COMMUNICATIONS LASER #17

Laser#17 - Fraktal Text Akkumulation => Global-Politix und Micro-Welt, Randnotizen und Fussnoten => Topic started by: Textaris(txt*bot) on August 26, 2012, 12:08:40 PM

Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 26, 2012, 12:08:40 PM
"Zivilisiertheit ist ein Verhalten, das die Menschen voreinander schützt und es ihnen zugleich ermöglicht, an der Gesellschaft anderer Gefallen zu finden."
- Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt am Main 1986, S. 335

"Der zivilisierte Wilde ist der schlimmste aller Wilden."
- Karl Julius Weber, Demokritos

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Quote[...] Über den Prozeß der Zivilisation (1939) ist das erste große wissenschaftliche Werk des deutschen Soziologen Norbert Elias (1897–1990) und begründete seine Zivilisationstheorie. In diesem Werk beschreibt er den langfristigen Wandel der Persönlichkeitsstrukturen in Westeuropa im Zeitraum von etwa 800 bis 1900 n. Chr., dessen Richtung er mit dem Begriff Zivilisation kennzeichnet. ... Die Veränderung des menschlichen Verhaltens, der Affekte und Empfindungen, sieht Norbert Elias als einen Teil des Prozesses der Zivilisation. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cber_den_Proze%C3%9F_der_Zivilisation (https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cber_den_Proze%C3%9F_der_Zivilisation)


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QuoteDie Entscheidung andere Menschen zu bedrohen, zu schlagen, zu bepinkeln, gar zu töten trifft jeder selbst und er zeigt damit wo er steht zivilisatorisch. ...

Quelle: http://www.spreeblick.com/blog/2015/08/25/entscheide-dich-endlich-deutschland/#comment-1668384 (http://www.spreeblick.com/blog/2015/08/25/entscheide-dich-endlich-deutschland/#comment-1668384)
Kommentar zu: http://www.spreeblick.com/blog/2015/08/25/entscheide-dich-endlich-deutschland/ (http://www.spreeblick.com/blog/2015/08/25/entscheide-dich-endlich-deutschland/)

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Als Zivilisation (von lateinisch civis ,Bürger') wird eine menschliche Gesellschaft bezeichnet, bei der die sozialen und materiellen Lebensbedingungen durch technischen und wissenschaftlichen Fortschritt ermöglicht und von Politik und Wirtschaft geschaffen werden. Allgemeingültige Kennzeichen für Zivilisationen sind die Staatenbildung, hierarchische Gesellschaftsstrukturen, ein hohes Maß an Urbanisierung und eine sehr weitgehende Spezialisierung und Arbeitsteilung. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Zivilisation (https://de.wikipedia.org/wiki/Zivilisation)


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Quote[...] Wir müssen die Illusion aufgeben, dass nur Psychopathen oder Hirngeschädigte zu einem Amoklauf oder einem Selbstmordattentat fähig sind. Irritierend ist die Distanz, die zu diesen Tätern aufgebaut wird. Sie ersetzt Verständnismöglichkeiten durch Ahnungslosigkeit und sucht Zuflucht bei einer künstlichen Naivität. "Die Psychologen haben noch keine Antwort mit einem gemeinsamen Nenner für alle diese Fälle", sagte etwa Manfred Rowold in der "Welt" nach dem Gemetzel der beiden Amok-Täter, des 18jährigen Eric Harris und des 17jährigen Dylan Klebold an der Columbine-Highschool in Littleton. "Ist es Einsamkeit? Geltungssucht? Todessehnsucht? Ein Machtwahn, gefördert durch die unterhaltsame Gewalt auf dem Bildschirm? - Wie sagte Bill Clinton: "Vielleicht werden wir es niemals wirklich verstehen." Diese Unverständlichkeits-Beteuerungen sind ein Zeichen, dass ihre Autoren sozusagen innerseelisch das Weite suchen und sich so sehr von etwas gewiss Schrecklichem distanzieren, dass sie nichts, aber schon gar nichts mit ihm zu schaffen haben. Wo bleibt die literarische Bildung?

