit 25 Jahren in Arizona lebt, erzählte mir, erst durch die MDR-Doku Ostfrauen habe sie verstanden, warum sie so ist, wie sie ist. Auf die Frage, ob sie Feministin sei, lachte sie. Nein, Feministin, damit könne sie nichts anfangen.

Und tatsächlich funktionieren Begriffe wie Emanzipation oder Feminismus oft in einem Denksystem, das sich am Mann orientiert. Nicht umsonst heißt es in der MDR-Doku, Ostfrauen ,,pfeifen auf Emanzipation, weil sie schon emanzipiert sind". Der ,,Feminismus der Ostfrau" ist also in westliche Sprache gepresstes ostdeutsches weibliches Selbstverständnis. Haben Frauen aus dem Osten Westdeutschland dadurch geprägt? Vielleicht. Zugleich hatten sie aber auch mit Ressentiments und Ablehnung zu kämpfen: Bettina Berger erzählt, viele Westdeutsche seien anfangs ,,erschreckend schnell" darin gewesen, ihr ihren ostdeutschen Hintergrund abzusprechen. ,,Jetzt ist aber genug", hieß es dann, ,,immer diese Geschichten!" Dabei habe sie kaum über ihre Herkunft gesprochen. Dass man im Osten nichts konnte und dumm gewesen sei, diese Vorurteile, erzählt Sabine Friedrich, seien immer da gewesen. Doch diese Konflikte scheinen sich abgeschwächt zu haben. Heute sind sie nicht mehr so ausgeprägt.

Natürlich, meint Sabine Friedrich, könne die junge Generation einiges von Frauen aus dem Osten lernen. Das Wissen, dass frau auch allein durchkommt, Eigensinn und Willensstärke zum Beispiel. ,,Es gibt Dinge im Leben, die mache ich nicht, wenn ich der Überzeugung bin, dass sie falsch sind. Da kann neben mir die Welt zusammenbrechen", betont sie. Das sei ,,mitunter auch echt ein Fluch", aber ändern werde sie sich nicht. Auch die Erfahrung, dass sich von heute auf morgen alles ändern und man selbst dazu beitragen kann, sagt Jana Fröbel, sei besonders.

Damit komme auch das Einsehen, fügt Caroline Stachura hinzu, dass ,,Verhältnisse nicht feststehen" und man sich nicht hinter Strukturen verstecken kann. Wenn man die Frauen so reden hört, wird klar: Ostdeutsche Erfahrung ist auch ein historisches Privileg. Eines, von dem in den letzten 30 Jahren offenbar auch westdeutsche Frauen profitierten.

Wie also umgehen mit dem Namen Mandy? Dazu stehen. Komme, was wolle.


Aus: "Ost-Hilfe zur West-Entwicklung" (Mandy Tröger | Ausgabe 40/2020)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ost-hilfe-zur-west-entwicklung (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ost-hilfe-zur-west-entwicklung)

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Gunnar Jeschke | Community

Die DDR hatte halt bezüglich Gleichberechtigung der Frauen und Respekt vor ihrer Professionalität mindestens 20 Jahre Vorsprung vor der Bundesrepublik.

Und wenn ich mache Fossilien so höre, denke ich, es müssen eher 40 gewesen sein, denn was die sagen, wäre in der DDR schon 1979 öffentlich nicht mehr durchgegangen - und nicht wegen Repression, sondern wegen Lächerlichkeit.


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Stoppel | Community

Komisch. Bei uns sind die regelmäßig rausgeflogen, und wir stellen auch keine mehr ein.


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WuMing | Community

@ Stoppel

Das spricht für die Ostfrauen, die sich offensichtlich nicht so leicht unterwerfen lassen, als die Westmänner!


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Stoppel | Community

@ WuMing

Also wenn man über die Cheffin als "Zecke" schimpft und massive Probleme mit migrantischen Patienten inszeniert, dann ist das schon einen Rausschmiss wert.


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WuMing | Community

@ Stoppel

Das war ihren Kommentar nicht zu entnehmen. Ich bezweifle auch, das ALLE Ostfrauen rassistisch sind. ...


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Stoppel | Community

@ WuMing

Westdeutsche Rassisten und Rassistinnen treten im Alltag nicht so dümmlich aggressiv auf. Ich wohne hier in westdeutscher Provinz, wo man diesen Leuten nicht ohne weiteres ausweichen kann; aber der tägliche Umgang ist insgesamt doch zivilisierter als ich das aus der Ostzone kenne, wo sich diese Leute quasi "an der Macht" wähnen und unbedingt sagen müssen was sie sagen dürfen.


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dbrandt | Community

@ Stoppel

"Ostzone" ist seit Gründung der DDR passé, Sie sprechen doch auch nicht von der "Westzone", sondern von "westdeutscher Provinz".

Westdeutsche Rassisten können im Alltag sehr wohl dümmlich-aggressiv auftreten; das sind zum Beispiel die "netten Nachbarn" mit den Stammtischparolen in angeheiterter Stimmungslage. Natürlich kein Vergleich mit den Wehrsportgruppen, die sich in Westdeutschland in den 70er-Jahren etabliert hatten und gelegentlich auch mordeten.

Aus einem Ihrer Beiträge entnehme ich, dass Sie in einem Pflegedienst arbeiten oder einen solchen leiten. Selbstverständlich ist abwertendes Benehmen gegenüber ausländischen Kunden nicht hinnehmbar und muss mit einer Kündigung beantwortet werden, allein schon als Erziehungsmaßnahme.

Dennoch sollte eine ungehobelte Bemerkung wie "Zecke" gegenüber einer Chefin Anlass zum Nachdenken sein: und zwar über den eigenen Führungsstil und die Arbeitsbedingungen.


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WuMing | Community

@ dbrandt

Ob allein die Bemerkung "Ziecke" eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertig, würde ich gerichtlich klären lassen. Alle Frauen aus den neuen Ländern deshalb des Rassismus zu bezichtigen ist auch eine Form des Rassismus.


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Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 05, 2020, 10:41:21 AM
Quote[...] Harald Hauswald gilt als der Straßenfotograf Ostberlins. Von der Stasi beobachtet, fand er das Leben in der DDR dennoch unbeschwerter

... In den 1990ern folgt er Fußballfans, fotografiert in Rostock-Lichtenhagen Männer, die vor Plattenbauten Hitler grüßen, Nazi-Aufmärsche. Wenn man eine Fieberkurve der Straßenfotografie messen würde, fiele sie vermutlich ab, um bald mit digitaler und Mobiltelefon-Fotografie zu einem breiten, alltäglichen Mahlstrom zu werden.

Hauswald erzählt, dass es in den Neunzigern auch finanziell schwierig wurde, aber vor einer sentimentalen Rückschau hindert ihn die Erinnerung an Enge und Überwachung. Er verdingt sich als Pressefotograf. Gründet mit anderen die heute renommierte Agentur und Fotoschule Ostkreuz. Arbeitet bei Leander Haußmann als Setfotograf. Bekommt Aufträge von der Bundeszentrale für Politische Bildung. Heute sind Opposition, Rebellion, Boheme weniger existenziell, sondern Fragen von Lebensstil. Harald Hauswald, irgendetwas Verwaschenes am Leib, Zigaretten, beobachtet all das mit der Kamera. Reist, geht Wege durch die Stadt. Ohne Druck.


Aus: "Rumlaufen, Motivsuche" (Lennart Laberenz | Ausgabe 36/2020)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/rumlaufen-motivsuche (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/rumlaufen-motivsuche)

https://www.co-berlin.org/exhibitions/harald-hauswald (https://www.co-berlin.org/exhibitions/harald-hauswald)

http://www.harald-hauswald.de/ (http://www.harald-hauswald.de/)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 05, 2020, 11:23:37 AM
Quote[...] Köln, Düsseldorf (dpo) - Deutschland, einig Vaterland? So einfach ist das offenbar nicht. Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung haben viele Menschen immer noch erschreckende Vorurteile: Einer neuen Umfrage zufolge hat ein Großteil aller Kölner eine schlechte Meinung über Düsseldorfer.
"Es ist sehr ernüchternd, zu sehen, dass sich fast drei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer die alten Klischees so hartnäckig gehalten haben", erklärt Heinz Geiwasser vom Meinungsforschungsinstitut Opinion Control. "Auch heute noch sind rund 57 Prozent aller Kölner davon überzeugt, dass Menschen aus Düsseldorf arrogante schnöselhafte Angeber sind, die ekelhaftes dunkles Bier trinken und auf der hässlichen Seite des Flusses leben. Man kann schon fast sagen: Der Rhein in den Köpfen treibt immer noch einen Keil zwischen beide Städte, die doch nur 34 Kilometer voneinander entfernt liegen."
Kann also von einem vereinten Deutschland gar keine Rede sein? Demoskop Geiwasser sieht das differenziert: Zwar seien auch in Düsseldorf noch viele der alten Vorurteile gegen Köln als schäbige Stadt mit Minderwertigkeitskomplex und wässrigem Möchtegern-Bier in winzigen Reagenzgläsern präsent. "Doch immerhin muss man feststellen, dass es im Kleinen durchaus Fortschritte gibt", erklärt er.
So sei es mittlerweile durchaus möglich, mit einem Düsseldorfer Kennzeichen in Köln nach dem Weg zu fragen, ohne ständig zur nächsten Mülldeponie gelotst zu werden. Auch Ehen zwischen Kölnern und Düsseldorfern gebe es inzwischen vereinzelt.
"Man würde sich natürlich wünschen, dass der Geist von 1989 hier noch mehr Einzug hält", so Geiwasser. "Jetzt aber genug davon. Als Münchner habe ich es langsam satt, mir dauernd über diese Saupreißn das Maul zu zerreißen. Des is doch alles des gleiche großkopferte Gschwerl!"



dan; Erstveröffentlichung: 3.10.2018 (Jahreszahlen angepasst)


Aus: "30 Jahre Deutsche Einheit: Viele Kölner haben immer noch Vorurteile gegen Düsseldorfer" (Samstag, 3. Oktober 2020)
Quelle: https://www.der-postillon.com/2018/10/koeln-duesseldorf.html (https://www.der-postillon.com/2018/10/koeln-duesseldorf.html)

...

1. Stimmt das, was im Postillon steht?
Nein, alles, was im Postillon steht, ist Satire und somit dreist zusammengelogen. Alle auftauchenden Charaktere sind fiktional, Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig. Das sollte eigentlich offensichtlich sein, ...
https://www.der-postillon.com/p/faq.html (https://www.der-postillon.com/p/faq.html)

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 06, 2020, 11:53:30 AM
Quote[...] bei der DDR-Geschichte fällt es auf, wie sehr die Sicht auf dieses Land nach wie vor durch eine West-Brille betrachtet wird und lauter Forschungsergebnisse vereinzelt nebeneinanderstehen und nichts zusammenpasst. Gunnar Deckers Buch ist tatsächlich das erste Buch, das eine realistische DDR-Erzählung sichtbar macht.

Der Philosoph, Kritiker und Sachbuchautor Gunnar Decker hat schon in der jüngeren Vergangenheit mit Büchern zum Osten und seiner Vergangenheit auf sich aufmerksam gemacht – im Jahr 2000 mit dem Reportagenband ,,Gefühlsausbrüche oder Ewig pubertiert der Ostdeutsche", den er gemeinsam mit seiner Frau Kerstin Decker schrieb, und 2015 mit ,,1965 – der kurze Sommer der DDR".

1965 ist den meisten Ostdeutschen kein Begriff, eigentlich wie die komplette DDR-Geschichte. Denn was sie im Geschichtsunterricht lernten, hatte mit dem, was wirklich geschah, wenig zu tun. Es war die Propaganda-Variante dessen, was die SED gern als Geschichte auswendig gelernt haben wollte. Ein langweiliges, tristes Konglomerat, in dem alles, was ostdeutsche Geschichte tatsächlich aufregend und spannend gemacht hätte, wegretuschiert worden war. Ganz in stalinistischer Manier: Wer in Ungnade gefallen war, verschwand erst nach Bautzen und dann aus den Fotos und Büchern.

Und dass die DDR-Funktionäre genau so handelten, wurde spätestens 1988 auch dem Letzten klar, als der Vertrieb des sowjetischen Monatsmagazins ,,Sputnik" in der DDR verboten wurde, weil darin ungeschönt über Stalin und seine Verbrechen berichtet wurde.

Diesen Vorgang erwähnt Decker freilich nicht. Er hat seinem Buch sogar eine kleine Liste angehängt mit Vorgängen, die er nicht noch extra erwähnt hat. Denn sonst wäre sein Buch am Ende ein fetter 1.000-Seiter geworden. Schon all das, was er in diesem Buch über die späten Jahre der DDR erzählt, gehört eben nicht zur heute wahrgenommenen DDR-Geschichte. Als wären wir irgendwo im Jahr 1990 steckengeblieben und nie über Stichworte wie Mauer, Stasi, Mauertote, Bautzen, Trabi, Sandmännchen und Diktatur hinausgekommen.

Die Sicht auf DDR-Geschichte wird von westdeutschen Kommentatoren dominiert und schwankt zwischen finsterer Unterdrückung und Ostalgie-Kitsch. Man hält an seinen alten Feindbildern und der alten Verachtung fest, ganz so, als könnte man allein mit dieser Verachtung dafür sorgen, dass dieses lästige Land einfach verschwindet – so, wie es auch einige Parteikämpfer 1990 so gern formulierten: auf den Müllhaufen der Geschichte.

Nur: Die Geschichte kennt keine Müllhaufen. Sie verwertet alles wieder und wieder. Sie prägt Menschen. Und sie lässt keine weißen Flecken zu. Und sie erzeugt ein Gefühl des Unbehagens, wenn das einfach immer wieder ignoriert wird und die betroffenen Menschen nie gefragt werden. Es wird immer nur über sie gesprochen. Und was gesprochen wird, ist falsch, löcherig, schief. Die alte falsche Geschichtsschreibung wurde durch eine neue falsche Geschichtsschreibung ersetzt.

Das wurde schon mit Gunnar Deckers ,,1965"-Buch deutlich. Das Jahr war eine der vielen Zäsuren in der Geschichte der 1949 gegründeten DDR. Einer der vielen Scheidewege, an denen eine der vielen möglichen anderen Entwicklungen der DDR mit Gewalt abgeschnitten wurde. Andere solcher Scheidepunkte waren der Volksaufstand 1953, die Entmachtung der Schirdewan-Gruppe 1958, der Sturz Ulbrichts 1971 und die folgende desaströse Wirtschaftspolitik, Helsinki 1975 und natürlich 1976 – die Ausbürgerung von Wolf Biermann.

Womit wir am Ausgangspunkt dieses Buches sind. Denn mit Biermanns Ausbürgerung begann nicht nur die Spätphase der DDR. Mit der Ausbürgerung verlor die SED-Führung ihren Rückhalt in der Intelligenz des Landes. Die hat Erich Honecker schon immer verachtet. Das war schon 1965 sichtbar, als er das 11. Plenum des ZK der SED zum Kahlschlag-Plenum machte und die besten Autoren und Regisseure des Landes öffentlich anprangerte und ihre Werke verbieten ließ. Womit auch die gerade begonnene künstlerische Öffnung des Landes und die beginnende Diskussion über die eigene Gesellschaft radikal abgewürgt wurden.

Umso verblüffender, dass Honeckers Machtübernahme 1971 dann sogar als eine Art frischer Wind empfunden wurde. Gerade unter Künstlern. Eigentlich war es gar nicht erst die Biermann-Ausbürgerung, die zeigte, dass die Honecker-Truppe überhaupt nicht abweichen wollte vom alten stalinistischen Kurs. Schon 1975 wurde zum Beispiel die Klaus-Renft-Combo verboten. Renft-Texter Gerulf Pannach unterzeichnete dann 1976 wie etliche andere beliebte und renommierte Künstler der DDR den Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung.

Den Protest wollte die SED-Spitze so bereinigen, wie sie schon frühere Protestaktionen ostdeutscher Künstler bereinigt hatte – mit Druck, Nötigung, Kesseltreiben, das einige der Unterzeichner seelisch tatsächlich zermürbte und krank machte. Viele kündigten jetzt aber endgültig ihre Beziehung zu diesem Staat – die DDR erlebte den größten Verlust ihres künstlerischen Potenzials, weil die Gemaßregelten ihre Koffer packten und lieber in den Westen gingen – wohin viele eigentlich nie gewollt hatten. Das arbeitet auch Gunnar Decker sehr quellenreich und genau heraus.

Viele DDR-Künstler sahen im Experiment DDR tatsächlich die einmalige Chance, ein anderes, menschlicheres Deutschland zu schaffen. Und das, obwohl in den Zeitungen und im Fernsehen des Landes nicht diskutiert werden durfte. Wo aber dann? Das ist das eigentlich Verblüffende an Deckers Buch, der in den 1980er Jahren Philosophie studierte an der Humboldt-Universität in Berlin: Es wurde tatsächlich diskutiert.

Jenseits der offiziellen Zeitungen hatte sich eine informelle Welt herausgebildet, in der alles, was im Land passierte, jeder winzige Kurswechsel, jeder Lichtblick, jeder Husarenstreich tatsächlich diskutiert wurde. Und das Westfernsehen spielte dabei nur eine geringe Rolle. Auch das verblüfft. Aber allein die Bücherliste, die Gunnar Decker aufmacht, zeigt, dass dieses informelle Diskutieren das ganze Land erfasst hatte. Was die SED-Zensoren versuchten zu unterdrücken, machte trotzdem die Runde.

Und was in den Zeitungen nicht diskutiert werden sollte, verlagerte sich in Buchtitel, die ein enormes Echo im Land auslösten und allein schon durch die verkaufte Auflage zeigten, dass sie einen Nerv getroffen hatte. Selbst wenn sie jahrelang in der Genehmigungsschleife der ,,nicht existenten" Zensur steckenblieben, fanden sie bei Erscheinen sofort ihre Leser. Und Decker hat sie – wie es aussieht – alle noch einmal gelesen.

Und so kann er schon fast nur anhand von Buchtiteln die komplette Geistesgeschichte der späten DDR nachzeichnen. Angefangen von Strittmatters ,,Wundertäter III" über Maxie Wanders ,,Guten Morgen, du Schöne", Christa Wolfs ,,Kassandra" und ,,Störfall" bis zu Christoph Heins ,,Tangospieler" und ,,Die Ritter der Tafelrunde" oder Volker Brauns ,,Hinze-Kunze-Roman" oder ,,Die Übergangsgesellschaft".

Er vergisst auch die heiß diskutierten Theaterinszenierungen nicht, nicht den bunten Vogel Dean Reed, nicht den Weggang Manfred Krugs und auch nicht Christoph Heins Rede gegen die Zensur auf dem Schriftstellerkongress 1987. Und natürlich auch nicht die Wirkung von Gorbatschows Glasnost und Perestroika, die bei den Intellektuellen in der DDR auch deshalb auf fruchtbaren Boden fiel, weil sich engagierte Herausgeber auch bemüht hatten, die wichtigsten Autoren der sowjetischen Tauwetter- und Perestroika-Literatur in der DDR zu veröffentlichen.

Auch das lauter Bücher, die von Hand zu Hand gingen und all die Diskussionen auslösten, die offiziell unerwünscht waren – über Hochrüstung (Aitmatows ,,Der Tag zieht den Jahrhundertweg"), Umweltzerstörung (Rasputins ,,Abschied von Matjora"), das Teuflische am Stalinismus (Bulgakows ,,Der Meister und Margarita"), unterdrückte Forschung (Granins ,,Sie nannten ihn Ur"). Im Spiegel des ,,Großen Bruders" wurden die Fehlentwicklungen im Land sichtbar, derselbe gnadenlose Geist und der gleiche Verlust jeglicher Utopie.

Den genau schafften die Hardliner in der SED-Führung ja mit all ihren immer wiederkehrenden Tribunalen, Kahlschlägen, Verboten und Ausbürgerungen: Sie nahmen dem Land jede Alternative, all das, was Menschen eigentlich noch emotional mit einem Staat verbindet. Aber ein Staat, der Veränderung nicht mehr zu denken wagt, schafft ganz folgerichtig eine Stimmung der Enttäuschung, der Hoffnungslosigkeit, der Ausweglosigkeit. Und bei jenen Autor/-innen, die nach 1990 überhaupt wagten, darüber zu schreiben, wird diese Zermürbung sichtbar. Immer wieder taucht Christa Wolf derart auf im Text, auch weil sie schon vor 1989 darüber schrieb.

Die 1980er Jahre sind im Grunde ein Hallraum, in dem die namhaften Künstler dieser Enttäuschung in Film, Bild und Buch Ausdruck verliehen. Und wer Deckers Analysen dazu liest, spürt wieder die Wucht all dieser Kunstwerke, die die obersten Zensoren irgendwann einfach nicht mehr verbieten konnten. Oder auch wollten.

Obwohl Deckers Analyse wohl stimmt: Mitte der 1980er Jahre war ihre Macht verschlissen. Sie hatten ihren Rückhalt verspielt. Sie waren lächerlich geworden und hatten sich auch lächerlich gemacht, denn gerade die besten Autor/-innen pfiffen jetzt auf die Genehmigungspraxis, veröffentlichen ihre Bücher oft gleich im Westen und schufen damit genau den Widerspruch, aus dem die Zensoren in Ostberlin nicht mehr herauskamen.

Und beim erneuten Lesen der Bücher ist Decker noch heute verblüfft, wie genau sie den Nerv der Zeit trafen und eigentlich den Abgesang an der DDR vorwegnahmen, Jahre, bevor das berühmte Volk auf die Straßen ging. Wobei auch das nicht stimmt. Das Volk kam erst, als die Dinge längst ins Rutschen gekommen waren. Auch in der Friedlichen Revolution verweigerte die angebetete Arbeiterklasse die ,,führende Rolle". Und als sie dann in Scharen kam, ging es – wie die 20 Jahre zuvor – nur noch um materielle Dinge.

Gunnar Decker zeigt auch sehr anschaulich, wie die Entwicklungen in der Sowjetunion die Entwicklung in der DDR beeinflussten. Und wie die Selbstermächtigung schon viel früher begann, nicht erst 1989. Die Friedens- und Umweltbewegung in der DDR streift Decker nur am Rande. Beide gehören ja längst schon zum besser erforschten Teil der DDR-Geschichte, besser erforscht als die Geschichte der Künstler und Autoren, die natürlich 1976 vor einer fast unlösbaren Frage standen: Resignieren? Weggehen? Oder Weitermachen und – so wie Christa Wolf – nach der eigenen Wahrhaftigkeit suchen?

Ergebnis offen. Auch Christa Wolf wusste nicht, wohin sie diese Selbstbefragung führen würde. So wenig, wie der Maler Werner Tübke wusste, wohin ihn die zwölfjährige Arbeit am Bauernkriegs-Panorama bei Frankenhausen führen würde. Oder Heiner Müller, der selbst verblüfft war, wohin ihn die Teile III bis V der ,,Wolokolamsker Chaussee" führten.

Wer diese letzten zehn bis 14 Jahre der DDR immer nur mit dem (Propaganda-)Material der DDR-Fernseharchive bestückt, der malt ein falsches Bild von diesem Land. Genauso falsch wie das Bild vom Hitlerreich, das durch die Propaganda-Filme der Nazi-Zeit bebildert wird und heute ganz unübersehbar einigen jungen Leuten ein verlogenes heroisches Bild vom ,,Vogelschiss" suggeriert, während sie die zerstörerische, menschenfeindliche Wahrheit dieser Zeit nicht wahrnehmen.

Und bei Gunnar Decker kommt hinzu, dass er sich auch emsig mit zugänglichen Biografien, Briefwechseln, Erinnerungen beschäftigt hat, in denen die persönlichen Beziehungsgeflechte der von ihm beleuchteten Autorinnen, Maler, Regisseure sichtbar werden. Und damit auch die ganz persönlichen Reaktionen auf alles, was in der DDR geschah. Manche rieben sich auf bis zur körperlichen Zerstörung – so wie Franz Fühmann oder Konrad Wolf, der mit ,,Solo Sunny" einen der eindrucksvollsten Filme über die DDR-Endzeit drehte.

Sein eigentliches Vermächtnis aber schaffte er nicht mehr, in einen Film zu verwandeln. Aus diesem Material machte dann sein Bruder Markus Wolf das Buch ,,Die Troika", das noch kurz vor Ende der DDR für Furore sorgte. Denn Markus Wolf war ja nicht irgendwer: Bis 1986 war er Chef des DDR-Auslandsgeheimdienstes gewesen. Sein Rücktritt und sein Bruch mit der Honecker-Linie waren eigentlich ein kleines Erdbeben. Gab es also in der Nomenklatura doch noch Leute, die den Mut hatten, eine Perestroika in der DDR zu wagen?

Sie kamen, wie wir wissen, nie zum Zug. Und auch Gorbatschow erntete ja in der Sowjetunion nicht die Früchte, die er gern ernten wollte. Auch die Analysen zum Zustand der Sowjetunion in Deckers Buch sind lesenswert. Denn natürlich stand auch all das nicht in DDR-Geschichtsbüchern. Und in neueren steht es auch nicht. Und Deckers Buch macht sichtbar, warum das so ist, warum der übliche Rückgriff auf offizielle Zeitungen und Fernsehbeiträge ein falsches Bild ergeben muss. Es ist wie mit der kompletten Geschichte der Dissidenz in der DDR: Da sie nie offiziell war, ist sie nur aus persönlichen Quellen, Akten und Archiven rekonstruierbar.

Decker erwähnt ja auch Rudolf Bahro, dem er im Westen eine größere Rolle einräumt als im Osten, was auch daran lag, dass seine ,,Alternative" nur im Westen erscheinen durfte, obwohl sie kenntnisreich wie kein anderes Buch den Zustand der Wirtschaft im Ostblock analysierte. Aber das sollten ja die von jubelnden Parteitagen und immer neuen Planübererfüllungen berauschten Bürger der DDR nicht erfahren, denn dann hätten sie 1977 schon gewusst, dass die Art des Wirtschaftens, die da praktiziert wurde, nur in einem ökonomischen Debakel enden konnte. Und musste. Es war nur eine Frage der Zeit.

Vielleicht wurde Bahro tatsächlich nur wenig rezipiert in der DDR. Aber was in seiner ,,Alternative" stand, war zumindest bekannt. Und die DDR-Bewohner hatten sehr wohl mitbekommen, was die Krisen der 1970er Jahre (Kaffeekrise, Erdölkrise) für ökonomische Folgen hatten. Nur findet man die Diskussionen darüber in keinem Zentralorgan, in keiner Parteitagsrede, in keinem ZK-Beschluss. 99 Prozent dessen, was in der DDR geschah, was das Land veränderte und immer weiter in die Sackgasse führte, wurde nirgendwo offiziell dokumentiert. Manchmal blieb es einfach Verschlusssache, manchmal wurde dessen Erwähnung schon zum Beginn schlimmster Sanktionen gehen die Betroffenen.

So gesehen waren Bücher, Filme und Theaterstücke nicht einmal nur ein Ventil für das Nichtsagbare, sondern die Autor/-innen in ihrer Not machten es auf künstlerische Weise sagbar, erfahrbar und lesbar. Oft in verkleideter Form. Aber für viele Enttäuschte, Frustrierte und nach Leben Hungernde waren diese Bücher, Filme, Theaterinszenierungen, Gedichte und Lieder (Bettina Wegners ,,Sind so kleine Hände" zum Beispiel) wie eine Überlebensration. Das nötige Stück Zuversicht, den Zustand des Landes als veränderbar zu denken und sich nicht völlig entmutigen zu lassen, es auch zu verändern. All das, was 1989 geschah, ist ohne diesen geistigen Hintergrund und Vorlauf nicht denkbar.

Gunnar Decker einmal selbst zitiert: ,,Die Bedeutung, die diese Veröffentlichungen damals für uns hatten, lässt sich kaum überschätzen, sie waren buchstäblich geistige Nahrung, etwas, das man heute, im Zustande geborener Sattheit nicht mehr versteht."

Da bezieht er sich auch auf die oft mit jahrelanger Hartnäckigkeit ermöglichten Veröffentlichungen etwa von Bloch und Hilbig im Reclam-Verlag.

Und 1990 war das auf einmal – Makulatur. In dem Jahr mussten ja bekanntlich die DDR-Verlage einen großen Teil ihrer Jahresproduktion schreddern lassen, weil die Buchhandlungen endlich mit dem ersehnten Bücherangebot aus dem Westen geflutet wurden. Dabei gerieten auch Dutzende seit Jahren erwartete Titel in den Schredder, die in der ,,alten" DDR für Furore und Diskussionen gesorgt hätten – im neuen, geeinten Deutschland aber keine Rolle mehr spielten. Auch weil nicht nur Westverlage den ostdeutschen Markt fluteten, sondern weil auch die großen westdeutschen Medienkonzerne die Deutungsmacht über den Osten übernahmen, die sie bis heute nicht aufgegeben haben.

Deswegen riss die eigentliche ostdeutsche Diskussion, die bis 1989 nicht hatte öffentlich sein dürfen, abrupt ab. Mit Folgen, die auch ins Psychische gehen. Decker zitiert dazu Helga Königsdorf mit den Worten: ,,Ich empfand den einseitigen Politiktransfer von West nach Ost als demütigend. Demütigungen sind immer gefährlich, weil die meisten Menschen dann jemanden brauchen, an den sie diese Demütigungen weitergeben können." Geschrieben vor 30 Jahren. Und erstaunlich hellsichtig.

Und Gunnar Decker benennt auch etwas, was die Bewerter zurückliegender Geschichte fast immer vergessen, weil sie schlicht übersehen, dass sie die Folgen von Geschichte schon kennen. Die aber, die im entscheidenden Moment handelten (oder auch nicht handelten), kannten die Folgen nicht. Konnten sie nicht kennen. Decker: ,,Solche Weichenstellungen in der Geschichte muss man immer erinnern, will man mehr als bloßes Treibgut im Hier und Jetzt sein. Wie kamen bestimmte Entscheidungen zustande, welche Umstände und Hintergründe spielten mit hinein in das, was sich dem Einzelnen dann als schicksalhaftes Geschehen darbot?"

Erst wenn man diesen Blick öffnet, sieht man auch die ganze Geschichte der DDR mit ihren Scheidepunkten, Sackgassen und Akteuren, die eben nicht immer nur Ulbricht und Honecker hießen. Und man sieht, dass das Gebilde, dessen Führungszirkel so massiv versagt hatte, mehr war als nur ein Provisorium, das 1990 einfach per Federstrich rückgebaut werden konnte.

Als hätte all das nie eine eigene Identität gehabt, eigene Lebenserfahrungen und Anteil an dem, was ab 1976 in Bewegung kam. Im Osten wohlgemerkt. Nicht im Westen. Der hat auch nach 1990 so getan, als müsse er sich nicht verändern und könne seine Sicht auf alles, was geschah, einfach drüberstülpen. Und das ganze verachtete Ländchen einfach ausradieren aus der (gemeinsamen) deutschen Geschichte.

Es braucht wieder den unbefangeneren Blick des Historikers, der nicht mit Scheuklappen auf diesen als ätschibätschi betrachteten Teil der deutschen Geschichte schaut, sondern auch sehen will, was da liegt – bis hin in diese letzten 14 Jahre, in denen es zuallererst die Intellektuellen waren, die wieder um den aufrechten Gang und das Stückchen menschliche Souveränität zu ringen begannen, ohne das weder ein Staat zu machen ist noch eine Revolution. Die Friedliche Revolution ist ohne diesen Vorlauf nicht denkbar.


Gunnar Decker Zwischen den Zeiten, Aufbau Verlag, Berlin 2020


Aus: "Zwischen den Zeiten: Gunnar Deckers großartige Analyse der späten Jahre der DDR" Ralf Julke (3. Oktober 2020)
Quelle: https://www.l-iz.de/bildung/buecher/2020/10/Zwischen-den-Zeiten-Gunnar-Deckers-grossartige-Analyse-der-spaeten-Jahre-der-DDR-352121 (https://www.l-iz.de/bildung/buecher/2020/10/Zwischen-den-Zeiten-Gunnar-Deckers-grossartige-Analyse-der-spaeten-Jahre-der-DDR-352121)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 06, 2020, 12:12:48 PM
Quote[...]  Der Streit um Wolf fing mit der Veröffentlichung der Erzählung Was Bleibt, die im Jahre 1979 geschrieben aber erst im November 1989 veröffentlicht wurde, an. Wir wissen nicht genau, was im Jahre 1979 geschrieben wurde und was in November 1989 überarbeitet wurde. Am Ende der Erzählung steht: "Juni-Juli 1979/November 1989." Was Bleibt beschreibt die tägliche Stasi Überwachung einer Schriftstellerin. Die Ich-Erzählerin, die, wie wir wissen, Wolf ist, sucht nach einer neuen Sprache, einem Weg aus ihrer kontrollierten Gesellschaft. Die Erzählung ist eine Selbsterforschung der Schrifstellerin und Erzählerin.

    "Was sie daran hinderte, in ihrer literarischen und politischen Opposition, ihrer 'leisen Dissidenz' gegenüber dem SED-Regime noch weiter zu gehen, weniger Kompromisse zu schließen und die Grenzen des für diesen Machtapparat noch Zumutbaren zu überschreiten, hat sie selbst genau gesehen, beschrieben, analysiert und kritisiert."

...  Warum veröffentlichte Wolf Was Bleibt im Jahre 1989? Wußte sie, daß ein Streit folgen würde? Vielleicht müssen wir fragen, was der Titel bedeutet. Was bleibt für die DDR nach dem Fall des Kommunismus? Vielleicht ist ihre Erzählung eine Antwort auf die Debatte um die Vereinigung. Wolfs Ziel der Veröffentlichung Was Bleibt war es, einen Aufruf zur Selbstbefragung zu geben. In Kindheitsmuster schreibt Wolf, "Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen." Deutschland soll die DDR nicht total vergessen, weil das Vergangene und die Mauer noch in unserem Kopf ist. Es gab viel von der DDR zu lernen.

Die Bedeutung der ganzen Debatte war viel größer, als nur der Streit um Christa Wolf und Was Bleibt. Der 'Christa Wolf' Streit folgte kurz nach den Debatten über die nationale Vereinigung, und die Themen des Streites beinflußten diese literarische und intellektuelle Debatte. Was bedeutet die Vereinigung? Verlor die DDR oder gewann die BRD? Wurden die ganzen Ideologien des Ostens verloren? Gab es nur Fehler im Osten und nur positive Aspekte des Westens zu benutzen, um ein vereintes Deutschland zu bauen? Haben die westlichen Schrifsteller eine höhere Moralität? Als ein Gegner der Vereinigung und wegen ihrer Loyalität zum Sozialismus war Christa Wolf ein Symbol dieses Streits.

...


Aus: "Die Debatte um Christa Wolf und "Was Bleibt"" (Datum ?)
Quelle: http://facultysites.vassar.edu/vonderem/g301/project/Wolf/article.html (http://facultysites.vassar.edu/vonderem/g301/project/Wolf/article.html)

http://facultysites.vassar.edu/vonderem/g301/project/Wolf/ (http://facultysites.vassar.edu/vonderem/g301/project/Wolf/)

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Quote[...] Zeitenwende : ,,Hauptsache, die Gesinnung stimmt" - Wie die Schriftstellerin Christa Wolf nach dem Ende der DDR aus der gesamtdeutschen Literatur ausgeschlossen werden sollte.

... Im Juni 1990, da existierte die DDR noch, wenn auch nur noch auf Abruf, erscheint eine 76 Seiten schmale Erzählung, eher ein Bericht, von Christa Wolf mit dem Titel ,,Was bleibt". Ohne Fragezeichen ist dies eine simple Feststellung. Das westdeutsche Feuilleton von Ulrich Greiner bis Frank Schirrmacher stürzt sich mit Häme, in der böse Vernichtungslust funkelt, auf ,,Was bleibt". Für sie soll selbstverständlich nichts von der verhassten DDR bleiben, am wenigsten ihre wichtigsten intellektuellen Repräsentanten von Stephan Hermlin und Stefan Heym bis Heiner Müller und Christa Wolf, die man bis eben als kritische Reformstimmen eines demokratischen Sozialismus aus der DDR zumindest achtungsvoll behandelt hatte. Man hielt es jetzt mit den lupenreinen Dissidenten, oft ohne Werk, aber wenn sie in der DDR immer ihren Feind erblickt hatten, vielleicht sogar im Gefängnis gewesen waren (und sei es nur für einige Tage) und immer so schnell wie möglich rauswollten aus der DDR, in ,,die Freiheit", wie es so hinreißend naiv hieß, dann bekamen sie nun die große Bühne. Es war wieder wie bei den dogmatischen SED-Funktionären, die meinten, ob jemand was kann oder nicht, ist zweitrangig, Hauptsache, die Gesinnung stimmt. Die Hoffnungsträger auf eine andere DDR wurden ab Anfang 1990 schlicht kaltgestellt, sollten ihrer moralischen Integrität beraubt werden.

... 1989 wurde Christa Wolf sogar als Nobelpreiskandidatin ins Gespräch gebracht – 1990 hatten sich die Koordinaten der Welt schlagartig verändert. Das Schicksal der DDR war besiegelt, der Osten Anschlussgebiet – und kritische Intellektuelle galten nur noch als ,,Staatsdichter", die zudem fast alle irgendwie – jedenfalls zeitweise – einmal Kontakte mit dem Ministerium für Staatssicherheit hatten.

... Natürlich ist Christa Wolfs ,,Was bleibt" gar keine Wendeliteratur, sondern wurde bereits 1979 geschrieben und erschien – da es in der DDR keinesfalls zu veröffentlichen war – nach geringfügiger stilistischer Überarbeitung 1990 im Aufbau-Verlag. Ein Dokument der existenziellen Verunsicherung. Ein Protokoll der aufsteigenden Angst, im Spannungsverhältnis zur Parteispitze könnten die eigenen schöpferischen Fähigkeiten verloren gehen. Genauer: zerstört werden.

... Im Jahr 1979 scheint es für Christa Wolf noch zu früh, alle Brücken hinter sich abzubrechen, die Worte auszusprechen, die einen nicht mehr rückgängig zu machenden Bruch vollziehen. Nicht mit dem Außen, das fremd, gar feindlich geworden ist, sondern mit sich selbst. Die Unruhe, die sie beherrscht, zeigt es: Wenn man drinsteckt im Chaos der eigenen nicht getroffenen Entscheidungen, dann weiß man bald nicht mehr, wann es noch zu früh und wann schon zu spät dafür ist. Das ist auch die Frage, die sich durchs Buch zieht: nicht, wann er wirklich da ist, der richtige Zeitpunkt, an dem man über all das Ungeklärte, das man in sich trägt, reden kann, sondern, ,,würde ich spüren, wann es an der Zeit ist?".

In dem Buch wird der Alltag einer Schriftstellerin geschildert, ihr eigener. Das vertraute Umgehen mit ihrem Mann, der mit Sorge bemerkt, sie könnte sich selbst verloren gehen. Eine der seltenen Lesungen, die sie zu dieser Zeit in einem Kulturhaus hat – mit viel bestelltem Publikum und jenen Türstehern am Eingang, in denen sie ihre ständigen Begleiter von vor der Haustür zu erkennen glaubt. Beginnt so die Paranoia?

Christa Wolf hält das für ein Geschehen an der Grenze zwischen Realität und Traum. Es vermengt sich zur dunklen Alptraumszenerie. ,,Ich hatte weder Angst noch überhaupt ein Gefühl, auch mit mir selbst stand ich nicht mehr in Kontakt, was waren mir Mann, Kinder, Brüder und Schwestern, Größen gleicher Ordnung in einem System, das sich selbst genug war. Das blanke Grauen, ich hatte nicht gewusst, dass es sich durch Fühllosigkeit zeigt."

Mit ,,Was bleibt" hat Christa Wolf einen kafkaesken Text über die Facetten der Abtötung geschrieben. Sie macht dabei im depressiven Zustand unerhörte Entdeckungen an sich selbst – aber wird sie diese schreibend in einen gültigen Ausdruck verwandeln können? Um nicht mehr, aber auch nicht weniger als diese für sie existenzielle Frage geht es hier.

...


Aus: "Zeitenwende: ,,Hauptsache, die Gesinnung stimmt"" Gunnar Decker (27.9.2020)
Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/zwende/hauptsache-die-gesinnung-stimmt-li.103899 (https://www.berliner-zeitung.de/zwende/hauptsache-die-gesinnung-stimmt-li.103899)

Gunnar Decker (geboren 1965 in Kühlungsborn)
https://de.wikipedia.org/wiki/Gunnar_Decker (https://de.wikipedia.org/wiki/Gunnar_Decker)

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Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 06, 2020, 03:39:37 PM
Quote[...] Die kleine Tochter kam im Herbst 1984 aus der Schule und wollte den Pionier-Gruß zeigen, den sie am Vormittag gelernt hatte. Sie lehnte die Fingerspitzen der rechten Hand an den Kopf und sprach mit heiligem Ernst: ,,Für Frieden und Sismaliskus – seid bereit!"

Das Wort für die größte politische Errungenschaft war für sie eine ungenaue phonetische Erinnerung. Was auch sonst, Siebenjährige können nicht wissen, was Sozialismus bedeutet und wie sie sich dafür bereithalten sollten. Sogar: ,,Immer bereit!" Das war die rituelle Antwort auf den Gruß – so angelernt wie andere Symbole: Ein Freund wartete mit seinem Sohn in Schöneweide auf die S-Bahn, als eine Reparaturlok vorbeifuhr. An ihrem Ende wehte eine rote Signalflagge als Warnung. Der Junge winkte und rief: ,,Eine Arbeiterfahne! Eine Arbeiterfahne!" Er freute sich über sein Kindergartenwissen.

Die offizielle Sprache der DDR setzte früh an und ließ später nicht mehr locker. Sie verschrieb Wörter zur Benutzung wie Rezepte. Sie erließ Regeln, hinter denen sich alte Wörter verstecken mussten. Sie ignorierte Widersprüche.

Seit dem 7. Oktober 1949 hieß mein Land ,,Deutsche Demokratische Republik". Den vorläufigen Charakter des Staates beschrieb ein Begriff des Marxismus-Leninismus: ,,Diktatur der Arbeiterklasse". Beides zusammen geht eigentlich nicht. Die Diktatur sollte mit dem Erreichen der klassenlosen Gesellschaft wegfallen, aber der Begriff wurde benutzt und klang bedrohlich: 1975 nannte Erich Mielke sein Ministerium für Staatsicherheit ein ,,spezielles Organ der Diktatur des Proletariats".

Warum war Sprache unserer Politiker so langweilig: ,,Unsere marxistisch-leninistische Ideologie ist eine Ideologie des kämpferischen Humanismus, ihr Optimismus, ihre Zukunftsgewissheit ist wissenschaftlich begründet in der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung." So trat Kurt Hager, Politbüro-Mitglied, am 26. September 1985 im Vorstand des Schriftstellerverbandes auf – vor Leuten, die beruflich mit Sprache umgehen.

Die Führung des Landes lebte in einer vorgegaukelten DDR und war trotzdem misstrauisch. Sie verbot Filme, Ausstellungen, Dramen und Kabarettprogramme, sie untersagte Druckgenehmigungen, nannte ihre kritischen Bürger ,,feindlich-negative Kräfte". Juni 1952 wurden als politisch unzuverlässig eingeschätzte Personen aus dem Sperrgebiet entlang der innerdeutschen Grenze entfernt: ,,Aktion Ungeziefer".

Den Umgang mit Geschichte kennzeichnete Willkür. Bis zu ihrem Ende verschwieg die DDR-Führung die Monstrosität der stalinistischen Verbrechen. In der Schule und im Studium habe ich außer dem kurz abgehandelten ,,Personenkult" nichts darüber erfahren. Stalins ,,Säuberungen" trafen bis zu 20 Millionen Menschen. Ein Opfer war der Journalist und Spanienkämpfer Michail Kolzow, 1940 in Moskau vom NKWD gefoltert und erschossen.

In einem Klub in Halle wurde 1987 eines seiner Bücher vorgestellt. Besucher bedauerten, dass Kolzow den Fortschritt in der Welt nicht mehr erleben konnte. Ja, das hätte man ihm auch gerne gewünscht, schrieb Dr. Harald Wessel im ,,Neuen Deutschland" vom 31.10./1.11.1987, aber: ,,Es sollte nicht sein." Die Geschichte unseres Jahrhunderts gebe Zuversicht: ,,Man muss sie nur vernünftig befragen: wahrhaftig und klassenbewusst, sachkundig und mit Sinn für das Wesentliche."

Einige Wörter standen im Verbund. ,,Unverbrüchlich" war als ,,unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion" üblich. Bei denen ganz oben kam es zum ,,Bruderkuss", erst auf die Wangen, später auf den Mund. Die Begrüßung internationaler Delegationen begannen mit der sowjetischen, auch beim Verband der Film- und Fernsehschaffenden. Aber 1988 – seit Gorbatschow litt die Freundschaft – wurde die ,,Union der sozialistischen Sowjetrepubliken" dem Alphabet folgend an vorletzter Stelle begrüßt, vor Vietnam.

Anfang April veröffentlichten alle SED-Zeitungen die Losungen für den 1. Mai. 1989 waren es 48, wie diese: ,,Mein Arbeitsplatz – Mein Kampfplatz für den Frieden!" Oder, etwas länger: ,,Durch die Verwirklichung der ökonomischen Strategie zu hoher Arbeitsproduktivität, Effektivität und Qualität – Dynamisches Wirtschaftswachstum durch breite Anwendung und effektive Nutzung der Schlüsseltechnologien!"