Wo Thomas Mann, der doch das nachdenkliche Wort vom "Bruder Hitler" geprägt hat, oder Heinrich Heine, den ich hier etwas ausführlicher zitieren will, weil er die Wut jedes Gekränkten so schön formuliert hat: "Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude erleben, dass an diesen Bäumen etwas sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt - ja man muss seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt werden."  (H. Heine, Gedanken und Einfälle)

Sigmund Freud hat Heine in seiner Schrift über "Das Unbehagen in der Kultur" als einen Dichter zitiert, der es sich leisten kann, verpönte psychologische Wahrheiten auszudrücken. Dort beschreibt er auch den "Narzissmus der kleinen Differenzen", ein Modell, um zu erklären, warum der Haß gerade auf benachbarte Menschengruppen so "beliebt" ist - noch harmlos zwischen Bayern und Preußen, weniger zwischen Engländern und Iren, derzeit höchst virulent zwischen Serben und Kroaten oder Türken und Kurden. Hass auf Außenfeinde schafft Cliquen, erzeugt Zusammenhalt. In Schulen ist es der Hass auf die, welche andere Klamotten tragen, andere Musik hören, andere Phrasen dreschen.

[...] Die Motive dieser Täter sind uns nur allzu vertraut, jeder Mensch mit ein wenig Feinfühligkeit für die Schattenseiten seiner eigenen Natur kennt sie. Was die Täter auszeichnet, ist ein Mangel an Gegenkräften, an Hindernissen, die in einer normalen Entwicklung aufgebaut werden. Ganz kleine Kinder schlagen in einer grenzenlosen Kränkungswut ohne jede Rücksicht um sich. Schrittweise lernen fast alle Menschen, diese Impulse zu zügeln, sie wissen um ihre Gefahren, fürchten sich vor Strafen, können sich auch in die Opfer und in ihre Schmerzen einfühlen und erwerben das schlichte Prinzip, dass man niemandem etwas antun sollte, das man selbst nicht erleiden mag. Aber diese Schritte zum zivilisierten Verhalten sind immer von Rückfällen bedroht.

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Bruchstücke aus: "Wut, Terror und destruktiver Narzissmus" Wolfgang Schmidbauer (6.11.2003)
Quelle: http://www.evstadtakademie.de/downloads/Wut_Terror_destruktiver_Narzissmus.pdf

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Quote[...] Und so wie die arabische oder die muslimisch geprägte Welt nicht einfach so tun können, als hätte sie mit Massenmördern wie Usama bin Ladin oder Saddam Hussein rein gar nichts zu tun,  so kann auch der Westen seine kolonialen Verbrechen, seine Menschenverachtung, seine Hitlers und Stalins nicht aus der eigenen Geschichte herausdefinieren.

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Aus einer Studie von Jochen Hippler: "Krieg, Repression, Terrorismus - Politische Gewalt und Zivilisation in westlichen und muslimischen Gesellschaften", 2006 [185 Seiten])
Quelle: http://www.ifa.de/pdf/dokument/gewaltstudie_de.pdf (http://www.ifa.de/pdf/dokument/gewaltstudie_de.pdf)

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Quote[...] Darf man, oder unser Militär, dürfen unsere Geheimdienste im Grenzfall – gesetzt, es gehe um die Abwehr einer (inter)nationalen Bedrohung – foltern? Wie brutal, wie gewalttätig darf der Staat seinem potentiellen Feind gegenübertreten? Und wie sehr darf er sein eigenes Auftreten verharmlosen? Diese Fragen beschäftigen mich mit Nachdruck, seitdem Bush in der zweiten Märzwoche sein Veto gegen ein vom US-Kongress bereits verabschiedetes Gesetz zur Abschaffung umstrittener Verhörmethoden (Stichwort Waterboarding) eingelegt hat.

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Aus: "Dünn ist die Decke der Zivilisation" Von willyam.j (12.05.2008)
Quelle: http://community.zeit.de/user/willyamj/beitrag/2008/05/12/duenn-ist-die-decke-der-zivilisation (http://community.zeit.de/user/willyamj/beitrag/2008/05/12/duenn-ist-die-decke-der-zivilisation)

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Quote[...] Der Begriff Zivilisation ist von dem im Deutschen seit dem 17. Jahrhundert belegten Adj. zivil (bürgerlich, von lat. civis, ,,Bürger") abgeleitet. Er bezeichnet die durch Fortschritt von Wissenschaft und Technik ermöglichten und von Politik und Wirtschaft geschaffenen Lebensbedingungen. Im 18. Jahrhundert benutzte man im Französischen die Idee der Zivilisation als Gegensatz zum Begriff ,,Barbarei". So konnten nichteuropäische Gesellschaften als unzivilisiert charakterisiert werden. In den romanischen und angelsächsischen Sprachen werden die Begriffe ,,Kultur" und ,,Zivilisation" anders als im Deutschen gebraucht. Die Geschichtswissenschaft versteht unter Kulturen großräumige und langlebige Gebilde, die eine große Prägekraft entwickeln, obwohl sie häufig eine Vielzahl von Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen aufweisen.

... Norbert Elias hat (zuerst 1939 in Über den Prozess der Zivilisation) den Begriff ,,Zivilisation" im Sinne von ,,Zivilisierung" verwendet. In diesem Hauptwerk beschreibt er ,,Zivilisierung" als einen langfristigen Wandel der Persönlichkeitsstrukturen, den er auf einen Wandel der Sozialstrukturen zurückführt. Faktoren des sozialen Wandels sind der kontinuierliche technische Fortschritt und die Differenzierung der Gesellschaften einerseits sowie der ständige Konkurrenz- und Ausscheidungskampf zwischen Menschen und Menschengruppen andererseits. Diese führen zu einer Zentralisierung der Gesellschaften (Einrichtung staatlicher Gewalt- und Steuermonopole) sowie zur Geldwirtschaft. Das Bindeglied zwischen diesen sozialstrukturellen Veränderungen und den Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur ist die Tatsache, dass die gegenseitigen Abhängigkeiten wachsen, die ,,Interaktionsketten", in die Menschen eingebunden sind. Dies erzwingt eine zunehmende Affektkontrolle, d. h. zwischen spontanem emotionalem Impuls und tatsächlicher Handlung tritt immer mehr ein Zurückhalten dieses Impulses und ein Überdenken der (Rück-)Wirkungen des eigenen Handelns. Diese Haltung wird durch Verstärkung des ,,Über-Ich" verinnerlicht und verfestigt, d. h. der Zentralisierung innerhalb der Gesellschaft folgt mit gewisser Verzögerung eine ,,Zentralisierung" innerhalb der Persönlichkeit. Dies bewirkt ein Sinken der Gewaltbereitschaft, ein Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwellen sowie eine Psychologisierung (Steigerung der Fähigkeit, die Vorgänge innerhalb anderer Menschen zu verstehen) und Rationalisierung (Steigerung der ,,Langsicht", d. h. der Fähigkeit, die Folgen der eigenen Handlungen über immer mehr Glieder der Kausalketten ,,vorauszuberechnen").

Elias zeigt dies mit umfangreichem empirischem Material besonders am Beispiel der französischen Geschichte, in der diese langfristigen Trends besonders frühzeitig zu beobachten waren. Seit dem Mittelalter kam es zur ,,Verhofung" bzw. ,,Verhöflichung" des alten Burg- und Landadels an den Höfen der ihre Macht konzentrierenden Monarchen. Dies folgte im Wesentlichen der Entstehung der stehenden Söldnerheere und ihrer Finanzierung durch ein sich modernisierendes monetäres zentrales Steuerwesen (anstelle von Naturalabgaben). Die neue Heeresverfassung machte die unzuverlässigen feudalen Heere des Adels überflüssig, da sie dank der Steuern auch bezahlt werden konnte, die wiederum der Adel nicht erheben konnte und relativ zur Zentralmonarchie verarmte. Der König (am gewandtesten Ludwig XIV.) eröffnete dann den Adeligen am Hofe neue Karrierechancen, wo sie statt auf Faustrecht auf Courtoisie und höfisches Intrigieren umgeschult wurden, also auf psychologischen Scharfblick, und aus Raufbolden mit Schwertern Hofleute mit Galanteriedegen wurden. Das Ganze war ein von niemandem geplanter strukturierter Prozess sozialen Wandels (eine Figuration), in dem sich raubritterliche Brutalität zusehends als unpraktisch erwies (Duellverbote) und die Manieren sich verfeinerten. Diese Sitten wurden dann zumal auch vom Bürgertum kopiert (vgl. Gabriel Tarde) und veränderten die Gesellschaft insgesamt, zivilisierten sie.


Aus: "Zivilisation" (9. August 2012)
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Zivilisation (http://de.wikipedia.org/wiki/Zivilisation)

Title: [Oder ob der Konflikt unversöhnlich ist... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 26, 2012, 12:24:29 PM
"Barbarei und Zivilisation - Vorgericht und Nachspeise der Kultur." - Emil Gött, Im Selbstgespräch

"Zivilisation lässt sich definieren als eine Gewohnheit, dem einzelnen gewisse Gelegenheiten zu barbarischen Betragen vorzuenthalten." - Aldous Huxley, Die Teufel von Loudun

" ... Unsere Vorfahren führten viele Kriege. Die eigenen Interessen mit Gewalt durchzusetzen, war lange Zeit die natürlichste Sache der Welt. Es dauerte mehr als viertausend Jahre, um die Idee zu entwickeln, einen Streit ausnahmsweise mal friedlich lösen zu können. Aber im Jahr 1259 v. Chr. wurde der erste Friedensvertrag abgeschlossen.  ..."
Quelle: http://de.wikibooks.org/wiki/Wikijunior_Alte_Zivilisationen (http://de.wikibooks.org/wiki/Wikijunior_Alte_Zivilisationen) (12. Dezember 2011)

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Quote[...] Das Unbehagen in der Kultur ist der Titel einer 1930 erschienenen Schrift von Sigmund Freud. Die Arbeit ist, neben Massenpsychologie und Ich-Analyse von 1921, Freuds umfassendste gesellschaftstheoretische Abhandlung; sie gehört zu den einflussreichsten kulturkritischen Schriften des 20. Jahrhunderts. Thema ist der Gegensatz zwischen der Kultur und den Triebregungen.