Haben die Auftraggeber wirklich geglaubt, dass jemand das lesen und sich zu Herzen nehmen würde? Wem ist ,,Antifaschistischer Schutzwall" als Begriff für die Mauer eingefallen? Die DDR hätte am 13. August 1961 die Grenze gegen Faschisten aus dem Westen gebaut? Aber die Mauerstürmer, die ,,Grenzverletzer", kamen doch aus dem Osten.

Auf der Trabrennbahn Karlshorst starteten zwei Pferde vom Gestüt der Nationalen Volksarmee, sie hießen ,,Fahnenmast" und ,,Staatsgrenze".  Mit der Trennung von Kirche und Staat sollten christliche Symbole verschwinden. Kleine Kartons wurden mit ,,Jahresendflügelfigur" abgestempelt. Drinnen lagen geschnitzte Engel aus dem Erzgebirge. In meinem DDR-Lexikon von 1977 kam ,,Weihnachten" auf zweieinhalb Zeilen vor, am Schluss stand: ,,... heute vorwiegend rein weltl. gefeiert".

Es ging immer um Agitation und Propaganda, um die Linie, die Lage, die Weltlage. Aber es funktionierte nicht.

Wäre es wahrscheinlich gewesen, dass DDR-Bürger die gedruckten Reden der SED-Parteitage ganz durchgelesen, das Wort Engel vergessen oder vom antifaschistischen Schutzwall gesprochen hätten?

Die Leute erzählten sich lieber Witze. Der Lehrer fragt Fritzchen: ,,Was ist das? Es ist rothaarig, klein und hat einen langen Schwanz?" Fritzchen antwortet: ,,Wenn mich das mein Vater gefragt hätte, würde ich sagen: ein Eichhörnchen. Aber bei Ihnen wird das bestimmt wieder Lenin sein."

Nach der Wende wurde ich oft gefragt, wie wir die Diktatur aushalten konnten. Glaubt mir, sagte ich, es war nicht wie in Nordkorea: Es gab privates Leben, Freundeskreise, Medien mit Facetten wie ,,Sonntag" oder ,,Wochenpost", legendäre Theaterabende, Maler, Autoren und Regisseure, deren Arbeiten dem Publikum halfen, anspruchsvoll und wach zu bleiben. Manche Kollegen bauten in ihre Artikel eine auffällig kesse Formulierung ein, auf die sie dann einsichtig verzichteten, um den übrigen Text durchzubringen.

Die Ostdeutschen suchten nach Maßstäben – Gabriel Garcia Marquéz unterm Ladentisch, Giorgio Strehler beim Gastspiel, ein Gefühl von Welt bei der Dokumentarfilmwoche. Bei der Leipziger Buchmesse haben wir geklaut wie die Raben. Wir sahen Westfernsehen, gaben eingeschmuggelte ,,Spiegel"-Hefte weiter und waren lange nicht so doof, wie viele Westler bis heute glauben.

Unser Empfang war nüchtern: ,,Die Entwertung unserer besten und schwächsten intellektuellen Traditionen ist für mich einer der bösesten Aspekte an dem Erbe, das die DDR in die erweiterte Bundesrepublik einbringt." Das schrieb der westdeutsche Philosoph Jürgen Habermas im Mai 1991 in der ,,Zeit". Der ostdeutsche Theologe Richard Schröder antwortete, auch in der ,,Zeit": ,,Peinlich für uns, denn wir naiven Ossis haben gedacht: Die freuen sich, wenn wir kommen."

Otto Schily hielt im März 1990 eine Banane in die Kamera, sein Kommentar zum Wahlverhalten der Ostler. Wir wurden zu Witzfiguren, beobachteten unsererseits die Westler und dichteten: ,,Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm. Beim Wessi ist es andersrum."

Nach dem Mauerfall – zuletzt war ich Autorin beim Defa-Studio für Spielfilme, arbeitete aber auch als Journalistin – begann meine anstrengendste Zeit. Zum Beispiel als Berliner Büroleiterin vom ,,Stern": Von mir angebotene Themen liefen unter ,,Ostscheiß". Ich verlor das Gefühl von Kompetenz und flog nach fünf Monaten raus, immerhin mit Abfindung.

Ich wohne schon immer in Berlin-Mitte. Inzwischen muss ich überlegen, wie meine Umgebung früher aussah, sie ist überlagert durch unaufhörliche Veränderungen. Wenn neue Besitzer Häuser abreißen ließen, hieß der Vorgang ,,Rückbau". Großprojekte feierten ihre Bauetappen mit Spiegelzelt, Gauklern, Wachtelgelatine und Hostessen – das ging in den Baugruben los und war ,,Architainment".

Die öffentliche Sprache der westdeutschen Politiker und Politikerinnen hat selten Charme, Schönheit, Witz, oft klingt sie so leblos wie die im Osten: ,,Prozessoptimierung", ,,effektivere Priorisierung". Vorhaben sind ,,zielführend" oder auch ,,nicht zielführend". Sie sagen ,,von daher", was einen Ortsbezug hat, statt ,,deshalb", was sich auf Gedanken bezieht. Sie sprechen ,,schlussendlich" für ihresgleichen und nicht für ,,die Menschen im Land". Es sieht nach Vergatterung aus, wenn Redner im Bundestag nur von ihrer Partei Applaus bekommen. Beim nächsten Redner klatscht ein anderer Block.

Neue Wörter wurden vorübergehend Mode wie ,,Wendehals" oder ,,Joint Venture". Ich lernte, was ,,Freiwillige Pflichtversicherung", ,,Zinsvorabschlag" oder ,,Nullwachstum" bedeuten. Englisches wird wie ein Gewürz in Texte eingestreut – ohne Übersetzung. ,,Cancel-Culture" ist gerade aktuell. Inforadio meldete, Berlin sei ,,zum Hotspot für Obdachlose" geworden.

Ein guter Mensch verschrumpelte zu ,,Gutmensch", zu einem Schmähwort in der politischen Rhetorik. Der Dichter Durs Grünbein schrieb im Januar 2019 in der ,,Zeit": ,,Das Wort torpediert nun alles, was auch nur einen Millimeter vom durchschnittlichen Egoismus der Mehrheitsgesellschaft abweicht." Immerhin erhielt ,,Gutmensch" 2011 den zweiten und 2015 den ersten Platz als ,,Unwort des Jahres".

Mit viel Gewinn habe ich mit Journalisten aus dem Westen zusammengearbeitet. Aber bei einigen blieb mir etwas fremd: die Freude am Polarisieren durch entschiedene Haltung.

Entschiedene, auch verletzende Meinungen gelten als Qualität. Trotzdem möchte ich wissen, ob sie auch stimmen oder sich nur mit der Meinungsfreiheit rausreden. Da habe er mal einen Nerv getroffen – ein Kollege aus dem Westen war stolz, als nach einem Leitartikel starke Kritik kam. Die Möglichkeit, einen dummen Text geschrieben zu haben, zog er nicht in Betracht.

Ein Typ Journalisten lässt Überlegenheit durchblicken, lästert über Äußerliches oder Zweitrangiges – über weiße Socken, ,,Kassengestellbrillen", ,,Reihenhaushälften", ,,Kaff". Der ,,Spiegel" schreibt im Juli in einem eigentlich sehr guten Text über Wirecard: ,,Die Story beginnt in Aschheim bei München, einem gesichtslosen Kaff." Warum kränken Journalisten die Leute, die da wohnen?

Welche Leute stehen ihnen vor Augen, wenn sie schreiben? Texte ziehen zu oft eine Insider-Tonlage durch, als wären sie für andere Journalisten geschrieben, für eine gesellschaftliche Oberschicht oder für Preise.

Ich habe die Ostsprache noch drin, als ich mich von Freunden verabschiede, weil ich noch zur ,,Kaufhalle" muss. Großes Gelächter. Aber vielleicht ist das passiert, weil mein Unterbewusstsein immer noch nicht kapiert hat, was am ,,Supermarkt" super ist.

...


Aus: "Von der Möglichkeit, einen dummen Text geschrieben zu haben" Regine Sylvester (6.10.2020)
Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/zwende/wir-waren-lange-nicht-so-doof-wie-viele-westler-bis-heute-glauben-li.108744 (https://www.berliner-zeitung.de/zwende/wir-waren-lange-nicht-so-doof-wie-viele-westler-bis-heute-glauben-li.108744)

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 15, 2020, 09:26:34 AM
Quote[..] Thomas Gehringer: Sie wurden als Sohn eines syrischen Vaters in der DDR angefeindet.

Kai Schumann: Es gab extremen Rassismus in der DDR. Als Kind wurde ich regelmäßig von einem Nachbarsjungen wahlweise mit Ausländersau, Jude oder dem N-Wort beschimpft. Ich wurde verprügelt, einmal wurde auch mit einem Luftgewehr auf mich geschossen. Meine Mutter schickte mich zum Judo, weil ich lernen musste, mich zu wehren. Heute finde ich Gewalt in jeder Hinsicht uninteressant.

...


Aus: "Interview mit ,,Heldt"-Darsteller Kai Schumann ,,Ich war ziemlich radikal"" (13.10.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/interview-mit-heldt-darsteller-kai-schumann-ich-war-ziemlich-radikal/26271462.html (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/interview-mit-heldt-darsteller-kai-schumann-ich-war-ziemlich-radikal/26271462.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on December 31, 2020, 01:45:00 PM
Quote[...] Medial gesehen sind die meisten Ostdeutschen Kinder des Westens. Den Ostkanälen glaubte man fast nichts, den Westsendern fast alles. Es muss sich also um einen akuten Fall enttäuschter Liebe handeln. Und um gebrochenes Vertrauen. Sehr schwerwiegend. Aber wie konnte das geschehen?

Wenn die Ostdeutschen heute Berichte über sich im Fernsehen sehen oder im Radio hören, komme es ihnen meist vor wie Auslandsberichterstattung. Das hört man oft. Nachrichten von einem fremden Stern. Und sympathisch sind die Außerirdischen eigentlich nie.

Die reine Oberflächenbetrachtung ergäbe vielleicht Folgendes: Nicht nur, dass der Osten dem Westen gehört. Eliten sind grundsätzlich westdeutsche Eliten, gerade im Osten, daran hat sich selbst dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung nicht viel geändert. Das liegt nicht an der allgemeinen Insuffizienz der ethnischen Minderheit Ost, sondern am Reproduktionsverhalten der Eliten. Sie zeugen ihre Nachkommen vornehmlich aus sich selbst. ,,Wiedervereinigung" sagen ohnehin nicht mehr viele im Osten, sie sagen mehr ,,Übernahme" oder gar ,,Kolonisierung". Es ist präziser. Denn Vereinigungen setzen Gleiche voraus, oder zumindest doch solche, die sich als Gleiche anerkennen.

1990 ist in der Tat das entscheidende Datum. Nicht nur, dass die Ostler ab sofort unter der Deutungshoheit des Westens standen, sie haben ein grundverschiedenes Schlüsselzeitbewusstsein, und das grundiert alles, unthematisch, aber darum umso mehr, auch jede Berichterstattung.

Der Westen denkt rechtsförmig. Er glaubt, alles, was die Ostler heute sind, wurden sie durch die DDR-Diktatur. Also Diktatur-Folgeschäden. Rechte militante Töpfchensitzer mit kleinen Springerstiefeln und so weiter. Im Osten weiß man: Die ostdeutsche Gesellschaft von heute gründet in der Nachwendezeit. Ein so radikaler Umbruch aller Lebensverhältnisse in so kurzer Zeit ist geschichtlich einmalig. Entwurzelung im Zeitraffer.

Kinder sollten nach Goethe von ihren Eltern vor allem zwei Dinge bekommen: Wurzeln und Flügel. Die Jugendlichen Ost der Neunziger bekamen oft beide nicht. Und verachteten ihre arbeitslosen Eltern: Wie konnten sie das alles einfach mit sich machen lassen? Es gibt eine Szene in Christian Schwochows großartigem ARD-Film ,,Die Täter – Heute ist nicht alle Tage" über das Mörder-Trio Mundlos, Böhnhardt und Tschäpe. Da steht der Uwe Mundlos des Films schon in der Tür und sagt zu seinem Vater, bis eben Professor an der Universität Jena: ,,Wir werden nie so wehrlos sein wie Ihr!"

Ohnmacht war ein beherrschendes Gefühl Ost der Neunziger. Die Jungen zogen oft ihre eigenen, fatalen, irrwitzigen Lehren. Die Älteren verstummten. Ende des gerade selbst erkämpften Aufbruchs in die offene Gesellschaft. Und der Westen sagte ihnen fortan, wer sie sind. Die Ostler lebten früher in Distanz zu ihrem Staat, zu dem, was er sagte, und genau das machen sie heute wieder. Sie haben ihre alte Daseinsform einfach wieder aufgenommen. Aber darf man fürs Weghören, Wegsehen erhöhte Gebühren verlangen, fragt sich mancher. Und die AfD fragt am lautesten.

Wer 2004 in Dresden nach den ,,Webern" noch zu den Foyergesprächen ging, wusste, es wird ernst. Spätestens jetzt hätte man reden müssen. Aber was geschah? Sabine Christiansen beauftragte ihren Anwalt, die Stelle per einstweiliger Verfügung streichen zu lassen. Zehn Jahre später, 2014, zog der Protest hinaus auf die Straße. Das war Pegida, eine misstönende Mundöffnung, aber eine Mundöffnung.

Nicht zufällig nach den Ereignissen in Russland und der Ukraine und den offiziellen Reaktionen von ARD und ZDF darauf. Wie über vieles denkt der Osten auch über Russland anders. Das wird auch so bleiben, und es ist nicht sofort Putin-Rechtfertigung. Aber für solche Nuancen – Nuancen um alles! – hat man im Westen nur selten Gehör.

Leider geben nun die Leute, die völlig ohne Nuancen auskommen, im Osten viel zu oft den Ton an. Natürlich auch meist Westler. Beifall kommt von denen, die zu lange geschwiegen haben und nun nur noch brüllen können, selbst wenn sie leise reden. Ja, dieses Land – vor allem der Osten – braucht die Öffentlich-Rechtlichen, jetzt erst recht. Aber vielleicht etwas andere? Die simple Unterscheidung von Diktatur und Demokratie erklärt so vieles nicht. Schon gar nicht, warum sich die Demokratie nach 1990 im Osten so diktatorisch anfühlte. ,,Zu Friedenszeiten", sagten gar manche, wenn sie von der DDR sprachen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, den fremden Stern zurückzugewinnen.


Aus: "Westfernsehen und Ostfernsehen: Ein akuter Fall enttäuschter Liebe" Kerstin Decker (30.12.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/westfernsehen-und-ostfernsehen-ein-akuter-fall-enttaeuschter-liebe/26759460.html (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/westfernsehen-und-ostfernsehen-ein-akuter-fall-enttaeuschter-liebe/26759460.html)

QuoteThomas-aus-Berlin 12:08 Uhr

Einige Sachen sind ja richtig, aber das Fazit ist seltsam, so seltsam wie einige Menschen in den entsprechenden Bundesländern. Die ganze Sache kann man auch aus der anderen Richtung sehen und da kommt mir der MDR wie eine Ausgründung des DFFs und des DDR-Rundfunks vor, alles nur alte Gestalten von damals, die man schon so oft gesehen hat. Das sage ich als gelernter 52-Jähriger Ossi.


Quotepinke 30.12.2020, 21:06 Uhr

fremder Stern... - ein dichter Text bis zum Schluß, Danke!!! (da ist das tolle Buch über Lou Andreé schon mit bei!)

    Eigentlich ein unglaublicher Vorgang. Denn ARD und ZDF waren vor der Wende für die meisten Ostler Heimat gewesen. Wahrheit ist möglich!  Manche haben – die Autorin gehört dazu – zu Hause niemals ,,Aktuelle Kamera" gesehen.

Doch zwischendrin macht die Autorin den kleinen Fehler, selbst zu pauschalisieren, immer wieder mal. Tja, die Nuancen halt. Es gab in der DDR nicht nur die, die ak gesehen haben, und die die den Schni... nicht gesehen haben, sondern eben alles Mögliche dazwischen. Gundermann ist in dieser Zerissenheit sicher ein - nur ein- Beispiel. Erst die Pauschalisierung nach der ... Übernahme trennte in dieser oben genannten Form.


...

-
Kontext: ...

"Finanzen von ARD und ZDF : Wofür acht Milliarden?" Michael Hanfeld (08.12.2020)
Die Erhöhung des Rundfunkbeitrags ist erst einmal gestoppt. Ob es dabei bleibt, ist offen. Eine andere Frage ist, was ARD, ZDF und Deutschlandradio mit den Milliarden, die sie jetzt schon haben, eigentlich machen. Ein Blick in die Bücher. ...
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/rundfunkbeitrag-wofuer-ard-zdf-und-deutschlandradio-geld-ausgeben-17091678.html (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/rundfunkbeitrag-wofuer-ard-zdf-und-deutschlandradio-geld-ausgeben-17091678.html)

Quote[...] Die oppositionelle AfD wertete den Rückzieher des Gesetzentwurfs als ihren Erfolg. Es habe sich wiederholt gezeigt, "dass die AfD auch aus der Opposition heraus Wirkung entwickeln kann", sagte die Chefin der AfD-Bundestagsfraktion Alice Weidel der Deutschen Presse-Agentur. Ohne die AfD wäre die Erhöhung des Beitrags "reibungslos und ohne Widerspruch durchgegangen".

Die Christdemokraten hatten trotz zahlreicher Krisentreffen mit den Bündnispartnern ununterbrochen betont, auf keinen Fall einer Erhöhung des Rundfunkbeitrags um 86 Cent auf 18,36 Euro zum 1. Januar 2021 zuzustimmen. SPD und Grüne wollten das Vorhaben aller Länder hingegen mittragen. Die CDU hätte ihr Veto auch gegen den Willen der Koalitionspartner mit den Stimmen der oppositionellen AfD durchsetzen können. Diese lehnt die Erhöhung und das System des Rundfunkbeitrags an sich ab. Eine gemeinsame Abstimmung seiner CDU mit der AfD wollte Haseloff aber auf jeden Fall vermeiden. ...


Aus: "Sachsen-Anhalt blockiert Rundfunkbeitrag" (08.12.2020)
Quelle: https://www.saechsische.de/deutschland/sachsen-anhalt-stoppt-hoeheren-rundfunkbeitrag-haseloff-5334247.html (https://www.saechsische.de/deutschland/sachsen-anhalt-stoppt-hoeheren-rundfunkbeitrag-haseloff-5334247.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 13, 2021, 12:19:11 PM
Quote[...] Begeistert blättert sich FAZ-Kritikerin Rose-Maria Gropp durch den Prachtband "Zwischen Schein und Sein. Ostdeutsche Modegrafik 1960-1990", denn der hier gestattete "Blick auf die Vielfalt einer verschütteten Tradition der Modeillustration in der DDR ist so erhellend wie unterhaltsam. Es beginnt in den sechziger Jahren, und gar nichts ist da fremd. ... Noch sehr französisch angehaucht ist dieser Chic, elegante Köstümchen, Ensembles, spitze Pumps, Topfhüte, Kurzmäntel und Trenchcoats. Die Siebziger sind purer Pop, im sehr grafischen Umriss-Stil der Entwürfe wie entsprechend in den Modellen von Schlaghosen, darüber ärmellosen langen Westen, vielleicht etwas weniger Hot Pants und Miniröcke, dafür sind die Swinging Sixties nun in der DDR angekommen, ein Hauch von Hippie Fashion." ...


https://www.perlentaucher.de/efeu/2021-01-13.html (https://www.perlentaucher.de/efeu/2021-01-13.html)

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Quote
Zwischen Schein und Sein / Between Vision and Reality
Ostdeutsche Modegrafik 1960-1990 / East German Fashion Drawings 1960-1990

    Lehmstedt Verlag 2020
    Gebunden 240 Seiten ISBN 9783957971135

Herausgeber: Ute Lindner / Mathias Bertram / Vogt Ulrike
Übersetzung: Yolanda Leask

Im ostdeutschen Modedesign gab es eine ästhetische Avantgarde, über die bisher nur wenig bekannt ist. Die von Ute Lindner aus privaten und öffentlichen Archiven zusammengetragenen Skizzen, Zeichnungen und Grafiken offenbaren eine beeindruckende Fülle an Handschriften und Ideen, die unter den Bedingungen der Planwirtschaft fast ausschließlich in Musterkollektionen und ab den 1970er Jahren durch das Modeunternehmen »Exquisit« auch für den Handel umgesetzt werden konnten. Der einleitende Essay von Mathias Bertram beschreibt die Entwicklung eines Modekonzeptes, das versuchte, den gehetzten Modebetrieb der Moderne »vom Kopf auf die Füße« zu stellen, und sich heute im Zeichen der Bemühungen um Nachhaltigkeit von erstaunlicher Aktualität erweist.


Quelle: https://eichendorff21.de/buch/9783957971135/ (https://eichendorff21.de/buch/9783957971135/)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 28, 2021, 08:08:15 PM
Punk in Ost und West (6. Oktober 20209
Ostpunk Henryk Gericke und der Popkultur-Historiker Bodo Mrozek sprechen im Podcast der Heinrich-Böll-Stiftung über Punk im Osten und dessen Bündnisse mit dem West-Punk
https://thgroh.blogspot.com/2020/10/punk-in-ost-und-west.html (https://thgroh.blogspot.com/2020/10/punk-in-ost-und-west.html)

https://pophistory.hypotheses.org/3431 (https://pophistory.hypotheses.org/3431)

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Lieblingsplattenfragebogen -My Favourite Punk Records aus der DDR mit Henryk Gericke (Christian Ihle 16.11.2020 )
Eine Sonderfolge: Henryk Gericke, Koryphäe des DDR-Punks, über die besten von L'Attentat bis Planlos.
https://blogs.taz.de/popblog/2020/11/16/my-favourite-punk-records-aus-der-ddr-mit-henryk-gericke/ (https://blogs.taz.de/popblog/2020/11/16/my-favourite-punk-records-aus-der-ddr-mit-henryk-gericke/)

https://de.wikipedia.org/wiki/Henryk_Gericke (https://de.wikipedia.org/wiki/Henryk_Gericke)

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Leipziger Meuten
1950s and 1960s youth gangs
https://ddrjugend.wordpress.com/ (https://ddrjugend.wordpress.com/)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 31, 2021, 02:53:17 PM
Quote[...] Marco Wanderwitz (CDU), Ostbeauftragter der Bundesregierung, hat mit seinen Äußerungen zur ostdeutschen Wählerschaft der AfD eine Debatte ausgelöst, die exakt so verläuft, wie alle Debatte seit mehr als 20 Jahren zum Rechtsextremismus in Ostdeutschland. Er sagt nichts Neues. Seine Einlassungen geben den Stand der sozialwissenschaftlichen Debatte der frühen 1990er Jahre wieder. Die Anamnese, die im Osten erhöhte Zustimmungsbereitschaft für rechte Parteien und deren Politikangebot habe seine Ursache in der DDR-Sozialisation, ist schnell zur Hand, nicht ganz falsch und greift dennoch zu kurz.

Zutreffend ist, dass die politische Kultur der DDR autoritär-nationalistische Subströmungen mit sich trug, die sich nach dem Umbruch in Ostdeutschland in einer rechtsextremen Jugendbewegung auf der Straße artikulierte. Die ostdeutsche Transformationsgesellschaft verstärkte diese Effekte: extreme Gewaltbereitschaft rechter Akteure, Rassismus, die Handlungsunsicherheit von Eltern und Lehrern, Arbeitslosigkeit. Alle genannten Faktoren spielen eine Rolle, und sind zugleich dennoch nicht DIE Ursache.

Welche Fährnisse den Ostdeutschen in den vergangenen 30 Jahren auch widerfahren sein mögen; am Ende sind sie es, die sich zu 20 Prozent bewusst für die Wahl einer Partei entscheiden, die seit 2014 eine beispiellose Drift nach rechts vollzogen hat. Heute ist die AfD, zumal in den Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, eine völkisch-nationalistische Partei, deren politische Agenda eng an die extreme Rechte angelehnt ist.

Seit drei Jahrzehnten verschafft die Wechselwirkung zwischen aus dem Westen zugezogenen rechten Ideologieproduzenten und ihrer ostdeutschen Anhängerschaft der extremen Rechten im Osten Resonanz. Ob Holger Apfel, ehedem NPD Sachsen, oder Götz Kubitschek, neurechter Verleger und AfD-Strategieflüsterer: Sie trafen und treffen im Osten auf eine Reichweite, die ihnen in Hamburg und Frankfurt/Main verwehrt bleibt.

Dass es in der westdeutschen Provinz in Bezug auf rechte Alltagskultur manchmal nicht viel anders zugeht als in Teilen Ostdeutschlands, ist ein von vielen Medien gern ausgeblendeter Fakt. Teil der im Westen betriebenen Exotisierung des Ostens sind die zum Klischee geronnenen Fakten

Ebenfalls seit drei Jahrzehnten wehrt sich eine diverse, aus zeitgeschichtlichen Gründen anders verfasste Landschaft von Initiativen, Netzwerken und Personen gegen die Hegemonie-Bestrebungen der extremen Rechten im Osten. Dies geschieht unter schwierigeren Bedingungen als in westdeutschen Universitätsstädten oder in Leipzig. Wer im ländlichen und kleinstädtisch geprägten Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ,,Gesicht zeigt" für Demokratie, wie es aus der Politik zu Recht gefordert wird, macht sich angreifbar. Nicht abstrakt, sondern sehr persönlich und direkt. ,,Wir wissen, wo du wohnst" ist noch die harmlose Variante. Engagierte Sozialarbeiter, Kommunalpolitiker und Pfarrer können ein Lied davon singen, was es bedeutet demokratisch kenntlich zu sein. Zu oft sind sie es, die allein gelassen sind, wenn in einer Region eine rechte Mobilisierung greift.

Eine Mitverantwortung für die Entwicklung des Rechtsextremismus in Ostdeutschland tragen jene politischen Akteure in den ostdeutschen Bundesländern, die das Ausmaß der sich seit 30 Jahren in Wellen vollziehenden rechten Mobilisierung stetig leugneten und kleinredeten. Legendär etwa die Aussage des ehemaligen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf (CDU), der die Sachsen für immun gegen Rechtsextremismus erklärte. Die Auswirkungen dieser Diagnose sind bis heute überall spürbar. Rechtsextremismus nicht beim Namen zu nennen, seine Anhänger als ,,besorgte Bürger" zu hofieren, die berechtigte Ängste artikulierten, all das hat ihn seit Jahren gestärkt.

Der Versuch, den explizit rechts motivierten Teil der Wählerschaft der AfD und zuvor jene der NPD und DVU im Osten an andere Parteien zurückzubinden, ist seit langem gescheitert. Dennoch suchen Politiker immer wieder den Dialog ausgerechnet mit dem Milieu aggressiver rechter Schreihälse, die gut darin geübt sind, sich und ihre Propaganda in sozialen Netzwerken wirkungsvoll in Szene zu setzen. Diese Vorgehensweise stärkt sie und schwächt die kritische Zivilgesellschaft.

Die Debatte um die Äußerungen von Marco Wanderwitz verläuft wie ein Abend im Ohnesorg-Theater in Hamburg: Handlung, Figuren und Verlauf sind sehr vorhersehbar. Es ist ermüdend, in Bezug auf die Stärke der extremen Rechten im Osten die immer gleichen Phrasen zu hören. Der gesellschaftliche Resonanzraum der extremen Rechten im Osten ist gut erforscht und empirisch belegt. Zahlreiche Wissenschaftler und Praktiker von vor Ort können differenziert Auskunft zu Stand und Perspektiven der Demokratie in Ostdeutschland geben. Es kommt darauf an, ihnen zuzuhören.

David Begrich ist Mitarbeiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e.V.



Aus: "Über den Osten nichts Neues" David Begrich (31.05.2021)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ueber-den-osten-nichts-neues (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ueber-den-osten-nichts-neues)

Quote
Magda | Community

Ich denke auch, dass diese ganze Entwicklung eine Mixtur ist aus ererbten Haltungen, die aber gleichzeitig in eine merkwürdig illusorische und wirre "Freiheitsidee" mündeten, die schnell von rechts genutzt werden konnte.

Eine repräsentative Demokratie mit ihren langen Wegen und Fallen und Debatten konnte dies nicht befriedigen. Das ist ja bis heute so. Da muss immer irgendjemand "weg" oder "an den Galgen" oder sowas, um dem Ausdruck zu verleihen.

++ Mitverantwortung für die Entwicklung des Rechtsextremismus in Ostdeutschland tragen jene politischen Akteure in den ostdeutschen Bundesländern, die das Ausmaß der sich seit 30 Jahren in Wellen vollziehenden rechten Mobilisierung stetig leugneten und kleinredeten.++

Das war wirklich ein Grundübel. Dieses Leugnen und eigentlich auch heimliche Bekämpfen z. B. durch Mittelkürzungen für Initiativen gegen Rechts. Das Wegsehen als Regierungsdoktrin.


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Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 16, 2021, 10:33:04 AM
Quote[...]  Berlin. Bei der Haltung der Deutschen zu den USA einerseits und Russland andererseits gibt es über 30 Jahre nach der Deutschen Einheit weiterhin gravierende Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Das ergibt sich aus einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND).

Beim Blick auf das deutsch-amerikanische Verhältnis finden 36 Prozent der Bürger, Deutschland solle sich von den USA unabhängiger machen. In Ostdeutschland sind 60 Prozent der Befragten dieser Meinung, in Westdeutschland lediglich 32 Prozent. Besonders verbreitet ist die Ansicht bei Anhängern der Linken (69 Prozent) und der AfD (62).

Umgekehrt ist das Verhältnis bei der Bewertung der deutsch-russischen Beziehungen. Für ein engeres Verhältnis sprechen sich 50 Prozent der Ostdeutschen aus, aber nur 25 Prozent der Westdeutschen. Die im Zuge des Ukraine-Konflikts verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Russland halten entsprechend 34 Prozent der Ostdeutschen für richtig, aber 68 Prozent der Westdeutschen. In ganz Deutschland liegt der Anteil bei 63 Prozent.

Die Zustimmung zum Bau der Ostseepipeline Nord Stream 2 klafft ebenfalls auseinander. In Ostdeutschland beträgt sie 74 Prozent, in Westdeutschland 48 Prozent. Quer durchs Land unterstützen 52 Prozent der Bürger das Projekt. Am stärksten ist die Ablehnung unter Grünen-Anhängern.

Auffällig ist, dass sich Ost- und Westdeutsche bei der Bewertung des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin weitgehend einig sind. Während 14 Prozent aller Bundesbürger meinen, man könne ihn im weitesten Sinne noch als Demokraten bezeichnen, halten 70 Prozent der Deutschen Putin für einen Diktator; darunter sind 60 Prozent der Ostdeutschen und 72 Prozent der Westdeutschen.

Das heißt, viele Ostdeutsche sprechen sich für engere deutsch-russische Beziehungen aus, obwohl sie Putin nicht als Demokraten einschätzen.

Es waren in der Vergangenheit auch in erster Linie ostdeutsche Ministerpräsidenten, die sich für engere deutsch-russische Beziehungen stark machten. Wirtschaftlich sind diese indes weniger bedeutend, als gemeinhin vermutet wird.

Tatsächlich werden bloß noch rund 2 Prozent der ostdeutschen Güter nach Russland exportiert. Naheliegender erscheint deshalb, dass sich die Nähe aus der Transformation nach 1989 ergibt, in der sich viele Ostdeutsche auf sich selbst zurückgeworfen fühlten und in der Folge auf Vergangenes zurückgriffen.

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), sagte dem RND: ,,Man kann die Unterschiede historisch erklären. Die alte Bundesrepublik hat die Westbindung gelebt, angefangen vom Marshallplan. Die ehemalige DDR war Teil der östlichen Hemisphäre. Wenn Menschen in den jungen Ländern deshalb der Meinung sind, dass es schön wäre, wenn wir ein besseres Verhältnis zu Russland hätten, dann teile ich das. Wir sind relativ näher dran."

Er betonte zugleich, dass es im deutschen Interesse liege, Nord Stream 2 fertigzustellen.

Wanderwitz verwies aber auch auf den von Russland unterstützten Krieg in der Ostukraine und das von Moskau unterstützte diktatorische Regime in Belarus und sagte: ,,Weder Herr Trump noch Herr Putin haben ihre Länder zuletzt in einem guten Licht erscheinen lassen. Bei den USA hoffe ich, dass sich das jetzt ändert. In Russland ist kurzfristige Änderung nicht in Sicht. Und Sanktionen sind das einzige Mittel, das wir haben. Putin hat es selbst in der Hand, wie sich das Verhältnis entwickelt."


Aus: "Forsa-Umfrage: Ostdeutsche fühlen sich Russland deutlich näher, Westdeutsche den USA" Markus Decker (16.07.2021)
Quelle: https://www.rnd.de/politik/forsa-umfrage-ostdeutsche-fuehlen-sich-russland-deutlich-naeher-westdeutsche-den-usa-HMUGK6VO6BADTCBKZM6ZY4GANU.html (https://www.rnd.de/politik/forsa-umfrage-ostdeutsche-fuehlen-sich-russland-deutlich-naeher-westdeutsche-den-usa-HMUGK6VO6BADTCBKZM6ZY4GANU.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 24, 2021, 10:22:28 AM
Quote[...] Hoyerswerda war DDR-Arbeiteridyll und wurde zur braunen Zone. Im Buch ,,Kinder von Hoy" lässt Grit Lemke die Boheme der Stadt zu Wort kommen.

Grit Lemke: ,,Kinder von Hoy". ­Suhrkamp, Berlin 2021. 256 Seiten


Womöglich ist er der berühmteste Sohn der Stadt: der Liedermacher mit den dünnen Haaren und der Mitropa-Aschenbecher-Brille. Die Rede ist von Gundermann, der in Grit Lemkes dokumentarischem Roman ,,Kinder von Hoy" zwar eine Nebenrolle, aber doch eine wichtige spielt.

Lemke erzählt von einem Hoyers­werda, das man so gar nicht kennt: als Stadt der sozialistischen Zukunft, die in den 50ern aus dem Lausitzer Boden gestampft wird, in der es an Stelle von Kohleöfen und Außentoiletten Wasserklosetts, Zentralheizungen und geräumige Familienwohnungen gibt. Einer Stadt auch, die ganz im Rhythmus der wechselnden Schichten des nahegelegenen Kraftwerks Schwarze Pumpe funktioniert.

Für die Kinder ist diese Stadt ein Ort der Freiheit trotz allgegenwärtiger kontrollierender Blicke. Die eigenen Eltern mögen gerade auf Arbeit sein, aber irgendein Erwachsener wird nach der Schicht schon aus dem Fenster schauen und die Kinder, sollten sie doch einmal etwas aushecken, zurechtweisen: ,,Es war ein sehr viel weitläufigeres Behütet-Sein, mit vielen unterschiedlichen Menschen. Kinderkrippenerzieherinnen und Kindergärtnerinnen. Der Spielplatz. Die Nachbarn. Der Block, der Wohnkomplex, der Schulweg. Keine Sorge der Eltern, dass man über die Straße gehen muss. Sehr viel Vertrauen aller Erwachsenen in die Dinge, die da kommen – und in die Kinder. Ich bin schon zum Kindergarten alleine gegangen."

Das sagt Schudi, eine der zahlreichen Stimmen, die Lemke zu Wort kommen lässt. Darunter auch der mosambikanische Vertragsarbeiter David. Sie werden, gemeinsam mit der Erzählstimme, im Modus einer filmischen Reportage collagiert. Hier merkt man, dass Grit Lemke bereits als ausgezeichnete Dokumentarfilmerin von sich reden machte. Nämlich in ihrem Film ,,Gundermann Revier", der nicht nur den baggerfahrenden Liedermacher beleuchtet, sondern auch eine Braunkohleregion im Umbruch.

Gewiss könnte ,,Kinder von Hoy" auch als Vorlage eines Dokumentarfilms dienen. Die Bezeichnung ,,Roman" aber deutet an, dass es einen Willen zur Form, auch zur Verdichtung des Stoffs gibt. Vielleicht auch die Freiheit auszumalen. Ausmalen ist das Stichwort! Vielleicht zum ersten Mal haben wir es da mit einer Erzählung von Hoyerswerda zu tun, die bunt ist. Die nicht nur von tristem Vorwendegrau und schauerlichem Nachwendebraun erzählen will.

In den Originaltönen, die man ja nur lesen, nicht hören kann, klingt der so typische Hoy-Sound an: Weder so richtig Sächsisch noch Brandenburgisch, mit verschliffenem Binnen-G, ganz weich und buttrig, wie Käsekuchen, und dem Ö, das wie ein langes E klingt. Mal mehr, mal weniger stark dringt das Dia­lek­tale aus dem Text: Es ist eine Mischung aus Dia- und Soziolekt. Denn immer auch geht es um die gemeinsame, die geteilte Sprache, in der Hoyerswerda zu Hoy (für andere Sachsen auch Hoywoy) wird, und Schwarze Pumpe einfach nur Pumpe ist.

Der dialektale Einschlag wird immer dann stärker – so jedenfalls hat man den Eindruck – wenn es ums Emotionale geht. Wie den Wegfall der Arbeit, der Orbeet: ,,Auf einmal wird etwas zur Währung, was bis jetzt nichts anderes war als Frühling, Sommer, Herbst und Winter, wie Ausziehn Waschen Bette: Orbeet. Sie war etwas, was unweigerlich eintrat – ob man wollte oder nicht. Nun lernen wir, dass die Welt sich teilt in solche, die Arbeit nehmen, und andere, die sie geben."

Davor, in den 70er und 80er Jahren, ist Hoyerswerda auch demografisch eine ganz besondere Stadt. In den eilig hochgezogenen Plattenbauvierteln lebt eine überdurchschnittlich junge Stadtbevölkerung: Arbeiter und ihre Kinder. Die Schulen sind übervoll, und auf jeder der zahlreichen Etagen der Wohnkomplexe gibt es Spielkameraden für die Kinder.

Für die einen mag es eine Utopie sein, für die anderen ein Schreckensbild: Aber die Kinder sind von Anfang an Teil eines Kollektivs; die Arbeiterkinder werden weniger von einer intensiven Beziehung zur Mutter geprägt als zu jener zu den Omas, Erzieherinnen oder Lehrerinnen.

Auch für die Mütter hat Hoyerswerda seine Vorzüge. Einmal wöchentlich wird die schmutzige Bettwäsche vom VEB Schwanenweiß eingesammelt und gereinigt – die werktätigen Frauen sollen sich damit nicht auch noch abmühen müssen. Gott bewahre, dass der Mann sich der mühseligen Aufgabe des Wäschewaschens ohne Waschvollautomat widmen muss!

Lemkes Stimmen sind Arbeiterkinder, die sich vor und nach der Wende in einem avantgardistischem Künstlermilieu bewegen. Noch versuchen die Protagonisten, dem Rechtsruck und den enormen Umbrüchen nach 1989 Kreativität und gemeinschaftliche Aktionen entgegenzusetzen. Umso unbegreiflicher wirken dann die Ereignisse, die am 17. September 1991 ihren Anfang nehmen. Lemkes Protagonisten sind nah dran an den Rechten, die auf einem Markt vietnamesische Händler angreifen und später vor die Wohnblocks der als ,,Asylanten" verschrienen vietnamesischen und mosambikanischen Vertragsarbeiter ziehen.

Als ,,Kinder aus Hoy" auf die pogromartigen Ausschreitungen zu sprechen kommt, merkt man den Stimmen ein bis heute anhaltendes Entsetzen und Unverständnis an. Nein, der Rechtsruck habe nicht mit der Wende begonnen; schon vorher habe sich eine rechte Szene entwickelt. Im Moment des Mauerfalls mit dem Wegbrechen einer staatlichen Ordnungsmacht und der raschen Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen gerät etwas ins Rutschen. Es ist wie im Bergbau. Die Welle ist nicht mehr aufzuhalten.

Viel ist in den 30 Jahren ,,seit Hoyerswerda" (die Pogrome sind auf eine Minimalformel geschrumpft) gerätselt wurden, was den ,,Rechtsruck" in den Neuen Bundesländern, für den Hoyerswerda zum Menetekel und Symbol wurde, bewirkt haben mag. Vom ,,Töpfchenzwang" über den nicht aufgearbeiteten Nationalsozialismus und einer vorzeitigen Exkulpierung der Bürger auf dem Staatsgebiet als Antifaschisten mussten viele Gründe herhalten.

Lemke enthält sich klugerweise jeder Deutung, sie lässt die O-Töne unkommentiert. Sie will darstellen; der Leser soll sich schon selbst eine Meinung bilden. So erscheint die Entwicklung von der beinahe idyllisch anmutenden, wenn auch kohlestaubgesättigten Stadt zur braunen Zone umso rätselhafter.

Als es nach den Ausschreitungen erste zaghafte Versuche zivilgesellschaftlicher Proteste gibt, rücken westdeutsche Demonstranten an und formieren einen schwarzen Block. Als die westdeutschen Protestler beginnen, das frische Straßenpflaster zur Bewaffnung aufzureißen, regt sich ostdeutscher Widerstand.

,,Einer der Umstehenden wagt sich zu den Vermummten und redet auf sie ein. Seine Brigade hätte die Steine grade erscht diese Woche verlegt. Wofür man sie rausreißen müsse? Höhnisches Gelächter. Faschistenschweine! Sie werden es so oft sagen, bis alle Hoyerswerdschen, die demonstrieren wollten, sich entfernt haben."

Lemke erzählt entlang einer doppelten Differenz: Das da­dais­tisch angehauchte Avantgardemilieu ihrer Protagonisten bricht mit dem elterlichen Arbeitermilieu, ist aber anders als jenes im Westen. Aber auch die ostdeutschen Arbeiter sind ­andere; anders jedenfalls als ihre Pendants im Westen: ,,Bei uns aber war man nicht Bergmann in dritter Generation. Man fuhr nicht mit dem Aufzug unter Tage, sondern mit dem Mannschaftswagen in den Tagebau oder mit dem Schichtbus nach Pumpe", heißt es mit Blick auf die Kohlekumpel im Ruhrgebiet.

Tatsächlich schreibt Lemke über eine Gesellschaft der Diskontinuitäten, in der man sich des Vergangenen entledigt und zunächst zuversichtlich in die Zukunft blickt. Dass die Wende als ,,Bruch" diese disruptionserfahrenen Menschen so erschüttert haben soll, glaubt man danach nicht mehr so recht. So entpuppt sich das gängige Ost-Nachwende-Narrativ einmal mehr als unvollständig, vereinfacht.

Etwas aber spürt man: den Verlust von Stolz auf eine Stadt, die buchstäblich dafür lebt, Energie fürs ganze Land, fürs System zu produzieren. Auch dann noch, als anderswo längst das Ende des Systems herbeiprotestiert wird. Womöglich versteht man auch gegenwärtige Kämpfe um das Ende der Kohleförderung in der Lausitz besser, nachdem man Lemkes Buch gelesen hat.


Aus: "Geschichte vom verlorenen Stolz" Marlen Hobrack (17.9.2021)
Quelle: https://taz.de/30-Jahre-Pogrome-in-Hoyerswerda/!5799570/ (https://taz.de/30-Jahre-Pogrome-in-Hoyerswerda/!5799570/)

QuoteLeningrad

Ich - zonensozialisiert und mit Ausreiseantrag von 1984 - kann beim besten Willen nicht sagen, was besser ist. Irgendwie ist alles nach Abwägung der Vor- und Nachteile gleich. Die DDR IST ein anderes Land als die BRD. Das hat mit der Mentalität und der Geschichte zu tun. Ich habe Freunde in Ungarn, England, Frankreich, aber keinen aus der BRD (obwohl ich da studiert habe). Ich habe auch überhaupt keine Lust auf diese Westdeutschen, die mir - ohne jegliche dialektische Vorbidlung - irgendwas erklären wollen. Die Wiedervereinigung ging zu schnell. Letzen Endes ist es auch egal.


QuoteJ_CGN
18. Sep, 15:57

"Der Verlust von Stolz ..."

Abgesehen von der Ökonomie war die DDR eine kulturell andere Gesellschaft.

Nicht nur die Betriebe wurde abgewickelt.  ...


...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 13, 2022, 01:07:49 PM
Quote[...] Der Begriff der blühenden Landschaften hat für viele Menschen im Osten einen faden Beigeschmack. Auch der Untertitel des Buches ,,Nullerjahre" ist eher sarkastisch zu verstehen: ,,Jugend in blühenden Landschaften". Geschrieben hat es Hendrik Bolz – besser bekannt als Testo vom Deutschrap-Duo Zugezogen Maskulin. Der 33-jährige wuchs im äußersten Nordosten der Republik zwischen Stralsunder Plattenbauten auf. Das Buch habe er vor allem für sich geschrieben, sagt er im Interview. Seine Erinnerungen hätten ihn belastet. Von Belastungen zeugen im Osten etwa Pegida oder AfD-Wahlergebnisse. Das Buch könnte deshalb mehr sein als Selbsttherapie.