... Einige behaupten, die Kultur sei selbst eine Quelle des Unglücks, und wir wären glücklicher, wenn wir die Kultur aufgeben würden. Eine Ursache für diese Kulturfeindschaft ist die Entdeckung, dass die Triebversagung, wie sie von der Kultur auferlegt wird, vom Menschen nicht ertragen wird und zur Neurose führt, wodurch das bisschen Glück, zu dem der Kulturmensch fähig ist, untergraben wird. Eine andere Ursache ist die Erfahrung, dass die Fortschritte der Wissenschaften und der Technik uns nicht glücklicher gemacht haben.

... Merkmale der Kultur sind:

    * Wissenschaft und Technik - der Mensch ist eine Art ,,Prothesengott" geworden (222),
    * Schönheit, Sauberkeit und Ordnung,
    * Leistungen, die aus höheren psychischen Tätigkeiten hervorgehen: Wissenschaft, Kunst, Religion, Philosophie,  Ausbildung von Idealen,
    * Die Regelung der sozialen Beziehungen, insbesondere durch das Recht, damit die Ersetzung der Macht der Einzelnen durch die der Gemeinschaft.

... Ein guter Teil des Ringens der Menschheit geht darum, ,,einen zweckmäßigen, d.h. beglückenden Ausgleich zwischen diesen individuellen und den kulturellen Massenansprüchen zu finden, es ist eines ihrer Schicksalsprobleme, ob dieser Ausgleich durch eine bestimmte Gestaltung der Kultur erreichbar oder ob der Konflikt unversöhnlich ist." (226)

...


Aus: "Das Unbehagen in der Kultur" (23. Juni 2012)
Das Unbehagen in der Kultur
Herausgeber: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie.
Autor(en): Wikipedia-Autoren, siehe Versionsgeschichte
Datum der letzten Bearbeitung: 23. Juni 2012, 09:46 UTC
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Datum des Abrufs: 26. August 2012, 10:18 UTC
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Unbehagen_in_der_Kultur (http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Unbehagen_in_der_Kultur)

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Sigmund Freud
Das Unbehagen in der Kultur (1930)
http://www.textlog.de/sigmund-freud-unbehagen-kultur.html (http://www.textlog.de/sigmund-freud-unbehagen-kultur.html)

Title: [Der richtige, freilich auch schmerzlichere Weg... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 26, 2012, 12:46:21 PM
QuoteJörg Lau Datum 24.08.2012, Breivik-Urteil Wir werden mit Dir fertig!

... Wie die norwegische Gesellschaft angesichts des Grauens kühlen Kopf und liberale Werte bewahrt, zeigt an diesem Freitag die Urteilsverkündung im Osloer Gerichtssaal 250.

Richterin Wenche Arntzen nimmt in bestimmter, manchmal gar harscher Weise das erste psychiatrische Gutachten auseinander, in dem Breivik als nicht schuldfähig qualifiziert wurde. Breivik ist schuldfähig, führt Antzen aus.

... Deutschland hat allen Grund, diesen Prozess genau zu betrachten: Wir haben es nicht geschafft, die politischen Serienmörder des NSU vor Gericht zu stellen. In der Auseinandersetzung mit ihrem politischen Wahnsystem hätten sich uns ähnliche Fragen gestellt wie den Norwegern durch Anders Breivik. Was hätten wir mit Böhnhardt und Mundlos gemacht, die keine Manifeste geschrieben haben, deren Handeln aber nicht weniger "irre" ist als das des Norwegers? ...

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-08/Breivik-Urteil-Kommentar (http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-08/Breivik-Urteil-Kommentar)




Quote
    limdaepl
    24.08.2012 um 20:07 Uhr

Wir?!

Der Umgang der norwegischen Gesellschaft, Politik und Justiz mit diesem schwierigen Fall ist in der Tat ein "Sieg der Zivilisation und der modernen Gesellschaft über den Hass". Wir sollten uns aber davor hüten uns selbstgefällig mit ins Boot setzen zu wollen! Die Reaktionen auf deutscher Seite waren zum größten Teil weit davon entfernt was ich ruhigen Gewissens als "zivilisiert und modern" beschreiben würde.