Im ersten Teil der Erzählung lernen die Leser Bolz 1999 als Grundschüler kurz vor seinem Wechsel auf das Gymnasium kennen. Von Kassette hört er die bei Rechten beliebten Böhsen Onkelz und fristet sein Dasein in einem Ferienlager, das – damals nicht unüblich – von Neonazis organisiert wird. Selbstbewusst, mit Bomberjacke und Glatzen – ,,so kenn ich's von zu Hause, so sehen coole Jugendliche aus", ist zu lesen. Was auch zum Coolsein dazugehört: stark sein, Schwächere drangsalieren, vor Gewalt nicht zurückschrecken. ,,Als Kind denkt man, alles, was um mich herum ist, ist normal", sagt Bolz. Man denke, ,,es ist normal, dass das hier neue Bundesländer heißt", dass Arbeitslosigkeit ständig ein Thema ist und dass die großen Brüder und Cousins Bomberjacke tragen und kurze Haare haben. Dass Bolz in einen historischen Umbruch hineingeboren wurde, realisiert er erst später.

,,Das hat erst so ab 2015 angefangen", erinnert sich der Autor, und habe auch mit dem Aufkommen etwa von Pegida zu tun. In seinem Umfeld – 2008 zog er nach Berlin – oder auf Social Media habe er festgestellt, wie schnell der Osten abgeurteilt wurde von ,,Leuten, die das Glück hatten, schon immer in ihrem Leben auf der richtigen Seite zu stehen". Die Ambivalenz, um die Probleme zu wissen, aber auch nicht abgeurteilt werden zu wollen, sei im Osten verbreitet.

Dass Bolz nicht das Glück hatte, immer auf der richtigen Seite zu stehen, wird in dem Buch mehr als deutlich. Er schlägt, terrorisiert, gibt sich Drogen und Alkohol hin. Die Sprache in seinem Umfeld ist rassistisch, homophob, frauenfeindlich, antisemitisch. Ein entsprechender Warnhinweis ist dem Buch vorangestellt. ,,Kunst soll und darf wehtun», sagt Bolz – offenbar auch dem Autor. Es sei ihm wichtig gewesen, sich so nackt zu machen. ,,Sonst hätte ich es auch gleich lassen können." Er stellt aber auch klar: ,,Der Hendrik, den ich dort beschreibe, das ist nicht der Hendrik von heute."

Es geht in dem Buch weder um eine Aussteiger- oder gar Heldengeschichte, noch um Larmoyanz oder eine Amnestie für den Osten. Es geht darum, hinzuschauen, wo nicht genug hingeschaut wurde. Denn einfach blühende Landschaften oder Immunität gegen Rechtsextremismus zu beschwören wie Ex-Kanzler Helmut Kohl beziehungsweise Sachsens ehemaliger Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (beide CDU), schafft kein Verständnis. Geschichten wie die von Bolz könnten dazu beitragen.

Über die 1990er Jahre werde zum Glück mittlerweile mehr gesprochen, sagt Bolz. Die Nullerjahre seien hingegen noch ein ,,leeres Blatt". Doch auch am Ende von Kanzler Gerhard Schröders (SPD) erster Amtszeit 2002 galt laut Buch: ,,Das Einzige, was in den Ruinen der nachhaltig zerschlagenen Industrie erblühte, waren Minijobs, Transferleistungen und demütigende ABM-Maßnahmen." Selbst wenn Springerstiefel Turnschuhen wichen und Deutschrap cooler wurde als Rechtsrock – Bolz' Umfeld wurde schon vorher geprägt. Etwa von Kindergartenerzieherinnen, die versuchen, ihre Schützlinge in DDR-Manie wie ,,kleine brave Fresssoldaten" zur Planerfüllung zu schreien, oder von der Jugendarbeit von Neonazis, von der Resignation und Verunsicherung der Erwachsenen.

,,Ich will hier über was reden, was mir passiert ist, von dem ich weiß, dass vielen anderen das ähnliche passiert ist und was einfach unbesprochen ist", sagt Bolz. Wenn man nicht hinschaue, würden sich Dinge weiter verpflanzen. Wendefrust, Politikverdrossenheit, Gewaltneigung, Diktaturprägung, Erziehung zur Härte und ,,Lust am Arschlochsein" – diese Dinge gebe es, und rechte Gruppen hätten sie schon für sich genutzt.

,,Nullerjahre" ist keine leichte Kost, nicht nur was den Inhalt angeht. Es wird in Großbuchstaben geflucht, gerülpst, geprügelt. Der Soundtrack reicht von den Böhsen Onkelz über Britney Spears bis Bushido. Immer wieder werden Lied-Zitate eingestreut. Der Schreibstil erinnert zeitweise an Bolz' Rap-Hintergrund etwa in einem Kapitel, das sich seinem Kampf mit zunehmenden Angstanfällen widmet: ,,Aufstehen, ATTACKE, Frühstück, ATTACKE, Schule, ATTACKE, Sport, ATTACKE, Fernsehen, ATTACKE, Schlafen, ATTACKE."

Hätte sich Bolz eine andere Jugend gewünscht? Er frage sich schon, wie sich sein Umfeld entwickelt hätte, wenn man es zur damaligen Zeit in den Westen verpflanzt hätte. Er wolle die Erfahrungen aber nicht missen, sie würden dabei helfen, nicht so schnell zu urteilen, wie Menschen, die immer auf der richtigen Seite standen. (DPA)

...

,,Nullerjahre – Jugend in blühenden Landschaften" Kiepenheuer & Witsch (336 Seiten)


Aus: ",,Nullerjahre" von Hendrik Bolz: Eine ostdeutsche Jugend auf der falschen Seite" (11.02.2022)
Quelle: https://mopop.de/storys/nullerjahre-von-hendrik-bolz-eine-ostdeutsche-jugend-auf-der-falschen-seite-14703/ (https://mopop.de/storys/nullerjahre-von-hendrik-bolz-eine-ostdeutsche-jugend-auf-der-falschen-seite-14703/)

Testo (* 1988 in Leipzig; bürgerlich: Hendrik Bolz)
https://de.wikipedia.org/wiki/Testo_(Rapper) (https://de.wikipedia.org/wiki/Testo_(Rapper))

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 10, 2022, 02:18:46 PM
Quote... Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine gehen bislang gefestigte Gewissheiten verloren. Auch bei unserem Kolumnisten. (berliner-zeitung.de) ... [André Mielke [(*1963) ist Baufacharbeiter, Militärfilmvorführer und Diplomjournalist. Er war Redakteur bei Berliner Zeitung, Eulenspiegel, Berliner Morgenpost und Die Welt. Seit 2002 freischaffende Schreibkraft, u. a. mit Glossen und Kolumnen für die Berliner Zeitung.)] 8.3.2022 - 17:58 Uhr]: Wie viele seiner Landsleute hielt ich ihm [Putin] zugute, dass er Russland aus dem Chaos der 1990er und der Wodkafahne von Boris Jelzin geführt hatte. Als er am Anfang jenes Jahrzehnts zurück in die Heimat gekommen war, hatte der vormalige KGB-Offizier sich als Taxifahrer verdingen müssen. ... Neulich wurde ein Medienbericht von 1993 ausgegraben, über ein Treffen mit Emissären deutscher Unternehmen: Putin, inzwischen Vizebürgermeister von St. Petersburg, plädierte dafür, Russland durch eine Militärdiktatur zu stabilisieren, Modell Pinochet. Seine Gäste, steht da, hätten freundlich applaudiert. Das sagt etwas über die damalige Anarchie, über Wirtschaftsprioritäten und Putins unzweideutiges Verhältnis zur Gewalt. Nein, so sehr hat er sich nicht verändert. Trotzdem streifte mich eben noch ein Hauch von Putinverständnis – für sein wohl galliges Grinsen, als Russlands ,,unprovozierte und ungerechtfertigte Invasion" von George W. Bush verurteilt wurde. George W. Bush!  Das gibt's in keinem Russenfilm. Doch es stimmt: Der ehemalige und gleichsam ewige Sowjetbürger Wladimir Putin führt einen imperialistischen, revisionistischen und chauvinistischen Eroberungskrieg. Ich ging, wie Platzeck, in der DDR zur Schule und muss diese Tatsache sacken lassen. Andere kostet sie das Leben, mir zieht sie Gewissheit aus den Knochen. ...

https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/sympathisch-war-putin-auch-mir-nie-aber-es-gab-respekt-li.215770 (https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/sympathisch-war-putin-auch-mir-nie-aber-es-gab-respekt-li.215770)

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Quote[...] ,,Ich liebe ihn heute noch!", sagt meine Friseurin – und ich liebe sie für diese Liebeserklärung an Wladimir Putin am zehnten Kriegstag nicht. Ich liebe sie noch weniger für die Ansage, dass sie den Medien ohnehin nie traue und jetzt erst recht nicht.

Meine Friseurin liebe ich sonst sehr, sie stammt noch aus dem Laden, der früher in der SED-Bezirksleitung, später sächsischer Landtag, die Bonzen beschnitt. Normalerweise reden wir zwei entspannt über meinen Beruf.

Sie ist nicht die einzige Putinversteherin in Dresden und im Osten des mir plötzlich seltsam näher gerückten Deutschlands. Überhaupt nicht entspannt geht es seit dem Überfall auf die Ukraine in Mailverteilern, Whatsapp-Gruppen oder bei persönlichen Begegnungen zu. Der Tenor: Ist ja schlimm, was der unberechenbare Putin da macht.

Aber hat nicht der Westen, voran die US-Amerikaner, das arme, kuschelbedürftige und gen Westen lächelnde Russland seit 30 Jahren so in die Enge getrieben, dass sein Zar jetzt gar nicht anders konnte? Die Notwehrthese der früheren ARD-Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz nach der Krim-Annexion 2014 steht Pate.

... Haben wir besonders im Osten nicht genug mit einer zerklüfteten Landschaft zu kämpfen nach Pegida, Flüchtlingshassern, querdenkenden Totalverweigerern und Impfkriegern? Wieder dringt ein neuer Spaltpilz in Geburtstagsfeiern oder Skatrunden vor, auch in akademische.

Woher rührt ausgerechnet in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone die hartnäckige Parteinahme für die Erben der Sowjetunion, eine latente Sympathie, die sich auch durch die Gräuel eines totalen Krieges nicht beirren lässt? Wir müssten die Sowjets doch am besten kennen! Bei Erklärungsversuchen fühle ich mich von Empirie, Sozial- oder Politikwissenschaften weitgehend allein gelassen und auf eigene Erfahrungen und Beobachtungen verwiesen.

Zuerst kommt mir eine Variante des Stockholm-Syndroms in den Sinn. Also paradoxe Sympathie gegenüber denen, die einem Gewalt antun. Das klappt für meine Generation nur noch bedingt, die Schulkinder der 1960er und 70er Jahre in der DDR, die bloß noch Ausläufer des harten Stalinismus und des 17. Juni 1953 erfuhren. Mit dem Atavismus der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 freilich.

Aber sonst spürten wir die Knute der einheimischen Kremlstatthalter, weniger die der Führer des Sowjetreiches. Wobei das immer in Zusammenhang mit der historischen Schuld des deutschen Überfalls 1941 gefühlt und relativiert wurde.

Und: Wer kannte schon einen Russen persönlich? Berufliche Reisen in die Sowjetunion gab es, Ausgewählte durften dort studieren, aber touristisch war nicht viel los. Die Soldaten, die armen Schweine, wurden abgeschirmt. ,,Es ist ein Russ entsprungen", sangen wir unverzeihlich zynisch auf dem Zeltplatz, wenn wieder eine bewaffnete Postenkette nach einem verzweifelten Deserteur suchte – bis wir die Schüsse im Wald krachen hörten.

Der koloniale Status wurde in der DDR mit Ironie sublimiert. Sowjetische Freunde oder Brüder? Freunde nicht, denn die kann man sich aussuchen. Aus einem sowjetischen Arbeiterlied wurde ,,Machorka her", aus ,,Tom Dooley" die Grigorij-Parodie, aus den Ghost Ridern die ,,30 Russen am Fuße des Ural". Das war nicht mehr feindselig, und auch ich trug 1989 eine Gorbatschow-Plakette.

Zweite, nicht wissenschaftlich belegbare These: Der Osttrotz ist im Spiel! Bei der jungen Nachwendegeneration trifft man nämlich keine Putinversteher mehr, nur noch Kriegsgegner. Naiv stolperten die Ossis in die Einheit, im Glauben an den schnellen Wohlstand und an eine individuell narzisstische, nicht verantwortlich empfundene Freiheit. Dieser Glaube musste enttäuscht werden. Reaktion gegenüber den Wessi­okkupanten: Ätsch, dafür halten wir weiter zu den Russen!

Das nüchterne Argument fortgesetzter Wirtschaftsbeziehungen zieht kaum. Nur drei Prozent der sächsischen Wirtschaft sollen davon profitieren. Maßgeblich erscheint mir vielmehr die massenhaft gestützte Beobachtung, dass die ,,Ossis" 89 zwar demonstrierten, aber von einer solidarisch-gemeinschaftsorientierten Demokratie nichts begriffen hatten.

Bei den Rechten, die am lautesten nach Basisdemokratie schreien, wie bei einer erschreckend hohen Zahl ehemaliger DDR-Bürger ist die Sehnsucht nach autoritärer Führung, mithin nach Entlastung von der eigenen Mitverantwortung latent.

Bei Pegida und deren Derivaten, bei der AfD wird Putin geradezu als Messias verklärt. Als MDR-Reporter hätte man sich dort mit einem Mikrofon von Russia Today tarnen müssen. In der Oberlausitz fordern Inschriften und Banderolen ,,Schluss mit der Hetze gegen Russland!".

Es ist dieselbe Region, in der die gegen alles irgendwie Staatliche demonstrierenden Gutbürger sonntags an der B96 schwarzweißrote Fahnen schwenken und die Sozialpolitik des Kaisers loben. Im Kollektiv-Unterbewussten wirkt die autoritäre Prägung der DDR fort, bis hinein in äußerlich demokratische Regierungskreise von Meck-Pomm oder Sachsen.

In Dresden sind die frühere Hofierung des Zaren und die Besuchseinladung an Putin bis heute nicht zurückgenommen worden. Wir befinden uns im adoleszenten Stadium Ostdeutschlands auf dem Weg zu demokratischer Emanzipation, die freilich auch im Westen keineswegs gefestigt erscheint. Ich werde Geduld und Nerven in teils unsäglichen Debatten bewahren, beim Krieg an der Heimatfront nicht mitmachen und meiner Friseurin weiterhin dankbar sein für die Übermittlung von Volkes Stimme.



Aus: "Putin-Fans in Ostdeutschland: Paradoxe Sympathien" Michael Bartsch (10.3.2022)
Quelle: https://taz.de/Putin-Fans-in-Ostdeutschland/!5836638/ (https://taz.de/Putin-Fans-in-Ostdeutschland/!5836638/)

QuoteTom Farmer

An eine unlogisch Sache mit Logik ranzugehen ist schwerlich möglich, daher vielleicht so:
Der Menschen Gefühlslage ist grenzenlos, Wissen aber oft sehr begrenzt.


QuoteWard Ed

Man darf natürlich nicht vergessen, dass der Osten mit der Wieder Wiedervereinigung die Kälte des Kapitalismus gespürt hat, wenngleich es ihm heute gegenüber früher und insbesondere im Vergleich zu den anderen Ostblockstaaten viiiiiiiel besser geht.


QuoteJim Hawkins

Steile These: Im Osten sind sie historisch bedingt, autoritätsfixierter.
Da passt ein Politiker, der ziemlich totalitär regiert und das macho-mäßig ziemlich gut in Szene setzt, ins Bild.
Dazu hört man aus seinem großen Reich nichts von dem ganzen "Schwuchtelkram".
Es wird nicht gegendert, Männer sind Männer, Frauen sind Frauen.
Für schlichtere Gemüter, die auf klare Kante stehen, ist das vielleicht verlockend.


Quotenutzer

@Jim Hawkins eben, für schlichte Gemüter. und die gibt es im Osten, wie im Westen, wie überall auf der Welt.
Aber niemand ist aufgrund seiner Herkunft ein schlichtes Gemüt.


QuoteJim Hawkins

@nutzer Na gut, woher kommt dann die Putin-Philie ...


QuoteKaboom

Könnte es sein, dass dabei ganz schlicht die Sehnsucht nach einem "Führer" eine Rolle spielt? Jemand dem man "folgen" kann, ganz ohne die Notwendigkeit der Benutzung des eigenen Kopfes? Der sagt, was richtig und falsch ist, und "immer das Richtige tut"?


Quotewirklich?

Naja, ich stimme fast allem zu in diesem Artikel, aber was hat der Westen denn von einer solidarisch-gemeinschaftsorientierten Demokratie verstanden. Das ist jedenfalls nicht die Beschreibung die ich diesem Staat geben würde, auch wenn ich positive Ansätze in diese Richtung zu erkennen bereit bin.


QuoteGünter Picart

Zitat:

"Maßgeblich erscheint mir vielmehr die massenhaft gestützte Beobachtung, dass die 'Ossis' 89 zwar demonstrierten, aber von einer solidarisch-gemeinschaftsorientierten Demokratie nichts begriffen hatten."

Anregende Erkenntnis.

Die deutsche Wiedervereinigung war fragwürdig, ganz ähnlich wie die Nato-Osterweiterung. Der gesamte Osten hätte sich zunächst intern mit seiner Sowjetvergangenheit aussöhnen müssen, bevor er sich dem Westen "anschließt" und uns damit in seine unaufgearbeiteten inneren Konflikte hineinzieht. Das gilt für die DDR genau wie für die Ukraine, meine ich. ...


...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 16, 2022, 11:20:06 AM
Quote[...] Kaum haben die Beatles von Hamburg aus die westliche Welt erobert, schießen auch in der DDR Beatgruppen aus dem Boden. Mit dem Jugendkommuniqué von 1963 hatte die SED den Eindruck vermittelt, dass Aufbruch und Veränderung im Rahmen des Sozialismus möglich sind. Trotz der Skepsis Konservativer geht das Jugendradio "DT64" auf Sendung.

"Das war unsere Jugend, mit allem Für und Wider", sagt Reinhard Möller im NDR Info Podcast "Deine Geschichte - unsere Geschichte". Als Jugendlicher in Rostock in den 60er-Jahren hat er die Beat- und Rockmusik für sich entdeckt - und er unterschreibt seine E-Mails noch heute mit dem Gruß "Keep on Rocking". Er kennt die Repressionen, mit denen die DDR-Führung ihre politische Linie durchsetzte, aber er hat auch die Erinnerungen an ein angenehmes Leben, das er als Musiker in der DDR führen konnte.

Nach Mauerbau und Kubakrise hatte sich die politische Lage in Deutschland etwas entspannt. Die Großmächte führten Abrüstungsgespräche. Ost und West begannen, sich im Kalten Krieg einzurichten. Um endlich auch eine wirtschaftliche Stabilisierung zu erreichen, verkündet der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht beim 6. Parteitag der SED im Januar 1963 neue wirtschaftliche Leitlinien mit flacheren Hierarchien, mehr Mitbestimmung und Investitionen in die Wissenschaft. Parallel dazu eröffnen sich in den nächsten beiden Jahren auch größere Spielräume für Kultur- und Gesellschaftspolitik. Ein Jugendkommuniqué der Partei aus dem Herbst 1963 wird unter die Überschrift "Der Jugend mehr Vertrauen und Verantwortung" gestellt.

Die Jugend nutzt die Spielräume. Sie tanzt Twist und gründet Beatgruppen. Den Lipsi-Tanz, der 1959 als sozialistisches "Gegengift" zu den neuen, rockigen Rhythmen aus dem Westen entwickelt wurde, lässt sie links liegen. Wie im Westen spielen die Beatles eine wichtige Rolle bei der Emanzipation der Jugend und ihres Musikgeschmacks, erinnert sich Reinhard Möller: "Das war schon Musik, die uns sehr nah kam."

Dass die neue Musik aus dem Westen "rüberschwappt", wie Möller es rückblickend ausdrückt, lässt sich nicht verhindern: Die Jugendlichen hören westliche Radiosender, wenn sie im DDR-Rundfunk nichts nach ihrem Geschmack finden. Auch deshalb richtet die SED zum Deutschlandtreffen der Jugend an Pfingsten 1964 ein "Sonderstudio DT64" ein, das Musik spielt, die die Jugend mag - und erlaubt, dass daraus das erste deutsche Jugendradio wird. "DT64" etabliert sich und kann den West-Sendern mit guter Musik, Live-Moderationen und guten Reportagen Paroli bieten. Aber natürlich wird auch darauf geachtet, dass alles auf Parteilinie bleibt, wie sich "DT64"-Redakteur Lutz Deckwerth nach der Wende erinnert: "Es waren nur ausgesuchte Leute, die moderieren durften. Beiträge wurden von drei, vier Leuten abgezeichnet."

Für Reinhard Möller und seine Bands ist der Sender damals eine große Chance. "Wir haben dann ab und zu einen Publikumspreis gekriegt und wurden eingeladen zu Produktionen in diese Studios, die völlig ausländischen Standards entsprachen." Dabei dürfen sie ebenso wie bei ihren Live-Auftritten auch Titel aus dem Westen spielen - allerdings streng quotiert: "Du durftest 40/60 spielen. 40 Prozent West-Titel, 60 Prozent DDR-Titel." Die Gründe dahinter sind ideologischer Natur - aber auch finanzieller: Für die West-Titel musste die DDR Lizenz-Gebühren zahlen, und das Geld war nur in beschränktem Umfang vorhanden. Reinhard Möller erzählt, dass er viele DDR-Titel allerdings auch gerne gespielt habe.

Doch bevor die DDR-Führung versteht, dass sie die DDR-Jugend nicht völlig von den Entwicklungen im Westen abschotten kann, gibt es Mitte der 60er-Jahre einen Rückschlag. In Moskau rückt Leonid Breschnew im Oktober 1964 an die Spitze der KPdSU - und der hält im Unterschied zu seinem Vorgänger Chruschtschow wenig von gesellschaftlichen Experimenten. Und was viele Herren in der SED-Führung von den Entwicklungen in der Jugendkultur halten, fasst Walter Ulbricht in dem viel zitierten Satz zusammen: "Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des 'Yeah, Yeah, Yeah', und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen."

Die Randale bei Konzerten der Rolling Stones während deren Tournee in Westdeutschland 1965 lässt bei der SED-Führung die Befürchtung wachsen, dass womöglich auch in der DDR etwas aus dem Ruder laufen könnte. Im Oktober 1965 wird daher ein Beschluss der gefasst, der Beatmusik in Radio und Fernsehen verbietet, englische Namen für Bands untersagt und Beatgruppen die Lizenz entzieht.

In Leipzig trifft der Beschluss nicht nur Profis, sondern der Rat der Stadt verbietet auch rund 50 Amateur-Bands. Zwei Jugendliche rufen daraufhin mit Flugblättern für den 31. Oktober zu einer Protest-Demonstration auf. Hunderte Beat-Fans versammeln sich in der Leipziger Innenstadt - und noch mehr FDJ-Funktionäre, Stasi-Leute und Schaulustige. Es ist die größte nicht genehmigte Demonstration in der DDR seit dem 17. Juni 1953. Ein vergleichbarer Widerstand organisiert sich erst wieder in der Vorwende-Zeit. Doch der Leipziger Beat-Aufstand wird von der Bereitschaftspolizei mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Hunden aufgelöst. Viele der jugendlichen Demonstranten werden festgenommen, viele werden zu mehreren Wochen Arbeit im Braunkohletagebau verurteilt.

Reinhard Möller erlebt in der Folgezeit immer wieder den Wechsel von Phasen größerer Freiheit mit Phasen größerer Repression. Sein Geiger etwa landet im Gefängnis, weil er im Westen Informationen zur Umweltverschmutzung in der DDR veröffentlicht, die das Regime geheim halten wollte. Möllers Band darf im Unterschied zu anderen keine Tournee im Westen machen, weil er selbst als IT-Fachkraft gearbeitet hatte. Auf der anderen Seite sagt er, hätten sie als Musiker oft auch relative Narrenfreiheit gehabt: "Wie ein Hofnarr, der durfte vieles sagen. Wir waren die Hofnarren."

Möller wurde nie Mitglied der SED, aber er arrangierte sich mit den Verhältnissen. Er hat die Politik weitgehend rausgelassen aus seinen Songs. Jeder, sagt er, musste für sich selbst ausloten, wie weit er gehen konnte. Auch die im Westen bekannten Bands wie die Puhdys, City oder Karat. Und, dass oft auch politische Anspielungen in Zeilen steckten, die klangen wie reine Poesie - zum Beispiel in dem Song "Nach Süden, nach Süden" seiner Lieblingsband Lift. Die DDR-Bürger, sagt Möller, wussten das zu lesen. Und: "Vielleicht muss man auch DDR-Bürger gewesen sein, um das zu verstehen."


Aus: "Erst gefördert, dann bekämpft: Die Beatbewegung in der DDR" Ulrike Bosse (16.03.2022)
Quelle: https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Beatbewegung-in-der-DDR-Erst-gefoerdert-dann-bekaempft,beatmusik100.html (https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Beatbewegung-in-der-DDR-Erst-gefoerdert-dann-bekaempft,beatmusik100.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 19, 2022, 11:26:54 AM
Quote[...] Vielleicht hat das alles mit einer Drehbuch- oder Regie-Entscheidung begonnen, die, handwerklich durchaus nachvollziehbar, die politische Moral der DDR-Erinnerung nachhaltig veränderte. Bei der Verfilmung von Thomas Brussigs autofiktionalem Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee, einer lockeren Aneinanderreihung von Episoden einer mehr oder weniger rebellischen Jugend in der späten DDR, sollte ursprüngich am Ende eine Szene vom Tod an der deutsch-deutschen Grenze stehen.
Das hätte freilich den leichten Ton zwischen Groteske und ironischer Romantik schockhaft zerstört, der den Film Sonnenallee 1999 zu einem großen Publikumserfolg im einigermaßen wiedervereinigten Deutschland machte – und zum Modell für eine trotzig-unlarmoyante Spielart der gescholtenen "Ostalgie". Kein Tod am Ende von Sonnenallee, sondern das Bekenntnis, dass auch die DDR ein Paradies sein konnte, wenn man jung, verliebt und schuldlos war.

Mit Sonnenallee war eine cineastische Methode und zugleich eine Mythologie zur Post-DDR-Erzählung geboren, die, wie es so ist, ihre Vorteile und ihre Nachteile hat. Beinahe könnte man von einem eigenen Genre der Ostalgie für Ossis und Wessis sprechen, denn die Filme des Schöpfers dieser Mythologie, Leander Haußmann, führen nicht in die DDR, wie sie war, sondern in ein Traumland, in dem das Graue, das Heruntergerockte und das Verengte zur perfekt malerischen Kulisse für eine Peter-Pan-Fantasie werden konnte: Wo, wenn nicht in dieser DDR, die alle Facetten von Korruption, Gewalt und Groteske der Erwachsenenwelt so militant ausstellte, konnte man so sehr den Wunsch hegen, nie erwachsen zu werden? Nach NVA, der etwas zu klamottig geratenen Militärsatire, und Seitenstücken wie Hotel Lux (mit Auftritten von Walter Ulbricht und Clara Zetkin) könnte jetzt mit Stasikomödie das Haußmann-Genre seinen Höhepunkt (schon von den Produktionswerten her), vielleicht aber auch seinen Abschluss finden. Als Dekonstruktion dieser ironisch-romantischen Erinnerungsrevuen zwischen Mythos und Verdrängung.

Das zumindest legt erst einmal der Plot nahe: Ein ergrauter Herr holt sich in einer Papiertüte seine Stasi-Akten ab, doch daheim nimmt nicht nur die turbulente Familie, sondern auch ein hinzugeladener Journalist die dokumentierte Lebensgeschichte auf. Die könnte enthüllen, dass der vermeintliche Boheme-Rebell vom Prenzlauer Berg in Wahrheit von der Staatssicherheit ins Milieu geschleust wurde und sich danach, nur selten Herr der Lage, zwischen Liebesgeschichten, Stechapfel-Cocktails und Dichterlesungen (gar eine, halb real, mit Allen Ginsberg) in den Labyrinthen der absurden Parallelwelt ebenso wie in den noch absurderen Welten der politischen Macht verheddert. Zum Happy End im Übrigen hat seine Familie glücklicherweise Wichtigeres zu tun, als sich mit seiner Stasi-Vergangenheit zu beschäftigen.

Der Plot ist freilich nur roter Faden für eine Reihe von mehr oder weniger autonomen Szenen, mal auf der einen, mal auf der anderen Seite des Spitzelsystems. Das eben ist die Methode Haußmann: Es geht nicht um die Widerspiegelung von Geschichte in einer Story oder deren Charakteren, sondern um szenische Reigen, in denen sich Assoziationen und Rekonstruktionen, Traumkulisse und Detailrealismus umkreisen. Jede einzelne Nummer dieser Reigen hat einen eigenen Ton, eine eigene Gefühlslage, eine eigene Position. Sehr oft ist man bis hin zur Raum- und Lichtgestaltung dem Theater näher als dem Film. Dazu gehört es, dass auf intensive Szenen andere folgen, die eher an der Oberfläche funktionieren, groteske Überbietungen – wie Erich Mielke als lebendes Reiterdenkmal in einem bizarren Maskenball – folgen auf hübsche Reduktionen. Etwa die Eingangssequenz mit der Ampel vor menschen- und autoleerer Allee, die der Held nicht zu ignorieren wagt, die Wartezeit stattdessen mit subversiver Lektüre verbringt, bis eine Katze und ein Straßenreinigungsfahrzeug doch eine Entscheidung erzwingen. Doch wer hat diese Szene inszeniert als Probe für unseren Helden? Man hat die Stasi ja gern als ungeheure "Erzählmaschine" charakterisiert, und das wird hier fast schon wörtlich genommen, da man zwischen einem Bespitzelungsbericht und einem Romanentwurf nicht mehr unterscheiden kann. Oder eben zwischen einer Ampelmanipulation und einem Filmdreh.

Eine Reihe von Motiven verbinden Sonnenallee und Stasikomödie: die wiederkehrende Metapher der Ampel, die Off-Narration durch einen ironisch-unzuverlässigen Erzähler, die heillose Verquickung von Liebe und Politik, das spezifische DDR-Rauschgetränk, die Charakterisierung des Helden in der Ambivalenz von Beobachten und Mitmachen, das Wandeln am Rand des Kontrollverlustes, der "Obermeister" von der Volkspolizei, der nie so recht weiß, ob er zum System oder doch zu den Leuten gehört (gespielt von Detlev Buck, der vor und hinter der Kamera zu Haußmann-Filmen beiträgt), die ungebrochen männliche Perspektive und nicht zuletzt das Zurückschrecken vor dem Punkt, an dem das Komische sich nicht mehr vollständig dem Wohlfühl-Ansinnen unterwirft. Es ist am Ende aber vielleicht doch kein durch und durch gutes Gefühl, wenn man zum Komplizen einer viel zu einfachen Versöhnung gemacht werden soll. Die DDR ist in der Leander-Haußmann-Mythologie vom surrealen Neverland unter der Oberfläche von Macht und Alltag auf die angenehmste Art aufgehoben. Auf die wahrhaftigste Art eher nicht.


Aus: ""Stasikomödie": Bloß nicht erwachsen werden" Eine Rezension von Georg Seeßlen (19. Mai 2022)
Quelle: https://www.zeit.de/2022/21/stasikomoedie-leander-haussmanns-film-ddr (https://www.zeit.de/2022/21/stasikomoedie-leander-haussmanns-film-ddr)

QuoteB42Fisch #2

Ich habe regelmäßig mit Patienten zu tun, die aus politischen Gründen in der DDR Psychiatrie ,,verschwunden" sind. Deren Sicht auf die Alltagsrealität der DDR war und ist eine ganz Andere. Firma Horch und Kuck sass bei jedem ,,Arztgespräch" mit am Tisch. Und tut es gefühlt heute noch, drum brauchen die Patienten heute eine echte Psychiatrische Behandlung.

Wer zu klar und gesund denken konnte, um sich dem Wahnsinn des Alltags hinzugeben, musste in der DDR in die Psychiatrie.


QuoteSerafez #2.1

Öhm, und alle anderen? Ich glaube nicht, dass man Ihre Aussage in dieser Allgemeinheit stehen lassen kann.


QuoteCastlepool #2.2

Eine sehr einseitige, zugespitzte und seltsame Betrachtung des Alltags im Osten. Nach meiner Erfahrung.


QuoteBurgundy #2.4

,,Wer zu klar und gesund denken konnte, um sich dem Wahnsinn des Alltags hinzugeben, musste in der DDR in die Psychiatrie."

Im Umkehrschluss würde diese absurde These bedeuten, dass 99,5 Prozent der DDR-Bürger*innen nicht klar (und gesund? wie denkt man gesund?) denken konnten.

Das ist westdeutsche Arroganz und Naivität in absoluter Reinform.


Quotehalt.mal.kurz #2.6

Das kann ich nur bestätigen..., als "Betroffener", Anfang der 70er in Ostdeutschland geboren, empfand ich den Humor in "Hotel Lux" (Walter Ulbricht übt schon mal mit Würfelzucker den Mauerbau) als irgendwie befreiend, schließlich geschah das alles deutlich vor meiner Geburt und der Abstand zu den Ereignissen war da. Bei "Sonnenallee" und "NVA" dagegen ist mir das Lachen doch häufig im Hals stecken geblieben. Vermutlich verarbeitet Leander Haußmann seine Erlebnisse als Jugendlicher in der DDR auf diese Weise (dass er es kann, darum beneide ich ihn), mir kamen zum Teil ganz andere Erinnerungen und Gefühle wieder hoch, die waren weniger lustig.
Trotzdem werde ich mir sicher auch die "Stasikomödie" ansehen.



Zitat:"Im Umkehrschluss würde diese absurde These bedeuten, dass 99,5 Prozent der DDR-Bürger*innen nicht klar (und gesund? wie denkt man gesund?) denken konnten.
Das ist westdeutsche Arroganz und Naivität in absoluter Reinform."

Das muss keine westliche Arroganz sein... Es gab in der DDR ganz unterschiedliche Biographien (die Mehrheit hatte sich irgendwie mit dem Regime arrangiert und mit Trabi, Schrebergarten und Rotkäppchen Sekt einfach ihr Leben gelebt. Manche sind deutlich darüber hinaus gegangen, haben Freunde im Auftrag der Stasi bespitzelt (gelegentlich übrigens erst nach psychischer "Überredung" durch Letztere), Kinder haben Eltern verraten und umgekehrt. Wer etwas erreichen wollte, ist dann eben Mitglied der SED geworden, aus Überzeugung oder Opportunismus (das hätten sicher viele Westdeutsche, die anschließend den Stab über solche Zeitgenossen gebrochen haben, nicht anders gemacht).
Und dann gab es noch die, die aufbegehrt haben gegen ein System, welches sie als ungerecht, gewalttätig, verlogen und einengend empfunden haben. Natürlich waren auf den ersten Montagsdemos vorrangig jüngere Menschen, die, die noch keine Familie hatten, für deren Sicherheit sie verantwortlich gewesen wären...



QuoteSerafez #3

Ich finde ja, gerade darin liegt die Genialität der Filme, dass sie zeigen, wie sehr die Repression dazugehörte, aber der Alltag eben vor allem Leben war und da, in dem was man hatte, auch durchaus intensiv und auskostend.
Mir kommt es manchmal so vor, als müsste zur DDR immer am lautesten und zuerst und überhaupt am besten nur gesagt werden, dass es ein Unrechtsstaat war, alles andere mag vielleicht auch gewesen sein, aber ist Verklärung. Mir ist das zu wenig differenziert. Vielleicht muss man auch an dieser Stelle mit einer größeren Ambiguität leben.


QuoteFrüherwarsauchmist #4

Ich freue mich auf die ,,Dritte Reich"-Wohlfühlfilme. Denn auch dort war ja nicht alles schlecht.
/s


QuoteFlorian Schwanitz #4.1

Wo stand dann ihrer Meinung nach das Vernichtungslager mit Gaskammern in der DDR? Und wieviele Millionen Tote gab es denn nach dem Weltkrieg, den die DDR angefangen hat?

Vielleicht sollten sie "Drittes Reich" und die "DDR" nicht implizit gleichsetzen?


Quote*-* #4.3

Im Privaten sicher nicht. Auch während dieser Zeit gab es junge verliebte Menschen, über die man sehr romantische Liebesfilme drehen könnte :) Und diese Filme wurden sicher auch gedreht.


Quotehalt.mal.kurz #4.6

Ich stimme insofern mit Ihnen überein, dass das alternative Ende mit dem Maueropfer ein realistischeres gewesen wäre. (sicher, es war nicht alles schlecht, aber eben doch vieles sehr schlimm)
Mit dem Nazi-Deutschland zur Zeit des 3. Reichs kann man die ehemalige DDR allerdings tatsächlich nicht vergleichen. Die DDR war sicher alles Andere als ein Rechtsstaat, aber doch weit entfernt vom faschistischen Hitlerdeutschland.


QuoteSuperfrau #5

Ostalgie-Film für Freitag-Leser.


QuoteBurgundy #5.1

Was unterscheidet Freitag-Leser*innen denn von ZEIT-Leser*innen?


Quoteelfotografo #6

Leander Haußman wird mit diesem Film nicht mehr gelungen sein als oberflächlicher Brachial-Klamauk.

Ihm fehlt jegliches Gespür fürs Feinsinnige, die Fähigkeit vielschichtige Charaktere zu zeichnen und vor allen Dingen die Begabung, das Grauen hinter den oft lächerlichen Typen der Stasi mitklingen zu lassen.

Und wenn dann auch noch Detlev Buck darin herumfuhrwerkt ... Oh je ...


Quotepourquoi pas #6.1

Man muß eben ein feines ästhetisches Gespür haben, um das Groteske im vermeintlich Tragischen zu erkennen.


Quoteelfotografo #6.2

"....um das Groteske im vermeintlich Tragischen zu erkennen."

Überragend gut gelungen in einem meiner Lieblingsfilme überhaupt:

"Sein oder Nichtsein" von Ernst Lubitsch.


Quotepourquoi pas #7

Klingt großartig. "Sonnenallee" war die bisher gelungenste künstlerische Verarbeitung der DDR-Ära, und diese Fortsetzung rundet Haußmanns differenzierenden Blick auf die deutsche Geschichte ab. Niemand, der nicht damals dort gelebt hat, kann beurteilen, wie vielfältig ein Leben in Licht und Schatten sein kann.


QuoteBurgundy #7.1

,,Sonnenallee" war die bisher gelungenste künstlerische Verarbeitung der DDR-Ära"

Nein, m.E. war das ganz klar ,,Gundermann".

Aber ich werde mir den neuen Haußmann-Film auch ansehen und bin auch der Meinung, dass ,,Sonnenallee" ein sehr guter Film war, der eine neue Ära der Betrachtung der DDR eingeleitet hat.


Quotereader59 #8

Viel zu kompliziert. Hausmann hat es auf den Punkt gerbracht in der DDR durfte man die Stasi nicht humorvoll betrachten eins war klar, die Jungs waren absolut humorlos. Und jetzt darf man wieder nicht mit Humor an die Geschichte rangehen? Wann dann? Die Lächerlichkeit Ihres Tuns darzustellen ist jedenfalls besser als nur bedeutungsschwanger über sie zu reden und Sie damit wichtiger zu machen als sie waren. Hat auch nichts mit Wohlfühlnostalgie zu tun. Jetzt endlich darf man über sie lachen, das ist der echte Sieg. Man ist endlich angstfrei. Putin hat es geschaft die Angst vor seinen Kumpanen zu konservieren. Er ist auch deshalb so begierig zu siegen (was offensichtlich in weiter Ferne liegt) weil die Ukraine das System Angst überwunden hat
und stellen Sie sich mal vor das passiert in Russland.


...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 26, 2022, 11:19:23 PM
Daniel Siemens (* 1975 in Bielefeld) ist ein deutscher Historiker und Professor für Europäische Geschichte an der School of History, Classics and Archaeology der Newcastle University in England.
https://de.wikipedia.org/wiki/Daniel_Siemens (https://de.wikipedia.org/wiki/Daniel_Siemens)

Hinter der "Weltbühne": Hermann Budzislawski und das 20. Jahrhundert. Aufbau-Verlag, Berlin 2022, ISBN 978-3-351-03812-0.

Do. 07.04.22, 15:00 Uhr
Kaum ein Linksintellektueller überlebte mehr Regimewechsel und war auf so unterschiedliche Weise wirksam wie Hermann Budzislawski: ob in der Nachfolge von Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky als Leiter der "Weltbühne" nach 1933, als Mitarbeiter von Dorothy Thompson in den USA oder als prägende Figur der sozialistischen Journalistik in der DDR. Mit seiner neuen Biographie "Hinter der Weltbühne. Hermann Budzislawski und das 20. Jahrhundert" (Aufbau Verlag) zeichnet der Historiker Daniel Siemens ein komplexes Panorama des 20. ...
https://www.hr2.de/programm/sendezeiten/am-nachmittag,epg-am-nachmittag-1202.html (https://www.hr2.de/programm/sendezeiten/am-nachmittag,epg-am-nachmittag-1202.html)

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Quote[...]  Stefan Brams: Herr Siemens, die ,,Weltbühne", die wohl bedeutendste Politik- und Kulturzeitschrift der Weimarer Republik, ist manchen Menschen heute noch ein Begriff, aber Hermann Budzislawski, der sie im Exil herausgegeben hat und in der DDR vier Jahre als Chefredakteur verantwortete, eher nicht. Warum haben Sie sich in ihrem neuesten Buch ausgerechnet mit ihm auseinandergesetzt?

Daniel Siemens: Das stimmt, Budzislawski war als Journalist nie die Galionsfigur der ,,Weltbühne". Das waren eher der Gründer Siegfried Jacobson und später Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky, die maßgeblichen Autoren der 20er und frühen 30er Jahre. Hermann Budzislawski stieß erst 1932 zur ,,Weltbühne", wenige Monate, bevor die Zeitschrift von den Nazis verboten wurde.

Stefan Brams: Was macht ihn dennoch interessant für uns?

Daniel Siemens: Als die Zeitschrift nach der Machtergreifung nur noch aus dem österreichischen, später tschechoslowakischem und noch später französischem Exil heraus erscheinen konnte, wurde er Chefredakteur und bald auch Miteigentümer des renommierten Blattes. Das macht ihn interessant. Spannend ist aber auch seine Lebensgeschichte nach 1945, als er aus dem New Yorker Exil in die DDR zurückkehrte und Professor für Journalismus in Leipzig wurde. Er versucht auch, wieder an die Spitze der 1946 in Ostberlin neu gegründeten ,,Weltbühne" zurückzukehren. Das scheitert zunächst, weil er Ulbricht zum Gegner hat. Erst 1967 wurde Budzislawski nochmals als Chefredakteur berufen. Nach seinem Tod 1978 ist er dann aber rasch in Vergessenheit geraten.

Stefan Brams: Warum hat sich niemand mehr mit ihm beschäftigt?

Daniel Siemens: Als die DDR nach dem Mauerfall abgewickelt wurde, hat sich zunächst niemand mehr für Linke, die sich mit der SED eingelassen hatten, interessiert. Erst jetzt, drei Jahrzehnte später, gibt es ein neues Interesse an den nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst aus dem Exil in die DDR gegangenen Linksintellektuellen. Budzislawskis Lebensweg, dem ich nachspüre, steht beispielhaft für diese Gruppe.

Stefan Brams: Sie beschreiben Budzislawski als eine sehr vielschichtige, widersprüchliche Persönlichkeit. Was machte ihn denn aus?

Daniel Siemens: Er war einerseits linientreu, testete in der DDR aber auch die Spielräume aus und versuchte den Raum des Sagbaren vorsichtig und innerhalb des Systems zu vergrößern. Mit Folgen, denn in den Augen der SED-Orthodoxie galt er damit als unzuverlässiger ,,Liberaler" – was in für Ulbricht und andere Genossen ein Schimpfwort war. Für den Westen war er schlicht ein Claqueur des Systems. Ich zeige in meiner Biografie, wie dieser vorsichtige, sehr wendige, gewiefte Intellektuelle im Laufe seines Lebens alles tat, um nicht unterzugehen in diesem 20. Jahrhundert, das so viele zermalmt hat. Es war der Spätstalinismus, der vielen dieser Linksintellektuellen in der DDR das Rückgrat gebrochen hat.

Stefan Brams: Budzislawski war Journalist und begründete als Journalistik-Professor in Leipzig den ,,sozialistischen Journalismus". Wofür stand er als Journalist?

Daniel Siemens: Er stand klar für einen SED-nahen, parteiischen Journalismus. Aber er hatte auch die Idee, nach dem Vorbild der ,,Zeit" im Westen zusammen mit Bertolt Brecht eine vergleichbare Wochenzeitung auch in der DDR zu gründen. Sie sollte ,,Die Republik" heißen, er wäre Chefredakteur geworden. Sein Widersacher hieß erneut Ulbricht, der ihm als bürgerlichen Linksintellektuellen nicht traute und auch dieses Projekt verhinderte, wie er nach dem Krieg eben auch dafür sorgte, dass Budzislawski zunächst nicht wieder Chefredakteur der ,,Weltbühne" werden konnte. Stattdessen wurde er als Professor in Leipzig geparkt und als linksintellektuelles Feigenblatt für die SED genutzt.

Stefan Brams: Das alles ließ er mit sich machen. Sie beschreiben Budzislawski als sehr wendig, wendig bis zum Verrat?

Daniel Siemens: Nein, das nicht, aber er nutzte alle Tricks und spielte seine Gegner, wo es ging, aus, um selbst oben zu bleiben. Auch wollte er später, in der DDR, seinen bürgerlich-gehobenen Lebensstandard nicht aufgeben. Zugleich hat er aber seine antifaschistischen Überzeugungen immer konsequent gelebt und dafür im Exil auch Opfer gebracht. Widersprüche wie diese machen für mich den Reiz dieser Person aus.