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-08/Breivik-Urteil-Kommentar?commentstart=1#cid-2271681

Quote
    Lastenträger
    24.08.2012 um 22:44 Uhr

... Leider haben Sie Recht.

Breivik hat Norwegen zusammenrücken lassen, um Frieden und nicht Hass walten zu lassen. Es wurde nichts überhöht, nichts heruntergespielt, nichts verschleppt und was niemand wollte war: die Sache aussitzen. Was gewollt war, war ein fairer Prozess, für die Öffentlichkeit erkennbar auch so, dass sie ihren Anteil daran nehmen konnte, den sie auch nehmen wollte und musste.

Wie es in Deutschland mit dem NSU aussieht...nun, wir wissen es alle. Lernen können "wir" von Norwegen.

So tun aber, als säßen "wir" auf der selben Stufe von Aufarbeitung, Empfindsamkeit und öffentlicher Betroffenheit wäre allerdings Anmaßung. Davon sind wir ein trauriges Stück weit entfernt.

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-08/Breivik-Urteil-Kommentar/seite-2?commentstart=33#cid-2271918



Quote
    vvmetro
    24.08.2012 um 20:21 Uhr

Rechtstaat

Es ist bemerkenswert, wie abgeklärt angesichts eines so unfassbaren Verbrechens das Gerichtsverfahren verlaufen ist. Keine Bühne für perverse Ansprachen dieses Verbrechers und keine Bühne für Rache. Dies zeichnet einen Rechtstaat aus.

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-08/Breivik-Urteil-Kommentar?commentstart=1#cid-2271711


Quote
    vonDü
    24.08.2012 um 20:24 Uhr

Ich sehe es wie das Gericht

Würden wir alle Menschen, die mit wilden Verschwörungstheorien im Kopf herum laufen, für verrückt und damit schuldunfähig erklären, dann würde der Kreis der legal "Irren" beträchtlich erweitert.
Hitler, Baader-Meinhof, Bin Laden, Fälle für die Psychatrie???

Ein "ver-rücktes" Weltbild alleine, reicht mir auch nicht um Schuldunfähigkeit zu begründen.

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-08/Breivik-Urteil-Kommentar/seite-2?commentstart=1#cid-2271719


Quote
    13500000000bC
    24.08.2012 um 20:45 Uhr

Und trotzdem

77 Menschen - ganz junge noch dazu - persönlich hinzurichten und selbst glauben dies kann einem Zweck dienen, welcher anderen Menschen dringend und zwingend erklärbar wäre, ist klar eine Form geistiger Ermattung, wenn nicht blanker Idiotie.

Ist oder kann B. ein normaler Mensch sein wie du und ich -
ich meine und hoffe: NEIN. Never.

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-08/Breivik-Urteil-Kommentar/seite-2?commentstart=9#cid-2271759


Quote
    Dohlenmann
    24.08.2012 um 21:33 Uhr

... Ich finde das Urteil auch richtig, zumindest was ich durch die hiesige Presse davon mitbekomme. Norwegen geht den richtigen Weg Breivik nicht als Irren abzustempeln und ihn somit irgendwie zur Seite zu schieben oder als nicht-rational zu erklären. Das ist eine höchst interessante Thematik, etwas, dass überall seinen Weg findet.

Genau das aber tut dieser Kommentar meiner Meinung nach etwas: Hier wird vom "Wahnsystem" der NSU gesprochen oder subtil, vielleicht nicht einmal beabsichtigt, der Tempelritter Breivik mit Häme bedacht. Aber eben das haben die Osloer Richter ja nicht gemacht, und genau das sollte auch ein solcher Kommentar nicht tun, der ja durchaus mit Emotionen arbeitet. Es ist eben nicht der richtige Weg, auch nicht subtil und gerade nach der Bestätigung wie richtig, modern und zivilisiert gehandelt wurde, es dann doch zu tun: Irgendwie zu meinen Breivik wäre ja nur ein Irrer.
Der richtige, freilich auch schmerzlichere Weg ist es solche Menschen und ihre Motive ernstzunehmen und dann darauf zu reagieren, anstatt sie einfach als Geisteskranke abzustempeln. Damit macht man es sich nämlich nicht nur zu einfach, sondern beleidigt ebenso tatsächlich kranke Menschen.

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-08/Breivik-Urteil-Kommentar/seite-2?commentstart=25#cid-2271825


Quote
    dirk.1966
    24.08.2012 um 21:37 Uhr

Adios, Tempelritter!

Ich habe großen Respekt für die Norweger und ihre überaus zivilisierte Art, Breivik den Prozess gemacht zu haben. Doch Breivik ist kein rein norwegisches Problem, sondern ein europäisches. Denn in ganz Europa gibt es junge Männer, die der paranoide "Hass auf den neuen Anderen, den Einwanderer, den Moslem" umtreibt - dazu muss man sich nur mal in den einschlägigen Internet-Foren wie PI-News umgucken. Und dass die Zahl dieser Paranoiden umgekehrt proportional zum Absinken des europäischen Wohlstandsniveaus in Folge von Finanz-, Banken- und Staatshaushaltskrisen zunehmen wird, dazu muss man nun wirklich kein Prophet sein. Norwegen ist stellvertetend für uns alle souverän mit Breivik fertig geworden – doch was ist, wenn irgendwo in Europa der nächste Breivik explodiert?

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-08/Breivik-Urteil-Kommentar/seite-2?commentstart=25#cid-2271832


Quote
    Jost.P.
    24.08.2012 um 22:28 Uhr

Ganz im Sinne des Mörders

Ein mutiges Urteil, Breivik nicht als Verrückten abzuurteilen. Zwei Aspekte sollten meiner Meinung nach nicht vergessen werden. Der Mensch wird immer wieder in den Wahn verfallen, sich an Gottes Stelle setzen zu können. Das Publikum ist entsetzt, wenn Untaten wie im Fall Breivik dabei heraus kommen. Aber seien wir ehrlich, entscheidend ist doch, was der Mensch im Herzen trägt. Von da her, sollten wir nicht all zu sehr überrascht sein. Denn Breivik ist vielleicht auch nur das Produkt einer Gesellschaft, die in Kunst, Unterhaltung und privaten Exzessen genau die Grenzüberschreitungen thematisiert, die der Mörder all zu konsequent für sich in Anspruch genommen hat.

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-08/Breivik-Urteil-Kommentar/seite-2?commentstart=33#cid-2271898

Title: [...als er seinen Kaffee in der Hand hält.]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 01, 2012, 09:26:19 AM
Hurrikan Sandy war der 18. tropische Wirbelsturm und der 10. Hurrikan der Atlantischen Hurrikansaison 2012. Der Sturm bildete sich im Karibischen Meer, zog dann nordwärts über Jamaika, Kuba und die Bahamas und gelangte schließlich in New Jersey über das Festland der Vereinigten Staaten. Auf seiner Zugbahn richtete Sandy erhebliche Schäden an. Dutzende von Personen wurden durch die Auswirkungen des Sturms getötet. Mit einem Durchmesser von fast 1800 km[1] ist das Sturmgebiet das ausgedehnteste jemals gemessene im Atlantik. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Hurrikan_Sandy (https://de.wikipedia.org/wiki/Hurrikan_Sandy)

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Quote[...] Fast eine Woche lang war abzusehen, dass "Sandy" kommen würde, doch unternommen wurde nichts. Nur um die Goldman-Sachs-Zentrale waren Sandsäcken aufgeschichtet. Vielleicht ist das auch der Grund, warum unser Apartmenthaus Strom hat: Es steht nur 80 Meter vom Hauptquartier der Investmentbank entfernt. Verschwörungstheorien machen jedenfalls schon die Runde mit der Frage, warum Goldman Sachs durchgängig auf Hochtouren lief, während wenige hundert Meter weiter an der Wall Street auch heute noch Totenstille herrscht: Selbst zur Mittagszeit, wenn der Finanzdistrikt sonst einem Ameisenhaufen gleicht, sind die Straßen leergefegt, nur das Brummen der Notstromgeneratoren und der Pumpen ist zu hören.

Die Börse ist zwar offiziell wieder geöffnet, doch Banker sind nicht zu sehen. Vielleicht sind sie auch nur in ihren Büros geblieben, weil es draußen schlicht nichts zu essen gibt: Alle Restaurants und Supermärkte sind geschlossen, nicht einmal ein Hot-Dog-Verkäufer ist zu sehen.

Am Nachmittag beginnen die ersten Supermärkte, Gemüse, Obst und Tiefkühlprodukte auf die Straße zu stellen - die Ware wird schlecht nach Tagen ohne Strom. Sofort bilden sich Menschentrauben. Denn wer Verpflegung einkaufen will, muss weite Wege gehen, bis hinauf zur Demarkationslinie: Sobald man die 40. Straße überschreitet, die Grenze zur Elektrizität, scheint es fast, als sei nichts passiert. Die Restaurants sind voll, alle haben ihre Smartphones gezückt. Im ersten Starbucks nach der Stromgrenze stehen die Menschen Schlange bis auf die Straße. "Endlich wieder Zivilisation", ruft einer erleichtert, als er seinen Kaffee in der Hand hält.