Stefan Brams: Über sein Privatleben hat er wenig preisgegeben.

Daniel Siemens: Die Erfahrungen im Exil, seine Kontakte zu Parteien in der Illegalität, die Geheimnisse um die Finanzen der ,,Weltbühne", all das hat ihn für sein ganzes Leben sehr vorsichtig werden lassen. Als er Mitte der 30er Jahre einen Konkurrenten um die Chefredaktion der ,,Weltbühne" ausgebootet hatte, sagte er zu diesem: ,,Dein Fehler war, ich wusste über dich alles, aber du nichts über mich". Das sagt viel über seinen Charakter aus.

Stefan Brams: Nicht gerade ein sympathischer Zug?

Daniel Siemens: Er konnte durchaus charmant sein, schnell Freunde gewinnen, aber er band sich eben nicht wirklich an sie und enttäuschte manche, die schließlich spürten, dass er sie eher benutzte als wirkliche Freundschaften einzugehen. Er war ein Schlawiner, Geschäftsmann und eben auch überzeugter Sozialist, der zwar immer in der zweiten Reihe stand, aber in dessen Biografie sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit wie in einem Brennglas spiegelt. Nach meinen Recherchen habe ich den Eindruck gewonnen, dass wir uns gerade die Menschen aus der zweiten Reihe genauer ansehen sollten, denn anhand ihrer Biografien lässt sich manches besser verstehen und erkennen als an den Frauen und Männern aus der ersten Reihe. Letztendlich erzähle ich anhand des Lebens von Hermann Budzislawski eine beispielhafte Geschichte vom Auf- und Abstieg der deutsch-jüdischen Linksintellektuellen im 20. Jahrhundert.

Stefan Brams: Wie bedeutend war die ,,Weltbühne" in der DDR noch?

Daniel Siemens: Im Gegensatz zur ,,Weltbühne" der Weimarer Republik und im Exil hatte sie vor allem an Frechheit und Brillanz eingebüßt. Ihr größtes Problem war: Sie hatte ihre Maxime verloren, die früher hieß, mit keiner Macht zu kuscheln. Das hat auch Budzislawski als Chefredakteur und Herausgeber in den Jahren von 1967 bis 1971 nicht ändern können, auch wenn er in dieser Funktion durchaus bemüht war, Grenzen auszuloten. Drei Jahre nach der Wiedervereinigung wurde die ,,Weltbühne" schließlich endgültig eingestellt.

Stefan Brams: Spannend ist ihre Recherche zu Budzislawskis Leben auch, weil Sie in ihrem Buch etwas zu Gregor Gysis mutmaßlicher Tätigkeit für die Staatssicherheit der DDR schreiben.

Daniel Siemens: Gysi hat in den 80er Jahren von der Familie Budzislawski ein Haus in Buckow östlich von Berlin gekauft, und über diesen Kauf finden sich Angaben in einem Diensttagebuch der Stasi. Schon in den 1990er Jahren haben Journalisten mit Hilfe solcher Quellen nachzuweisen versucht, dass Gysi ein IM – ein Informeller Mitarbeiter der Stasi – gewesen sein soll. Gysi bestreitet das und hat entsprechende Gerichtsprozesse bislang auch gewonnen. In meinem Buch ist das nur ein Randthema. Budzislawski und die ,,Weltbühne" sind auch ohne Gysi spannend genug.

...

Über: Daniel Siemens: ,,Hinter der Weltbühne. Hermann Budzislawski und das 20. Jahrhundert"; 413 S., Aufbau


Aus: "Schlawiner, Geschäftsmann, Sozialist" (15.03.2022)
Quelle: https://www.nw.de/nachrichten/kultur/kultur/23218548_Schlawiner-Geschaeftsmann-Sozialist.html (https://www.nw.de/nachrichten/kultur/kultur/23218548_Schlawiner-Geschaeftsmann-Sozialist.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 14, 2022, 03:06:28 PM
"Wie es sich zu DDR-Zeiten in Prenzlauer Berg und Mitte wirklich wohnte" Susanne Lenz (12.09.2022)
Das Filmfestival Prenzlauerberginale zeigt umwerfende Dokumentaraufnahmen aus den Siebzigern und Achtzigern, die keiner Propaganda dienten.  Der Benzinmangel erweist sich heute, 40, 50 Jahre und einen Systemzusammenbruch später, für Berlin als Glücksfall. Nur 70 Liter im Monat hatten die Filmemacher der SFD monatlich zur Verfügung. Sie drehten also vor allem in der Hauptstadt der DDR. SFD nie gehört? Es ist die Abkürzung für die Staatliche Filmdokumentation der DDR, in deren Auftrag zwischen 1971 und 1986 rund 300 Berichte über den Alltag in diesem Land entstanden. Das Material war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern wurde für zukünftige Generationen archiviert, um später einen unverstellten Blick auf eine sozialistische Gesellschaft im Aufbau zu ermöglichen, wie es auf der Webseite der Prenzlauerberginale heißt, die Stephan Müller nun zum sechsten Mal organisiert. Das kleine Filmfestival zeigt am 13. September im Filmtheater Friedrichshain verschiedene Ausschnitte aus SFD-Berichten von 1979 bis 1985 zum Thema Wohnen, die alle in Mitte und Prenzlauer Berg entstanden sind. ...
https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/kino-streaming/dokumentarfilme-zeigen-wie-es-sich-in-der-ddr-im-prenzlauer-berg-und-in-mitte-wirklich-wohnte-li.265534 (https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/kino-streaming/dokumentarfilme-zeigen-wie-es-sich-in-der-ddr-im-prenzlauer-berg-und-in-mitte-wirklich-wohnte-li.265534)


"RBB-Doku "Der heimliche Blick": In den No-Go-Areas der DDR" Von Kurt Sagatz (16.03.2015)
Ein RBB-Film zeigt unveröffentlichte Ausschnitte aus Aufnahmen der Staatlichen Filmdokumentation. Sie zeigen die DDR, wie sie war, nicht wie sie die Staatsführung sehen wollte.
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/in-den-no-go-areas-der-ddr-8124658.html (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/in-den-no-go-areas-der-ddr-8124658.html)

Die Staatliche Filmdokumentation (SFD)
https://de.wikipedia.org/wiki/Staatliche_Filmdokumentation (https://de.wikipedia.org/wiki/Staatliche_Filmdokumentation)

Staatliches Filmarchiv der DDR
http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/DR-140-64968/index.htm?kid=815f4cc2-56f9-4cf4-99d3-dd570b8c014c (http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/DR-140-64968/index.htm?kid=815f4cc2-56f9-4cf4-99d3-dd570b8c014c)

Offene Geheimnisse. Die Staatliche Filmdokumentation des DDR-Filmarchivs (1970-1986) [2013]
https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-123784 (https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-123784)

"Die ungeschminkte DDR gefilmt" Heiko Weckbrodt (24. Februar 2015)
https://oiger.de/2015/02/24/die-ungeschminkte-ddr-gefilmt/56584 (https://oiger.de/2015/02/24/die-ungeschminkte-ddr-gefilmt/56584)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 28, 2023, 09:38:05 AM
Quote[...] Seine bisherigen Bücher waren anders angelegt. Dirk Oschmann schrieb über die Romane Franz Kafkas, über Literatur des 18. Jahrhunderts oder auch eine Einführung in das Werk Friedrich Schillers. Er ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Leipzig. Er ist außerdem, wenn er sich beschreiben soll, passionierter Radfahrer und Fußballfan, war nie Mitglied einer Partei und, das schreibt er so, ,,werde es niemals sein". Na ja, und Ostdeutscher ist er.

...


Aus: "Dirk Oschmann über westdeutsche Arroganz – und die Scham der Ostdeutschen" Cornelia Geißler (23.02.2023)
Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/debatte/neues-buch-der-osten-eine-westdeutsche-erfindung-literaturprofessor-dirk-oschmann-ueber-die-arroganz-der-wessis-und-die-scham-der-ossis-li.319955 (https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/debatte/neues-buch-der-osten-eine-westdeutsche-erfindung-literaturprofessor-dirk-oschmann-ueber-die-arroganz-der-wessis-und-die-scham-der-ossis-li.319955)

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Quote[...] [Dirk Oschmann (04.02.2022)]: ... Zur kontinuierlich ge­führten West-Ost-De­batte zählt die Behauptung, es gebe eine spezifische ,,Ost-Identität", die mitverantwortlich sei für die der­zeit rasant wachsende gesellschaftliche Spaltung. So jedenfalls kann man den im öffentlichen Raum vorherrschenden Eindruck resümieren. Allerdings ist dieser öf­fentliche Raum als ökonomischer, medialer und diskursiver Raum nicht nur komplett in westdeutscher Hand, sondern auch vollständig von westdeutschen Perspek­tiven dominiert; genau aus diesem Grund hat man sich in Sachsen-Anhalt im vergangenen Jahr geweigert, einer Erhöhung der Rundfunk- und Fernsehgebühren zu­zustimmen. Da alle die Chimäre dieser ,,Ost-Identität" kennen, soll sie hier nicht erneut verhandelt werden, vielmehr wird im Folgenden skizziert, was es bedeutet, von der Politik und großen überregio­nalen Medien, also von den öffentlichen deutschen Eliten, die natürlich nur westdeutsche Eliten sind, eine solche auferlegt zu bekommen. Nicht der ,,Osten" ist zu er­klären, sondern der ,,Westen", der sich an­maßt, den Osten identitätspolitisch zu interpretieren und dabei faktisch zu isolieren.

Durchgängig spreche ich von Osten und Westen, von Ostdeutschen und Westdeutschen, und verzichte bewusst auf jede Art von Relativierung. Die Kompromisslosigkeit dieser Entgegensetzung spiegelt nur die Gnadenlosigkeit der Un­terscheidung, wie sie seit mindestens 30 Jahren, eigentlich aber seit 1945 den deutsch-deutschen Diskurs bestimmt; Christoph Hein nennt dies in einem neueren Buch den ,,letzten deutsch-deutschen Krieg". Um den Kontrast anschaulich zu machen, sei der Jurist und Pu­blizist Arnulf Baring zitiert, der 1991 die Ostdeutschen so beschrieb: ,,Ob sich dort heute einer Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weiten Strecken völlig unbrauchbar. [. . .] viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktgesellschaft einbringen könnten." Offenbar für Aussagen wie diese hat Ba­ring den Europäischen Kulturpreis für Politik und das Große Bundesverdienstkreuz erhalten.

Armin Laschet wiederum verstieg sich noch 2016 in einer ARD-Sendung zu der Aussage, die DDR habe ,,die Köpfe der Menschen zerstört. [. . .] Ganze Landstriche haben nicht gelernt, Respekt vor anderen Menschen zu haben." Und dass die Wo­chenzeitung ,,Die Zeit" seit mehr als zehn Jahren die Rubrik ,,Zeit im Osten" enthält – und zwar nur im Osten – , unterstreicht das entschiedene Bestreben einer Sonder­zonenberichterstattung, mit der die Spaltung zementiert wird. Öffentlich und all­gemein bewusstseinsgeschichtlich hat sich an der Spaltung folglich nichts geändert. Dabei begreift sich der Westen stets als Norm und sieht den Osten nur als Abweichung, gar als krankhafte Fehlbildung. Da­rum stört es den westdeutschen Wohlfühl- und Diskurskonsens in der Regel, wenn jemand aus dem ,,Osten" spricht.

Die hier zu leistende Zustandsbeschreibung ist nicht mit ,,Jammern" zu verwechseln. Darin besteht nämlich der beliebteste rhetorische Trick, kritische Wortmeldungen von ostdeutscher Seite mit dem Vorwurf erledigen zu wollen, hier rede wieder bloß ein sogenannter Jammer-Ossi. In der privilegierten Position eines Professors habe ich gar keinen Grund zu ,,jammern", wohl aber Anlass, eine dezidiert andere Sicht zu entwickeln. Denn in der allgemeinen Wahrnehmung erscheint Kritik des Ostens am Westen nicht opportun, so als würden wir bereits in der besten aller Welten leben. Das tun wir natürlich nicht, da die beste aller Welten bekanntlich die 1989 untergegangene alte BRD war, wie man noch der im Jahr 2020 publizierten ,,Kurzen Geschichte der Deutschen" des Berliner Historikers Heinrich August Winkler entnehmen kann. Abgesehen von etlichen hochrangigen alten Nazis in gesellschaftlichen und politischen Spitzenpositionen war da alles schön und wurde alles richtig gemacht.

Eine der zentralen Schwierigkeiten in der deutsch-deutschen Gemengelage liegt folglich darin, dass es für jemanden aus dem Osten im Grunde keine adäquate Position öffentlichen Sprechens gibt. Es existieren bisher nur zwei zugelassene, das heißt halbwegs akzeptierte Va­ri­anten, sich zum Stigma der ostdeutschen Herkunft ins Verhältnis zu setzen: Erstens die explizite Kritik an und Distanzierung von dieser Herkunft, weil man laut offizieller Sprachregelung ja aus einem ,,Unrechtsstaat" kommt, und zweitens die Selbstdemütigung durch vorauseilende Ironisierung, wie sie etwa der Kabarettist Olaf Schubert praktiziert.

Aber nicht nur die aporetische Sprecherposition selbst ist ein Problem, sondern genauso sind es die Anlässe des Sprechens. Westdeutsche sprechen im­mer und überall – und über alles – im Vollgefühl ihrer Repräsentativität und Le­gitimität, und natürlich dürfen sich Westdeutsche immer als ,,Deutsche" be­greifen. Das erfährt man im Osten ganz anders, weil man innerhalb Deutschlands selbst nie das Bewusstsein verliert, aus dem Osten zu kommen und jederzeit zum Ostdeutschen gemacht und damit disqualifiziert werden zu können. Ob es einem gefällt oder nicht, man bleibt als Ostdeutscher in Deutschland ein Ostdeutscher, nicht jedoch weil man es sein möchte, sondern weil man im öffentlichen Raum permanent auf die mit dieser Herkunft verknüpften Vorurteile und Konnotationen festgelegt und reduziert wird.

Zum ,,Deutschen" wird man als Ostdeutscher erst im Ausland. Ich habe mehrere Jahre an fünf verschiedenen Orten in den USA gelebt. Niemand ist dort auf die Idee gekommen, ich könnte etwas an­deres sein als ,,a German" beziehungsweise ,,from Germany", selbst dann nicht, wenn die Rede darauf kam, dass ich in der DDR aufgewachsen bin. Hier in Deutschland dagegen scheint das nicht denkbar. Während Westdeutsche offenbar Naturdeutsche sind, sind Ostdeutsche lediglich Kunst­deutsche. Natürlich weiß ich, dass sich jeder gebildete und ökonomisch gut gestellte Westdeutsche nicht als ,,Deutscher" begreift, sondern sich, wie es zu ei­nem zeitgemäßen postnationalen und vor allem saturierten Selbstverständnis ge­hört, für einen moralisch korrekten ,,Eu­ropäer" oder gar ,,Weltbürger" hält.

Ein solches Selbstverständnis wird Ostdeutschen nur äußerst selten zugestanden, vielleicht Angela Merkel, Durs Grünbein und Toni Kroos, sonst fällt mir niemand ein. Dagegen wird allen anderen Ostdeutschen bis heute permanent abverlangt, sich dafür zu schämen und zu rechtfertigen, Ostdeutsche zu sein. Der bestehende West-Ost-Konflikt ist folglich nicht nur einfach ein weiterer Teil der gesamtgesellschaftlich geführten Ungleichheitsdebatte. Befördert durch die klaren geographischen und vermeintlich ebenso klaren historischen Konturen ist hier eine soziale, ökonomische und diskursive Ungleichheit entstanden, die zu allen anderen ohnehin bestehenden Ungleichheiten als potenzierender Faktor hinzukommt. Eine Herkunft aus dem Osten mindert die Lebenschancen er­heblich.

Mit aller Schärfe zeigt sich das beispielsweise im akademischen Rahmen. An den geisteswissenschaftlichen Fakultäten deutscher Universitäten haben nur ganz wenige Personen mit ostdeutscher Herkunft eine Professur inne. Oft schämen sie sich ihrer Herkunft und verschweigen die stigmatisierte Vergangenheit. Professuren werden auch im Osten fast immer mit Personen aus dem Westen besetzt. Das ist am Germanistischen Institut der Uni Leipzig, wo ich selber lehre, nicht anders als im ausnahmslos westdeutsch besetzten Rektorat dieser Universität. Die Gründe dafür liegen hauptsächlich im Elitenwechsel nach 1990. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben die damals aus dem Westen neu berufenen Wissenschaftler ihre Doktoranden und Postdoktoranden aus dem Westen mitgebracht. Hierdurch aber sind fast alle universitären Zukunftsaussichten für den ja ebenfalls vorhandenen un­belasteten wissenschaftlichen Nachwuchs aus dem Osten beendet gewesen.

Die Tore, die sich 1989 politisch ge­öffnet haben, sind in den Neunzigerjahren institutionell geschlossen worden: durch neue Strukturen einerseits, konkret handelnde Akteure andererseits. Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall hat sich an dieser Situation nichts geändert, da Eliten bekanntlich in Form eines strukturellen Nepotismus ihren Nachwuchs aus den eigenen Netzwerken rekrutieren. So bleiben die Philosophischen Fakultäten im Osten trotz der zweiten Berufungswelle seit etwa 2010 weiterhin nahezu ausschließlich Veranstaltungen von Personen aus dem Westen für Personen aus dem Westen – von der Berufungspolitik an den Universitäten im Westen selbst einmal ganz zu schweigen.

Neuere soziologische Studien zeigen, dass eine seit 1990 gesamtgesellschaft­lich stark benachteiligte Gruppe die der ostdeutschen Männer der Jahrgänge 1945 bis 1975 ist, das heißt die erste und zweite männliche Nachkriegsgeneration in der DDR. Also präzise diejenigen, die von den überregionalen Medien besonders gern als Wutbürger, AfD-Wähler, Nazis, Rassisten oder einfach als unzurechnungsfähige stam­melnde Primaten hergerichtet und zu­gerichtet werden. Das sind vielfach jene Leute, die sich 1989 in die Mündigkeit und Freiheit gekämpft haben – um dann auf andere Weise sofort wieder entmündigt zu werden, weil sie keine Macht, kein Geld, keine Beziehungen und oft keine Arbeit mehr hatten. Entmündigt, wohlgemerkt, von und in der Demokratie.

Sucht man also nach Gründen für die gegenwärtige ostdeutsche Bockigkeit, lässt sich jenseits des gänzlich irrepa­rablen ökonomischen Ungleichgewichts schnell die gravierende Unterrepräsentanz Ostdeutscher in gesellschaftlichen Spitzenpositionen identifizieren. Ihr Anteil in Wissenschaft, Verwaltung, Jurisprudenz, Medien, Politik und Wirtschaft beläuft sich derzeit auf lediglich 1,7 Prozent. In der zynischen strukturellen, institutionellen und vor allem personellen Benachteiligung des Ostens liegt eines der größten Konfliktfelder der latenten und manifesten Ost-West-Spaltung. Der Osten kann sich nur verhöhnt vorkommen, wenn in Sonntagsreden und zu an­deren Anlässen von Diversität, Diversi­fizierung, Integration, Inklusion ­ – und wie die schönen Leerformeln zur Be­schwörung der kulturellen Vielfalt und des gesellschaftlichen Zusammenhalts sonst noch lauten mögen – gesprochen wird, weil er niemals mitgemeint ist.

Man muss freilich zum Ursprung der gesamten Misere gehen. Während der Westen nach dem Zweiten Weltkrieg den Marshallplan für die Wirtschaft und ,,po­litical reeducation" zur Orientierung in der Demokratie bekommen hat, musste der Osten riesige Reparationen an die Sowjetunion leisten und vierzig Jahre unter realer Gewalt hinter dem Eisernen Vorhang zubringen. In den Worten Heinrich August Winklers: ,,Die Ostdeutschen waren von Vornherein die eigentlichen Kriegsverlierer gewesen." Das ist allerdings bis heute so geblieben. Es ist aber gar nicht einzusehen, dass auf Dauer nur der Osten die Folgen des von allen Deutschen verantworteten Nationalsozialismus ausbaden soll.

Die Wahrnehmung und Konstruktion des ,,Ostens" in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart zehrt obendrein von älteren Deutungsmustern, die mit dem aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhundert verbunden sind. Be­sonders gut sehen kann man das an ei­nem der erfolgreichsten Bücher des bürgerlichen Realismus, nämlich dem 1855 veröffentlichten Roman ,,Soll und Ha­ben" von Gustav Freytag. Dieser wirkmächtige Text wurde bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in großen Auflagen ge­druckt und verzeichnete die höchsten Verkaufszahlen bezeichnenderweise di­rekt nach den beiden Weltkriegen. Das scheint kein Zufall zu sein, werden in dem Buch doch die sogenannten deutschen Werte inszeniert und prämiert wie beispielsweise Arbeit, Sauberkeit, Fleiß, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit oder ,,Anständigkeit".

Diesem vermeintlich Deutschen sind im Roman zwei Kultur- und Lebensformen dia­metral entgegengesetzt: zum einen das jüdische Leben, zum anderen das Leben der Polen oder allgemein der Slawen. Die Darstellung der Juden ist von einem ex­tremen Antisemitismus geprägt. Nicht we­niger negativ werden die Slawen gezeichnet, die angeblich faul, dumm, ,,liederlich", unehrenhaft und prinzipiell keiner wirk­lichen Kultur fähig seien. Da ist von ,,Polackenwirtschaft" die Rede und von ,,slawischer Sahara". Die Slawen im Osten werden als Barbaren gezeichnet, die erst kolonisiert, zivilisiert und kultiviert werden müssen.

Insofern als der Text dezidiert antislawisch ist, hat er maßgeblich das Bild vom ,,Osten" als einer minderwertigen, unzivi­lisierten und unkultivierten Region ge­prägt, eine Vorstellung, die sich tief ins deutsche Bewusstsein eingegraben hat bis hin zur rassistischen Konstruktion des ,,russischen Untermenschen" durch die Na­zis. Die negativen Zuschreibungen und As­soziationen setzen sich nach dem Zweiten Weltkrieg ungebrochen fort, in den Be­zeichnungen ,,Ostzone", ,,Ostblock" und ,,Osteuropa" ebenso wie in Adenauers ab­fälligen Bemerkungen, hinter Kassel be­ginne die ,,Walachei" und bei Magdeburg ,,Asien", in sogenannten Polenwitzen genauso wie schließlich im Neologismus ,,Ossi". Dass unter solchen Voraussetzungen jemand, der von der Bundesregierung ausdrücklich als ,,Ostbeauftragter" installiert wurde, keine Chance hat, ernst ge­nommen zu werden, versteht sich von selbst. Und dass es auch unter der neuen Bundesregierung wieder einen Ostbeauftragten gibt, ist das skandalöse Symbol eines ungeheuerlichen Paternalismus.

Regelmäßig wird dem Osten sein ,,mangelndes Demokratieverständnis" vorgehalten, ja sogar die ,,Demokratiefähigkeit" ab­gesprochen. Erstens muss man Leuten, die eine Diktatur in die Knie gezwungen ha­ben, nicht erklären, was Demokratie ist. Dennoch versucht der Westen unablässig, die politische Erfahrung des Ostens zu delegitimieren, weil es eine Diktaturerfahrung ist. Doch der Osten hat ja nicht nur diese Diktaturerfahrung und dadurch et­was weniger politische Erfahrung, sondern er hat ein Vielfaches an politischer Erfahrung, nämlich Diktaturerfahrung, Revolutions- und Umsturzerfahrung, dann Erfahrungen in unmittelbarer Basisdemokratie und schließlich Erfahrungen mit der ge­genwärtigen Spielart der Demokratie. Aufgrund dessen hat er die Möglichkeit zum Vergleich, der ihm gestattet, Dinge an­ders und manches schärfer zu sehen. Das will der Westen aber nicht wahrhaben.

Zweitens macht der Osten seit 1990 die Erfahrung, von der wirklichen Gestaltung und Mitgestaltung dieser Demokratie im Grunde ausgeschlossen zu sein, weil es zwar formale, reell aber nur wenige Chancen auf Teilhabe, Partizipation, Repräsentativität, Einstieg oder gar Aufstieg in ge­sellschaftlich relevante Teilsysteme gibt, von Macht, Geld und Einfluss ganz zu schweigen. Das zeigt sich selbst in der AfD. Nicht nur war die AfD eine Westgründung, sondern sie hat auch stets eine fast komplett westdeutsch besetzte Führungsspitze. Dass die AfD im Osten so stark werden konnte, hängt klar mit dem aus Unkenntnis und kapitalem Desinteresse resultierenden politischen Versagen der anderen Parteien zusammen. Wenn der Osten dann einmal alle vier oder fünf Jahre bei den Wahlen die wirkliche Chance auf demokratische Mitbestimmung erhält, dann herrscht Panik in den Medien und den gesellschaftlichen Eliten. Sonst interessiert sie der Osten wie die Rückseite des Mondes, bei Wahlen aber beginnt jedes Mal das große Zittern. Da wird vorher von ARD und ZDF über ,,Zeit", ,,Spiegel", ,,Tagesspiegel", ,,Süddeutsche Zeitung" und wie die selbst ernannten Qua­litätsmedien alle heißen mögen, eine unendliche Angst geschürt und hinterher ebendort der Schrecken wortreich verhandelt, als würden mongolische Heerscharen vor den Toren Europas stehen.

Genau zu beobachten war in diesen Zusammenhängen schließlich auch der von den gesellschaftlichen Eliten betriebene innerdeutsche Auslagerungsmechanismus, der etwa dafür sorgt, dass es nur im Osten Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit geben soll. Da findet sich all das Böse, das man selbst hinter sich gelassen zu haben glaubt. Natürlich gibt es das im Osten: schlimm genug. Allerdings auch im Westen, und nicht zu knapp. Doch gilt dann oft ein ganz anderer Maßstab der Einordnung und Beurteilung – das seien ,,bedauerliche Einzelfälle".

Besonders gern wirft der Westen dem Osten seine Fremdenfeindlichkeit vor. Die ist freilich auch ein direkter Reflex auf die Fremdenfeindlichkeit, die er selbst vom Westen seit über 30 Jahren tag­täglich erfährt. Und mitnichten ist Fremdenfeindlichkeit ein auf den Osten be­schränktes Phänomen, sondern genauso gesamtdeutsch wie der Rechtsextremismus. Man sehe sich nur an, welche Erfahrungen mit Fremdenhass Saša Stanišić im Intellektuellenidyll namens Heidelberg machen musste, anschaulich be­schrieben in dem 2019 veröffentlichten Buch Herkunft. Darüber hinaus hat sich Deutschland von 2010 bis 2019 mit Günther Oettinger einen EU-Kommissar ge­leistet, der in einer Rede unter viel Beifall, wie man auf Youtube noch sehen und hören kann, sowohl homophobe Äußerungen vorgetragen als auch die Chine-sen öffentlich als ,,Schlitzaugen" bezeichnet hat, die sich ,,mit schwarzer Schuhcreme die Haare von links nach rechts kämmen" – ohne jegliche Folgen, von ei­nem Rücktritt ganz zu schweigen.

Nennen muss man auch die rassistischen Aussagen des ehemaligen Präsidenten des Fußballclubs Schalke 04, Clemens Tönnies, aus dem Jahr 2019. Hätte jemand aus dem Osten solches verlautbart, wäre das sein sozialer und politischer Tod gewesen. Im Westen soll der Fremdenhass eine Art Folklore sein, im Osten hingegen angeborener Teil der Mentalität. Das ist ein Paradebeispiel für Heuchelei, Doppelmoral und doppelten Standard, weil der Westen in einer speziellen Form des Othering den Osten selbst zum Fremden macht. Der Westen wirft dem Osten Fremdenfeindlichkeit vor, ohne doch selbst mit dem Fremden, das der ,,Osten" anscheinend darstellt, auch nur ansatzweise zurechtzukommen. Zwar zählt es zum liberalen, weltoffenen Selbstverständnis der meisten Westdeutschen, das Fremde und Andere zu feiern, in die ganze Welt zu reisen und ferne Kulturen zu be­wundern, Divergenz, Differenz und Alterität als besonders wertvoll zu markieren. Doch es muss das richtige Andere sein, nicht das falsche Andere, das der Osten verkörpert, vor dem man sich fürchtet, das man ausgrenzt, belächelt, verhöhnt und kleinmacht. Diesem falschen Anderen gegenüber herrscht Null-Toleranz. Auf diese Weise macht der Westen den Osten zum Fremden im eigenen Land. Das ist der wirkliche Skandal.

Im seit 1989 herrschenden Diskurs heißt ,,Osten" vor allem Hässlichkeit, Dummheit, Faulheit, heißt Rassismus, Chauvinismus, Rechtsextremismus und Armut, heißt also Scheitern auf ganzer Linie – um nur die wichtigsten der vom Westen erfolgreich eingeführten Zuschreibungen zu nennen, die er auf diese Weise zugleich elegant aus der Selbstwahrnehmung ausgegliedert hat. ,,Westen" dagegen heißt (alte) Bundes­republik, heißt Deutschland im eigentlichen Sinne, heißt Schönheit, Klugheit, Fleiß, heißt Weltoffenheit, Liberalität, De­mokratie und Reichtum, heißt also Erfolg auf ganzer Linie. ,,Osten" ist immer das, was man nicht haben will, das Fremde und falsche Andere einer wesentlich niedrigeren Zivilisationsstufe. Im antiken Griechenland nannte man solche Leute schlicht Barbaren. Eine wiederkehrende Forderung an den Osten lautet deshalb, er solle sich ,,normalisieren" – was immer das heißen mag –, und gleichzeitig wird er ökonomisch, machtpolitisch und diskursiv gezielt daran gehindert, es zu tun. Der Osten hat keine Zukunft, solange er nur als Herkunft begriffen wird.

Dirk Oschmann lehrt Neuere Deutsche Literatur in Leipzig. Es handelt sich um die überarbeitete und gekürzte Fassung eines Vortrags in der Reihe ,,Perspektiven


Aus: "Wie sich der Westen den Osten erfindet" Dirk Oschmann (04.02.2022)
Quelle: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/deutschland-wie-sich-der-westen-den-osten-erfindet-17776987.html (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/deutschland-wie-sich-der-westen-den-osten-erfindet-17776987.html)

QuoteTiefe Gräben

Den Artikel von Professor Dirk Oschmann habe ich mit großem Interesse und wachsender Betroffenheit gelesen. Dass es nach der Wende einige Zeit dauern würde, bis wir Deutschen zu einer richtigen tiefen Einheit zusammenwachsen, war mir schon klar. Aber nach über 30 Jahren hatte ich nicht gedacht, dass die Gräben noch so tief sind. In meiner Nachbarschaft kommen die Menschen aus Ost und West, aus Europa und anderen Kontinenten zusammen, und die Herkunft ist inzwischen kein Thema mehr. Der Einblick in die Erfahrungswelt von Professor Oschmann zeigt, dass ich mein Mikroumfeld nicht verallgemeinern darf.
Ursula von Halasz, Liederbach


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Quote[...] Dirk Oschmann wurde 1967 im thüringischen Gotha geboren, heute ist er Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig. Sein Buch ,,Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" ist gerade bei Ullstein erschienen.

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Maria Fiedler / Thomas Trappe: Ihr Buch heißt ,,Der Osten – eine westdeutsche Erfindung". Gibt es den Osten also gar nicht?

Dirk Oschmann: Natürlich gibt es ihn als Himmelsrichtung, so wie es den Norden, Süden und Westen gibt. Aber es gibt ihn nicht in der Form, wie sich der Westen denkt, dass der Osten sei und wie er in den Medien dargestellt wird. In der medialen Zurichtung erscheint er als statischer Block, über den man glaubt, schon alles zu wissen. Dabei ist der Osten viel heterogener und unterschiedlicher.


Maria Fiedler / Thomas Trappe: Sie schreiben, seit 1989 heiße ,,Osten" im herrschenden Diskurs vor allem ,,Hässlichkeit, Dummheit, Faulheit, heißt Rassismus, Chauvinismus, Rechtsextremismus und Armut, also Scheitern auf ganzer Linie".

Dirk Oschmann: Ja, diese Zuschreibungen werden dem Osten angehängt. Manche davon hat es im 19. Jahrhundert schon gegeben. Die Vorstellung, dass der Osten, die Slawen beispielsweise, eine zurückgebliebene, barbarische Form der Zivilisation seien. Das können Sie schon bei Gustaf Freytag Mitte des 19. Jahrhunderts lesen. Diese Denkmuster konnten Sie sogar im Osten selbst beobachten: In der DDR fühlte man sich den Polen überlegen, in Westpolen den Ostpolen etcetera. Das zeigt, wie mächtig diese Denkfigur vom minderwertigen Osten ist. Der Westen glaubt deshalb bis heute, egal in welchem Zusammenhang, sich als das überlegene Modell begreifen zu dürfen.


Maria Fiedler / Thomas Trappe: Die zentrale These Ihres Buches ist: ,,Wenn in Deutschland über Westen und Osten nicht grundlegend anders geredet wird, hat dieses Land keine Aussicht auf längerfristige gesellschaftliche Stabilität." Erklären Sie uns das.

Dirk Oschmann: Nehmen Sie ein aktuelles Beispiel. Der Verfassungsschutz warnt vor Radikalisierungstendenzen in Sachsen. Dass es diese Entwicklungen gibt, ist kein Zufall. Ich glaube, das hängt zusammen mit der maximalen Ausgrenzung, die Sachsen erfährt. Das Bundesland wird im innerdeutschen Diskurs als das besonders Östliche, das besonders Abwegige, das besonders Abnormale verhandelt. Das trägt als scharfe Ausgrenzung zweifellos zu einer Radikalisierung bei. Und diesen Mechanismus kann man auf den gesamten Osten übertragen. Das halte ich wirklich für eine Gefahr für die Demokratie.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Sie meinen auch, dass die Fremdenfeindlichkeit im Osten ein direkter Reflex auf die Fremdenfeindlichkeit sei, die der Osten vom Westen seit 30 Jahren tagtäglich erfahre. Das kann ja wohl nicht der Hauptgrund für das Problem sein.

Dirk Oschmann: Nein, aber ein wesentlicher Faktor. Wenn man unablässig und permanent zum Fremden gemacht wird, wenn fast jeder fünfte Westdeutsche noch nie hier war – und das unter anderem damit begründet wird, dass es einen nicht interessiert oder dass der Osten als etwas Bedrohliches oder Komisches wahrgenommen wird –, dann führt das auf der Gegenseite zu einem Gefühl des Ausgeschlossenseins. Das rechtfertigt in keiner Weise die nicht zu leugnenden rechtsextremistischen Auswüchse – aber es bringt auch nichts, sie völlig isoliert zu betrachten. Aber wir reden jetzt schon wieder über den Osten.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Ist das nicht Ihr Thema?

Dirk Oschmann: Nein, es gibt schon genug Bücher über den Osten und seine Merkwürdigkeiten. Mein Thema ist vielmehr der Westen, welches Bild er vom Osten erzeugt – und welche Auswirkungen das hat. Und deshalb sage ich: Der Westen ist mitverantwortlich für den Rechtsextremismus im Osten.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Reden wir über den Westen. Sie sagen, der Westen begreife sich als Norm und sehe den Osten nur als Abweichung oder ,,krankhafte Fehlbildung". Liegt das vor allem an der Art, wie die Wiedervereinigung vollzogen wurde?

Dirk Oschmann: Sicher. Wolfgang Schäuble hat den Ostpolitikern damals mitgeteilt, dass der Westen weiß, wo es lang geht und dementsprechend die Regeln macht. Man hat sich dem gefügt. Es war ein riesiges Problem, dass man sich nicht auf eine gemeinsame Verfassung geeinigt hat und nicht auf eine gemeinsame neue Hymne.
Es sind Weichen gestellt worden, die klar zu erkennen gaben, dass sich der Westen als absolute Norm setzt. Dabei hieß das für den Osten auch Rückschritte. Die Frauen im Osten hatten es plötzlich wieder mit Paragraf 218 – der Strafbarkeit von Abtreibungen – zu tun. West-CDU-Politiker meinten zudem, die Frauen im Osten sollten weniger arbeiten. Die Fortschritte und Erfahrungen der DDR wurden maximal entwertet.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Und das wirkt bis heute fort?

Dirk Oschmann: Bis heute macht der Westen die Ostdeutschen zu Fremden im eigenen Land. Und natürlich hat das Folgen. Es sind ,,frustrierte Zufriedene" entstanden. Ökonomisch geht es den Leuten ja in der Regel besser als damals. Aber es erzeugt eine große Frustration, in dieser Gesellschaft zwar zu leben, auch gut zu leben, aber sie eben nicht mitgestalten zu können. Die Vorstellung zum Beispiel, dass in diesem Land mal jemand aus dem Osten Finanzminister wird oder Wirtschaftsminister, scheint ja noch immer völlig abwegig.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Man kann den Eindruck gewinnen, dass Sie den Osten zum Opfer erklären.

Dirk Oschmann: Diese Kritik höre ich öfter, weise ich aber scharf von mir. Ich zeige nur Mechanismen auf. Aber ich gebe zu, ich gehe dabei auf Konfrontation. Mein Buch ist der Versuch, der unglaublichen Medien- und Diskursmacht einfach mal eine volle Breitseite entgegenzusetzen, mit allen rhetorischen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen. Ich will nicht der Erkläronkel sein, der differenzierte Vorschläge macht. Ich habe ganz bewusst keine Wohlfühlprosa geschrieben.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Sie verleihen damit vielleicht einer breiten Gefühlslage im Osten Ausdruck. Aber es besteht die Gefahr, dass sie im Westen, den Sie adressieren, eine Abwehrhaltung hervorrufen.

Dirk Oschmann: Ich nehme das in Kauf. Auf einen Artikel in der FAZ, den ich geschrieben habe, habe ich viele Leserbriefe bekommen. Die schärfsten Kritiker waren vor allem westdeutsche Männer jenseits der 70. Sie waren davon hochgradig verstört und gekränkt. Sie haben das erfahren, was der Osten im großen Stil erlebt hat: Die Infragestellung der eigenen Lebensleistung. Was ich schreibe, sehen sie als undankbar. Viele aus dem Osten, auch Jüngere, waren hingegen dankbar, dass das mal thematisiert wird, weil es im Westen kein wirkliches Bewusstsein für die Dramatik der Lage gibt.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Was hat Sie persönlich eigentlich so wütend gemacht? Für Sie ist es doch ganz gut gelaufen. Sie haben studiert, in den USA gelebt und sind Professor geworden.

Dirk Oschmann: Lange habe ich mich überhaupt nicht mit diesem Problem befasst. Ich bin glatt angekommen in dem System. Aber nachdem ich Professor geworden bin in Leipzig, habe ich festgestellt, dass ich einer von ganz wenigen Professoren bin, die aus dem Osten kommen. Und da hat sich auch in den letzten Jahren an unserer Fakultät wenig geändert.
So richtig irritiert war ich zum ersten Mal, als ich 2021 mit einer Kölner Soziologin zu tun hatte, die die Karrieren von Arbeiterkindern erforscht. Gleich zu Beginn unseres Gesprächs sagte sie mir, dass sie jetzt nach 30 Jahren das erste Mal mit einem ostdeutschen Wissenschaftler spreche. Und im zweiten Satz, erklärte sie, dass es doch im Grunde nichts tauge, wenn man bloß an einer ostdeutschen Universität Professor geworden ist. Und mit dieser Meinung ist sie nicht allein!

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Es gibt sehr wenige Ostdeutsche in Führungspositionen, die ihre eigene Herkunft thematisieren. Was hat Sie dazu bewogen, genau das nun zu tun?

Dirk Oschmann: Es begann damit, dass ich immer wieder als Zeitzeuge angefragt wurde, etwa, wenn es um die Umbrüche in der Germanistik nach der Wende ging. Erst beim Sprechen darüber wurde mir klar, wie sehr mich das aufwühlt. Vor zwei Jahren war ich zu einem Vortrag eingeladen, in dem ich erläutern sollte, warum der Osten die Gesellschaft spaltet. Das war wirklich die These, welche die Veranstalter vorgaben. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen!
Damals reifte in mir der Gedanke, dass es Zeit ist, den Westen in den Blick zu nehmen. Das Fass zum Überlaufen brachte schließlich der Entschluss der neuen Bundesregierung, wieder einen ,,Ostbeauftragten" zu ernennen und damit den Osten weiterhin als Sonderzone zu markieren. Das ist doch paternalistisch. Ich bin dafür, dass dieses Amt abgeschafft wird.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Was hätte man anders machen müssen vor 30 Jahren, damit mehr Ostdeutsche in Spitzenpositionen in Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik landen? Momentan sind es 1,7 Prozent.

Dirk Oschmann: Ich kann vor allem über meine Erfahrungen in der Wissenschaft sprechen. Ich verstehe, dass es in diesem Bereich nach der Wende einen Elitenaustausch geben musste. Ich wollte als Student ja auch nicht von Leuten unterrichtet werden, die womöglich als Mitarbeiter der Staatssicherheit tätig waren. Das Problem entstand, als die eingewechselte westdeutsche Elite ihre eigenen Zöglinge nachzog und schließlich alles besetzt hat – bis heute.
In den 90ern existierte im akademischen Betrieb das Wort ,,ossifrei". Gemeint war damit die ,,Erfolgsmeldung", einen akademischen Betrieb komplett frei von Ostdeutschen bekommen zu haben. Der Wissenschaftsbetrieb ist durchaus repräsentativ für alle relevanten Gesellschaftsbereiche, in denen mitunter erstklassig qualifizierte Ostdeutsche durch bisweilen zweit- oder drittklassige Konkurrenz aus dem Westen ersetzt wurde. Das waren bewusste Entscheidungen, die nicht hätten getroffen werden dürfen. Das war nicht nur Zufall, sondern gelegentlich eben auch Programm.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Einer der wenigen Räume, in denen Ostdeutsche sich Gehör verschaffen können, schreiben Sie, sei die Straße. Das Problem: Wann immer in Ostdeutschland eine Protestbewegung entsteht, sind die Rechtsextremen nicht weit und kontaminieren den Protest. Wie kann man dieses Dilemma auflösen?

Dirk Oschmann: Die Straße ist der Ort, an dem der Osten sich in seiner demokratischen Wirkmächtigkeit begreifen kann: Weil die anderen Formen der Teilhabe und Repräsentanz offenbar nicht funktionieren. Man geht auf die Straße, weil man sonst nicht gehört wird. Natürlich wird das von allen möglichen Gruppen, vor allem rechtsextremen, ausgenutzt. Aber es gibt offenbar noch keine Alternative zur Straße, will der Osten sich mit sich selbst auseinandersetzen.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Wie meinen Sie das, mit sich selbst auseinandersetzen?

Dirk Oschmann: Ich meine das, was Westdeutschland mit den 68ern durchlebte: Einen gesellschaftlichen Prozess, bei dem sich eine ganze Generation definierte und damit auch das Selbstverständnis der Bundesrepublik. So etwas gab es im Osten nicht, nicht vor der Wende, nicht danach. Diesen Raum der demokratischen Auseinandersetzung und der öffentlichen Selbstreflexion müsste man erst noch schaffen.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Man könnte meinen, dass die Proteste, die zum Fall der Mauer führten, ein solches identitätsstiftendes Ereignis waren. Schließlich mussten im Unterschied zu den Bürgern der Bundesrepublik jene der DDR dafür kämpfen, in einem demokratischen Staat zu leben. Wurde diese einzigartige historische Leistung der Ostdeutschen im Nachhinein vom Westen genommen?

Dirk Oschmann: Der Schriftsteller Ingo Schulze hat gesagt, dass der Westen den Sieg dieser Bewegung zum Sieg des eigenen Systems umgedeutet hat. Eine sehr zutreffende Beobachtung. Bis heute hört man von westdeutschen Historikern, dass es im Grunde nur ein paar wenige waren, die damals in der DDR auf die Straße gingen.
Dabei steckte hinter den Protesten eine unglaubliche gesellschaftliche Energie. Die Historiker pflegen ihre Vogelperspektive, und die widerspricht den Erfahrungen der lebendigen Akteure, die beteiligt waren. Die Demokratieerfahrung des Ostens wurde auf diese Weise zur Seite gewischt.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Im Buch heißt es, für viele Ostdeutsche sei die Demokratie in der Bundesrepublik eine Simulation, weil sie sich nicht von der Politik repräsentiert fühlen. Eine sehr steile These.

Dirk Oschmann: Mag sein, aber es ist ein reales Gefühl von Menschen, die erleben, wie ihre Erfahrungen entwertet werden. Das ist besonders frappierend, da es in der Bundesrepublik eine sehr lebhafte Debattenkultur gibt, in der zum Glück alle möglichen Gruppen ihre Stimme erheben dürfen und erheben sollen. Nur der Osten nicht. Da kommt dann schnell der Vorwurf des Jammerns.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Hat der Osten also kein Demokratiedefizit, wie es oft – mitunter auch von ostdeutschen Politikern – behauptet wird?

Dirk Oschmann: Nein, er nimmt die Demokratie beim Wort und sieht, dass es nicht zu rechtfertigende Widersprüche gibt. Man kann dabei die soziale Frage nicht ausblenden. Es gibt nicht nur 20 Prozent Unterschied zwischen Ost und West bei der Wahrnehmung einer funktionierenden Demokratie, sondern auch über 20 Prozent Unterschied bei den Löhnen. Das eklatante Wohlstandsgefälle wird im Westen offenbar als Naturzustand angenommen. Das ist der eigentliche Skandal.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Sie üben im Buch scharfe Kritik am Mediensystem. Als Beispiel nennen Sie die ,,Zeit im Osten", die eine Art Sonderpublikation für einen abgeschlossenen Teil Deutschlands darstellt. Was wünschen Sie sich stattdessen für eine Berichterstattung?