Aus: "New York nach "Sandy" Steinzeit in Manhattan" (31.10.2012)
Aus New York City berichtet Thomas Schulz
Quelle: http://www.spiegel.de/panorama/sandy-folgen-steinzeit-in-manhattan-a-864581.html (http://www.spiegel.de/panorama/sandy-folgen-steinzeit-in-manhattan-a-864581.html)

Title: [In der Praxis aber nur... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 06, 2014, 10:14:28 AM
Quote[...] Heinrich August Winklers "Geschichte des Westens" stellt nun in ihrem dritten Band die politische Weltgeschichte seit 1945 dar. ...  Und so schildert Winkler insbesondere das Vorgehen der Westmächte gegenüber der sich emanzipierenden "Dritten Welt" mit kühler Präzision, lässt kaum ein Massaker, keinen "Befriedungsfeldzug" aus. Die brutalen Polizeiaktionen der Niederländer in Indonesien beschreibt er ebenso wie die Umstände des britischen Rückzugs aus Indien mit den Hunderttausenden von Toten aufseiten der Hindus wie der Muslime oder die Kolonialverbrechen der Franzosen in Vietnam, Algerien und Schwarzafrika.

Sein Resümee: "An die Regeln der humanitären Kriegsführung und an die Europäische Menschenrechtskonvention fühlten sich die Briten genauso wenig gebunden wie die Franzosen in Algerien. Ein kolonialer Notstand galt in Großbritannien nicht anders als in Frankreich als rechtsfreier Raum. An den normativen Werten des Westens hielten London und Paris grundsätzlich fest – in der Praxis aber nur, soweit sie es mit sogenannten ›zivilisierten‹ Völkern zu tun hatten." ...


Aus: ""Geschichte des Westens" - So westlich wie nie zuvor" Ulrich Herbert (5. Oktober 2014)
Quelle: http://www.zeit.de/2014/39/geschichte-des-westens-buch-heinrich-august-winkler/seite-2 (http://www.zeit.de/2014/39/geschichte-des-westens-buch-heinrich-august-winkler/seite-2)

Title: [Die zivilisatorische Bad Bank (Unmenschlichkeit)... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 09, 2015, 03:30:51 PM
Quote[...] Diese kurzen Bemerkungen, die einen Bruch für immer bedeuten, das verräterische Aufblitzen der Unmenschlichkeit. Der erste Endsatz, an den ich mich erinnere, stammte von einem Abiturienten meines Jahrgangs, der über eine Mitschülerin ernsthaft sagte: "Die müsste man mal vergewaltigen." Fünf Worte, das Ende jeder sozialen Verbindung.

... auf den einschlägigen Facebook-Seiten wie Pegida oder anderen rechten Gruppierungen der Brandanschlag in Tröglitz kommentiert. Ein nicht enden wollendes Endsatz-Festival. "Scheiß Asylbetrüger" und "Dreckspack" sind bloß die Beleidigungen, die ungelöscht stehen bleiben. Bedauern, dass zum Zeitpunkt des Feuers noch keine Flüchtlinge im Heim waren, 120 Likes. Dieser Hass, dieser unfassbare Hass. In Dimensionen, die frühere Hasswellen klein erscheinen lassen. Wir Internet-People haben jahrelang gefordert, dass endlich alle ins Netz kommen sollen. Aber jetzt sind sie da.

... um Ostern 2015 veröffentlichte die Universität Leipzig die Studie "Mitte" [PDF: "Die stabilisierte Mitte
Rechtsextreme Einstellung in Deutschland 2014" http://research.uni-leipzig.de/kredo/Mitte_Leipzig_Internet.pdf (http://research.uni-leipzig.de/kredo/Mitte_Leipzig_Internet.pdf)] zur Ausländerfeindlichkeit und zum Antisemitismus der Deutschen. In der Zusammenfassung heißt es: "Jeder fünfte Deutsche ist noch immer ausländerfeindlich." Solche Forschungen gibt es seit Jahren, aber die fast durchweg erschütternden Ergebnisse waren zu abstrakt, um ihre Wirkung erspüren zu können. Die ist jetzt direkt digital erlebbar, wo das Fünftel bei der Drohung, dass der Brand erst der Anfang sei, in Massen Like klickt. Das Internet hält Deutschland einen Spiegel vor, das Netz zeigt schonungslos, wie dünn der Firnis Zivilisation ist. Und offenbar immer war. Es zeigt uns, dass wir jeden Tag in der Fußgängerzone Leuten begegnen, die Monstrositäten von sich geben.