Dirk Oschmann: Ein erster Schritt wäre es, nicht ständig die Unterscheidung von Ost und West zu betreiben.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Eine Unterscheidung, die Sie aber auch selbst die ganze Zeit betreiben.

Dirk Oschmann: Richtig, um es am Ende aber als strategisches und rhetorisches Moment auszustellen. Warum aber schafft man es so selten in überregionalen Medien oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, einfach nur über Thüringen oder Sachsen zu berichten, ohne dann doch wieder das Ost-Etikett dranzuhängen?
Würde die Zweiteilung in Ost und West wegfallen, ergäbe sich ein sehr viel differenzierteres Bild über ein Deutschland und seine Regionen, mit seinen verschiedenen Mentalitäten und Lebenszusammenhängen. Natürlich macht das mehr Arbeit als einfach in den bequemen Rastern zu berichten. Aber dann würde eine ganz andere Form des Diskurses möglich werden. Diese Öffentlichkeitswende braucht es.



Aus: "Fremde im eigenen Land?: ,,Der Westen ist mitverantwortlich für den Rechtsextremismus im Osten"" Maria Fiedler, Thomas Trappe (28.02.2023)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/fremde-im-eigenen-land-der-westen-ist-mitverantwortlich-fur-den-rechtsextremismus-im-osten-9412037.html (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/fremde-im-eigenen-land-der-westen-ist-mitverantwortlich-fur-den-rechtsextremismus-im-osten-9412037.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 05, 2023, 04:23:31 PM
Quote[...] Das Buch ,,Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" von Dirk Oschmann, Literaturprofessor aus Leipzig, ist sofort nach seinem Erscheinen zum Bestseller geworden. Und eröffnet eine neue Debatte über ostdeutsche Identität. Gibt es sie überhaupt? Was macht sie aus? Verbergen Menschen, dass sie aus dem Osten kommen? Sind sie stolz drauf? Die Berliner Zeitung lässt Menschen mit Ost-Biografie zu Wort kommen. Heute: Detlev Möller ...

... Aus heutiger Sicht sehe ich den fundamentalen Unterschied zwischen dem Osten und dem Westen darin, dass Ersterer sowjetisch und Letzterer amerikanisch geprägt war. Letzterer, der sogenannte kollektive Westen hat seit den 1950er-Jahren einen Amerikanismus (,,Western Mind") entwickelt, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er glaubt, das alleinige Gute, Gerechte, Beste auf unserer Erde darzustellen.

Ein großer Teil der restlichen Welt (auch wir Ostdeutsche) empfindet das als Überheblichkeit, Besserwisserei und auch Arroganz. Um es gleich zu sagen: Ich habe nichts gegen Amerikaner, Russen und andere Völker. Ich habe auf vielen Reisen durch die USA sowohl liebenswerte ,,einfache" Menschen als auch hochgebildete, tolerante und teilweise antiamerikanische (im Sinne der oben gegebenen Charakteristik) Wissenschaftler kennengelernt.

...


Aus: "DDR-Wissenschaftler: ,,Natürlich ist der Osten keine Erfindung des Westens"" Detlev Möller (05.04.2023)
Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/detlev-moeller-ddr-wissenschaftler-natuerlich-ist-der-osten-keine-erfindung-des-westens-li.334443 (https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/detlev-moeller-ddr-wissenschaftler-natuerlich-ist-der-osten-keine-erfindung-des-westens-li.334443)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 28, 2023, 11:56:31 AM
Quote[...] HALLE/MZ - Die DDR-Kampfgruppen? Auch ein ,,Versprechen von Kameradschaft und Abenteuer". Die NVA? Eine ,,Chance" für jene, ,,die sich nach Sinn und Zugehörigkeit sehnten". Die lästigen Schuleinübungen in die sozialistische Produktion? ,,Anspruchsvollere Fächer". Sogar der im Ostblockvergleich einzigartig hohe Alkoholkonsum in der DDR – 1988 pro Kopf durchschnittlich 142 Liter Bier und 16,1 Liter Hochprozentiges, doppelt so viel im Westen – erscheint urplötzlich im hellen Licht. Denn, schreibt die deutsch-englische Historikerin Katja Hoyer: ,,Die meisten Ostdeutschen tranken also nicht, um ihre Sorgen zu vergessen, sondern deshalb, weil es für sie zu wenig Anlass zur Sorge gab."

Man reibt sich die Augen: Die DDR ein kollektives Sanssouci? Also eine Gesellschaft ohne Sorgen? So unbefangen wurde selten über den DDR-Alltag geurteilt wie in dem von dem bislang grundbürgerlich liberalen Hamburger Verlag Hoffmann und Campe (Monika Maron, Wolf Biermann) als ,,bahnbrechend" beworbenen erzählenden Sachbuch ,,Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990".

Das Buch ist eine Übersetzung aus dem Englischen, in dem es unter dem Titel ,,Beyond the Wall. East Germany 1949-1990" erschien – Jenseits der Mauer. Verfasst von der 1985 in Wilhelm-Pieck-Stadt Guben geborenen, heute in London lebenden NVA-Offizierstochter (ein Umstand, den sie selbst thematisiert), avancierte das Buch in England zum Bestseller. Ein Weg, den das Werk auch in Deutschland nimmt. Jetzt erscheint es in den Niederlanden.

Der erste Impuls des Buches scheint klar: Es geht – wie im Fall von Dirk Oschmanns West-Polemik – um Anerkennung. Für Hoyer aber geht es um mehr: nicht nur um das Heute, sondern von hier aus auch um das Gestern, sozusagen um die Erfindung einer ,,DDR, aber normal". Ihr Buch, schreibt sie, soll dazu beitragen, ,,die deutsche Obsession der Vergangenheitsbewältigung abzuschütteln, den Zwang, die eigene Geschichte ,überwinden' zu wollen".

Indem Hoyer in ihrem Buch konsequent Diktatur und Alltag trennt, erzeugt sie das Bild einer glücklichen DDR-Mehrheitsgesellschaft, in der die Menschen ,,liebten, arbeiteten, in den Urlaub fuhren". Das Problem ist nur: Die Gesellschaft in einer Diktatur ist nicht von der Diktatur zu trennen. Es gibt kein öffentliches ,,normal".

Eine DDR ohne Mauer, die Hoyer heute zu sehen wünscht, wäre nicht eine andere, sondern gar keine DDR gewesen. Nichts, aber auch gar nichts an der DDR-Gesellschaft ist ohne die Zwänge der Diktatur zu begreifen. Nicht einmal die von Hoyer als ,,prägende Band für die DDR-Rockmusik" gefeierten Puhdys. Prägend für den Ostrock waren übrigens nicht die wiedergängerhaften System-Ossis, sondern die Akteure der 1975 verbotenen Rockband Renft.

Dabei ist es nicht so, dass die Autorin die DDR vordergründig verharmlosen würde. Einmal bezeichnet Hoyer die DDR als einen der ,,effizientesten und rücksichtslosesten Polizeistaaten aller Zeiten". Hingegen hintenrum deutet sie einseitig, fehlerhaft und eindeutig interessegeleitet ihr Material, das sie vorzugsweise aus leicht zugänglichen Büchern anderer Autoren zieht – bis auf einige von ihr geführte Interviews unter anderen mit Egon Krenz, Frank Schöbel und Gregor Gysi. Systemgegner bleiben außen vor.

Einseitig: Weil er sie mutmaßlich als Normstörer stört, beschreibt Hoyer den 1976 ausgebürgerten Sänger Wolf Biermann herablassend als ,,labil", ,,naiv" und ,,seelisch etwas vorbelastet". Als einen Künstler, der in der DDR weder ,,ein breites Publikum erreichen oder gar namhafte Personen oder bestehende Oppositionsgruppen mobilisieren" konnte. Das ist schon ehrabschneidend. Biermanns Wirkung in die Opposition war und ist vital. Kein zweiter Sänger wirkte in so viele verschiedene Milieus hinein.

Fehlerhaft: Der von Hoyer als sowjetisches Großjunker-Opfer vorgeführte Herzog Joachim Ernst von Anhalt, der 1947 im NKWD-Sonderlager Buchenwald starb, war keinesfalls ein ,,entschiedener Gegner der Naziherrschaft", sondern, wie auch seine Ehefrau, Mitglied der NSDAP.

Interessegeleitet: Weil Hoyer der von der SED betriebene Menschenhandel mit politischen Gefangenen in ihrem DDR-Normal-Bild offenbar nicht gefallen kann, unterstellt sie, dass an diesem Geschäft auch die Gefangenen selbst ,,oftmals aktiv mitwirkten" – eine zynische Täter-Opfer-Umkehr.

Ist das noch Geschichtsschreibung oder schon Revisionismus? In Hoyers Bild der DDR-Gesellschaft bleibt die Massenpartei SED völlig äußerlich. Die von ihr als DDR-Gewinner oft – und naiv – gepriesene ,,Arbeiterklasse" wird an keiner Stelle definiert. Dass das DDR-Schulsystem sozial durchlässiger gewesen sei als das der BRD bleibt eine Behauptung. Statistisch wird da nichts belegt.

Warum hat so ein Buch Erfolg? Erstens, es antwortet auf erlebte Zurückweisungen. Zweitens, das DDR-Autoritäre zieht wieder Sympathien an. Drittens, es gibt wenig Anderes. Bis auf Stefan Wolles Buch ,,Die heile Welt der Diktatur" (1998) gibt es keine populäre Alltagsgeschichte der DDR. Das ist die Lücke, in die Hoyer springt. Nur müsste, wer historiografische ,,Normalität" erzeugen will, alles auf den Tisch legen, und nicht nur das, was einem selbst weltanschaulich in den Kram passt.

Statt dessen hält Katja Hoyer ihre Leser effektheischend Kapitel für Kapitel mit reportagehaft personalisierten Storys auf Trab, die im Zieleinlauf das Bild einer homogenen kollektiven Ost-Identität behaupten, die es weder vor noch nach 1989 gegeben hat. Erst dort, wo sich das Identitäts-Phantom auflöst, wäre von einer gültigen DDR-Gesellschaftsgeschichte zu reden – nicht jenseits oder diesseits, sondern mit der Mauer.

Katja Hoyer: Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990. Aus dem Englischen von Henning Dedekind und Franka Reinhart. Hoffmann und Campe, Hamburg, 592 Seiten


Aus: "Endlich sorgenfrei" Christian Eger (23.05.2023)
Quelle: https://www.mz.de/mitteldeutschland/kultur/endlich-sorgenfrei-3615837 (https://www.mz.de/mitteldeutschland/kultur/endlich-sorgenfrei-3615837)

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Quote[...] Es ist erstaunlich, dass ein Buch, das eine neue Geschichte der DDR erzählen will, gerade in Großbritannien für viel Aufmerksamkeit sorgt. Katja Hoyer, Autorin von "Diesseits der Mauer", lebt in London und gilt dort als Deutschland- und nun auch als DDR-Erklärerin.

Tim Evers: Frau Hoyer, was war das Motiv das Buch "Diesseits der Mauer: Eine neue Geschichte der DDR" zu schreiben?

Katja Hoyer: Eine Ideengeschichte der DDR zu schreiben, geht mir schon eine ganze Weile durch den Kopf. Sehr oft beschäftigt man sich mit Einzelaspekten der DDR, mit so zentralen Momenten wie 1953 oder 1989 oder mit der Stasi oder mit der Mauer. Aber es wird relativ wenig darüber gesprochen, wie die DDR insgesamt in die deutsche Geschichte passt. Die Frage, wie sie dort einzuordnen ist, lag mir persönlich am Herzen, weil ich ja selber in dieser Umbruchszeit im Osten aufgewachsen und dann später Historikerin geworden bin.

Tim Evers: Sie schreiben in Ihrem Vorwort, dass die Geschichte der DDR vor allem vom Westen geschrieben wurde, woran machen Sie das fest?

Katja Hoyer: Daran, dass man die DDR gerne so als Gegenfolie zum Westen positioniert hat. Es wird oft darüber gesprochen, wie die Gesellschaft im Westen, sagen wir mal zum Beispiel in den 70er-Jahren war, und dann wird der Osten irgendwie drangehängt, oder die DDR wird als Gegenfolie benutzt - gegen die Freiheit, die es im Westen gab, gab es die Diktatur im Osten. In diesen Darstellungen fehlen mir die Erfahrungen, die die breite Masse der Bevölkerung gemacht hat, die sich irgendwo zwischen den beiden Polen des Mitläufertums und der Opposition befand und ihr Leben gelebt hat.

Tim Evers: Es gibt viele Bücher über die DDR, was ist das Neue an Ihrer Geschichte?

Katja Hoyer: Ich denke neu ist der Gesamtüberblick, dass ich zum Beispiel weit vorher, noch vor der Gründung der DDR anfange, um auch die Genese der DDR zu erzählen. Wo kamen beispielsweise die Leute her, die die DDR aufgebaut haben? Ich habe versucht, mich mit Menschen zu unterhalten, die aus allen Bereichen des Lebens kamen, nicht nur mit denen, die versucht haben, die DDR zu verlassen oder, die zum Opfer der Diktatur geworden sind.

Tim Evers: Sie haben einen ostdeutschen Hintergrund, sind 1985 in Guben geboren, haben aber keine bewusste Erinnerung an die DDR. Schreibt sich Geschichte besser mit Abstand?

Katja Hoyer: Ich hoffe, dass mir mein eigener Abstand hilft, weil ich den Kalten Krieg und die ganzen Feindbilder, die damit entstanden und auch bewusst aufgebaut worden sind, nicht erlebt habe. Meine Generation schaut eher mit einem akademischen und distanzierteren Blick auf die DDR, würde ich sagen. Aber auf der anderen Seite hilft mir der ostdeutsche Hintergrund auch, weil ich Sachen, die nachgewirkt haben, bis in die 90er und frühen 2000er hinein, mitbekommen habe.

Tim Evers: Wie war Ihr Weg zur Historikerin? Und aus was für einer Familie kommen Sie?

Katja Hoyer: Ich bin in der Wilhelm-Pieck-Stadt Guben geboren. Dort gab es eine NVA-Militärsiedlung. Kurz nach meiner Geburt, hat meine Mutter weiter in Dresden studiert. Da war ich dabei. Sie ist Lehrerin. Und dann ist meine Familie nach Strausberg gegangen, weil mein Vater als Offizier in der in der Nationalen Volksarmee dorthin versetzt worden ist.

Tim Evers: Es gibt einen Satz in Ihrem Buch, der mich beschäftigt hat, es gab Unterdrückung und Brutalität, aber auch Chancen und Zugehörigkeit, kann man das so einfach addieren?

Katja Hoyer: Ich habe ein Problem damit, dass man immer versucht, diese verschiedenen Perspektiven auf die DDR gegeneinander auszubalancieren. Also immer zu sagen, man kann keine schöne Zeit in der Schule gehabt haben, weil auf der anderen Seite Leute an der Mauer erschossen worden sind. Diese Geschichten gibt es beide. Das sind Kontraste, die wir aushalten müssen, die man nicht versuchen kann, auf einen Kompromiss oder auf eine Geschichte der DDR herunterzubrechen. Sondern es gibt eben Millionen von Geschichten und Lebensgeschichten innerhalb der DDR, die alle existiert haben.

Tim Evers: Stecken wir in Deutschland noch zu sehr in den Schützengräben fest, wenn wir immer von Diktatur und Zwang sprechen?

Katja Hoyer: Zum Teil ja. Ich denke, dass man die DDR oft mit der heutigen Gesellschaft vergleicht und die westdeutsche Gesellschaft und den Staat als Kontinuität versteht. Im Westen Deutschlands gibt es aber diesen Bruch 1990 nicht so sehr wie im Osten.

Tim Evers: Ist Diktatur ein tauglicher Begriff zum Beschreiben der DDR?

Katja Hoyer: Er ist zur Beschreibung des Systems absolut richtig, da führt kein Weg dran vorbei, und ich will da auch nicht daran vorbei. Aber den ganzen Staat, das ganze Land immer wieder darauf zu verkürzen, finde ich zu einfach. Nicht nur im privaten Bereich, sondern auch innerhalb der Betriebe, der Schulen und so weiter haben sich Mikrokosmen entwickelt, in denen die Leute ein Mitspracherecht und auch das Gefühl hatten, sie haben Kontrolle zum Beispiel darüber, wie das Arbeitsklima innerhalb des Betriebs oder der Fabrik war.

Tim Evers: Wir sitzen hier über den Dächern von London, staunen Sie da manchmal über das Interesse hier an Ihrem Buch?

Katja Hoyer: Zum einen Teil ja, aber zum anderen bin ich immer wieder erstaunt, wie viele Historiker über die DDR in Großbritannien forschen. Und die sagen, sie finden, dass das hier unpolitischer und zum Teil auch befreiter möglich ist, weil dieser Kontext nicht da ist, sondern weil man sich mit etwas beschäftigt, was relativ abstrakt und weit weg ist, wenn man in London sitzt. Wenn man in der englischen Sprache redet, dann ist das alles auch nicht so mit Meinungen und Deutungsmustern besetzt, wie das in Deutschland der Fall ist, wo man sich seit 30 Jahren darüber unterhält.

Tim Evers: Sind Sie jetzt durch mit der DDR?

Katja Hoyer: Ich glaube, wir sind noch lange nicht durch, mit der DDR und ich persönlich auch nicht. Da besteht noch sehr, sehr viel Redebedarf. Ich würde nie das Buch, das ich jetzt geschrieben habe, als definitiv das letzte, was zur DDR gesagt worden ist ansehen, sondern ich hoffe, es stößt öffentlich den Dialog an, über die DDR anders zu reden.

Tim Evers: Vielen Dank für das Gespräch.


Das Interview führte Tim Evers für "titel, thesen, temperamente".

Sendung: titel, thesen, temperamente (rbb), Das Erste, 07.05.23, 23:05 Uhr


Aus: ""Es wird wenig darüber gesprochen, wie die DDR in die deutsche Geschichte passt"" (So 07.05.2023)
Quelle: https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2023/05/berlin-brandenburg-interview-autorin-ddr-london-grossbritannien-.html (https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2023/05/berlin-brandenburg-interview-autorin-ddr-london-grossbritannien-.html)

Quote2. MöhreCottbusSonntag, 07.05.2023 | 09:05 Uhr

Danke für das Interview.Endlich einmal jemand ausspricht,was man immer sagt:Geschichte wird durch die Sieger geschrieben! ...


Quote4. klausbrauseBerlinSonntag, 07.05.2023 | 09:14 Uhr
Antwort auf [Möhre] vom 07.05.2023 um 09:05

Dat is so ne Sache mit der Geschichte und den Siegern. Als langjähriger Nutzer der Transitstrecke zwischen West-Berlin und dem Bundesgebiet, habe ich öfter erleben dürfen, wie sich "die Organe", im sicheren Gefühl auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen (oder zumindest auf der richtigen Seite der Kalaschnikow) mit Willkür und Schikane aufgeplustert haben.


QuoteTorstenBerlin Sonntag, 07.05.2023 | 09:37 Uhr

Super Idee. Seit 1990 erzählt ja eher der ,,Westen" aus seiner Sicht was DDR-Geschichte ist/war ohne es selbst gelebt oder erlebt zu haben. Grundtenor ist immer ,,alles war schlecht, alle wurden verfolgt, nichts taugte etwas....". Es gab einen normalen Alltag für den Großteil der Bürger die in den Darstellungen der Stasi-Opfer untergehen. Ausgewogenheit fehlt bisher.


Quote9.Stefan S.BerlinSonntag, 07.05.2023 | 10:13 Uhr

Systemkritiker kommen in Katja Hoyer's Buch nicht zu Wort schreibt die Süddeutsche Zeitung. Egon Krenz einer der Haupt-Kron- und Zeitzeugen. Es war doch alles nicht so schlimm. Eine "kommode" Diktatur eben. Sagt die Tochter eines Offiziers der Volksarmee, die zudem die DDR nicht bewusst erlebt hat. Unbedingt lesen - also den Artikel in der Süddeutschen, nicht das Buch.

"Das Politische Buch:Eine ganz kommode Diktatur" Rezension von Norbert F. Pötzl (4. Mai 2023)
https://www.sueddeutsche.de/politik/ddr-geschichte-sed-egon-krenz-brd-katja-hoyer-rezension-1.5834330 (https://www.sueddeutsche.de/politik/ddr-geschichte-sed-egon-krenz-brd-katja-hoyer-rezension-1.5834330)


Quote12.PankowerBerlinSonntag, 07.05.2023 | 10:28 Uhr

Ich bin 1947 geboren und habe die DDR voll mitbekommen.Ich hatte eine glückliche Kindheit trotz der Nachkriegszeit und Entbehrungen. Eine gute Schulbildung auch bei Klassenstärke von 30 und eine gute Ausbildung.Die Jugendzeit war auch super.Man hatte nicht alles, na und?Meine Familie war nicht mit der Politik einverstanden,haben 2 gleisig gelebt.Wurde uns angekreidet auch Arbeitsmäßig.Das war unsere Strafe, damit konnten wir leben. Die Verbote mit der jetzigen Regierung sind viel schlimmer.


Quote
7.
TorstenBerlin Sonntag, 07.05.2023 | 09:37 Uhr

Super Idee. Seit 1990 erzählt ja eher der ,,Westen" aus seiner Sicht was DDR-Geschichte ist/war ohne es selbst gelebt oder erlebt zu haben. Grundtenor ist immer ,,alles war schlecht, alle wurden verfolgt, nichts taugte etwas....". Es gab einen normalen Alltag für den Großteil der Bürger die in den Darstellungen der Stasi-Opfer untergehen. Ausgewogenheit fehlt bisher


Quote
13.Stefan H.BerlinSonntag, 07.05.2023 | 10:33 Uhr
Antwort auf [Torsten] vom 07.05.2023 um 09:37

Es gab auch ein "normales" Leben in der Diktatur vor der DDR-Diktatur. Vor dem Krieg, den diese anzettelte. Das beweist nichts. Wenn man angepasst ist und zu der vom Regime bevorzugten sozialen Gruppe gehört, kann es in jeder Diktatur schön sein. Vor allem, wenn ein gemütliches Leben viel wichtiger erscheint als Freiheit und Menschenrechte und wenn man gut wegschauen kann. Die DDR ist zurecht auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Und nein, nicht wegen der westlichen "Sieger", sondern weil im von der Sowjetunion beherrschten Europa dank Gorbatschow endlich die Menschen ihre Stimme erheben konnten. Ich erlebte den Transit und ich lebte schon vor dem Umbruch in West-Berlin, keinen Kilometer von der Mauer mit ihren Selbstschussanlagen entfernt. Auch machte ich Tagesbesuche bei DDR-Bekannten und längere auf Rügen und kenne die Art, wie Antragstellung und Einreise abliefen. Beim nächtlichen Abschied am Tränenpalast flossen dieselben - bei den DDR-Freunden.


Quote39.HeidiBerlinSonntag, 07.05.2023 | 13:42 Uhr

Es gibt eine Fähigkeit, die sich bei vielen "Ossis" systembedingt mehr ausgeprägt hat als bei "Wessis". Das "zwischen den Zeilen lesen" kann auch heute noch helfen, Dinge differenzierter zu betrachten. Das meine ich völlig wertfrei.


Quote
44. tobergSonntag, 07.05.2023 | 14:16 Uhr

,, Ist Diktatur ein tauglicher Begriff zum Beschreiben der DDR?"
Alle Aussagen zu diesem Abschnitt treffen super meine Erinnerungen, meine Sozialisierung und mein Lebensgefühl in der DDR. Viele Menschen lebten im Alltag diese Trennung zwischen politischem Staat und Heimat mit allem, was Heimat so vom Lebensgefühl her ausmacht.
Scheint ja mal ein Buch zu sein, das das Heimatland für 16 Mio Menschen differenzierter beschreibt und nicht nur Mauer und Stasi.


Quote
45. LorenzoPrenzlauer BergSonntag, 07.05.2023 | 14:43 Uhr
Antwort auf [Stefan H.] vom 07.05.2023 um 12:10

Wenn Ihnen Millionen Menschen oder meinetwegen Hunderttausende Menschen sagen, dass sie sich in der DDR wohlgefühlt haben, dann können Sie zwar gern allen erklären, dass dieses Gefühl nicht sein kann, weil es nicht sein darf, aber das ist doch genau dieses Belehren von anderen, wie man sein Leben zu sehen hat.
Natürlich war der Schießbefehl ein schweres Verbrechen, aber für viele war nun mal der Schießbefehl nicht interessant, weil sie in der DDR bleiben wollten.
Sicherlich oftmals auch wegen der Gefahr, bei Flucht erschossen oder eingesperrt zu werden.
Aber wenn Menschen in Teilen gute Erinnerungen an die DDR haben, ist es schon sehr anmaßend zu behaupten, dass die Leute sich alle irren.
Aber das läuft doch seit 1990.
Westdeutsche Eliten erklären, was gut für Ostdeutsche ist und wie sie sich zu benehmen haben im Goldenen Westen.
Bzw. dass Ossies Demokratie nicht verstanden haben.
Ostdeutsche wissen ganz genau, was Demokratie ist.
Sie brauchen keinen Nachhilfeunterricht.


Quote40. XxxxSonntag, 07.05.2023 | 13:44 Uhr

Na viele autoritäre Afd Wähler haben sich in der autoritäten DDR sicher sehr wohl gefühlt. Naja fehlte nur das national vor dem Sozialismus.

Dann wärs für die wohl richtig super gewesen.


Quote
48. LorenzoPrenzlauer BergSonntag, 07.05.2023 | 14:56 Uhr
Antwort auf [Viola] vom 07.05.2023 um 13:11

Im Grunde hat man doch an der DDR wunderbar verdient.
Billige Arbeitskräfte.
Neue Konsumenten.
Billig Grundstücke vom Westvermögen kaufen usw.
Neue Jobs für Westdeutsche Eliten.
Wenn aber Ostdeutsche an der Demokratie teilhaben wollen, wird ihnen erzählt, sie müssten erst Demokratie erlernen.


...

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Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 04, 2023, 08:49:45 PM
Quote[...] Die Diplompsychologin Eva Flemming, Jahrgang 1987, wuchs in Potsdam auf. Seit 2017 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Rostock. Zurzeit leitet sie die Studie ,,Bindung und seelische Gesundheit ehemaliger Wochenkrippenkinder". Diese wird von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert.

Annett Heide: Frau Flemming, das Thema Wochenkrippenkinder taucht plötzlich an verschiedenen Stellen in der Öffentlichkeit auf. Sie arbeiten an einer Studie zur seelischen Gesundheit ehemaliger Wochenkrippenkinder. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?

Eva Flemming: Mein Interesse am Krippensystem der DDR beruht auf der Bindungsperspektive. Ich habe mich gefragt, was es für die seelische Gesundheit eines Menschen bedeutet, wenn er im Alter von sechs Wochen ganztägig abgegeben wird. Und im Fall der Wochenkrippe sogar die ganze Woche Tag und Nacht in der Krippe bleiben muss, von Montag um 6 Uhr bis Freitagnachmittag oder sogar Samstag. Ohne Eltern.

Annett Heide: Sie hatten keinen persönlichen Bezug zum Thema?

Eva Flemming: Es gibt persönliche Bezüge, da meine Eltern aus der DDR kommen und viele meiner Angehörigen ihre ersten Lebensjahre in DDR-Krippen verbracht haben. Das Interesse entstand sicherlich auch aus dem Wunsch heraus, die eigene Familiengeschichte besser zu verstehen. Ich fand aber insbesondere zu den Wochenkrippen kaum Literatur dazu. Das hat mich sehr überrascht.

Annett Heide: Inzwischen haben Sie 150 ehemalige Wochenkrippenkinder mit Fragebögen befragt. Worunter leiden sie?

Eva Flemming: Wir haben uns angeguckt, wie häufig depressive oder Angstsymptome in den vergangenen zwei Wochen vorkamen – und die Anzahl der psychischen Probleme über die gesamte Lebenszeit hinweg. In beiden Bereichen gaben die Wochenkrippenkinder eine deutlich höhere Belastung an als die Vergleichsgruppe. Dafür haben wir Daten von Menschen genommen, die etwa gleich alt sind und in der DDR geboren wurden, jedoch in einer Tageskrippe oder in der Familie betreut worden sind. Der zweite Bereich, den wir uns anschauen, ist die Bindung in den aktuellen Partnerschaften. Da zeigen sich bei den Wochenkindern ebenfalls deutlich höhere Werte bei Bindungsangst und Bindungsvermeidung.

Annett Heide: Gibt es dazwischen einen Unterschied?

Eva Flemming: Bindungsangst beschreibt die starke Angst vor dem Verlassenwerden, und die Sorge, nicht gut genug zu sein für den anderen. Bindungsvermeidung beschreibt das Bedürfnis, den anderen gar nicht an sich heranzulassen, keine engeren Bindungen zuzulassen.

Annett Heide: Und die Wochenkrippenkinder leiden darunter.

Eva Flemming: Nicht immer. Manche Probanden beschäftigen sich schon lange damit, waren vielleicht auch schon in Therapie. Andere sagen, dass sie noch gar nicht lange wissen, dass sie in der Wochenkrippe waren, und ihnen das jetzt erst klar wird. Doch Bindungsschwierigkeiten beschreiben viele.

Annett Heide: Erinnern die sich überhaupt nicht an die Zeit in der Wochenkrippe?

Eva Flemming: Die wenigsten können konkrete Dinge benennen. In der Regel haben wir in den Krippenjahren zwischen null und drei Jahren keine bewussten Erinnerungen. Manche können Sinneseindrücke beschreiben, einen Geruch zum Beispiel. Oder sie wissen, wie sich die Bettdecke angefühlt hat. Sie sagen: Ich sehe einen Flur. Oder ein Gitterbett. Aber es geht uns in der Studie nicht in erster Linie darum, sondern um die Bestandsaufnahme des aktuellen psychischen Befindens und des Erlebens von Beziehungen.

Annett Heide: Wie prägen uns früheste Erfahrungen, die wir gar nicht erinnern?

Eva Flemming: Sie schreiben sich in unseren Körper ein, in die Art und Weise, wie wir uns in bestimmten Situationen mit anderen Menschen fühlen oder verhalten. Daran ist in dieser frühen Lebensphase das sogenannte prozedurale Gedächtnis beteiligt, wie beim Erlernen von Fahrradfahren oder Schwimmen, was wir ja auch nicht vergessen. Man geht davon aus, dass diese ganz frühen Erfahrungen auf diese Art auch festschreiben, wie man sich in Beziehungen fühlt.

Annett Heide: Welche Probleme werden noch genannt?

Eva Flemming: Viele sagen, dass sie sich immer fremd gefühlt haben in Gesellschaft, dass sie sich in Gruppen nicht richtig zugehörig fühlen. Sie fühlen sich verlassen und leiden unter Selbstzweifeln. Ein großer Teil berichtet von Depressionen und Angststörungen im Erwachsenenalter. Bei einigen treten diese Probleme auf, wenn die eigenen Kinder erwachsen werden und aus dem Haus gehen.
Studienteilnehmer beschreiben ein Gefühl, als ob die Beziehung nicht mehr existiert, sobald die geliebte Person nicht mehr körperlich anwesend ist. Häufig wird ein großes Harmoniebedürfnis beschrieben und Schwierigkeiten, Konflikte auszutragen. Dazu nennen viele ein fehlendes Urvertrauen. Auch das entsteht in den ersten Lebensjahren – durch die ständige, möglichst feinfühlige Zuwendung einer festen Bezugsperson.

Annett Heide: Betroffene haben mir von Zusammenbrüchen in ihrem Leben berichtet, die sie monatelang, teils jahrelang aus der Bahn geworfen haben.

Eva Flemming: Das ist aber nicht bei allen so. Es gibt Studienteilnehmer, die beruflich sehr erfolgreich sind. Sie sagen, dass sie ihr Gefühl des Mangels gut durch berufliche Leistungsfähigkeit kompensieren können. Andere wiederum mussten aufgrund seelischer Probleme früher aus dem Beruf ausscheiden, sind früh berentet.
Man weiß aus Studien mit Heimkindern, dass Menschen, die von der Familie getrennt aufgewachsen sind, schneller auf Stress reagieren – auch wenn sie objektiv nicht anstrengenderen Umständen ausgesetzt sind als andere. Wir versuchen, das auch in der Studie zu erfassen, indem wir das Cortisol-Level untersuchen.

Annett Heide: ...das Stresshormon, das inzwischen gut entschlüsselt ist...

Eva Flemming: Cortisol lagert sich unter anderem im Haar ab, und man kann daraus Schlüsse ziehen über das Stresslevel. Die Hypothese ist, dass sich körperliche Stressregulationsprozesse in den ersten zwei Lebensjahren ausbilden, Babys können das zunächst nicht selbst, sondern müssen wiederholt die Erfahrung machen, dass die Bezugsperson zuverlässig kommt, beruhigt und somit den Stress für das Baby reguliert. Wir wollen überprüfen, ob es bei den Wochenkrippenkindern Hinweise darauf gibt, dass sie ein dauerhaft erhöhtes Stresslevel haben. Diese Proben werden wir aber erst Ende des Jahres auswerten.

Annett Heide: Waren diese weitreichenden Auswirkungen von umfassender Fremdbetreuung in der DDR bekannt?

Eva Flemming: Die Bindungstheorie kannte man auch in der DDR seit den 60er Jahren, aber man hat sie nicht berücksichtigt. Das ideologisch motivierte Ziel war es – neben der verfügbaren Arbeitskraft von Frauen –, die Kinder möglichst früh in einer kollektiven Betreuung zur sozialistischen Persönlichkeit zu formen. Es wurde auch vom Kinderkollektiv gesprochen.

Annett Heide: Zu diesem Ergebnis kamen bereits Studien in der DDR.

Eva Flemming: Ich möchte betonen, dass es uns mit dieser Studie nicht darum geht, jemandem Vorwürfe zu machen, weder den Eltern noch den Erzieherinnen. Jedoch kann man klar feststellen, dass in der DDR aus politischen Gründen die wochenweise Krippenbetreuung aufrechterhalten wurde, auch nachdem die schädlichen Folgen für die Entwicklung der Kinder bekannt waren.


Aus: "Folgen des DDR-Kitasystems: ,,Viele leiden unter Depressionen und Angststörungen"" (04.06.2023)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/das-krippensystem-der-ddr-viele-leiden-unter-depressionen-und-angststorungen-9905777.html (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/das-krippensystem-der-ddr-viele-leiden-unter-depressionen-und-angststorungen-9905777.html)

Quoteminimal
04.06.23 19:37
Normalerweise würden Untersuchungsergebnisse zu dem Thema "Bindung und seelische Gesundheit ehemaliger Wochenkrippenkinder" ja in einer Fachzeitschrift veröffentlicht.
Dass das Thema nun plötzlich an verschiedenen Stellen und Medien in der Öffentlichkeit auftaucht, hat damit zu tun, dass es im Rahmen des Verbundprojektes "Gesundheitliche Langzeitfolgen von SED-Unrecht" erfogt.
Das Projekt wird für drei Jahre vom Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer aus dem Haushalt des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie gefördert. So wie weitere Themen im Rahmen dieses Verbundprojektes, u.a. zum DDR-Leistungssport hat es also auch primär eine politische Ausrichtung. https://kpm.med.uni-rostock.de/forschung/studien (https://kpm.med.uni-rostock.de/forschung/studien)

Im übrigen wurden durch die Medizinierin, Sozialhygienikerin und Krippenforscherin Eva Schmidt-Kolmer in der DDR umfangreiche Studien zu diesem Thema bereits von 1953 bis 1957 sowie 1971 bis 1973 an mehreren tausend betroffenen Kindern durchgeführt und auch in zahlreichen Büchern veröffentlicht. Näheres kann man u.a. hier nachlesen: "Wochenkrippen und Kinderwochenheime in der DDR" https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/262920/wochenkrippen-und-kinderwochenheime-in-der-ddr/ (https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/262920/wochenkrippen-und-kinderwochenheime-in-der-ddr/)


QuoteMartin_Kniffke
04.06.23 19:19

    Zurzeit leitet sie die Studie ,,Bindung und seelische Gesundheit ehemaliger Wochenkrippenkinder". Diese wird von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert.

Hier verbirgt sich schon das Problem. Ginge es um die Erforschung bestimmter Kinderbetreuungs- und Aufbewahrungs-Organisation, wäre die Frage nicht, was in einer Kinderkrippe der DDR geschah. sondern was in Einrichtungen geschah, in denen Kinder vergleichbaren Strukturen, Konzepten und Erziehungsvorstellungen ausgesetzt waren.

Denn tatsächlich unterscheidet sich die DDR hier nicht wesentlich von Einrichtungen, die in den jeweils zeitgenössischen Einrichtungen der BRD betrieben wurden. Man könnte es sogar darüber hinaus mit der Kinderbetreuung, dem Heim- und Adoptionswesen, den Kinderkuren im EU-Nachbarländern vergleichen.

Daraus ergäbe sich im Bewusstsein - es rettet mich nicht, irgendwie nicht DDR gewesen zu sein. Oder beim Iren wars noch schlimmer. Oder in Spanien wurden Kinder von der Kirche verkauft, während ich da doch nur Urlaub gemacht habe...

Ich halte es für fragwürdig, mit solchen Untersuchungen auch nur den Anschein zu erwecken, sie seien ein polemisches, oder chauvinistisches Kampfmittel für die Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Es ist kein DDR-Unrecht. Es ist das Unrecht einer ganzen Epoche und vieler Gesellschaften. Die sich in diesem Punkt eben nicht unterschieden. Wir haben schon einmal eine Chance verpasst. Niemand fragte nach dem Verfassungsschutz. Als wir die Stasi auseinandernahmen. Das hat nach NSU etc. vielen Menschen das Leben gekostet. Wir wissen heute, das DDR wie BRD-Pharma Medikamententests ungefragt unethisch praktizierten. Also bitte worum geht es? Ich bin völlig dafür, dass Betroffene staatlicher, kirchlicher oder auch privatwirtschaftlicher Kinderbetreuung und -aufbewahrung, über ihre Erfahrungen und Verletzungen und die Folgen für ihr Leben sprechen.
Damit sie Gerechtigkeit erfahren und wir lernen wie man es nicht macht. Nirgendwo.


Quotemaifeier1950
04.06.23 18:47
Mir erschließt es sich nicht - null -, was mit diesen Artikel und deren Aussagen bezweckt werden soll?
Wollen diese Personen, welche noch heute die Folgen " verspüren", eine Entschädigung erwirken?
Es gibt immer im Leben Licht- und Schattenseiten.
Die "Kriegsrückkehrer" hatten da ganz andere Probleme.


Quoteexistenz
04.06.23 19:14
@maifeier1950 am 04.06.23 18:47

Was stört Sie an Forschung? Wenn man ihrer Logik folgen würde, dann wäre auch Wissenschaft überflüssig - überhaupt jede Nachfrage oder Frage oder Wissensdurst. Und dann gäbe es keinen Strom, kein Internet, kein Tagesspiegel - Portal und Ihren Usernamen + Kommentar gäbe es auch nicht. Es gäbe auch keine Buchstaben, keine Satzbildung, keine Sprache...
Gibt es keine Gründe, warum man Kinder in Schulen nicht mehr schlägt? Warum Eltern Ihre Kinder nicht mehr schlagen? Warum Mütter Ihre Kinder nicht mehr nur kurze Zeit stillen?


Quotedinsdale
04.06.23 18:46

Allgemein gibt es zur Kinderbetreuung in den 50er und 60er Jahren immer mehr Dokus, die z.T. ziemlich gruselige Details enthalten. Und dazu gehören ja nicht nur Krippen, sondern auch Kinderheime usw. Im Westen gab es ja auch diese Elternkuren, wo die Kinder dann zwar "nur" einige Wochen dauerhaft fremdbetreut wurden. Aber auch da gibt es inzwischen immer mehr Berichte von den Traumata, die dort angerichtet wurden. Sicher ist heute vieles anders und besser. Trotzdem hat es Auswirkungen, wenn Kinder mehr von Fremdpersonal betreut werden als von den eigenen Eltern. Ein grundsätzlich intaktes Elternhaus vorausgesetzt.


QuoteRobert_Rostock
04.06.23 09:11

Im Artikel wird so getan, als sei das in der DDR der Normalfall gewesen, als seien fast alle Kinder in Wochenkrippen gewesen. Das stimmt aber doch nicht.
Wochenkrippen gab es, sie waren aber die Ausnahme. Die allermeisten Kinder kamen in Tageskrippen.


QuoteMB08
04.06.23 11:10
@Robert_Rostock am 04.06.23 09:11

Komisch, selber Artikel, anderer Eindruck. Zumal die Autorin mehrfach darauf hinweist, dass es ihr nicht um die Bewertung des Betreuungssytsems, sondern um die Erhebung von Spätfolgen der Betreuung durch Wochenkrippen, ging. Ich finde diese Untersuchungen sehr wichtig, unabhängig aus welchem Land oder System, da auch heute die vermeintliche Vereinbarkeit von ,,Beruf und Familie" noch immer auf den Rücken der Kinder ausgetragen wird. Immer wieder wabern Ideen der 24-Stunden-Kitas oder, wie hier in Berlin, die Mobile Kinderbetreuung, durch die Gesellschaft, damit Mama und Papa ungestört ihren beruflichen Verpflichtungen nachgehen können. Diese Angebote wecken Begehrlichkeiten von Arbeitgebern gegenüber ihren Arbeitnehmer_innen und die leidtragenden sind die Kinder in Dauerfremdbetreuung. Ich persönlich finde es grundlegend falsch, dass sich das Familienleben immer wieder dem Arbeitsleben unterordnen muss. In einer idealen Welt wäre es anders herum.


Quoteexistenz
04.06.23 17:55
@MB08 am 04.06.23 11:10
Der Artikel hat überhaupt keine Aussage über die Zahl der Betroffenen gemacht. Hier ein Hinweis:

1965 gab es 40.000 dieser Krippenplätze. 1980 noch die Hälfte. Grob überschlagen standen also rund 13.300 solcher Plätze für einem Jahrgang zur Verfügung. Geburten ca. 184.000 in der DDR 65'. Dann waren das rund 7%, die in eine dieser Krippe kamen. Wenn das System noch zehn Jahre so weiterlief, dann käme man auf 40.000+(13,300*10)=173.000 Kinder - für den betroffenen Zeitraum von 1965-1975.
Laut anderen Quellen waren es wohl 100.000 Krippenkinder für die gesamte Zeit in der DDR von 1951 an. Diese Zahl erscheint anhand der Erläuterung oben nicht plausibel. Diese Zahl wird wohl eher sogar bei ca. 200.000+ Kindern gelegen haben.


Quotegaspi
04.06.23 13:04
@Robert_Rostock am 04.06.23 09:11

Tja, mein Bruder und ich waren in so einer Wochengrippe. Ich z.B. habe als Kleinkind aufgehört zu essen. Mein Bruder und ich sind von dieser Zeit geprägt.


...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 28, 2023, 12:01:11 PM
"Rechtsextremismus in Ostdeutschland: 60 Prozent der Ostdeutschen halten Deutschland für "überfremdet""
Eine repräsentative Studie für Ostdeutschland zeigt: Viele wünschen sich "autoritäre Staatlichkeit". In einem Bundesland ist Ausländerfeindlichkeit besonders groß.
Von Jona Spreter, 28. Juni 2023
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-06/ostdeutschland-rechtsextremismus-efbi-studie (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-06/ostdeutschland-rechtsextremismus-efbi-studie)

Quote
Kacma

Schade, dass die Studie nur auf die ostdeutschen Bundesländer beschränkt war. Der Vergleich mit Westdeutschland wäre erhellend gewesen. So liefert die Studie nur begrenzt Aussagen zu ostdeutschen Eigenheiten.


Quote
Jeremiah J.

60% der Ostdeutschen befremden mich.


...

Quote...

Superb *wildgewordene Userin
@batcatsupiwoman 1:32 nachm. · 26. Juni 2023
Sagt mir bitte nicht dass ihr tatsächlich überrascht seid?! Ich komme aus dem tiefsten Sachsen. Ich bin irgendwas zwischen 25 und 37 Jahre alt und ich kann euch erzählen wie der Großteil von uns erzogen wird. Erstmal bekommt man von klein auf den Satz zu hören damals (DDR) war es besser. Es wird hart auf den Westen geschimpft, über die Arroganz und Überheblichkeit. Warum u was "der Westen" genau gemacht hat, weiß ich nicht. Was ich weiß ist dass plötzlich viele arbeitslos waren,viele Immobilien wurden in den Westen verkauft.
Es wird einem eingetrichtert dass Ausländer böse sind, es gibt jedoch auch "gute Ausländer " was aber nicht heißt dass diese genauso toll sind wie Deutsche. Sämtliche beleidigende Betitelungen je nach Herkunftsland. Wenn du dich dann beim heranwachsen nicht selbst Hinterfragst warum oder ob das denn nicht alles Blödsinn ist u dass sich die Welt weitergedreht hat,bleibst du in dem Gedankengut. Es sind immerhin deine Eltern, Großeltern. Bekannte und Freunde die so reden,kann ja nicht falsch sein. Ich schätze viele sind in der DDR aufgewachsen, unter Propaganda. Mit Einschränkungen, Stasi kaum Freiheit. Es gab nur den einen bestimmten Weg, kaum Möglichkeiten sich selbst finden zu müssen,es gab Arbeit,man musste arbeiten. Die Freiheit wie wir sie haben in einer Demokratie ist noch nicht allzu lang für Die viele aus dem Osten. VIELLEICHT ist die Freiheit die ,die afd wähler wollen in Wahrheit einen vorgegebenen Weg um sich nicht selbst kümmern zu müssen um Grenzen zu haben da man sich sonst verlieren kann und man selbst verantwortlich ist. Freiheit muss man aushalten können.
Das ist absolut keine Rechtfertigung für die Rechten,Nazis usw. Will damit nur aufzeigen dass es mich nicht wundert. Propaganda läuft da wie gehabt. #Sonneberg
https://threadreaderapp.com/thread/1673293228408291331.html (https://threadreaderapp.com/thread/1673293228408291331.html)

https://twitter.com/batcatsupiwoman/status/1673293228408291331 (https://twitter.com/batcatsupiwoman/status/1673293228408291331)


...


iris @memories2019_12 26. Juni
Und wie kommt man dann an diese Leute ran? Wir haben keine Zeit zu warten, bis das Denken durchbrochen wird, zumal das ja schon etliche Generationen sind.

Superb *wildgewordene Userin @batcatsupiwoman 26. Juni
Ich glaube fast dass es nicht möglich ist. Nur wenn die Erfahrung wird lehren.

LieseLotte Müller
@Lieselotte2604 26. Juni
Unpopuläre Meinung, aber ich kann diese "Arroganz des Westens" nachempfinden.
Immer noch...und ich bin aus den "alten Bundesländern"...
Da braucht sich keiner rausreden...
Die Situation ist beschissen, aber mit dem Finger braucht da keiner deuten, alles fleißig mitverzapft ...

Tobias Lange @lange_tobias_hh 26. Juni
Es ist richtig, das wir nach 89 die kapitalistische Naivität des Ostens gnadenlos ausgenutzt haben und es nie um die Menschen ging. Sie waren egal und es war egal, dass sie mit Kapitalismus überfordert waren. Man wollte ihr Geld und wer nicht klarkam, egal!

Micha @Wasglbtsneues 26. Juni
Ich bin in der DDR aufgewachsen, Sachse und habe meine Kinder niemals rassistisch erzogen. Bitte nicht einfach verallgemeinern!

Superb *wildgewordene Userin @batcatsupiwoman 26. Juni
Wenn man bitte den Text lesen würde und sich nicht nur empören,Da steht nirgends ALLE uff

hexlein_le @HexleinL 27. Juni
Der Grundtenor klingt aber so.

Superb *wildgewordene Userin @batcatsupiwoman 27. Juni
Wenn man das so lesen will.

hexlein_le @HexleinL
Nein. Ich WILL es nicht so lesen, ich lese es so.

Chris @chgeese
Die Aussage ist ganz klar, dass das die persönliche Erfahrungswelt ist. Also subjektiv wahrgenommen ein grundsätzliches Problem. Also haben beide etwas recht: es ist eine Verallgemeinerung, aber deutlich als subjektiv und nicht statistisch bewiesen deklariert.

Superb *wildgewordene Userin @batcatsupiwoman 27. Juni
Ich möchte klarstellen dass es meine Erlebnisse sind,keine Analyse oder Studie,so bin ich aufgewachsen. Hinterfragst habe ich alles auch Zusammenhänge kenne ich jetzt. Und schon gar nicht pauschalisier ich! Bitte lest den ganzen Text!

@SoRi_Roe
Was mich dabei immer ein bisschen wundert: die Wiedervereinigung ist jetzt 33 Jahre her... Fast so lange wie vorher das DDR-Regime geherrscht hat... Braucht es wirklich genauso viel Zeit die alte Denkweise zu überwinden, wie es vorher gebraucht hat um sie in die Leute einzutrichtern? Sorry wenn ich mich vielleicht unglücklich ausdrücke .. waren die ~40 Jahre Kommunismus so prägend dass es fast genauso lange braucht sich davon zu erholen?

Linus Schroeder @SchroederLinus 26. Juni
Ich kann das nur unterschreiben. Erst mein Weggang aus Thüringen hat mir gezeigt, dass diese Denkweise überhaupt nicht so normal ist. Es war im Westen eine andere Welt.

Hoffnungslos @BigHoffnungslos 26. Juni
Kenne ich auch so aus meiner Zeit im Osten. Tiefster Rassismus, Antisemtismus und Misogynie als Grundeinstellung ohne jegliche Erkenntnis oder Verständnis das etwas untragbares gesagt wird.
Nach Selbsteinschätzung war kaum einer menschenfeindlich.

mandywe89 @mandywe89 26. Juni
Kann ich bestätigen, wir sind damals 1994nach Hessen gezogen, weil er dort besser verdient hat, seine Brüder waren entsetzt. Wenn ich heute fast 30 Jahre später mit meinen ostdeutschen Verwandten am Tisch sitze, fühle ich mich wie 1994. Nichts hat sich in den Köpfen bewegt.

Pandemiearzt @stegmeyer 26. Juni
Was ich mich aber zunehmend frage, weshalb in der alten BRD es die Nazis kaum je in die Parlamente geschafft haben. Bis weit in die 70er waren ähnliche Sprüche bzgl.  ,,Ausländer", Juden, Farbige völlig normal. ,,Unter Hitler gab es wenigstens noch Ordnung." Und die Autobahnen!

onezerotripleseven @10777_berlin 26. Juni
FAZ, 30.05., S. 7 Die Gegenwart. Frau Geipel beschreibts: "Noch immer halten die DDR-Kriegskinder das Binnenkollektiv Ost in ihrem Bann. Die jüngeren Generationen kreieren eine nach außen verlagerte Entlastungserzählung und versuchen, den Westen zum großen Buhmann zu machen."

UliLarike @ULarike 26. Juni
ja ich sehe das auch so, bin in Thüringen geboren, mit der Wende und Ausbildung nach Hessen, ich ertrage Klassentreffen nicht mehr, diese Ignoranz und Selbstgefälligkeit ist mega anstrengend, die Menschenverachtung wurde vorgelebt und nie aufgearbeitet.

Torsten Schreiter @TorstenSchreit1 26. Juni
Bin Dresdner und 40, bestätige diese Aussagen 100%.

Thomas Forget @Forget1962 26. Juni
Ich bin in Ost-Berlin aufgewachsen. Aber schon 1978 habe ich als Lehrling mitbekommen, was latenter Ausländerhass ist. Es ging schon damals gegen Vietnamesen und Kubaner, obwohl die ja nach ihrer Lehr- und Arbeitszeit meist nach 3-5 Jahren wieder in ihre Länder zurückgingen.

hann_sanne @HannSanne 26. Juni
Ich bin aus dem tiefsten Sachsen weggegangen, als Du geboren wurdest. Es ist sehr weit verbreitet, was Du schreibst.
Und viele haben Angst, sich dagegen zu äußern. Die Saat ist schon aufgegangen.

Tilhelm Well @TilhemWell 26. Juni
Die Ursachen für den Wahlerfolg sind vielschichtig und warum es gerade im Osten passiert und warum gerade eine Menge Ossis diesen Rattenfängern (wo die Spitzen mehrheitlich aus dem Westen stammen) nachrennen, die sie zuvor verteufelt haben, lässt sich nicht in 240 Zeichen packen.

ℕ𝕒𝕤𝕔𝕙𝕜𝕒𝕥𝕫𝕖 @niwolfi 26. Juni
Fast meine komplette Verwandtschaft aus der ehemaligen DDR (Thüringen und Brandenburg) ist leider auch, sehr fremdenfeindlich. Teils waren sie Stasi Mitarbeiter, teils nicht aber entnazifiziert sind irgendwie alle nicht... schlimm! ... ich habe zu keinem mehr Kontakt.

Die Bürokrateuse @Integrateuse 26. Juni
So sieht's aus. Mein Vater war immer rechts, heute wählt mein Bruder AfD. Dass das nicht normal ist, hab ich erst während des Studiums gemerkt, als ich das erste Mal mit Menschen aus den alten BL in Kontakt kam. Nichts an dieser Wahl überrascht mich.

Lukas Abegg @Dubio_ 26. Juni
Soziokulturell war die ,,Wiedervereinigung" eben viel mehr eine Annexion des Ostens durch den Westens. Aus dieser Perspektive gibt es einen klaren Sieger und klaren Verlierer, was die grossen Leitmedien aber nie so offen ansprechen.

Homo Sapiens @JunoWega 26. Juni
Auch aus Sachsen. Kann das Gesagte nicht teilen. Es gibt eine gewisse Trägheit. Aber die Leute sind nicht generell unerreichbar. Am wichtigsten ist es nicht einfach weg zuhören im Alltag, immer wieder auch im Kleinsten sachlich Kontra geben und zum Nachdenken anregen.

Stefan vom Lande @StefanH38016719 26. Juni
Meine Meinung ist, dass man dem Osten das rechtsextreme Gedankengut immer hat durchgehen lassen, immer beschwichtigt hat, das seien ja nur paar Querköppe. Seit 30 Jahren. ...

Tiniko @CNikolajew 27. Juni
Interessant, Ähnliches hörte man auch im Westen in der Nachkriegszeit, nur bezog sich die Relativierung da auf die Politik die 1933 ermöglichte. Die ,,bösen" 68er waren im Westen, trotz Springer, der Anfang vom Ende dieser Haltung.

Mascha & der Schrödi @Mascha66973759 27. Juni
Nun bestand die DDR aber nicht nur Sachsen, Entschuldigung! In den anderen neuen Bundesländern lief das offenbar etwas anders. Was also ist in Sachsen passiert? Ich kann das so nicht gelten lassen! Sorry!

Sündenziege @sundenziege 27. Juni
Ich bin in Sachsen aufgewachsen und stimme dir uneingeschränkt zu. Ich hab einen Wessi geheiratet (was lustig ist, weil wir beide nach der Wende geboren wurden) und bin ausgewandert.
Es erschreckt mich, wie lange ich diese Denkweisen selbst inne hatte.

Lotti ist Laut @Letustalk9 27. Juni
Eine Zeit lang wohnte ich in Leipzig und war beruflich viel in Sachsen und Thüringen unterwegs. Ich war ziemlich überrascht, wie sehr das Wessi/Ossi-Denken dort verankert ist, wie viel geschimpft und gefremdelt wird und wie winzig klein der Horizont ist.

COBE @Eyetwinkle79 27. Juni
Was mein Mann sagte: wir (Ost)Deutschen sind Untertanen. Haben nie gelernt, was Freiheit ist und bedeutet. Niemand kann damit umgehen, wenn keiner von Oben sagt, wo es lang geht. Und weil man abgehängt wurde, schimpft man auf die , die noch unter einem selbst sind.

Random Dude @xSoulHunterDKx 27. Juni
Das sind fast 1 zu 1 die Erlebnisse, die Freunde und Familien aus dem Osten dort erlebt haben. Einer meiner Freunde dort ist stramm rechts und seine ganze Familie auch. Nichts als Hass, Stammtischgelaber und inhaltlose, unrealistische Fantasien. Der ach so böse Westen und linke.

Nix wie weg! @KaznaSunstorm 27. Juni
Meine Frau kommt aus Brandenburg und jedes mal, wenn man mit der Familie dort Kontakt hatte, hörte ich das selbe. Am Ende lief es immer darauf hinaus, dass #dieAnderen Schuld sind am eigenen Leid. M.E. ging das mit der Freiheit anscheinend zu schnell. ...

Guru D. Safak @Politguru 27. Juni
Leider konnte ich vieles davon auch in NRW beobachten, auch bei ehemaligen Freunden.

StreuselkuchenmitSahne @Streuselkuche11 27. Juni
Ich lebe in Sachsen- Anhalt, war Teenager, als die Wende kam. Weder im Freundeskreis, noch Bekannte haben diese Denkweise. Ich ebenso wenig u so wurde mein fast erwachsenes Kind auch kein ewig gestriger Nachwuchs-Ossi.

BamBam1976 @BBam1976 27. Juni
Ja du triffst den Nagel auf den Kopf. In Brandenburg auch. Das erklärt die 25% AfD Wähler in total. Aber es erklärt nicht, warum 50% nicht wählen. ...

Frau in Blau @Frau_in_blau 27. Juni
Ich hab immer gehört: "In der DDR war nicht alles schlecht." Die Mär vom arroganten Wessi kenne ich auch (habe einen geheiratet und jetzt ist Ruhe), aber gegen Ausländer wurde nicht hergezogen. Im Gegenteil, Nazis wurden zutiefst verachtet.

тöт тип @sheepdog85 27. Juni
Digger, eine Umarmung. Von mir. Für dich. Ist in vielen postkommunistischen ländern so. Ich komme aus Russland, und habe das Glück dass mein Umfeld gut mit der Freiheit umgehen kann. Aber genau diese Hilflosigkeit sehe ich auch oft.

Manuel-Aldo 444 Liebenow @Maschinello 27. Juni
Moin zusammen, so wird also in D-Ost aufgewachsen. Das kennen wir "Wessis" zu 100%, nur in meinem Alter (>60) genau umgekehrt. Wir hörten von Eltern, GrEltern, Lehrern, Alten, Richtern..: "es war doch nicht alles (im "3.Reich) schlecht"... Bis 1968, dann wurde das etwas geklärt.

RandomChickBunchOfNumbers @ChickOfNumbers 27. Juni
Ich kann das so unterschreiben! Die gefühlte Demütigung durch die ,Besserwessis' sitzt tief, die wollen nur das schlimmste, wissen alles besser. Meine gesamte erweiterte Familie halt null Kontakt zu Marginalisierten, lebt komplett in einer weißen cis Blase ...

Grzegorz Brzęczyszczykiewicz @_eMaX_ 27. Juni
Es war ja nicht alles schlecht damals.

B H @HendrikKlarname 27. Juni
Also das mit der Wut auf Wessis ist halt nachvollziehbar.

angel on a rampage @cowgirlietina 27. Juni
Und genau dort ist eines der Probleme, nach 34 Jahren immer noch von Wessi und Ossi zu schreiben.

Trying my best @PosSumGame 27. Juni
Ich habe es satt! Warum denken dann Polen, Litauer, Letten, Esten, Tschechen, Slowaken, Rumänen, Kroaten nicht so? Warum gibt es hier nur diese eine Insel mitten in Europa, die sich nach russischem Imperialismus, Diktatur, Stasi, sogar Nazizeit zurücksehnt?

Edeldruide @edeldruide 23 Std.
Genau so sieht's aus. Als Thüringer kann ich zu all den Punkten ja sagen. Und es ärgert mich bis heute wie viele meiner Freunde und Bekannten mit 25-36 nicht über diese anerzogenen Dinge nachdenken.

Sazzy @Sazzylein
Genau das! Ich bin gleiche Altersgruppe wie du und genau so aufgewachsen.
Meine große Schwester war mit Nazis befreundet, meine Mutter war ähnlich gestrickt. Als ich als Teenie in den Westen gezogen bin, habe ich langsam verstanden wie "verkorkst" meine Familie eigentlich ist.

HeyNeira @HeyNeira
Bin krass deiner Meinung. Wohne auch in Sachsen, komme aus Sachsen Anhalt, bin Mitte 20 und kenne alle diese Sprüche.
Was aber nicht heißt, dass hier wirklich alle so sind und so denken. Aber leider sind es dennoch zu viele, die so denken. :(

electrolite @electrolite83
Ich kann das nicht bestätigen. Aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, heute 40. Was ich mitbekommen habe, war ein tiefes Misstrauen jedweder Regierung gegenüber. "Die bescheißen uns sowieso alle." Sie gingen trotzdem wählen, fanden es wichtig, wählten wechselnd, aber niemals rechts.

Kl op Kyke @klonkyke
Ich bin nur wenig älter und nicht so aufgewachsen.. Meine Eltern waren immer Linken-Anhänger (bewerte ich jetzt nicht) und selbst da bemerkt man Tendenzen, wo man versteht, warum manche direkt von links nach rechts kippen. Eltern (noch) nicht aber quasi das halbe Dorf.

Didi @WinterD22
Wir sind aus dem Ruhrgebiet und unsere Familie ist bunt. Einmal waren wir in Dresden und Polen zum Urlaub. NIE Wieder. Die übelsten Blicke und eindeutig ablehnende Haltung gegenüber uns. Das ist so traurig und macht wütend.

Andi beth Nahrin @AndiMesoPott
Es gibt aber auch gute Ossis.

Daniela aka Alsbeth @alsbeth82
Komme aus Brandenburg, bin 41. In meiner Familie gabs das nicht. In vielen anderen Familien meiner Mitschüler aber schon. Ich war die einzige linke Zecke in der Klasse, 3 offene Faschos und der Rest hat den Kopf eingezogen und genickt. Selbst Lehrer waren teils so drauf.

verkehrswendebergstrasse @verkehrswendeb2
Ein Bekannter von mir zieht aus Dresden weg nach Norddeutschland, weil er es nicht mehr aushält bei dem ganzen Nazigedankengut im Alltag dort und seine Kinder dort nicht aufwachsen lassen möchte. Und er ist Ur-Sachse!

tomy @tomybee81
Das rechte Gedankengut war schon vor der Wende da, und den 90ern, den Baseballschlägerjahren, kultiviert. Zur Wahrheit gehört aber auch das Vakuum, über Nacht Millionen Arbeitslose, geschlossene Jugendclubs, keine ausgeprägte Vereinskultur, Leere in vielen Köpfen weil der Sinn Aufeinmal fehlte. Viele sind da glaub ich nicht rausgekommen. Die 90er waren wild für uns Jugendliche. Die Eltern gucken wie sie den Arsch an die Wand kriegen sollen und wir Kids mehr oder weniger vogelfrei. So empfinde ich das rückblickend zumindest War halt nur die Frage was man damit macht.  Ich bin eher in eine linke Richtung gegangen weil ich unbedingt Songs von nirvana lernen wollte in der 6. Klasse. Andere sind mit wütend mit baseballschlägern losgezogen und haben die gerade entstandenen dönerbuden angezündet Und das hat sich verfestigt bei vielen die geblieben sind ...


...

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 01, 2023, 12:51:35 PM
Quote[...] Geboren 1936 in einer kommunistischen Familie in Hamburg, deren jüdischer Vater im KZ ermordet wird, kommt Wolf Biermann mit seiner Mutter 1953 in die DDR. Mit seinen Liedern und Gedichten eckt er schnell an und erhält Auftrittsverbot. Seine kritische Poesie, oft gesungen in seiner Wohnung in der Berliner Chausseestraße, wird DDR-weit und auch im Westen bekannt. Sein Lyrikband ,,Die Drahtharfe" veröffentlicht er in West-Berlin.

Biermann, eng befreundet mit dem Dissidenten Robert Havemann, wird zu einem der bekanntesten DDR-Oppositionellen. Nach einem Konzert 1976 in Köln, das vom Fernsehen übertragen wird und in Ost wie West Furore macht, wird er gegen seinen Willen ausgebürgert, was eine Solidaritätswelle in der DDR auslöst. In der Bundesrepublik fängt Biermann ein neues Leben an.

Wolf Biermann hat zehn Kinder und Ziehkinder, darunter Nina Hagen, Tochter seiner Lebensgefährtin Eva-Maria Hagen. Inzwischen 86 Jahre alt, lebt er heute mit seiner Frau Pamela in Hamburg. Politisch mischt er sich ein, gilt als Begleiter von Angela Merkel und nennt Kanzler Olaf Scholz einen Freund. Am Mittwoch eröffnet im Deutschen Historischen Museum in Berlin die Ausstellung ,,Wolf Biermann – ein Lyriker und Liedermacher in Deutschland".


...

Robert Ide: Als junger Kommunist siedelten Sie 1953 in den Osten über.

Wolf Biermann: Ich wollte helfen, dass die Deutschen nach der Nazizeit eine bessere Gesellschaft errichten. Was Besseres als die kapitalistische Bundesrepublik mit all ihren flott umetikettierten Nazis. Dass es solche auch in der DDR gab, konnte ich mir nicht vorstellen. Der Kommunismus war für mich das Rezept für die Errichtung einer gerechten Welt, in der kein Mensch den anderen ausbeutet und belügt und unterdrückt: also echte Freiheit.

Robert Ide: Aber kaum sind Sie angekommen, erheben sich die Arbeiterinnen und Arbeiter im angeblichen Arbeiter- und Bauernstaat. War das schon das Ende dieser Illusion?

Wolf Biermann: Es war mein Riesenglück, dass ich am 17. Juni im Städtchen Gadebusch gelandet war, einem Kaff in der Einöde von Mecklenburg, weit weg vom Schuss, weitab vom Aufstand gegen die Diktatur. Ich musste also nicht mitansehen, wie die Panzer der angeblichen Sowjetfreunde gegen das Volk eingesetzt wurden. Hätte ich gesehen, dass die aufständischen Arbeiter niedergeschlagen, erschossen oder eingekerkert werden, hätte mich kein Marxismus und kein Kinder-Murxismus mehr besänftigen können.
Der Sohn meiner Eltern hätte automatisch rebelliert – und die panischen SED-Genossen hätten mich in den Westen zurückgeschmissen wie Abfall. Oder eingelocht in den brutalsten Jugendwerkhof Torgau. Ob ich rigoroses Kommunistenkind das überlebt hätte, bezweifle ich sehr.

Robert Ide: Hatte die DDR eine Chance?

Wolf Biermann: Nach Ansicht der Kommunistin Emma Biermann in Hamburg war die DDR nicht das gelobte Land, aber sollte es werden. Sie und meine Oma Meume waren in der KPD, aber keine verblödeten Funktionäre. Die DDR war unsere Hoffnung. Inzwischen weiß ich: Es kann keinen richtigen Kommunismus geben. Wer alle Menschen total gleich machen will, landet in der totalitären Hölle ohne Freiheit. 

Robert Ide: Heute wird gern so getan, als sei die DDR nicht so schlimm gewesen. Bücher zeichnen die Diktatur weich und machen den Westen zum Schuldigen an der verkorksten Einheit. Welche Sehnsucht steckt da drin?

Wolf Biermann: Das ist keine Sehnsucht, das ist aggressives Selbstmitleid. In einer Diktatur verwenden die meisten Menschen ihre Energie und Klugheit darauf, einigermaßen durchzukommen: nicht zu feige, nicht zu frech. Und es gibt viele gute Gründe, sich feige zu verhalten. Aber wenn Menschen alles Unrecht dulden, wenn sie im Betrieb oder in der Familie immer den Schwanz einziehen oder den Kopf, dann macht sie das chronisch seelenkrank.
Diese Deformation wird unbewusst vererbt von Generation zu Generation. Oder wie es der große Pädagoge Pestalozzi mal formulierte: ,,Man erzieht und erzieht, und dann machen sie einem doch alles nach." Die Ostdeutschen sind nach zwei Diktaturen hintereinander doppelt geprägt. Kaputte Häuser und Straßen kann man in 30 Jahren wieder aufbauen, kaputte Menschen dauern etwas länger.

Robert Ide: Haben Sie diese Verstümmelung auch in sich?

Wolf Biermann: Ich hab mich immer einigermaßen tapfer gewehrt. Wir alle gehen nicht nur kaputt an den Schlägen, die wir einstecken, sondern auch an den Schlägen, die wir nicht austeilen. 

Robert Ide: Wie lässt sich die Teilung eines Landes überwinden?

Wolf Biermann: Ich lieferte mal Konzerte in Südkorea. Die Leute dort waren - was Wunder - interessiert an diesem Barden aus einem geteilten Land. Ich sang in Seoul ein Lied, das hatte ich schon kurz nach dem Bau der Mauer geschrieben:
,,Es senkt das deutsche Dunkel /
sich über mein Gemüt /
Es dunkelt übermächtig /
In meinem Lied. //
Das kommt, weil ich mein Deutschland /
So tief zerissen seh. /
Ich lieg in der bessren Hälfte /
Und habe doppelt Weh."

Robert Ide: Was, glauben Sie, haben die Koreaner darin gesehen?

Wolf Biermann: Ja, gleich erzähle ich das. Aber zunächst dies: Damals haben sich in Deutschland alle über dieses Liedchen geärgert – so was schafft man wohl nur, wenn man es nicht darauf anlegt. Die Bonzen der Partei ärgerte: Warum-wieso hat der Biermann doppelt Weh, wenn er doch das Glück hat, bei uns im Arbeiter- und Bauernparadies zu leben? Im Westen schimpften Leute: Wieso in der besseren Hälfte? Von links meckerten die Linksalternaiven; es ärgerten sie zwei Worte: mein Deutschland. Sie empörte meine innige Haltung zu diesem verfluchten Deutschland.

Robert Ide: Und die Menschen in Korea?

Wolf Biermann: Die waren entzückt. Was ich ja nicht wusste: Die freien Südkoreaner leider viel tiefer unter der Trennung vom totalitären Norden als die Westdeutschen je gelitten haben unter der Mauer. Zugleich aber haben die Südkoreaner vor nichts solch eine Todesangst wie vor dem Zusammenbruch des Regimes im Norden.

Robert Ide: Warum?

Wolf Biermann: Weil sie bis drei zählen können. Eine Wiedervereinigung wollen die Südkoreaner sich nicht aufladen. Die Nordkoreaner sind in Zehnerpotenz beschädigter von der Diktatur, als es jemals die Menschen in der DDR waren. In Nordkorea vegetieren Kinder schon unterernährt im Mutterleib. Viele werden mit schweren seelischen und körperlichen Schäden geboren.
Und das Elend geht so weiter, denn sie lernen dann nie den aufrechten Gang. Also unternimmt Südkorea alles, um den Kollaps der Diktatur im Norden zu verhindern. Gegen die chronischen Hungersnöte kaufen sie riesige Mengen Mais in China und lassen es nach Nordkorea schaffen. Sie stabilisieren den Todfeind mit kostenlosen Düngemitteln. Alles panisch kalkulierte Geschenke, um selbst billiger davonzukommen.

Robert Ide: Nach dem Mauerbau hatten Sie erste Auftrittsverbote. Ihre Hinterhofbühne wurde nicht erlaubt. Warum sind Sie nicht in den Westen gegangen?

Wolf Biermann: Wenn man die richtigen Feinde hat, ist das genauso viel wert wie treue Freunde. Beides darf man sich nicht wegnehmen lassen.

...


Robert Ide: Sie wurden berühmt mit verbotenen Sachen: dem in West-Berlin erschienenen Gedichtband ,,Die Drahtharfe", den in den Westen geschmuggelten Tonbändern der LP-Aufnahmen in der Chausseestraße. Fehlte Ihnen nach der Ausbürgerung in den Westen der Staat, gegen den Sie aufbegehren?

Wolf Biermann: Mir fehlten, kein Wunder, meine Freunde. Und, das war neu für mich: Die Feinde fehlten mir auch. Ich war nun plötzlich der Anfänger, der Neue. Ich wusste nicht, was hinten, was vorne ist. Das Klügste wäre gewesen, zwei, drei Jahre den Mund zu halten. Das Dumme: Ich konnte mir solche Klugheit nicht leisten. Meine komische Tragik war: Weil ich ja so spektakulär ausgebürgert wurde, war ich dazu verurteilt, auch im Westen berühmt zu bleiben. Schon damit die Bonzen im Osten all denen, die sich mit mir solidarisiert hatten und dafür bestraft wurden, nicht sagen konnten: Siehst Du, was aus Deinem kleinen Biermann geworden ist? Der ist weg vom Fenster, den gibt's gar nicht mehr! Deshalb musste ich mich im Westen aus dem Fenster lehnen, also aus der Glotze.   

Robert Ide: Was haben Sie dafür getan?

Wolf Biermann: Neue Lieder! Ich wollte nicht davon leben, im Westen nur meine Ost-Wunden zu lecken. Das Ergebnis dieses Kraftaktes ist auf zwei LPs nachzuhören. Man hört darin, wie ein Drachentöter versucht, sich ohne Drachen durchzuschlagen. Es war meine schwierigste Zeit.

Robert Ide: Zum Mauerfall umfasste Ihre Stasi-Akte 50.000 Seiten, Dutzende Spitzel waren auf Sie angesetzt. Frauen sollten Sie für die Stasi verführen. Hat die kleine DDR den kleinen Biermann einfach zu groß gemacht?

Wolf Biermann: Quatsch! Umgekehrt: Ich machte die großen Parteibonzen klein. Ich wusste, dass die Stasi mich ,,zersetzen" will. In meinen Stasi-Akten, abgelegt unter ZOV ,,Lyriker", fanden sich 220 IMs, die was über mich berichtet haben. Und ja, es gab unter anderem eine junge Frau, die den Auftrag hatte, mich ins Bett zu ziehen. Sie hatte sich zu diesem Zweck mit meiner Frau Eva-Maria Hagen und mir angefreundet. Die Stasi war clever. Ihr Bruder war ein Offizier der Staatssicherheit, der Vater auch. So wurde sie von denen zum Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS gepresst.

Robert Ide: Hatten Sie später noch einmal Kontakt zu ihr?

Wolf Biermann: Ja, denn sie war der einzige IM, der sich geoutet hat. In ihrem Brief stand: ,,Lieber Wolf! Ich lese jetzt in der Zeitung, dass Du Deine Akten liest. Du wirst mich auch finden. Ich bin IM ,Lerche' ". Das wurde ihr Code-Name, weil sie eine junge Schauspielerin war und eine Hauptrolle im Stück ,,Die Lerche" spielte. Klug an der Stasi war auch, dass sich Spitzel selbst den Tarnnamen aussuchen mussten – damit sie die Illusion haben, noch einen Rest Selbstbestimmung zu behaupten.

...

Robert Ide: Haben Sie sie später einmal getroffen?

Wolf Biermann: Ja. Ich war tief berührt, dass sie den Mut hatte, sich selbst zu dekonspirieren. Sie war eine Täterin, aber eben zugleich ein Opfer. So passierte es doch oft.

Robert Ide: Sie haben schon 2007 in einer Laudatio für Angela Merkel gewarnt: ,,Ich halte Russlands Stabilisator Putin aus deutscher Sicht für höchst instabil, denn Gasmann Schröders lupenreiner Demokrat kopiert seinen blutigen Vorgänger Stalin." Warum wollte das in Deutschland keiner hören?

Wolf Biermann: Weil zu viele davon lebten, es nicht wahrhaben zu wollen. Für mich war und blieb Putin immer ein krimineller KGB-Offizier. Als er 2001 von dem Saufkoloss Jelzin an die Macht gehievt wurde, dachte ich: Putin ist ein Sankt-Petersburger Taschendieb und bleibt von Beruf Mörder. Ich hatte aber ein schlechtes Gewissen dabei und dachte: Vielleicht bin auch ich selber der Kleinmütige, der nicht wahrhaben will, dass sich auch ein Apparatschik wandeln kann.
Putin wurde 2001 bejubelt im Bundestag, ich fragte mich: Bin ich gefesselt von meinen Urteilen und Vorurteilen? Schade! Ich hätte gerne und tausendmal lieber Unrecht behalten.

Robert Ide: In Ostdeutschland gibt es eine seltsame Nostalgie für Russland. Verstehen Sie, dass Menschen heute die Freiheit nicht so schätzen, die sie sich selbst erkämpft haben?

Wolf Biermann: Es sind meist nur sehr wenige, die ihre Freiheit wirklich erkämpft haben. Am Ende einer Diktatur wimmelt es ja immer von Widerstandskämpfern. Plötzlich sind aus dem Tausendfüßler Abertausende Freiheitshelden geworden. Für diesen Selbstbetrug gibt es einen sarkastischen Slogan, er heißt: ,,Ach! Wenige waren wir, und nur viele sind übriggeblieben!" Ich hab grad ein Lied geschrieben mit einer Zeile, die kompakt formuliert, worüber wir jetzt hin und her reden:
,,Was Du erinnerst, /
warst Du nicht."

...


Aus: "Wolf Biermann im Interview: ,,Man geht auch an Schlägen kaputt, die man nicht austeilt"" Robert Ide (01.07.2023)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/wolf-biermann-mit-86-noch-zornig-man-geht-auch-an-schlagen-kaputt-die-man-nicht-austeilt-10067359.html (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/wolf-biermann-mit-86-noch-zornig-man-geht-auch-an-schlagen-kaputt-die-man-nicht-austeilt-10067359.html)

QuoteMartin_Kniffke
01.07.23 12:42

Geehrter Herr Biermann,
zweifellos ist und wäre jede redliche Kommunistin, jeder redliche Sozialist in der DDR -gelinde gesagt- in Opposition geraten.

Was Sie mir aber sehr lange schon -auch wieder gelinde gesagt - zu wenig unterscheiden: Jene, und auch jene Denkweise und Strukturen, die sich -auch Ihre Hoffnung - auf eine bessere Welt zur Beute machten. Nicht selten und nur allzuoft zur Rechtfertigung von Verbrechen - haben nichts mit der Hoffnung der Menschen auf einen besseres Leben zu tun, die im Kommunismus, im Sozialismus eine Idee, einen Plan für solidarisches Leben erhofften.

Stattdessen sind Sie nun lange schon im bourgeoisen Chauvinismus gegenüber diesen Menschen gelandet. Wie mir scheint. Paradoxerweise ist dies eine Disposition, die die Nomenklatura der Diktaturen über das Proletariat mit den Eliten des bürgerlichen Staats der kapitalistischen Länder eint.

Oder auch die Frage, die einen - auch wenn sie polemisch formuliert ist - als redlicher Mensch umtreiben sollte. Polemik ist Ihnen ja geläufig.

Mich in meinem nun 63. Jahr: Was machen wir mit einem europäischen Grenzregime, mit einem Kapitalismus, der sich demokratisch nennt, gegen den die Mauer der DDR eine kunsthandwerkliche Bastelei war?
Dazu findet man Analyse noch Haltung weder in retardierender Bürgerlichkeit, noch in ihrer Presse, die sie als Modernität und Aufklärung verbreitet.


...
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 05, 2023, 02:25:18 PM
Quote[...] Auf WG-Partys musste ich Sätze hören wie: ,,Alle Sachsen sind Nazis. Alle Sachsen sind prinzipiell dumm, genauso wie ihr Dialekt." In solchen Momenten fragte ich mich, ob die Person mich und unser Gespräch nun tatsächlich dumm fand. Ausgesprochen habe ich es aber nie.

Obwohl ich mich bemühe, ihn zu verbergen, habe ich Komplexe aufgrund meines Dialektes entwickelt. Und auch ich hatte dieses Bild von Sachsen und Ostdeutschland. Das Verrückte dabei ist: Ich bin Ostdeutsche. Nicht nur irgendeine Ostdeutsche, ich komme aus Sachsen – dem schwarzen Schaf der 16-köpfigen Familie.

Ich komme aus einer Generation, die die Mauer nie erlebt hat, aber sie noch in ihren Köpfen trägt. Ich bin Anfang 20 und komme aus einem kleinen Dorf am Rand der Sächsischen Schweiz. Meine Eltern kommen beide aus Westdeutschland: Meine Mutter stammt aus Euskirchen, mein Vater aus Oldenburg. Und ich erhoffe mir, ernst genommen zu werden.

Die Herkunft meiner Eltern ist wichtig, um zu erklären, warum ich mich nie als Ostdeutsche begriffen habe oder von anderen aus meiner Heimat als solche gesehen wurde. Das ist nicht negativ gemeint und auch nichts, worunter ich gelitten habe. Wie auch? In meinem Kopf war das Bild des trotteligen Sachsen eingebrannt. Ich habe schnell gelernt: Wenn ich eines nicht sein will, dann ostdeutsch.

Dass Sachsen ein Problem mit Nazis und rechtem Gedankengut hat, ist kein Geheimnis, und auch ich habe das – mit meiner komplett gegensätzlichen Meinung – zu spüren bekommen. In Sachsen war ich keine Ostdeutsche. Wenn, dann war ich ein Wessi.

Ich war die ohne Dialekt, die die Großeltern ihrer Freund:innen kaum bis gar nicht verstand. Ich war die, die immer Rechenschaft für die Fehler der Wiedervereinigung ablegen musste – natürlich nur bei einigen. Aber eigentlich hat meine Herkunft nie eine Rolle gespielt. Bis ich nach Berlin zog. Die einzige Stadt in Deutschland, die west- und ostdeutsch zugleich ist. Genau wie ich.

Zur Ostdeutschen wurde ich an dem Tag, an dem ich in den Westen zog. Ich war auf einmal die mit dem Dialekt. Ich war die, die alle anguckten, wenn es um Sachsen ging – meist im negativen Kontext. Werde ich nach meiner Herkunft gefragt, sage ich: ,,Ich komme aus Sachsen, aber ..." Gefolgt von ,,meine Eltern sind aus dem Westen", ,,ich bin kein Nazi", ,,ich bin nicht so wie andere Sachsen" ... oder eher wie das Bild, das die Medien und der Rest von Deutschland um Sachsen und Ostdeutschland konstruiert haben. Das teils fern von der Wirklichkeit ist.

Was nicht fern von der Wirklichkeit ist, sind die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, die mir vorher nie aufgefallen sind. Je länger ich in Berlin lebe, desto mehr bemerke ich, dass meine ,,ostdeutsche Normalität" eben nicht normal ist, sondern ihr strukturelle Probleme zugrunde liegen: Der Großteil meiner Klassenkamerad:innen haben nicht studiert. Der Großteil meiner Klassenkamerad:innen wohnen noch in ihrem Heimatdorf oder in der Umgebung. Der Großteil meiner Klassenkamerad:innen waren nie längere Zeit im Ausland – vor allem nicht außerhalb der EU (mich eingeschlossen).

Der Großteil meiner Klassenkamerad:innen haben mehr als eine Stunde zur Schule gebraucht, weil es in der unmittelbaren Umgebung keine Schulen gab und die Situation des öffentlichen Personennahverkehrs desaströs ist. Nur um einige Bespiele zu nennen, die ich in meiner Jugend in Sachsen erlebt habe. Es sei angemerkt, dass diese strukturellen Probleme viel tiefer reichen als Bildung und noch mehr Auswirkungen haben als oben beschrieben.

Und ich möchte nicht sagen, dass irgendetwas davon verwerflich ist. Im Gegenteil: Nicht jede:r muss studieren, nicht jede:r muss sein Heimatdorf verlassen, nicht jede:r muss ins Ausland gehen. Aber jede:r sollte die Chance dazu haben, die in Ostdeutschland aber strukturell nicht gegeben ist.

Gute Bildung und finanzielle Ressourcen gehen in Ostdeutschland Hand in Hand: Meine Schwester und ich waren am Anfang auf einer Oberschule in unserer Nähe. Meine Schwester hat Dyskalkulie – die viel zu spät entdeckt wurde. Stattdessen wurde ihr gesagt, sie würde, wenn überhaupt, nur einen Hauptschulabschluss schaffen. Meine Eltern nahmen uns von der Schule und wir besuchten fortan eine Privatschule.

Fünf Jahre später hielt meine Schwester ihr Abiturzeugnis in der Hand. Sie war nicht dumm – genauso wie viele andere Kinder, die von den Lehrer:innen als solche abgestempelt wurden. Meine Eltern hatten die finanziellen Ressourcen und nahmen sich die Zeit, uns jeden Tag zur Privatschule zu fahren und abzuholen. Hätten sie das nicht getan, weiß ich nicht, ob ich heute hier sitzen würde. Ich hatte diese Privilegien. Viele andere nicht.

Aber da hört es nicht auf: Auch ein Studium muss man sich leisten können. Vor allem in einer anderen Stadt. Das können nur Kinder, deren Eltern genug finanzielle Ressourcen haben oder Unterstützung bieten, wenn es um Förderungen geht. Auch hier gibt es Ausnahmen – aber es sind Ausnahmen und nicht die Regel.

Der größte Teil der Ostdeutschen ist dabei laut bpb in den unteren sozialen Lagen vertreten und viele von ihnen sind keine Akademiker:innen. Außerdem interessant: Von 100 Akademiker:innenkindern studieren 71. Bei Nichtakademiker:innenkindern sind es nur 24.

Was meine ich mit finanzielle Ressourcen? Zahlen des Statistischen Bundesamtes von 2021 belegen, dass Ostdeutsche im Jahr circa 12.000 Euro weniger verdienen als Westdeutsche. Vor diesem Hintergrund lässt sich also auch auf eine Chancenungleichheit für ostdeutsche Kinder im Vergleich zu westdeutschen schließen.

Auch ein Stipendium ist keine Lösung: Laut Erhebungen der Hans-Böckler-Stiftung werden überwiegend Kinder gefördert, deren soziale Herkunft hoch oder gehoben ist. Obwohl der Pay Gap zwischen Ost und West zur Ungleichheit beiträgt, ist das nicht die Hauptursache: In der DDR war es aufgrund der Staatsideologie nicht möglich, persönliches Vermögen anzuhäufen, geschweige denn etwas zu vererben. Auch nach der Wiedervereinigung stellte das für Bürger:innen eine Herausforderung dar. Auch, weil sie nicht in Elitepositionen kamen – diese belegten überwiegend Westdeutsche.

Diese historische Ungleichheit ist noch heute ein bestimmender Faktor, wenn es um finanzielle Ressourcen geht, betont auch Dirk Oschmann in seinem Buch ,,Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung".

Was auch gesagt sei: Die Lebenshaltungskosten sind in Ostdeutschland geringer, falls man aber in Westdeutschland studieren will, fällt das nicht ins Gewicht. Eher trägt es dazu bei, dass Ostdeutsche genötigt sind, im Osten zu bleiben und keine Vermischung stattfindet.

Nach der Wende kamen Ostdeutsche nicht in Führungspositionen und auch heute bleibt es ihnen verwehrt – unter anderem wegen den oben genannten Faktoren. Das Fatale dabei: Nur in Führungspositionen kann man etwas bewegen und das System verbessern. Eine Datenerhebung des MDR in Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig kommt zu dem Ergebnis: 2022 waren nur etwa dreieinhalb Prozent der Elitepositionen mit Ostdeutschen besetzt. Dabei stellen Ostdeutsche etwa 17 Prozent der Gesamtgesellschaft.

Das negative Bild, das die Medien vom Osten konstruieren, festigt sich zwangsläufig auch in den Köpfen der Menschen – ich habe es oft deutlich zu spüren bekommen.

Lange habe ich nichts gesagt, bis wir in der Uni ein Essay lasen. In dem Essay beschrieb die Autorin ihre Reise nach Sachsen. Die Gefühle, die sie schildert, wollte ich ihr keinesfalls absprechen: Es ging um Unbehagen, Angst und Wut. Doch ihr Text malt ein Bild vom Osten, das so klischeebehaftet und eindimensional ist, dass ich es kaum fassen konnte. In diesem Moment wollte ich nicht mehr leise sein und die Bilder und Klischees von Ostdeutschland akzeptieren.

Die Probleme des Ostens sind struktureller Natur und vielseitig. Um sie zu lösen, müssen wir aktiv an einem Wandel arbeiten. Es muss weniger über, sondern mehr mit Ostdeutschland gesprochen werden.

Wir als Gesellschaft müssen aktiv zum Strukturwandel beitragen. Denn ein Deutschland, in dem die Herkunft nicht negativ behaftet ist, ist ein Land, in dem sich jede:r gehört und gesehen fühlt. Nur dann können wir Probleme nachhaltig lösen. Ich weiß, dass wir das müssen. Und ich weiß, dass wir das können.

Leona Spindler ist 22 Jahre alt. Sie wurde in Ostdeutschland geboren und ist dort auch aufgewachsen. Nach ihrem Abitur zog sie nach Berlin und studiert Journalismus und Unternehmenskommunikation an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft.

Die Autorin legt Wert auf die Verwendung von Sonderzeichen zur Sichtbarmachung aller Geschlechter.


...


Aus: "Ich war nie eine Ostdeutsche – bis ich in den Westen kam" Leona Spindler (04.07.2023)
Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/open-source/ich-war-nie-eine-ostdeutsche-bis-ich-in-den-westen-kam-li.363874 (https://www.berliner-zeitung.de/open-source/ich-war-nie-eine-ostdeutsche-bis-ich-in-den-westen-kam-li.363874)

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 17, 2023, 02:19:19 PM
Quote[...] [Die aus Wismar stammende Autorin Anne Rabe erzählt von einer Kindheit und Jugend in Ostdeutschland nach der Wende - und analysiert die Gewalt, die vom Staat und innerhalb der Familien ausgeübt wird.] Anne Rabe, 1986 geboren in Wismar, gelang mit dem Buch ,,Die Möglichkeit von Glück" die Überraschung des Buchsommers. Ihr Roman über gewaltvolles Aufwachsen in der späten DDR wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. Rabe, die zwei Kinder hat und in Berlin lebt, ist auch Dramatikerin und Drehbuchautorin, etwa für die Sitcom ,,Warten auf'n Bus" mit Ronald Zehrfeld. Zum Gespräch im Literaturhaus kommt sie mit dem Rad. Ihr Buch beschreibt gewaltvolle Erziehung in der DDR. Die in Wismar geborene Dramatikerin über unterschwellige Wut, Zweifel in der Sprache und ihre Nominierung für den Deutschen Buchpreis.

Robert Ide: Frau Rabe, was ist das Schönste an Deutschland?

Anne Rabe: Ach, vieles. Der demokratische Rechtsstaat. Unser Gesundheitssystem funktioniert noch ganz gut. Und Deutschland liegt in einer Klimazone, in der man die Hitze gut aushalten kann. Ich mag die Vielfalt in unserem Land: an Landstrichen, an Menschen, an Lebensentwürfen.

Robert Ide: In Ihrem Buch schreiben Sie über deutsche Geheimnisse. Versteckt unser Land irgendwas?

Anne Rabe: In uns Deutschen schlummert ein gut getarnter Chauvinismus. Wir geben uns als Erinnerungs-Weltmeister, haben aber ein geringes Interesse an anderen Ländern. Gerade gegenüber Osteuropa haben wir lange alles besser gewusst. Wir wurden gewarnt, dass mit dem Bau von Nordstream Russlands Diktator Putin seinen Einfluss erweitern will. Wir haben Ängste der Polen vor einem Überfall kleingeredet. Oder schauen Sie sich den Anfang der AfD als angeblich eurokritische Partei an: Da wurde schon davon geredet, dass Südeuropäer eine andere Arbeitsmoral hätten als Nordeuropäer. Dieses ,,Wir sind wieder wer und zeigen es Euch" ist weit verbreitet.

Robert Ide: Merken die Menschen, dass es nicht immer weiter aufwärts geht?

Anne Rabe: Viele lehnen jede Veränderung ab. Es ist auch eine westliche Sicht, dass man dachte, man sei angelangt am Ende der Geschichte. Nun zeigen uns Krieg und Naturkatastrophen, dass dem nicht so ist. Wir haben ja das Glück, dass wir die wirtschaftliche Kraft und die klimatischen Bedingungen haben, um den Wandel noch selbst zu gestalten. Die Angst davor finde ich erstaunlich.

Robert Ide: Warum sind die Ostdeutschen besonders unzufrieden?

Anne Rabe: Man hatte Unsicherheit zur Genüge, der Umbruch war lange sehr hart. Aber man hat ihn geschafft und könnte sagen: Her mit der nächsten Transformation! Doch das Beharren ist größer.

Robert Ide: Woran liegt das?

Anne Rabe: Zum Beispiel an Hartz IV. Die Einführung war im Osten ein heftigerer Schlag. Kaum hatte man sich konsolidiert und das neue System halbwegs verstanden, kam der nächste Einschnitt. Es war ein Schock, dass man bei Arbeitslosigkeit schnell an das gerade mal bisschen Ersparte ran sollte. Das hat eine Retraumatisierung ausgelöst. Hinzu kommt, dass im Osten weniger gesprochen wird. Diese unterschwellige Wut sucht sich immer wieder eine Bahn.

Robert Ide: Merken Sie Unterschiede zwischen Ost und West bei Ihren Lesungen?

Anne Rabe: Im Osten habe ich das Gefühl, dass es vielen schwerfällt, über Gefühle zu reden oder Sachen anzusprechen, bei denen sie sich unsicher sind. Manche haben Angst davor, eine andere Meinung zu haben als die Gemeinschaft. Vor einer Gruppe über eigene Erfahrungen zu sprechen, ist keine Selbstverständlichkeit. Es gibt die Sorge, dass man verurteilt oder vom Nachbarn komisch angeguckt wird. Ein Kennzeichen der früheren Diktatur war ja, dass es nur richtig oder falsch gibt. Das richtige Leben, das falsche Leben – dazwischen nichts und im Zweifelsfall harte Konsequenzen.

Robert Ide: Macht es Sie stolz, dass Sie als Ostdeutsche nominiert sind für den Deutschen Buchpreis?

Anne Rabe: Mir ist eher wichtig, dass es viele nominierte Frauen gibt. Dennoch freue ich mich, dass es großes Interesse an ostdeutscher Geschichte gibt. Auch Westdeutsche wollen ergründen, warum es in Ostdeutschland mehr Rechtsextremismus gibt. Viele nehmen langsam wahr, dass da wirklich etwas anders ist.

Robert Ide: Was war das Schönste der DDR?

Anne Rabe: Da fällt mir nichts ein. Eher eine Projektion: Natürlich ist die Idee eines anderen Systems, das nicht kapitalgetrieben ist, etwas Gutes. Aber heute weiß man, wie wenig diese Idee mit der Realität zu tun hat. Gerade westdeutsche Linke sollten das endlich anerkennen.

Robert Ide: In Ihrem Buch ,,Die Möglichkeit von Glück" wird die DDR als Geschichte der verdeckten und versteckten Gewalt erzählt. Ist die ostdeutsche Gesellschaft verroht?

Anne Rabe: Die DDR kam aus der Gesellschaft des Nationalsozialismus. Bis heute gibt es im Osten eine vererbte Brutalität. Das hat sicher auch etwas damit zu tun, dass viele Menschen weggegangen sind. Diejenigen, die geblieben sind, sind oft männlich, älter, ängstlicher. Da steckt ein anderes Gewaltpotenzial drin. Bilder wie in Chemnitz 2018, wo Menschengruppen Leute jagen, die anders aussehen – das passiert eher im Osten.

Robert Ide: Haben die Menschen selbst mehr Gewalt erlebt?

Anne Rabe: Rechte Gewalt im Osten ist so erschreckend wie seltsam vertraut. Nach der Wende hat die rechte Zivilgesellschaft erfolgreich Migrantinnen und Migranten vertrieben. Und ich glaube schon, dass es eine Härte gibt in der Erziehung, im Umgang miteinander, ein traditionelleres Männlichkeitsbild.

Robert Ide:  Was meinen Sie damit?

Anne Rabe: Traditioneller heißt: Die Hand sitzt lockerer. Ich bin total überrascht, wie viele Leute mir schreiben, dass sie sich in dem Buch wiederfinden, gerade wenn ich über gewaltsame Erziehung schreibe.

Robert Ide: Dass ein Kind in einer viel zu heißen Badewanne baden musste – ist das wirklich vielen passiert?

Anne Rabe: Ich glaube, dass die in den 80ern geborenen Kinder, zu den ich gehöre, in einer speziellen Situation aufgewachsen sind. Sie wurden in die Agonie der DDR geboren. Nicht wenige Eltern haben sehr früh Kinder bekommen, damit sie leichter an eine Wohnung kommen. Und die Eltern dieser Kinder hatten mit dem Mauerfall ein Problem: Sie konnten nicht mal eben ins Ausland gehen. Sie mussten die Kinder durch die Transformation bringen. Dadurch ist eine Distanz zu den Kindern entstanden, durch Stress, durch wirtschaftlichen Druck.

Robert Ide: Sie beklagen, dass in der Kriminalstatistik der DDR die Gewalt an Kindern und auch Kindesmissbrauch gar nicht aufgeführt waren.

Anne Rabe: Auch sexualisierte Gewalt nicht. Ich finde das ganz entscheidend. Als nach der Revolution die ersten Frauenhäuser eröffneten, waren sie gleich voll. Die betroffenen Frauen wurden ja nicht erst verprügelt, als die Mauer fiel. Da fehlt leider die Einsicht. Stattdessen wird einem entgegengehalten: Früher gab es das eben nicht. Weil es das offiziell nicht gegeben hat.

Robert Ide: Haben Sie selbst Gewalt erlebt?

Anne Rabe: Darüber möchte ich nicht sprechen. Aber ich habe für das Buch mit früheren Schulfreundinnen und anderen Menschen meiner Generation gesprochen – darüber, dass wir viele Dinge erduldet haben, die wir bei unseren Kindern nie akzeptieren würden. Erst jetzt nach 30 Jahren geht das Erzählen darüber los.

Robert Ide: Wie passt Ihre Analyse zur Erzählung vieler Menschen, die vom Zusammenhalt in der DDR schwärmen?

Anne Rabe: Wenn es eine solidarische Gemeinschaft gegeben hätte, hätte sie sich in den 90er Jahren zeigen können. Tatsächlich aber war dies ein harte und brutale Zeit, die viele Menschen traumatisiert hat. In meinem Erleben war die zivilisatorische Decke sehr dünn. In einer Diktatur gibt es vor allem eine Zwangsgemeinschaft. Die Solidarität war aufoktroyiert, gleichzeitig gab es großes Misstrauen: Der Nachbar kann einen verraten, die Klassenkameradin kann irgendwas erzählen. Ist das wirklich eine Gemeinschaft, wenn deine Grundschullehrerin dich fragt, ob deine Eltern zu Hause West- oder Ost-Fernsehen gucken? Ging es den Leuten nicht eher gemeinschaftlich darum, die Klappe zu halten und selbst gut durchzukommen?

Robert Ide: In Ihrem Buch [,,Die Möglichkeit von Glück"] wechselt die Erzählstimme öfter, es gibt Gedankenfetzen. Manchmal wirkt der Text wie ein zersplitterter Spiegel. Ist das überhaupt ein Roman?

Anne Rabe: Die Romanform ist mittlerweile relativ frei. In Deutschland gibt es immer noch die Unterscheidung zwischen Fiktion und Sachbuch. International ist das anders. Eine freie Form macht zum Beispiel Zweifel sichtbar.

Robert Ide: Weil jede und jeder Widersprüche in sich verbirgt?

Anne Rabe: Den Buchanfang habe ich wahnsinnig oft neu geschrieben, weil ich der Unsicherheit eine Form geben wollte, die trotzdem spannend ist. Gerade unsere ostdeutsche Geschichte ist sehr widersprüchlich. Man kann eben nicht sagen: So war es. So ist es. Jetzt wissen wir es für immer.

Robert Ide: Welche Zweifel haben Sie an der Einheit?

Anne Rabe: Alle haben unterschätzt, dass eine Zivilgesellschaft aufgebaut werden muss. Demokratie lernt man nur an der Basis. In Sportvereinen etwa, wo man sich einigen muss, welches Gerät jetzt angeschafft wird. Der Irrglaube war: Die Leute gehen sicher in die neuen Parteien und engagieren sich, dann wird es schon. Doch den Rahmen dafür haben vor allem rechte Akteure geschaffen: Die NPD hat zum Beispiel gezielt Jugendhäuser aufgebaut.

Robert Ide: Viele Leute sind dann lieber weggezogen.

Anne Rabe: Ich ja auch. Das würde ich niemandem vorwerfen. Wir haben es nicht mehr ausgehalten. Der Braindrain wurde unterschätzt. Da hat man sich lange eingeredet: Die kommen irgendwann alle zurück. Jetzt fehlen überall Fachkräfte. Aber die Leute rufen: Wir wollen keine Ausländer.

Robert Ide: Kann ein Land wie Deutschland mit der Schuld zweier Weltkriege und einer langen Diktaturerfahrung im Osten überhaupt glücklich werden?

Anne Rabe: Wir können uns zumindest glücklich schätzen. Nachdem wir den Kontinent in Schutt und Asche gelegt haben, wurde uns wieder aufgeholfen. Das war den Osteuropäern, die besonders gelitten haben, nicht vergönnt. Daraus erwächst für uns eine Verpflichtung. Aber ein neues, fahneschwenkendes Nationalbewusstsein brauchen wir nicht.

Robert Ide: Woher kommt die Russland-Nostalgie gerade in Ostdeutschland?

Anne Rabe: Es gibt durchaus eine Faszination für das Autoritäre an Putin. Und es hat viel mit blinden Flecken in der Geschichte zu tun, etwa der Niederschlagung des Aufstandes am 17. Juni durch sowjetische Panzer. Der stalinistische Terror hat Spuren in fast allen Familien hinterlassen, aber darüber wird gar nicht geredet. In der DDR war die Freundschaft zur Sowjetunion vorgegeben. Dabei hatten nur wenige in der Schule Lust, Russisch zu lernen. Es muss uns bewusst werden, dass wir ein langes Schweigen über den Zweiten Weltkrieg und den stalinistischen Terror in uns tragen.

Robert Ide: In der Zeitschrift ,,Merkur" haben Sie einmal geschrieben, dass der Osten eine eigene politische Temperatur hat. Welche?

Anne Rabe: Sie ist kalt, sehr kalt. Mit wenig wärmender Empathie. Dass am Ende jeder dritte Ostdeutsche kein Problem mit der Partei des Rechtsextremisten Björn Höcke hat, lässt mich frösteln.

Robert Ide: Populismus ist aber ein gesamteuropäisches und amerikanisches Phänomen. Der Brexit beruhte auch auf Mechanismen der Angst.

Anne Rabe: Natürlich ist die ganze Welt verunsichert. In Deutschland scheint aus dieser Angst ein Trotz zu erwachsen: Wir essen Fleisch, wir fahren Auto, wir bleiben unter uns. Koste es, was es wolle.

Robert Ide: Wolf Biermann hat im Tagesspiegel-Interview von ,,ostdeutschen Seelenschäden" gesprochen. Hat er übertrieben?

Anne Rabe: Na ja, ich glaube nicht, dass man Menschen reparieren kann wie Häuser. Aber der Osten braucht eine Auseinandersetzung mit sich und seiner Geschichte, auch zwischen den Generationen. Unbelastete Leute müssen ihre Eltern und Großeltern fragen: Was habt Ihr gemacht damals? Wie gehen wir heute damit um? Es wäre auch wichtig, wenn sich Leute gegenseitig sagen: Es war nicht in Ordnung, wie du mich da behandelt hast. Erst dann kann man entscheiden: Wo wollen wir jetzt hin?

Robert Ide: Sie werfen der sogenannten ,,Dritten Generation Ost" vor, diese Fragen nicht gestellt zu haben. Stattdessen vermarktete sie ihre Herkunft, um Karriere zu machen. Haben Sie Ihre Eltern und Großeltern persönlich hinterfragt?

Anne Rabe: Mein Buch ist auch eine Befragung. Aufarbeitung ist nie ein abgeschlossener Prozess, jede Generation muss sich neu verhalten zur Vergangenheit. Die Geschichte im Buch über den Großvater im Krieg orientiert sich sehr an der Geschichte meines eigenen Großvaters.

Robert Ide: Die neue Ost-Debatte reibt sich an zwei Bestsellern. Die Historikerin Katja Hoyer trennt in ihrem DDR-Buch den Alltag von der Diktatur, für Dirk Oschmann ist der Westen schuld am deprimierten Osten. Welche Sehnsucht steckt in den Verkaufserfolgen?

Anne Rabe: Es ist eine Verweigerung, sich kritisch mit sich selbst zu beschäftigen und eine Sehnsucht danach, etwas endlich abzuschließen. Natürlich haben alle Menschen Erinnerungen an schöne Ausflüge in ihrer Kindheit. Natürlich wurde geheiratet und geliebt. Aber die Unterdrückung gab es eben auch. Bei Lesungen sagen mir Leute manchmal: Jaja, ich erinnere mich daran, dass meine beste Freundin nicht Abitur machen konnte, weil sie in der Kirche war. In solch einer Erinnerung steckt eine Frage von Schuld: Was habe ich dagegen gemacht? Es ist ähnlich wie beim Mobbing in der Schule. Das hat jeder mal erlebt und man war dann vielleicht froh, dass man nicht selbst Opfer war oder hat auch ein bisschen mitgemacht. Da ist viel Scham dabei. Wenn dann so ein Buch von Katja Hoyer erzählt, dass das Leben schon ganz okay gewesen sei und die Opfer ausblendet, schafft das eine Entlastung.

Robert Ide: Wie ist denn Ihr Buch angekommen in Ihrer alten Heimat Wismar?

Anne Rabe: Das weiß ich nicht. Ich fahre fast gar nicht nach Mecklenburg-Vorpommern, weil ich mich da unwohl fühle. Zuletzt war ich auf Usedom. Da wehen mir zu viele Deutschland-Flaggen. Es wird abfällig über die Polen gesprochen, die nebenan wohnen. Am Strand gibt es immer jemanden mit Nazi-Tattoo. Es hat sicher auch mit meinen eigenen Erinnerungen zu tun. Ich meide das.



Aus: "Autorin Anne Rabe im Gespräch: ,,Im Osten gibt es eine vererbte Brutalität"" Robert Ide (16.09.2023)
Quelle: https://archive.ph/9QDzB#selection-2041.11-2041.38 (https://archive.ph/9QDzB#selection-2041.11-2041.38)

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"Post-DDR-Roman von Anne Rabe: Mit tiefer Verletzlichkeit" Simone Schmollack (24.9.2023)
Anne Rabe analysiert Familienstrukturen und übt Systemkritik. Ihr Debütroman ,,Die Möglichkeit von Glück" ist ein heftiges Buch.
Die Autorin eilt auf 384 Seiten von einem Gewaltexzess zum nächsten. Nicht wenige der beschriebenen Erfahrungen hat sie selbst als Heranwachsende machen müssen. Und so ist ,,Die Möglichkeit von Glück", auch wenn ,,Roman" auf dem Cover steht", vor allem eine Analyse familiärer Strukturen, wie es sie zuweilen in der DDR gab, sowie Systemkritik. ...
https://taz.de/Post-DDR-Roman-von-Anne-Rabe/!5959234/ (https://taz.de/Post-DDR-Roman-von-Anne-Rabe/!5959234/)

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Quote[...] Es gibt gute Gründe dafür, dass das Sprechen über Gewalt schwerfällt. Die Gewalt lässt uns verstummen, weil sie hilflos macht. Die Gewalt ist ein brachialer Verlust von Distanz, den wir nicht kommen sehen, sonst hätten wir uns ja rüsten und wehren können.

... ,,Ich kenne dieses Schweigen", sagte eine Frau nach einer Lesung im südlichsten Westen der Republik. Wir standen vor der Buchhandlung und ich gab ihr eine Zigarette. Sie erklärte mir, dass sie eigentlich nicht raucht. Ich zündete nach meiner ersten Zigarette gleich die nächste an.

Das Schweigen, das sie meint, ist das Schweigen über die Vergangenheit. Die Familiengeschichte in meinem Buch beginnt im Kaiserreich. 1923 wird dann der Großvater der Erzählerin geboren. In mühsamer Archivarbeit rekonstruiert sie seine Geschichte vom Aufwachsen im Lumpenproletariat der Weimarer Republik, dem Dienst in der Wehrmacht, den er nur durch eine schwere Verwundung überlebte, denn diese rettete ihn aus dem Kessel von Stalingrad.

Ein Leben, das in der DDR schließlich seine Erfüllung in einer beachtlichen akademischen Karriere fand. Der Großvater hat Schuld auf sich geladen. Eine Schuld, der man in autoritären Systemen schwer ausweichen kann. Doch darüber wurde in der Familie der Erzählerin nicht gesprochen. Das Schweigen, das in der DDR staatlich verordnet war, setzt sich nach der Wiedervereinigung fort.

Die Frau, mit der ich meine Zigaretten teilte, sprach auch von dieser Schuld und davon, dass ihre Erziehung von Gewalt geprägt war. Es waren die Nachkriegsjahre, in denen auch in Westdeutschland geschwiegen wurde.

Nicht selten passiert es, dass in den Gesprächen nach Lesungen die Erinnerung an das Schweigen in den Familien als Gemeinsamkeit zwischen Ost- und Westdeutschland erkannt wird. Und auch wenn es bei den Lesungen in Westdeutschland immer mal wieder dazu kommt, dass lange gepflegte Vorurteile über ,,den Osten" in aller Breite vorgetragen werden, gelingt es mir immer besser, diese Entlastungsversuche zu durchbrechen und auf die Schweigetradition zu sprechen zu kommen. Auch in Westdeutschland wissen viele Menschen erstaunlich wenig über die Beteiligung ihrer Vorfahren am Krieg und Terror der Nationalsozialisten.

Eine Mehrheit glaubt auch hier, dass ihre Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern zwischen 1933 und 1945 entweder Opfer oder Gegner des Naziregimes waren. Vielleicht noch Mitläufer, aber dann ganz sicher solche, die niemandem geschadet haben.

,,Ich weiß nicht einmal, wo mein Vater in Gefangenschaft war", sagte die Frau und ergänzte, dass sie schon oft darüber nachgedacht hätte, die Sache mal zu recherchieren. Ich versuchte ihr Mut zu machen. Es wäre gar nicht so schwer. Man bräuchte nur Geduld.

... ,,Es war ein merkwürdiger Abend", schrieb ein User im April auf Twitter über meine erste Lesung in Ostdeutschland, die in Jena stattfand. Ich fragte nach, was ihn so verwundert habe, und er erklärte, dass eben kein Gespräch mit dem Publikum zustande gekommen sei. Ich erinnerte mich gut an Jena und es stimmte, ein Gespräch gab es nicht. Keine Fragen aus dem Publikum, kaum Anmerkungen.

Gerade anfangs musste ich bei meinen Lesungen im Osten lernen, diese Stille auszuhalten. Zu warten und immer wieder zum Gespräch aufzufordern. Oft hatte ich das Gefühl, dass die Menschen zwar sprechen wollten, aber besonders in kleinen Orten oft Angst haben, nicht die richtigen Worte zu finden oder sich vor ihren Nachbarinnen und Nachbarn zu offenbaren. Ich war im Gegensatz zu ihnen ja auch in der einfacheren Position. Ich würde am Abend wieder nach Berlin fahren. Sie würden einander schon morgen wieder begegnen.

Der Mut derjenigen, die dann jedoch begannen zu sprechen, hat mich tief beeindruckt. Ich werde nicht vergessen, wie Frauen von den letzten Kriegstagen in den Städten entlang der Havel erzählten. Wie sie vorsichtig nach Worten suchten. Mit Halbsätzen begannen und dann doch von ihrem eigenen und dem Leid ihrer Mütter erzählten, an deren Körpern nicht selten die Rache der sowjetischen Soldaten vollzogen wurde.

Sie sprachen auch über die grausamen Konsequenzen, die der Befehl ,,Sieg oder Untergang" in den letzten Kriegstagen vor allem für ihre Brüder hatte. Ich weiß noch, wie mir plötzlich auffiel, dass die Älteren bei einer der Lesungen vor allem Frauen waren, und als ich mit meinem Auto die Stadt verließ, sah ich plötzlich ganz deutlich die Spuren des Krieges. Entlang der Hauptstraße nur Neubaublöcke und zwischen diesen Plattenbauten einzelne Backsteinhäuser, wie die letzten echten Zähne in einem reparierten Gebiss.

Nicht vergessen werde ich den Mann, der immer wieder sagte, wie normal doch die ganze Gewalt sei, die in dem Buch geschildert wird. Er sagte das nicht, um die Gewalt abzutun, auch das begriff ich erst später, sondern um den anderen im Raum mitzuteilen, dass es ihm auch so ergangen war und dass er es auch nicht vergessen kann.

...


Aus: "Schweigen über Gewalt in der DDR:Durchwachte Nächte" Aus einem Artikel von Anne Rabe (29.12.2023)
Quelle: https://taz.de/Schweigen-ueber-Gewalt-in-der-DDR/!5979607/ (https://taz.de/Schweigen-ueber-Gewalt-in-der-DDR/!5979607/)

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 26, 2023, 11:27:22 AM
Quote[...] Die Bundesregierung bewertet in ihrem neuen Jahresbericht zur Deutschen Einheit das Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland positiv – anders als die Deutschen selbst.

Eine Woche vor dem 33. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober hat eine am Dienstag veröffentlichte Forsa-Umfrage für den ,,Stern" ergeben, dass Ost- und Westdeutschland nach Ansicht der Bundesbürger nicht etwa zusammengewachsen seien, sondern, im Gegenteil, weiter auseinander rücken.

Demnach meinen nur 37 Prozent der Befragten, dass die Menschen in Ost und West inzwischen weitgehend zu einem Volk zusammengewachsen seien. 60 Prozent der Deutschen sind hingegen der Meinung, dass das Trennende überwiege.

Eine besonders negative Sicht auf die Einheit herrscht der Umfrage zufolge im Osten des Landes sowie unter den älteren Bundesbürgern vor.

In Ostdeutschland sehen demnach 34 Jahre nach dem Mauerfall 75 Prozent der Befragten vor allem das Trennende. Nur 21 Prozent in den neuen Ländern finden, dass beide Seiten zusammengewachsen sind. Bundesweit überwiegen für 69 Prozent der Deutschen, die 60 Jahre und älter sind, die Unterschiede.

Die Befragung hatte in den vergangenen 20 Jahren regelmäßig stattgefunden. Ähnlich negativ wie heute waren die Einschätzungen zuletzt im Jahr 2008 gewesen. Vor vier Jahren fiel die Bilanz noch positiv aus: 2019 sah eine Mehrheit von 51 Prozent ein Zusammenwachsen und nur eine Minderheit von 45 Prozent das Trennende überwiegen.

SPD-Wähler sind demnach am skeptischsten: 71 Prozent von ihnen sehen mehr Unterschiede als Gemeinsames. Als einzige Parteianhänger sehen FDP-Wähler die Einheit mehrheitlich positiv: 48 Prozent von ihnen empfinden ein Zusammenwachsen Deutschlands, etwas weniger (46 Prozent) sehen mehr Unterschiede.

Wie ,,The Pioneer" am Montag vorab berichtete, heißt es im Jahresbericht der Bundesregierung: ,,Bei genauem Hinsehen erweisen sich Ost- und Westdeutschland – trotz zahlreicher fortbestehender Unterschiede – nach 33 Jahren gemeinsamer Geschichte als Regionen eines vereinten Landes." Der Jahresbericht soll am Mittwoch vorgestellt werden. (AFP)


Aus: "33 Jahre Deutsche Einheit: Bürger sehen weiterhin große Unterschiede zwischen Ost und West" (26.09.2023)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/33-jahre-deutsche-einheit-burger-sehen-weiterhin-grosse-unterschiede-zwischen-ost-und-west-10529353.html (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/33-jahre-deutsche-einheit-burger-sehen-weiterhin-grosse-unterschiede-zwischen-ost-und-west-10529353.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 10, 2023, 05:16:31 PM
Quote[...] ,,Drei Frauen träumten vom Sozialismus" ist der Obertitel des neuen Buches von Carolin Würfel, Historikerin und Autorin, geboren 1986 in Leipzig, wenige Jahre vor dem offiziellen Ende des Sozialismus auf deutschem Boden. Und dann folgen drei Namen: Maxie Wander. Brigitte Reimann. Christa Wolf.  Die Berühmteste, die mit dem längsten Leben zuletzt. Alle drei waren flirrende und interessante Namen, doch für die Heutigen ist vor allem Christa Wolf auch ohne Wikipedia präsent. Am 4. November 1989, fünf Tage vor dem Fall der Mauer, hielt sie noch eine große Rede auf dem Alexanderplatz in Berlin, und auch da ging es um einen Traum: Die DDR-Bürger sollten gewaltfrei demonstrieren, und sie sollten zusammenhalten:

    ,,Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg."

Christa Wolf

Auch dieser Traum hat sich nicht erfüllt. Und Christa Wolf fiel vom Podium geradewegs in die Ambulanz, mit einer massiven Herzrhythmusstörung. Es sprachen nicht nur Verstand und Gefühl, der Körper hatte seinen eigenen Text.

Diese Szene spielt nach der Erzählzeit von Carolin Würfel. Ihr Portrait dreier Schriftstellerinnen der DDR konzentriert sich auf die gemeinsame Lebenszeit von Maxie Wander, Brigitte Reimann und Christa Wolf, bis zum Ende der Siebziger Jahre. Eine nicht symmetrische Gruppe:

Schade, dass Reimann und Wander so wenig Gelegenheiten hatten oder Gelegenheiten wahrnahmen, sich auszutauschen. Das Herz der Gruppe war eben immer Wolf, um die die anderen beiden Satelliten kreisten, ohne den Weg und die Nähe zueinander zu finden. (...) Dabei hätte es objektiv jede Menge Gemeinsamkeiten gegeben, ihre Liebe zur Musik und ihre Attraktivität, vor allem aber den unstillbaren Hunger, die ständige Sehnsucht nach der Welt oder die Lust am Ausbruch.

Alle drei waren um das Jahr 30 herum geboren, und Brigitte Reimann und Maxie Wander starben früh. Für alle drei war der Körper ein großes Thema – als ein Instrument der Selbsterfindung und der freien Sexualität vor allem bei Wander und Reimann. Als Bürde und als ein Nest für Ängste und Qual bei jeder von ihnen. Reimann und Wander starben, von der Freundin Christa Wolf liebevoll und umsichtig begleitet, in ihren Vierzigern an Krebs, im selben Krankenhaus in Ostberlin. Und sie, die damals schon Erfolgreichste, sollte sie um Jahrzehnte überleben; Jahrzehnte auch der Angst um den eigenen Körper.

Eine Mentalitätsgeschichte eigener Art hat Carolin Würfel geschrieben. Ihre Idee ist so einfach wie brillant, und sie ist ganz persönlicher Natur. Denn diese drei Autorinnen waren in ihrer Familie Ikonen. Maxie Wander, eigentlich Elfriede Brunner, in Wien in einer kommunistischen Familie aufgewachsen und freiwillig DDR-Bürgerin: eine, die blieb, obwohl sie nicht bleiben musste. Eine, die mit ihren Reportagen aus dem westlichen Ausland einen Hauch Flamboyanz in die grauen Städte brachte. Vor allem aber eine, deren Buch ,,Guten Morgen, du Schöne" Genossinnen so portraitierte, dass das Glücks- und Wirklichkeitsversprechen zum Vorschein kam. In Wanders Gesprächen mit Frauen unterschiedlicher Herkunft und Bildung, die von Stolz und Enttäuschung, von Sex und Romantik, von ihrem Alltag und ihren Hoffnungen sprachen, erkannten die Leserinnen sich wieder; und das Publikum in der Bundesrepublik griffen diesen parallelen Lebensstoff mit Neugier und Enthusiasmus auf: Maxie Wander wurde berühmt, und ,,Guten Morgen, du Schöne" das Gütesiegel einer, wie man heute sagen würde, sozialistischen Zivilgesellschaft.

Auch Brigitte Reimann, heute vor allem mit ihren Tagebüchern im Gedächtnis, warf sich am Anfang ihres erwachsenen Lebens mit voller Kraft ins sozialistische Experiment und ging in die neu gebaute Vorzeigestadt Hoyerswerda.

Die Vereinbarung, die mit Schreibenden wie Reimann getroffen wurde: vier Tage Schreibmaschine, ein Tag Kombinat. Einmal pro Woche fuhr Brigitte Reimann also in die ,,Schwarze Pumpe" und arbeitete dort im Sinn des ,,Bitterfelder Weges" – ,,Greif zur Feder, Kumpel" – als Hilfsschlosserin. Auch das war ein Neuanfang. Reimann hatte bisher noch nie wirklich körperlich gearbeitet, der Körper an sich war seit der Kinderlähmung ja Arbeit genug.

Drei Schriftstellerinnen, die für den Sozialismus nicht nur schwärmten, sondern ihm ihre Zeit gaben, Körpereinsatz, große Gefühle und scharfe Gedanken. Die mit der inneren wie äußeren Zensur zu kämpfen hatten. Drei Wege in die buchstäbliche Enttäuschung. Dass Carolin Würfel ein so lebendiges Buch aus diesem trüben Stoff gelungen ist, verdankt sich ihrer sehr persönlichen Herangehensweise. Die manchmal geradezu zärtlich übergriffig ist, anschmiegsam spekulativ.

...


Drei Frauen träumten vom Sozialismus. Maxie Wander, Brigitte Reimann, Christa Wolf
Autor: Carolin Würfel
Verlag: Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-27384-9
272 Seiten


Aus: "Carolin Würfel – Drei Frauen träumten vom Sozialismus. Maxie Wander, Brigitte Reimann, Christa Wolf" Elke Schmitter  (25.11.2022)
Quelle: https://www.swr.de/swr2/literatur/carolin-wuerfel-drei-frauen-traeumten-vom-sozialismus-maxie-wander-brigitte-reimann-christa-wolf-100.html (https://www.swr.de/swr2/literatur/carolin-wuerfel-drei-frauen-traeumten-vom-sozialismus-maxie-wander-brigitte-reimann-christa-wolf-100.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 27, 2023, 01:52:16 PM
Quote[...] Wären Sie bereit, ohne Warmwasser und Heizung auszuharren, um einen Plattenbau aus dem Jahr 1984 zu retten? Im neuen Doku-Podcast ,,Häuserkampf – eine Platte will bleiben" kommen Menschen zu Wort, die diese Fragen klar bejahen.

Es ist eine unscheinbare, blassgelbe DDR-Platte, für die unterschiedliche Ak­teu­r:in­nen diese Aktion auf sich nehmen: Die Habersaathstraße in Berlin-Mitte.

"Mauer gegen Mieter" Marie Frank (18.10.2023)
Der Eigentümer der Habersaathstraße 40–48 lässt die Kellertür zumauern und versperrt damit Fluchtwege. Die Politik lässt den Investor gewähren.
https://taz.de/Immobilienspekulation-in-Berlin/!5963835/ (https://taz.de/Immobilienspekulation-in-Berlin/!5963835/)

Der Straßenname steht für den Plattenbau mit der Hausnummer 40–48 – und den Kampf um bezahlbaren Wohnraum, der hier seit Jahren ausgefochten wird. Dieser wird mit einer bemerkenswert breiten Front geführt.

"Wohnungslose in der Habersaathstraße: Kalte Räumung droht" Marie Frank (5.12.2022)
Die Menschen in der Berliner Habersaathstraße könnten schon bald wieder auf der Straße landen. Verhandlungen mit dem Eigentümer gibt es nicht.
https://taz.de/Wohnungslose-in-der-Habersaathstrasse/!5896487/ (https://taz.de/Wohnungslose-in-der-Habersaathstrasse/!5896487/)

Eine Initiative aus Obdachlosen und Ak­ti­vis­t:in­nen besetzte die Platte bereits zweimal, Mie­te­r:in­nen blieben, und auch der Bezirk Berlin Mitte setzte sich für den Erhalt ein.

Warum Menschen für dieses Haus solche Strapazen in Kauf nehmen, erfahren Hö­re­r:in­nen in ,,Häuserkampf". Produziert wurde der Pod­cast von Audiokombinat, einem Kollektiv aus sieben Journalist:innen. Zwei von ihnen, Johanna Tirnthal und Jürg Meister, haben mit der taz über ihr Projekt gesprochen. In der Habersaathstraße gibt es 105 Wohnungen, für die die Kaltmiete 6 Euro pro Qua­drat­me­ter beträgt. Doch das Haus steht fast leer, der Eigentümer Arcardia Estates GmbH möchte abreißen und neu bauen. Sieben Mie­te­r:in­nen stellen sich dagegen, woraus sich ein wahrer Krimi der Wohnungspolitik entspinnt.

"Spekulativer Leerstand in Berlin: Mieter dürfen bleiben" Yannick Wohlfelder,  Marie Frank (11.10.2023)
Die Arcadia Estates erlebt vor dem Amtsgericht Berlin im Räumungsprozess gegen Alt­mie­te­r*in­nen der Habersaathstraße 40-48 erneut eine Niederlage.
https://taz.de/Spekulativer-Leerstand-in-Berlin/!5962529/ (https://taz.de/Spekulativer-Leerstand-in-Berlin/!5962529/)

Längst geht es beim Kampf um die Habersaathstraße nicht mehr nur um die 105 Wohnungen. Denn am Streit darum, ob die DDR-Platte schützenswerter Wohnraum ist, entscheiden sich Maßstäbe, die berlinweit gelten. Sind die Standards aus den 80ern nicht mehr ausreichend, dürfte massig abgerissen werden. ,,Das betrifft Platten, aber auch den beliebten Altbau", erklärt Jürg Meister. Im Podcast heißt es, eine solche Entscheidung könne fast die halbe Stadt betreffen.

Trotz der lokalen Brisanz ist ,,Häuserkampf" kein Podcast ausschließlich für Berliner:innen. ,,Diese Dynamiken gibt es in fast allen deutschen Großstädten", erklärt Meister. Seine Kollegin Johanna Tirnthal ergänzt: ,,Wir beleuchten auch die Baukrise. Das ist ein deutschlandweites Thema. Genauso wie die Folgen von Abriss und Neubau für das Klima." Der Podcast thematisiert auch das Recht auf Eigentum und Vergesellschaftung und zeigt den rechtlichen wie wirtschaftlichen Rahmen auf, in dem Spekulation mit Immobilien erfolgt. Kurzum: Es geht um die Hintergründe der Wohnungsnot.

Wie aktuell das ist, zeigten erst neulich Hochrechnungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Die Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland ist 2022 deutlich gestiegen, auf 607.000 gegenüber 383.000 im Jahr 2021. Warum bezahlbarer Wohnraum so selten ist, wird in ,,Häuserkampf" in präzisen Einordnungen gut greifbar. Ex­per­t:in­nen zeigen unterschiedliche Perspektiven – zum Beispiel aus Architektur oder Recht – auf die Wohnungskrise auf. Und auch die Eigentümer der Habersaathstraße kommen zu Wort.

"Bündnis für bezahlbaren Wohnraum: 187 Maßnahmen gegen Wohnungsnot" Jasmin Kalarickal (12.10.2022)
Bündnis für bezahlbaren Wohnraum stellt Vorschläge gegen die Wohnungsnot vor. Linke kritisiert: Mietenkrise wird nicht grundlegend angepackt.
https://taz.de/Buendnis-fuer-bezahlbaren-Wohnraum/!5884025/ (https://taz.de/Buendnis-fuer-bezahlbaren-Wohnraum/!5884025/)

Gleichzeitig wird deutlich, welche Gesetze Mie­te­r:in­nen beim Kampf um bezahlbaren Wohnraum schützen. Für Meister und Tirnthal ist die Habersaathstraße deshalb auch Hoffnungssymbol. An diesem Beispiel schlüsselt der Podcast die Komplexität der Wohnungskrise ein Stück weit auf. In den ersten drei Folgen, die die taz vorab bekommen hat, gelingt und unterhält das gut – auch weil unterschiedliche Stimmen und musikalische Einspieler zu einem kurzweiligen Hörerlebnis beitragen.

Wer ins komplexe Thema der Wohnungspolitik tiefer einsteigen möchte, kann noch auf andere Podcasts zurückgreifen. ,,Schöner Wohnen – Zur Wohnungsfrage" zum Beispiel erklärt unterschiedliche Facetten der Wohnungspolitik aus einer linken Perspektive und bemüht sich stellenweise, über Berlin hinauszublicken. Auch ,,Teurer Wohnen" ist ein preisgekröntes Podcast-Format, das im Reportagestil die Funktionsweisen des Immobilienmarkts beleuchtet, mit Fokus auf Wertsteigerung und die Rolle von Steueroasen. Auch hier steht – abgesehen von Exkursen nach Ulm und Zypern – die Hauptstadt im Zentrum des Storytellings.

"Experte über Wohnungspolitik: ,,Wohnungen sind kein Spargel"" das Interview führte Jasmin Kalarickal (3.7.2022)
Hilft Bauen gegen den Wohnungsmangel? Matthias Bernt forscht zu Gentrifizierung und Wohnungspolitik und hat bessere Vorschläge.
https://taz.de/Experte-ueber-Wohnungspolitik/!5863156/ (https://taz.de/Experte-ueber-Wohnungspolitik/!5863156/)

Zur Habersaathstraße werden in Berlin übrigens gerade Räumungsprozesse geführt. ,,Wir verfolgen das mit", erzählt Johanna Tirnthal. Wenn Mitte Dezember die letzten beiden Folgen erscheinen, soll ein Teil der Urteile bereits feststehen. Die Ma­che­r:in­nen wollen ihre Pod­cast-­Hörer:innen dann auf den neusten Stand bringen.


Aus: "Podcast ,,Häuserkampf": Kampf um die Platte" Elisa Pfleger (27.11.2023)
Quelle: https://taz.de/Podcast-Haeuserkampf/!5972130/ (https://taz.de/Podcast-Haeuserkampf/!5972130/)

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Häuserkampf: Podcast über Wohnungspolitik in der Großstadt
--> https://haeuserkampf.de/ (https://haeuserkampf.de/) // https://www.audiokombinat.net/ (https://www.audiokombinat.net/)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 25, 2024, 04:48:50 PM
// Analysen / Texte aus der DDR //

" ... Die epische Grundlage der Untersuchung sollen in erster Linie DDR-Rock-Phänomene bilden, insofern mitten durch die Problematik realer Kultur- und Kunstentwicklung auf diesem Sektor hierzulande gehen. Eine offizielle - wie inoffizielle Rockbewegung durfte in den letzten Jahren verstärkt Gestalt annehmen. Das WIE hingegen bleibt mit verschiedenen Positionen besetzt ..."
Aus: "Kulturelle Symbole im Gestus des 'Rock'" Susanne Lehmann (79 Seiten, 1987)
https://www.musikundmedien.hu-berlin.de/de/musikwissenschaft/pop/forschungszentrum-populaere-musik/lehmann-suanne-1987-kulturelle-symbole-im-gestus-des-rock.pdf (https://www.musikundmedien.hu-berlin.de/de/musikwissenschaft/pop/forschungszentrum-populaere-musik/lehmann-suanne-1987-kulturelle-symbole-im-gestus-des-rock.pdf)

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" ... Beim heutigen Stand der Wissenschaft kann man das Wesen der Rockmusik nicht mehr aus dem musikalischen und textlichen Material heraus allein erklären. Sie erhält ihren Sinn erst durch die sozialen und kulturellen Kontexte, in die sie ihre Nutzer stellen. "Tatsächlich ist jede ihrer Stilformen und Spielweisen an konkrete soziale Erfahrungen und kulturelle Kontexte gebunden" betont 1 Wicke, der bei der Beachtung der kulturellen Dimension dieser Musik soweit geht, daß er sie als "ein Massenmedium'" bezeichnet, .. durch das hindurch kulturelle Werte und Bedeutung zirkulieren, soziale Erfahrungen weitergegeben werden, die über die klingende Materialität weit hinausgehen. ... Schon Dreizehnjährige trennen scheinbar haarscharf zwischen sogenannten Poppern, Grufties, New Romantics, Metallern, Bluessandalen, Hardcore- oder Plastic-Punks. ... "
Aus: ""Alternativrock" in der DDR?" (25 Seiten, 1989)
Forschungszentrum populäre Musik - Humboldt-Universität Berlin, Sektion Ästhetik/Kunstwissenschaften
Bereich Musikwissenschaft, DDR - Uwe Baumgartner; Susanne Binas, Peter Zocher
https://www.musikundmedien.hu-berlin.de/de/musikwissenschaft/pop/forschungszentrum-populaere-musik/baumgartner-uwe-binas-susanne-zocher-peter-1989-alternativrock-in-der-ddr.pdf (https://www.musikundmedien.hu-berlin.de/de/musikwissenschaft/pop/forschungszentrum-populaere-musik/baumgartner-uwe-binas-susanne-zocher-peter-1989-alternativrock-in-der-ddr.pdf)

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" ... Populäre Musik hat ihre adäquate Existenzform in den elektronischen Massenmedien. Darum betont Pücke auch, daß eine Musik, die im Medienzusammenhang produziert und verbreitet wird, stets von ästhetischen, technischen, ökonomischen, organisatorischen und politisch-administrativen Merkmalen geprägt ist, ihre musikalische Qualität nur aus dieser Symbiose her verständlich wird. ..."
Aus: Katrin Penzel (54 Seiten, 1985): "Populäre Musik in der musikwissenschaftlichen Literatur der DDR"
Humboldt-Universität Berlin, Sektion Ästhetik/Kunstwissenschaften
https://www.musikundmedien.hu-berlin.de/de/musikwissenschaft/pop/forschungszentrum-populaere-musik/penzel-katrin-1985-populaere-musik-in-der-musikwissenschaftlichen-literatur-der-ddr.pdf (https://www.musikundmedien.hu-berlin.de/de/musikwissenschaft/pop/forschungszentrum-populaere-musik/penzel-katrin-1985-populaere-musik-in-der-musikwissenschaftlichen-literatur-der-ddr.pdf)

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Peter Wicke (1984): "Populäre Musik und Sozialistische Kultur" Peter Wicke (1984)
https://www.musikundmedien.hu-berlin.de/de/musikwissenschaft/pop/forschungszentrum-populaere-musik/wicke-peter-1984-populaere-musik-und-sozialistische-kultur-kulturpolitische-und-theoretische-dimensionen-eines-sozialistischen-konzepts-musikalischer-massenkultur.pdf (https://www.musikundmedien.hu-berlin.de/de/musikwissenschaft/pop/forschungszentrum-populaere-musik/wicke-peter-1984-populaere-musik-und-sozialistische-kultur-kulturpolitische-und-theoretische-dimensionen-eines-sozialistischen-konzepts-musikalischer-massenkultur.pdf)

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Peter Wicke (65 Seiten, 1990): "Musikindustrie in den USA - Eine Analyse"
https://www.musikundmedien.hu-berlin.de/de/musikwissenschaft/pop/forschungszentrum-populaere-musik/wicke-peter-1990-musikindustrie-in-den-usa-eine-analyse.pdf (https://www.musikundmedien.hu-berlin.de/de/musikwissenschaft/pop/forschungszentrum-populaere-musik/wicke-peter-1990-musikindustrie-in-den-usa-eine-analyse.pdf)

Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 02, 2024, 12:41:29 PM
Quote[...] In der Welt unterhält sich Andrea Seibel mit dem Historiker Andreas Petersen über dessen neues Buch "Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand", das den Umgang mit der Tiefenpsychologie in den Gesellschaften Ost- und Westeuropas vor und nach den großen Diktaturen vergleicht. In Russland wurde "ab Ende der 1920er-Jahre durch Stalin alles Tiefenpsychologische ausgelöscht" und das hat Folgen bis heute, meint er. Ganz so weit scheint er mit seinem Buch nicht zu gehen: "Es sollte in Sachen Psyche erst einmal der historische Rahmen abgesteckt werden. Was ist in Ost und West überhaupt passiert, bis hinein in die Familien? Stichwort: gesellschaftlicher Sozialcharakter. Was bedeutet es, wenn langfristig Wissen über das Unbewusste aus der Gesellschaft draußen gehalten wird. Wir können noch lange über Renten und Erbe streiten, aber das immaterielle Erbe weiter ausblenden. Was also ist der missing link in dieser Frage zwischen Ost und West? Dabei geht es nicht um besser oder schlechter, schwarz oder weiß, sondern ums Klären der Differenzen."


Aus: "Buch in der Debatte" (2024)
Quelle: https://www.perlentaucher.de/9punkt/2024-03-19.html#a95864 (https://www.perlentaucher.de/9punkt/2024-03-19.html#a95864)

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Quote[...] [Andreas Petersen ist Dozent für Zeitgeschichte an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Leiter der Geschichtsagentur zeit&zeugen in Zürich und Berlin. Soeben ist sein Buch "Der Osten und das Unbewusste – Wie Freud im Kollektiv verschwand" (Klett-Cotta) erschienen.] In der DDR war die Tiefenpsychologie verpönt. Das blockierte die Aufarbeitung der NS-Geschichte, sagt der Historiker Andreas Petersen.

[...]

Dr. Peter Neumann: [...] In Ihrem jüngst erschienenen Buch Der Osten und das Unbewusste geht es um die fehlende Vergangenheitsbewältigung nicht nur in der Sowjetunion und Osteuropa, sondern auch in Ostdeutschland. Und Sie machen dafür vor allem auch den Umgang mit der Tiefenpsychologie verantwortlich. Warum?

Andreas Petersen: Der erste Band mit Schriften von Sigmund Freud, dem Gründungsvater der Psychoanalyse, erschien 1982 in der DDR. Man muss sich klarmachen, was das heißt: kein Theodor W. Adorno, kein Max Horkheimer, kein Erich Fromm, keine Frankfurter Schule, keine Studien zum autoritären Charakter, keine echte Gesellschaftskritik. Ich bin in Nordrhein-Westfalen, in Köln sozialisiert worden. Dort war alles völlig durchtränkt von tiefenpsychologischen Therapieangeboten und von Faschismusaufarbeitung: Wer waren unsere Väter eigentlich? Was haben die in der Wehrmacht gemacht? Warum waren sie zu solchen unvorstellbaren Verbrechen fähig gewesen? Was ist Gehorsam? Da gab es Filme, Buchhandlungen, die WGs. Ein ganz zentraler Text für uns war Bruder Eichmann von Heinar Kipphardt. Also die Frage: Was verbindet uns mit Adolf Eichmann, dem Mann, der die Verfolgung, Vertreibung und Deportation von Millionen Juden organisierte. Die Tiefenpsychologie war ungemein wichtig für den Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg. 20 Millionen Zuschauer verfolgten 1969 im Fernsehen die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der mit seiner Frau Margarete zwei Jahre zuvor eines der einflussreichsten Bücher der deutschen Nachkriegsgeschichte geschrieben hatte: Die Unfähigkeit zu trauern. Im Osten hingegen, so formulierte es der DDR-Regisseur Achim Freyer erst kürzlich, war die Seele das Kitschwort aus dem Westen.

[...]

Dr. Peter Neumann: Sie meinen, dass das aus den USA nach Westdeutschland zurückgekehrte psychoanalytische Denken die Gesellschaft wieder zu sich selbst zurückbrachte?

Andreas Petersen: Ohne Freud und die Tiefenpsychologie wäre diese Öffnung nicht zu denken gewesen. Und dann gab es mit den Achtundsechzigern eine Generation, die wirklich wissen wollte, was mit ihren Eltern im Faschismus war. Diese junge Generation hatte Lektüreangebote, man konnte sich belesen und informieren. Ich erinnere nur an das Buch des Psychoanalytikers Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, 1941 im amerikanischen Exil veröffentlicht. Fromm untersuchte, wie der Individualismus der Moderne auf unbewusste Weise zur Flucht ins Autoritäre, Destruktive und Konformistische geführt hatte.

Dr. Peter Neumann: Sie schreiben in Ihrem Buch aber auch, dass die therapeutische Nabelschau im Westen bald zu einer Art Mode wurde. Bewegungen wie das hinduistische Hare Krishna, der Zen-Buddhismus, Taoismus, Tai-Chi-Chuan und Tantra wurden populär. Plötzlich ging es nicht mehr um Faschismus und Aufarbeitung, sondern nur noch um persönliches Glück und Selbstoptimierung. Hat die Durchpsychologisierung der Gesellschaft auch zu einer Vereinzelung ihrer Individuen geführt?

Andreas Petersen: Heute ist vielfach das Argument zu hören: Für mich stimmt's, nach meinem Empfinden verhalten sich die Dinge so und so. Und das war's. Ich halte das in der Tat für eine völlige Fehlentwicklung. Wenn alle das eigene Befinden zum Maßstab erheben, ist das für eine Gesellschaft fatal, weil sie damit auseinanderfällt. Dann fragt sich: Was verbindet Gesellschaften überhaupt? Verbundenheit entsteht über gemeinsame Werte. Lange Zeit hat die Religion noch die Funktion übernommen, eine verlässliche Basis für viele zu schaffen. Aber dieser Wertekonsens ist heute aufgebrochen, was einerseits natürlich gut ist, weil es mit einer Pluralisierung der Lebensstile einhergeht. Gleichzeitig haben wir eben das Problem, dass wir im Zuge der Individualisierung nicht mehr genau wissen, was eine Gesellschaft noch zusammenhält. Und da hat diese Durchpsychologisierung eben zwei Seiten: Auf der einen Seite hat sie eine große Öffnung bewirkt, für die man dankbar sein kann. Auf der anderen Seite hat sie zu einer starken Singularisierung geführt, in der man vor allem auf sich selber fokussiert ist und nicht mehr auf die Gesellschaft als Ganzes.

Dr. Peter Neumann: Die Psychoanalyse fehlte im Osten nahezu vollständig. Freud galt als westlich, bourgeois, dekadent. So etwas wie das Unbewusste, Triebhafte durfte es im Sozialismus nicht geben. Man unterrichtete vielmehr den russischen Verhaltensforscher Iwan Pawlow, dessen Lehre von der klassischen Konditionierung besser ins Bild des neuen Sowjetmenschen passte. Wusste die DDR, wer sie war?

Andreas Petersen: Nicht nur die DDR, sondern alle osteuropäischen Gesellschaften wussten nicht, wer sie waren. Wenn bestimmte Sachen gesellschaftlich nicht verhandelt werden können, wenn sie nicht in der Zeitung, nicht im Feuilleton, nicht in der öffentlichen Diskussion vorkommen, höchstens im privaten Kreis, in Kirchen oder Kliniknischen auftauchen, dann gibt es darüber auch keine Verständigung in der Gesellschaft. Es bleibt eine Lücke in der Kommunikation. Man darf sich die Kerngruppe der Achtundsechziger gar nicht so groß vorstellen. Das sind 2.000 Leute, und dann gibt es noch einen Sympathisantenkreis mit ein paar Tausend Unterstützern. Mehr sind es nicht. Aber im hinterletzten bayerischen Dorf erzählen die Leute zwanzig Jahre später, dass sie Achtundsechziger gewesen sind. Die haben das medial mitbekommen, haben sich identifiziert, haben an dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung teilgenommen. Im Osten brauchte es schon sehr viel Energie, um solche Gespräche praktisch von Mensch zu Mensch, von Görlitz nach Leipzig zu transportieren.

Dr. Peter Neumann: Für die DDR war klar, woher das Unheil kam. Man lagerte das Problem einfach aus und zeigte mit dem Finger über die Mauer: Die Faschisten sitzen drüben im kapitalistischen Westen. Man selbst war das "bessere Deutschland". So blieb auch in den Familien die Aufarbeitung meist aus.

Andreas Petersen: Die Achtundsechziger haben letztlich ihre Vergangenheit nicht am Familientisch verhandelt. Sie haben nicht ihre Eltern befragt, das war zu heiß. Sie haben es gesellschaftlich verhandelt, das ist das Besondere. Es wäre zum Beispiel sehr einfach gewesen, über die Wehrmachtauskunftstelle an Informationen zu kommen: Man konnte einen Antrag stellen und wusste zwei Monate später alles über den eigenen Onkel oder Vater: Wo haben die gedient, welche Einheit, sind sie verwundet gewesen? Anders gesagt: Wenn man wissen wollte, was die Männer damals im Krieg gemacht haben, dann gab es dafür öffentliche Stellen. Diese Stellen gab es in der DDR nicht, aber vor allem gab es keine gesamtgesellschaftliche Fragestellung. Dass die Aufarbeitung auch im Westen nicht lückenlos verlief, sehen wir heute im Umgang mit dem Ukraine-Krieg, den "Bloodlands", jenem Gebiet zwischen Zentralpolen und Westrussland, wo die Wehrmacht damals ihre Verbrechen verübt hat, neue Verbrechen geschehen, aber die notwendige Unterstützung ausbleibt.

Dr. Peter Neumann: Wie meinen Sie das?

Andreas Petersen: Es gibt Sätze, die inzwischen zu Plattitüden geworden sind: Man sagt "Nie wieder", und man fragt sich, was heißt das, jetzt, hier, konkret in dieser Situation. Wenn man dieses "Nie wieder" ernst nehmen würde, müsste man jetzt Waffen an die Ukraine liefern. Es gab die Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion, und einer der Hauptschauplätze war die Ukraine. Und wenn wir einen ehrlichen Umgang suchen, dann müssen wir auch eine Diskussion über die deutsche Schuld in der Ukraine führen.

Dr. Peter Neumann: Warum hat sich der Gefühlsstau nach 1989 im Osten nicht einfach entladen?

Andreas Petersen: Schon die Beschäftigung mit der NS-Diktatur im Westen war ja unheimlich schwierig. Und im Osten kam bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte nun noch die zweite Diktatur hinzu. Das wäre dann wirklich sehr viel gewesen. Das Ausbleiben einer nachholenden Bewegung nach 1989 hat aber auch mit der Entwicklung der Tiefenpsychologie selbst zu tun. Es sind nicht mehr die Siebziger-, Achtzigerjahre mit ihrem utopischen Aufbruchsgedanken. Es ist jetzt die integrierte Verhaltenstherapie, die Menschen im Burn-out auffängt. Die Fragen "Wer bin ich?", "Wer sind meine Eltern?", "Woher komme ich?", "Was bedeutet das für mein Leben?" rücken in den Hintergrund. Auch in den Therapien geht es jetzt vor allem um Effizienz und Selbstoptimierung. Es gibt heute nur noch zwei psychoanalytische Lehrstühle in Deutschland, alles andere ist Verhaltenstherapie.

Dr. Peter Neumann: Einerseits ist die deutsche Schuld heute so präsent wie lange nicht mehr. Nicht nur in der Ukraine, auch im Nahen Osten, wenn es um die deutsche Staatsräson und die Frage geht, wie viel deutsche Kritik an Israel zulässig ist. Andererseits gibt es gerade aus dem Globalen Süden Stimmen, die von dieser deutschen Schuld nichts wissen möchten. Die sie sogar verantwortlich machen für gegenwärtiges Unrecht in Gaza. Propalästinensische Aktivisten skandieren "Free Palestine from German Guilt" ("Befreit Palästina von deutscher Schuld"). Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?

Andreas Petersen: Zur Aufarbeitungsdiskussion gehört das Wissen darum, was war. Es geht am Ende um die Fakten. Das gilt auch für den Vernichtungskrieg der Deutschen. Wo waren diese Wehrmachtssoldaten eigentlich? Ich habe neulich eine Veranstaltung mit dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel gemacht, der sagte: Gehen Sie in Berlin in die Gedächtniskirche am Breitscheidplatz, im Keller gibt es im Rahmen einer Ausstellung eine Landkarte für deutsche Soldaten in Stalingrad, darauf alles Städte, die heute wieder Kampfgebiet sind: Sumy, Kramatorsk, Charkiw, Orte, an denen auch Schlögels Vater war. Diese Art von harter Erkenntnis meine ich, wenn ich von Aufarbeitung spreche. Meine Hoffnung ist, dass wir eine gemeinsame Basis finden. Die Interpretationen können dann immer noch unterschiedlich sein, aber wir sollten mindestens davon ausgehen können, dass wir über dieselben Fakten sprechen.


Aus: ""Nimmt man 'Nie wieder!' ernst, müsste man der Ukraine Waffen liefern"" (1. April 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2024-03/andreas-petersen-osten-freud-psychologie-ukraine (https://www.zeit.de/kultur/2024-03/andreas-petersen-osten-freud-psychologie-ukraine)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 02, 2024, 03:49:14 PM
Quote[...] ,,Es ist doch ganz klar: Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben." Diese Sätze stehen in den Erinnerungen von Wolfgang Leonhard. Walter Ulbricht soll sie am 1. Mai 1945 in Berlin gesagt haben, kurz nachdem ein sowjetisches Flugzeug ihn und seine Gefährten aus Moskau nach Deutschland zurückgebracht hatte. Manch einer mag noch gehofft haben, nach der zwölfjährigen Schreckenszeit könnten sich in Deutschland neue Wege in den Sozialismus eröffnen, die sich von der sowjetischen Diktatur unterschieden. Die ,,Moskauer" aber schufen Tatsachen. Sie setzten ihren autoritären, stalinistischen Stil gegen alle Widerstände durch. Und am Ende kam es so, wie Ulbricht es vorausgesagt hatte. Andreas Petersen spricht vom ,,Stalintrauma" als dem Gründungsakt der DDR. Ulbricht und seine Genossen, die in den dreißiger Jahren in die Sowjetunion emigrierten, seien durch Terror, Furcht und Schrecken sozialisiert worden, und diese Erfahrungen seien für die Einrichtung der Macht in der DDR entscheidend gewesen.

Natürlich weiß auch Petersen, dass die KPD eine autoritäre und hierarchisch strukturierte Partei war, noch bevor ihre leitenden Funktionäre nach 1933 in die Sowjetunion flüchteten. Ihre eigentliche Feuertaufe aber hätten Ulbricht, Pieck und andere erst im Heimatland der Revolution erhalten. Abgeschnitten und isoliert, waren die deutschen Kommunisten ihren Gastgebern ausgeliefert. Kaum einer sprach Russisch oder verstand, worauf es die Hetzjagd auf vermeintliche Saboteure und Spione abgesehen hatte. Nacht für Nacht wurden im Hotel ,,Lux", in dem die deutschen Funktionäre wohnten, Menschen aus ihren Zimmern geholt und in die Lubjanka gebracht. Sie wurden erschossen oder in Zwangsarbeitslager verschleppt, ohne dass die Angehörigen je erfuhren, was man ihnen zur Last legte.

Aber welche Wahl hatten Emigranten schon, die nirgendwo hingehen konnten? In wenigen Wochen lernten sie, worauf es im Überlebenskampf ankam. Schon bald kam ihnen die Lüge automatisch von den Lippen, Verstellung und Misstrauen wurden ihnen zur zweiten Natur. Wer die Schule der Paranoia absolviert hatte, war bereit, alles für möglich zu halten. Danach, so Petersen, habe kein Kommunist es mehr gewagt, Widerworte zu geben. Selbst die absurdesten Verschwörungstheorien habe man nun für glaubhaft halten müssen. Nach dem ersten Moskauer Schauprozess gegen prominente Bolschewiki lieferte die Kaderabteilung der KPD dem NKWD Informationen über Verräter und Spione in den eigenen Reihen. In der deutschen Parteipresse erschienen hysterische Aufrufe: Der ,,menschliche Abschaum" müsse ausgerottet und ,,alle noch vorhandenen Überreste des Gesindels unschädlich" gemacht werden. Der Gulag und die Lubjanka waren Orte irdischer Verdammnis, eine moderne Variante der Disziplinierung durch Furcht. Seht her, wohin ihr kommen werdet, wenn ihr nicht gehorcht! Alle deutschen Kommunisten, die das Jahr 1937 überlebt hatten, verinnerlichten diese eine Lehre: Liebe den Gehorsam und die Lüge, denn sie retten dir das Leben. Die Partei und ihre Generallinie wurden zum Über-Ich, zur einzigen Erklärungsressource, aus dem sich noch Sinn schöpfen ließ. Hugo Eberlein, der gefoltert worden und ohne Verhandlung zu 15 Jahren Haft verurteilt worden war, schrieb in einem Brief an Wilhelm Pieck, dass die ,,Partei Lenins" diese ,,schreckliche Ungerechtigkeit" nicht zulassen werde. Er konnte und wollte sich Stalin nicht als Urheber all dieser Verbrechen vorstellen. Eberlein wurde 1941 erschossen, Pieck verlor kein Wort mehr über ihn.

Die seelischen Wirkungen waren verheerend. Es gab irgendwann kein Gemeinschaftsleben mehr, Gespräche verstummten. ,,Die deutsche Emigration hier ist völlig atomisiert", schrieb der Kommunist Franz Schwarzmüller an Stalin. ,,Jeder lebt für sich in seinen vier Wänden, aus Furcht vor Verhaftungen in seinem Bekanntenkreis oder sonstwo ebenfalls hineingezogen oder zumindest diskreditiert zu werden." Die Emigrantengemeinde richtete sich in einer Atmosphäre des Misstrauens und der Sprachlosigkeit ein. Aber in ihr entstand auch der stalinistische Funktionär, der Meinungen aufgab und Freunde opferte, wenn es von ihm verlangt wurde. Man pries die Mörder der eigenen Kinder und besang den Diktator, der für die Mordexzesse verantwortlich war. Walter Ulbricht war ein Mann von geringem Verstand. Aber er war ein höriger Vasall Stalins. In Moskau lernte er, wie man Konkurrenten ausschaltete und welche Mittel im Überlebenskampf von Nutzen waren. Petersen schreibt: ,,Diese Lektion nahm Ulbricht vollständig in sich auf. Seine Härte, sein Dogmatismus und seine Gefühlskälte verfestigten sich in den Moskauer Jahren zu jenem Funktionärstypus, den Stalin zur Terrorherrschaft brauchte."

Als der Krieg zu Ende ging, gab es für Stalin überhaupt keinen Zweifel, dass die ,,Moskauer" den neuen Staat auf deutschem Boden errichten sollten. Kommunisten, die im Untergrund, im westlichen Ausland oder in den Lagern der Nationalsozialisten gewesen waren, konnte Stalin nicht gebrauchen. Ulbricht und seine Genossen hingegen waren bereit, jeden Befehl auszuführen. Was die Moskauer selbst erlitten hatten, gaben sie nun an die Deutschen weiter, die sich ihrer Herrschaft beugen mussten. Zehntausende verschwanden in den Lagern der sowjetischen Besatzungsmacht, wurden erschossen oder in die Sowjetunion deportiert. Auch in der DDR wurde die Sprache des Terrors gesprochen. Man solle ,,Schädlinge" ausrotten und ,,Schumacher-Agenten" entlarven, so lauteten die Parolen, die in der Partei neuen Typs aufgesagt werden mussten. Auch in der DDR wurden Schauprozesse nach sowjetischem Muster vorbereitet, Spanien-Kämpfer, Juden und Westemigranten als Spione und Agenten des amerikanischen Imperialismus diskreditiert. Im Stahlbad des Terrors verwandelte sich die SED in eine stalinistische Kaderpartei. Petersen spricht vom ,,Purgatorium", das den stalinistischen Funktionär hervorbrachte.

Für all jene, die das Jahr 1937 in der Sowjetunion erlebt hatten, sei die Wiederkehr der Gewalt aber auch ein Akt der Retraumatisierung gewesen. Niemand konnte und wollte über die erlittene Gewalt sprechen, was geschehen war, musste verschwiegen oder umgeschrieben werden. Die Partei war der einzige Lebensraum, der den Davongekommenen geblieben war. Nie verließ sie die Angst, aber im Angesicht der Wahrheit, die man über diese Erfahrungen hätte aussprechen können, wäre das System zusammengebrochen. Hätte man sich nach all den Entbehrungen eingestehen sollen, einer falschen Sache gedient zu haben? Wer hätte über die Ohnmacht und die Demütigungen, die einem zugefügt worden waren, überhaupt sprechen können? Das Weltvertrauen war zerstört und mit ihm die Möglichkeit, anderen zu vertrauen. Am Ende siegte das Gefühl der Dankbarkeit über das Bedürfnis, das Unausgesprochene zur Sprache zu bringen. Man war noch einmal davongekommen, und man hatte diese Gnade nur dem Großmut der Partei zu verdanken. Immerhin konnte man anderen antun, was einem selbst angetan worden war. Und nach allem, was die ,,Moskauer" erlebt und erlitten hatten, konnten sie die Gewalt als reinigendes Gewitter rechtfertigen, als Purgatorium, das Sünder in Erlöste verwandelte. Andreas Petersen hat ein wichtiges, notwendiges Buch geschrieben. Es ist dem Leben auf der Spur, das sich hinter den Erzählungen vom Leben verbirgt. Über die DDR und ihre Gründungsväter wird man nach der Lektüre dieses klugen Buches wahrscheinlich anders sprechen müssen als bisher.

Andreas Petersen: Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/ Main 2019. 384 S.



Aus: "Die ,,Moskauer": Wenn Lügen überlebenswichtig wird" Jörg Baberowski (18.06.2019)
Quelle: https://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/rueckblick-auf-die-ddr-gruender-und-sowjetisches-exil-16230288.html (https://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/rueckblick-auf-die-ddr-gruender-und-sowjetisches-exil-16230288.html)

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Quote[...] Seelisch deformiert: Andreas Petersen analysiert die Spitzenfunktionäre der frühen DDR.

Als die DDR unterging, war Werner Eberlein Mitglied des SED-Politbüros. Ein Mann mit langer Parteikarriere, einer, der die DDR seit der Gründung mitgeprägt hatte. Während der Herrschaft von SED-Chef Walter Ulbricht war er Chefdolmetscher im Umgang mit den russischen ,,Freunden", dann fast zwei Jahrzehnte lang Leiter der Kaderabteilung im SED-Zentralkomitee — ein hundertprozentiger SED-Funktionär, dem jeder Zweifel fremd war. Was er als Jugendlicher erlebt hatte, darüber freilich sprach der 2002 gestorbene Eberlein nie. Wer seine Lebensgeschichte kennt, kann es nur als Hohn werten, dass Werner Eberlein auf dem Berliner Friedhof Friedrichsfelde begraben ist, in der von der DDR-Führung geschaffenen ,,Gräberanlage für die Opfer und Verfolgten des Naziregimes". Dort wird auch seines Vaters Hugo Eberlein gedacht.

Werner Eberlein war 15 Jahre alt, als 1938 in Moskau mitten in der Nacht sein Vater abgeholt wurde. Seit 1936 hatten Hugo Eberlein, der die Kommunistische Partei Deutschlands mitbegründet hatte, zusammen mit seiner Partnerin Charlotte Schreckenreuther und dem Sohn in einem Zimmer im Hotel Lux gelebt – so wie viele deutsche Antifaschisten, die nach Hitlers Machtergreifung in die verherrlichte Sowjetunion geflohen waren. Doch die Wirklichkeit im Arbeiterparadies war grauenvoll, nachdem der paranoide Stalin das Land mit unbeschreiblichem Terror überzogen hatte, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Hugo Eberlein, der zusammen mit dem späteren DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck und Hermann Remmele seit 1921 dem KPD-Zentralkomitee angehörte, wurde als angeblicher ,,Volksfeind" erschossen. Wenige Tage zuvor war schon Remmele wegen ,,Teilnahme an einer konterrevolutionären terroristischen Organisation" verhaftet und später erschossen worden. Eberlein, der zuvor gegenüber Pieck eine Intervention zugunsten Remmeles anmahnte, musste sich von Pieck anhören, dass ,,wir froh sein können, dass wir solche Schweinehunde wie diesen Hermann auf diese Weise endlich loswerden".

Auch Hugo Eberleins Familie wurde in Sippenhaft genommen. Sein Bruder wurde ebenfalls erschossen, die Partnerin kam in Haft, wurde später aus der Sowjetunion ausgewiesen und der Gestapo überstellt. Der 15-jährige Sohn Werner verbrachte acht Jahre in einem sibirischen Lager. Erst nach dem Krieg wurde er von Stalin zusammen mit Ulbricht als Kader nach Deutschland geschickt, um die DDR aufzubauen. Als er die frühere Partnerin seines Vaters 1949 zufällig traf, schwiegen beide. ,,Als ich sie wiedersah", berichtete Werner Eberlein nach dem Mauerfall, ,,verspürte ich kein Verlangen nach längeren Gesprächen."

Unter Stalin, so schreibt Andreas Petersen in seinem Buch ,,Die Moskauer", kamen mehr Mitglieder des KPD-Politbüros um Leben als im NS-Staat. Zwei Drittel aller deutschen Spitzenfunktionäre starben durch Hinrichtung oder im Lager. Es war im Furor des NKWD rein zufällig, wer verhaftet und in den Kellern des Geheimdienstes gefoltert wurde. Jeden konnte es treffen, mochten seine Verdienste für die kommunistische Bewegung noch so groß sein.

Selbst viele derer, die der Verschwörung oder der Spionage für Nazideutschland angeklagt wurden, fühlten sich als gute Stalinisten und glaubten bis zur Hinrichtung, sie seien nur aus Versehen verhaftet worden. Das Stalin-System bestand gerade darin, dass jeder zum Opfer werden konnte. Viele Genossen legten sich im Hotel Lux jeden Abend angezogen ins Bett, weil sie nicht wussten, ob sie in der Nacht abgeholt würden. Diese beständige Angst hatte auch Wilhelm Pieck verspürt, der sich in Moskau eilfertig von jedem distanzierte, der in seiner engsten Umgebung verhaftet wurde. Seelisch deformiert waren sie alle, auch jene Kader, die den Terror überlebten. Zahlreiche Funktionäre der ersten DDR-Führungsspitze, mochten sie auch ergebene Stalin-Anhänger sein, waren selber jahrelang im Gulag gewesen oder nur knapp der Erschießung entgangen.

Wer die Jahre des Terrors überlebt hatte, war für sein Leben traumatisiert und zugleich schuldbeladen, weil viele die eigene Existenz nur durch die grundlose Denunziation von Freunden, Familienangehörigen und langjährigen Genossen hatten retten können. Das Ergebnis des Großen Terrors, das beleuchtet Petersen in dem akribisch recherchierten Buch mit vielen Beispielen, war eine von Stalin atomisierte, total ergebene und widerspruchslose Funktionärskaste.

Genau diese Funktionäre, denen die Angst ein steter Begleiter geworden war, sollten nun nach Stalins Willen das bessere Deutschland aufbauen. Apparatschiks, die jederzeit für die Parteilinie die nächsten Freunde zu verraten bereit waren. Kein Wunder, dass jener Neuanfang, der zunächst noch von den in westliche Länder geflüchteten Intellektuellen wie Thomas Mann unterstützt wurde, bald in einem neuen Zwangsregiment endete, wo jeder Widerspruch dazu führen konnte, in dem von den sowjetischen ,,Freunden" bis 1950 fortgeführten Konzentrationslager Sachsenhausen zu landen. Die erlebte Gewalt, der Schrecken, die Selbstverleugnungen, Rechtfertigungen, Denunziationen und erzwungenen Selbstkritiken prägten sich für das restliche Leben ein. Unter den Genossen wurde nicht offen gesprochen. Die innere Vereinsamung, der Verlust jeden Vertrauens war das Ergebnis der Terrorerfahrung. Die Angst, ,,Fehler" zu machen und nicht der Parteilinie zu entsprechen, durchdrang alle Bereiche.

Für einen Funktionär wie Walter Ulbricht war der Große Terror zugleich die unter Lebensgefahr erlernte Erfahrung, wie man seine Konkurrenten ausschaltet, die eigene Stellung sichert und überlebt, so Andreas Petersen, der ein viel beachtetes Buch über das Leben des aufmüpfigen deutschen Kommunisten Erwin Jöres zwischen KZ und Gulag veröffentlicht hat (,,Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren").

Diese DDR, so die These des Autors, hatte unter solchen Startbedingungen und der verbreiteten Paranoia und Denunziation nie die Chance, ein freies Menschenbild zu entwickeln. Petersen zeichnet ein erschreckendes Psychogramm der führenden DDR-Funktionäre. Die Lüge, der Verrat und das Stalin-Trauma prägten den neuen Staat. Die ,,Moskauer" kannten keinen Widerspruch. Der Mantel des Schweigens begleitete die Existenz der DDR von ihrer Gründung bis zum Mauerfall. Jeder Funktionär wusste von der Schuld und der Verstrickung der anderen Genossen.

Jene ,,Moskauer", die überlebt hatten und nun die DDR nach Stalins Direktiven formten, taten zugleich alles, damit lästige Zeugen sie nicht an ihre eigene Verstrickung erinnern konnten. Keinerlei Hilfestellung gab es für die Bitten von Familien, den Tausenden deutschen Kommunisten, die unter entsetzlichen Bedingungen im sibirischen Gulag schuften mussten, die Rückkehr nach Deutschland – in die DDR – zu ermöglichen. So kamen die kommunistischen Lagerhäftlinge erst frei, nachdem zuvor der verhasste westdeutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer 1956 die letzten Wehrmachtssoldaten heimgeholt hatte. Wer in die DDR ging, wurde zum Schweigen verpflichtet. Wer sich – wie die Tochter des KPD-Mitgründers Hermann Remmele – nicht daran hielt, wurde weiterhin überwacht und drangsaliert.

Zumal die Angst auch in der DDR immer aktuell blieb, weil die sowjetische Geheimpolizei auch in Ost-Deutschland ein dichtes Netz aufbaute. Nach den inszenierten Tribunalen gegen angebliche US-Spione in diversen Staaten des sowjetischen Imperiums wurden auch in der DDR Schauprozesse vorbereitet. Zielobjekt waren vor allem SED-Funktionäre aus jüdischen Familien. Wohl nur der Tod Stalins 1953 verhinderte, dass es auch in der DDR zu einer paranoiden Säuberungswelle kam.

Selbstverleugnung und Verdrängung aber setzten sich bis zum Ende der DDR fort. Der 1886 geborene Altkommunist Gustav Sobottka, in der DDR Minister für Kohle, war selbst Opfer von Stalins Säuberung. Zudem starb sein in Deutschland zurückgebliebener Sohn an den Folgen der KZ-Haft. Der mit nach Moskau gekommene zweite Sohn starb in Stalins Kerkern. Trotzdem schrieb Sobottka in seinem Lebenslauf, ,,beide Söhne wurden in Nazikeller geworfen und starben an den dort erlittenen körperlichen und gesundheitlichen Schädigungen".

Zu: Andreas Petersen: Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2019. 368 S.


Aus: "Die "Moskauer" in Nachkriegsdeutschland: Niemals einen Fehler machen" Gerd Nowakowski (05.04.2019)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/niemals-einen-fehler-machen-5010088.html (https://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/niemals-einen-fehler-machen-5010088.html)
Title: [DDR (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 14, 2024, 02:15:01 PM
Quote[...] Die inneren Unruhen in Polen und Ungarn sowie die kritischen Äußerungen von Parteiintellektuellen führten zu einem neuerlichen Kurswechsel innerhalb des MfS – der Fokus lag vermehrt auf der Repression gegenüber inneren oppositionellen Kräften. Dies spiegelte sich in der ,,Doktrin der politisch-ideologischen Diversion"[17] (PID) wider, die alle Formen innerer Opposition auf den Einfluss des ,,imperialistischen Feindes" zurückführte und zugleich die wachsende Präsenz der Staatssicherheit in allen Alltagsbereichen begründete. Begünstigt wurde dies durch den Mauerbau, der ein Abwandern von Oppositionellen verhinderte. Lagen die Hauptaufgaben des MfS vor dem Mauerbau in der Bekämpfung westlicher Geheimdienste sowie der Fluchtbewegung, so sollte das MfS künftig vermehrt präventiv potentielle Unruheherde erkennen. Als erste Bewährungsprobe für den neuausgerichteten Apparat erwies sich der Prager Frühling.

Im Mai 1971 wurde Walter Ulbricht durch Erich Honecker gestürzt. Im Zuge dessen wurde der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke zunächst zum Kandidaten, fünf Jahre später auch zum stimmberechtigten Mitglied des Politbüros gewählt. Entscheidende Fragen der MfS-Tätigkeit berieten beide jedoch in wöchentlichen Vier-Augen-Gesprächen. Seit den frühen 1970er Jahren war die DDR verstärkt um eine internationale Anerkennung und deutsch-deutsche Annäherung bemüht. Dies führte auch zu Änderungen in den Methoden der Staatssicherheit. Da die DDR sowohl im Grundlagenvertrag mit der Bundesrepublik Deutschland als auch mit dem Beitritt zur UN-Charta und der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte die Absicht zur Achtung der Menschenrechte bekundet hatte, versuchte das MfS vermehrt oppositionelles Verhalten ohne Anwendung des Strafrechtes zu sanktionieren und stattdessen auf ,,weiche" und ,,leise" Formen der Repression – wie beispielsweise Zersetzungsmaßnahmen – zurückzugreifen. Hierfür war eine systematische und flächendeckende Überwachung unter Einsatz von bis zu 200.000 inoffiziellen Mitarbeitern erforderlich. Durch Strafverfolgung, Auslands- und Technologiespionage, als Stimmungsbarometer, Zensurbehörde, zur Umgehung von Handelsembargos oder zur Devisenbeschaffung durch Haftarbeit und Häftlingsfreikauf erlangte das MfS eine Schlüsselfunktion im Herrschaftssystem der DDR.

... Ehemalige Stasi-Kader betreiben noch Jahrzehnte nach der Auflösung des Geheimdienstes Geschichtsrevisionismus, verklären und schönen die SED-Diktatur und versuchen, die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und frühere Opfer zu diffamieren.

Im April 2006 erklärte Marianne Birthler, damalige Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, dass ehemalige hauptamtliche, mittlerweile in Verbänden organisierte Mitarbeiter des MfS versuchten, ,,das Ansehen der DDR im Allgemeinen, und der Stasi im Besonderen zu schönen, die Tatsachen umzulügen". Sie zögen auch daraus, dass es bei 30.000 Ermittlungsverfahren gegen MfS-Mitarbeiter nur zu etwa 20 Verurteilungen kam, den zynischen Schluss, ,,so schlimm könne es nicht gewesen sein". Es habe nur deswegen kaum Verurteilungen gegeben, weil in einem Rechtsstaat nur Taten bestraft werden dürften, die zum Zeitpunkt ihrer Verübung bereits gegen Gesetze verstießen (Rückwirkungsverbot, Nulla poena sine lege). Wenn also damals zum Tatzeitpunkt kein Verstoß gegen DDR-Gesetze vorgelegen habe, könne heute deswegen nicht verurteilt werden. Nur bei nicht als Straftaten behandelten Schwerverbrechen und Tötungsdelikten, wie beispielsweise bei der Ausführung des Schießbefehls, käme die Radbruchsche Formel zum Zuge, wonach Unrechtsgesetze von Diktaturen keine Geltung haben könnten. So sei es leider Fakt, dass es bei Unrechtshandlungen des MfS gegenüber Gefangenen oder Observierten, die zu Opfern der Zersetzungsmethoden des MfS wurden, nicht zu Verurteilungen kommen könne. ,,Daraus nun aber zu schließen, dass dies kein Unrecht sei, das ist der Gipfel des Zynismus."

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Quelle: ,,Ministerium für Staatssicherheit". In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 5. April 2024, 07:03 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Ministerium_f%C3%BCr_Staatssicherheit&oldid=243778286 (https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Ministerium_f%C3%BCr_Staatssicherheit&oldid=243778286) (Abgerufen: 14. April 2024, 09:24 UTC)

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Quote[...] Die Radbruchsche Formel ist eine erstmals 1946 formulierte These des deutschen Rechtsphilosophen Gustav Radbruch (1878–1949) ...

Befindet sich ein Richter in einer Konfliktsituation, in der er zwischen den Möglichkeiten schwankt, eine ihm ungerecht erscheinende Norm des positiven Rechts entweder anzuwenden oder sie zugunsten der materiellen Gerechtigkeit zu verwerfen (Ausnahmesituation), dann schlägt Radbruch vor, den Konflikt folgendermaßen aufzulösen:

    ,,Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges' Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen."

– Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. SJZ 1946, 105 (107).


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Radbruchsche_Formel (https://de.wikipedia.org/wiki/Radbruchsche_Formel) (22. Januar 2024)

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Quote[...] Uwe Krähnke ist Soziologe an der Medical School Berlin, wo er Professor für Qualitative Forschungsmethoden ist. 2012 bis 2015 erforschte er die Soziologie der hauptamtlichen Stasi-Mitarbeiter.
[Buch: Uwe Krähnke, Anja Zschirpe, Matthias Finster, Philipp Reimann (2017): ,,Im Dienst der Staatssicherheit: Eine soziologische Studie über die hauptamtlichen Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes", erschienen im Campus-Verlag.]

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Martin Ballaschk: Herr Krähnke, für Ihre Studie haben Sie 100 ehemalige hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter interviewt. Ist Ihnen dabei Unrechtsbewusstsein begegnet?

Uwe Krähnke: Das gab es in nur sehr wenigen Fällen, vor allem bei den Jüngeren. Erklären lässt sich das damit, dass sie ihr bisheriges Leben, ihre Identität und Biografie hätten komplett infrage stellen müssen. Zudem war das System der Stasi auf fragmentierte Aufgabenbereiche, Befehlsgehorsam, eine organisierte Verantwortungslosigkeit und Empathielosigkeit gegenüber den Opfern ausgerichtet. Dies alles erschwert eine selbstkritische individuelle Schuldzuweisung im Nachhinein.
Als Soziologe frage ich aber nicht nach Rechts- oder Unrechtsbewusstsein, sondern, wie eine Person ihre Stellung und ihr Handeln in die eigene Biografie und Identität einsortiert. Wir sprechen vom Habitus, der sich mit der Kindheit beginnend formiert und den wir als Erwachsener nicht einfach abstreifen können wie einen alten Rock.

Martin Ballaschk: Sie sagen, die Stasi hat diesen Habitus genutzt.

Uwe Krähnke: Es ist ein besonderes Spezifikum der Stasi im Gegensatz zu anderen Geheimdiensten, dass sie aus ideologisch hoch motivierten hauptamtlichen Mitarbeitern bestand, die nicht nur staatsloyal, sondern der SED total ergeben waren. Darauf wurde bereits bei der Rekrutierung geachtet.
Die Stasi-Mitarbeiter, die heute zu Recht stigmatisiert werden als ,,Täter", glaubten damals selbst, auf der Seite des Guten, des Fortschritts und der besseren Gesellschaft zu stehen – was von außen wie eine völlig verzerrte Wahrnehmung wirkt. Diese Menschen haben uns in den Interviews ihre eigene Version der Geschichte erzählt, die sie selbst erlebt haben. 

Martin Ballaschk: Die Täter hatten ein reines Gewissen?

Uwe Krähnke: Dieses Phänomen findet man ebenso bei den soziologischen und psychologischen Untersuchungen zu den Tätern des Nazi-Regimes, da gibt es Parallelen. Das hat mit inneren Glaubenssätzen und der eben skizzierten Persistenz des eigenen Identitätskonzeptes zu tun. [Link:  Meike Fessmann (20.01.2021): "Hannah Arendt als aktuelle Stichwortgeberin: Mit sich selbst ins Gericht gehen" ... "Die Besonderheit ihres [Hannah Arendts] Machtbegriffs, der Macht und Gewalt kontrastiert und Macht als etwas definiert, das immer eine Gruppe benötigt, kommt ebenso zur Sprache wie ihre spezielle Auffassung von Freiheit, die sie gleichfalls nur dann für ,,realisierbar" hält, ,,wenn andere zugegen sind". ... [Hannah Arendts] Denken [hat sich] ,,als die kritische politische Theorie des posttotalitären Augenblicks" erwiesen []." ... | Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/mit-sich-selbst-ins-gericht-gehen-4223632.html (https://www.tagesspiegel.de/kultur/mit-sich-selbst-ins-gericht-gehen-4223632.html)] Die Stasi hat Bedingungen geschaffen, dass sich die Leute in ihrem falschen Glauben gut einrichten konnten. Die ideologische Linientreue ist aufgefangen worden durch die Parteiorganisation und den Geheimdienstcharakter. MfS-Mitarbeiter waren auch in ihrem Alltag ständig ,,im Dienst". Ihre Lebensbereiche waren so gestaltet, dass sie so gut wie immer zusammen und möglichst abgeschottet vom Rest der Bevölkerung waren, auch im Wohnumfeld. Das diente dem Schutz nach außen, aber auch der Kontrolle.

Martin Ballaschk: Waren die Mitarbeiter also selbst nur Opfer der Stasi?

Uwe Krähnke: Nein, die Leute sind dort nicht passiv hineingekommen und wurden dann instrumentalisiert. Das Besondere der Stasi ist – das hat mit diesem Klassenkampfhabitus zu tun –, dass die Mitarbeiter freiwillig das gemacht haben, was von ihnen ,,gesollt" wurde. Es war ein raffiniertes System der fremdgeführten Selbstdisziplinierung, bei dem die individuellen Dispositionen der Mitarbeiter absolut zu den Organisationsstrukturen des MfS gepasst haben.

Martin Ballaschk: Wäre eine Stasi heute noch genauso möglich?

Uwe Krähnke: Ich glaube, in einer demokratisch angelegten Gesellschaft ist das Risiko geringer, dass es wieder zu solch totalitärem Denken kommt. Die Anfälligkeit für Totalitarismus bei der Stasi lässt sich festmachen an dem beschriebenen Nicht-Zulassen von privaten Lebensräumen. Und das musste auch so sein: Hätte man den Privatraum von Menschen akzeptiert, hätte man Observationen, Verfolgung und Inhaftierung überhaupt nicht zulassen können.

Martin Ballaschk: Die Stasi-Mitarbeiter haben das aber auf sich bezogen so hingenommen.

Uwe Krähnke: Sie hatten keine eigenen Ansprüche, wie das eigene Leben sein sollte und ob es da eine Nische gibt jenseits dieser staatlichen Verordnung und der Idee der sozialistischen Persönlichkeit. Dieses Lebensideal, in dem Privatheit und Selbstbestimmung eliminiert waren, war für sie normal und prägte ihren Erfahrungsraum. Diese Normalitätsvorstellung haben sie verallgemeinert und zu einem Normativitätsideal für die gesamte DDR erhoben.

Martin Ballaschk: Unter der Gesetzgebung der DDR war das legal?

Uwe Krähnke: Wie jeder Geheimdienst hat sich auch die Stasi einer vollständigen rechtsstaatlichen Überprüfung entzogen. So ganz hat das nicht geklappt, weshalb die Stasi sehr bemüht war, von Observierten und dann Festgenommenen Geständnisse zu erpressen. So wollte man eine scheinbar legitime Handhabe erlangen, um die Personen zu verurteilen. Ich glaube, es wäre verfehlt zu sagen, dass die Stasi absolut jenseits dieser DDR-Rechtsordnung agierte. Das erklärt auch, weshalb im MfS so viele Juristen beschäftigt waren.

Martin Ballaschk: Lässt sich die individuelle Schuld der Stasi-Täter trennen von dem System, in denen sie nur funktioniert haben?

Uwe Krähnke: Das ist eine nicht unkomplizierte Frage. Schuld ist eigentlich ein rechtlicher Begriff: Da geht es um Straftaten, die Gerichte entsprechend der Gesetzeslage sanktionieren. Die Schuldzuweisungen in der Öffentlichkeit sind dagegen moralische Bewertungen, und die Frage nach der individuellen Schuld wird da ein bisschen diffus.
Die Funktion solcher moralischen Schuldzuweisungen ist, dass wir selbst versuchen uns zu positionieren zu dem, was wir als illegitim oder inhuman ansehen. Ich sehe das eher als einen Verweis auf uns selbst, denn wir wollen uns eigentlich einreden können, dass die als schuldig diskreditierten Täter von damals eigentlich ganz anders waren als wir selbst.

Martin Ballaschk: Weil wir uns sicher sein wollen, dass wir uns damals richtig verhalten hätten?

Uwe Krähnke: Ja, es ist im Nachhinein leicht zu sagen, man wäre im staatssozialistischen Regime integer gewesen, hätte Widerstand geleistet. Als Soziologe halte ich das für eine Selbsttäuschung, die natürlich psychologisch gesehen eine wichtige Funktion hat. Vielleicht wären wir gar nicht die ,,guten" Menschen gewesen. Vielleicht ist es sogar so, dass ich in meinem Alltag heute dieselben Handlungsweisen praktiziere wie jene, die ich beim ,,Täter" moralisch verurteile.

Martin Ballaschk: War die Tötung von Czesław Kukuczka nicht rechtlich und moralisch ein Verbrechen?

Uwe Krähnke: Einzelheiten sind dazu öffentlich nicht genau bekannt, aber mit dem von Kukuczka angedrohten Sprengstoffanschlag hat die Stasi sicher ihre Rechtfertigung für den Mord gefunden. Es wäre schade, wenn man diesen außergewöhnlichen Einzelfall nun zum Anlass nimmt, um nur darauf hinzuweisen, was die Stasi alles Unmenschliches getan hat, statt genauer zu fragen: Was waren das für Menschen, die im Auftrag des MfS gehandelt haben? Was ist da passiert und wie gehen wir heute damit um?

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Aus: "Kaum Unrechtsbewusstsein bei Tätern von damals: Berliner Soziologe interviewte ehemalige Stasi-Mitarbeiter" Martin Ballaschk (13.04.2024)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/wissen/kaum-unrechtsbewusstsein-bei-tatern-von-damals-berliner-soziologe-interviewte-ehemalige-stasi-mitarbeiter-11484938.html (https://www.tagesspiegel.de/wissen/kaum-unrechtsbewusstsein-bei-tatern-von-damals-berliner-soziologe-interviewte-ehemalige-stasi-mitarbeiter-11484938.html)