... Das Internet hat eine Illusion über die Gesellschaft zerstört: Dass die Unmenschlichkeit im Verborgenen blühte, wurde bequemerweise als Abwesenheit der Unmenschlichkeit interpretiert. Der Hass, der schon lange zum Beispiel bei feministischen Themen ausgekübelt wird, muss im Nachhinein als Avantgarde der Abscheulichkeit begriffen werden: Die ersten Ausläufer der menschenfeindlichen Hasswelle, mit der ein giftiger Teil der Bevölkerung zeigt, dass er eine zivilisatorische Bad Bank ist.

... Konsequenzen ... das Zerplatzen der Illusion - "Ich dachte, wir wären weiter" - ins Produktive zu wenden und als Motivation zu betrachten. ...

QuoteDie Würde des Menschen ist unantastbar...
bi-rma 09.03.2015, 14:31 Uhr
... aber was ist das eigentlich, die Würde des Menschen? Offenbar ist vielen der Inhalt dieses Begriffes abhanden gekommen. Der Katalog der Grundrechte im Grundgesetzt gibt einen Eindruck davon, welche Konsequenzen sich damit verbinden. Aber das Grundgesetz erklärt nicht, worauf die Würde des Menschen gründet. Artikel 1, Absatz 1, Satz 1 setzt die Würde des Menschen einfach als gegeben voraus. Wem das zu abgehoben ist, der versteht nicht, dass ohne einen klaren Begriff von der Menschenwürde die "Monstrositäten" von denen Sascha Lobo schreibt, gar nicht als solche zu erkennen sind.

http://www.spiegel.de/forum/netzwelt/auslaenderfeindliche-kommentare-aufblitzen-der-unmenschlichkeit-thread-269368-33.html#postbit_27365094

QuoteIch bin nicht überrascht.
bertram260e 09.03.2015, 14:03 Uhr
Es hat schon immer genug Menschen gegeben, die sich in ihrer eigenen schmutzigen Seele so unwohl gefühlt haben, dass sie verzweifelt nach einem Schuldigen dafür suchen mussten. Gäbe es dafür keine Asylanten, dann gäbe es eben Juden oder Rothaarige oder Brillenträger oder die Fans des anderen Fußballclubs. Darüber kann eine Gesellschaft als Ganzes nicht hinwegkommen (wir sind schon weiter? wer ist wir?), das kann nur jeder Einzelne in sich selbst besiegen indem er Frieden mit sich schließt.

http://www.spiegel.de/forum/netzwelt/auslaenderfeindliche-kommentare-aufblitzen-der-unmenschlichkeit-thread-269368-31.html#postbit_27363197

...


Aus:  "Ausländerfeindliche Kommentare: Aufblitzen der Unmenschlichkeit: Eine Kolumne von Sascha Lobo" (08.04.2015)
Quelle: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/sascha-lobo-ueber-troeglitz-internetforen-hass-im-netz-a-1027514.html (http://www.spiegel.de/netzwelt/web/sascha-lobo-ueber-troeglitz-internetforen-hass-im-netz-a-1027514.html)

Title: [Missverständnis von Kultur und Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 12, 2015, 08:43:04 PM
Quote[...] Einen Tag vor Heiligabend 1943 sandte der SS-Hygieniker und SS-Sturmbannführer Karl Groß seine Vorschläge für eine effizientere Organisation des Lagerbetriebes an den Amtschef D III (Sanitätswesen des KZ-Systems) im SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt: "Um eine unnötige Belastung des Betriebes mit körperlich mangelhaftem Menschenmaterial und eine dadurch bedingte Anhäufung von Arbeitsunfähigen zu vermeiden, wäre eine entsprechend strenge Auswahl der Häftlinge [...] unbedingt zu empfehlen." Weiter heißt es, es sei "schon jetzt an die Errichtung eines Ausweichlagers für arbeitsunfähige Häftlinge zu denken, da deren Anzahl ständig steigen wird". Nicht zuletzt sei der Bau eines Krematoriums zu beschleunigen: "Hierbei ist sofort an ausreichenden Verbrennungsraum zu denken."

Das Inferno von 1944 und 1945, als das Mordgeschehen in den Lagern seinen letzten Höhepunkt erreichte, war also keine Folge überstürzten Handelns. ...

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    anarc
    vor 12 Stunden 4 Minuten

... Die Deutschen haben nicht "zugeschaut" und "geschwiegen". Sie haben den Massenmord in einer Gemeinschaftsarbeit durchgezogen. ... Und das hat Kontinuität. Widerstandskämpfer und Saboteure wurden noch lange nach dem Krieg als Verräter angesehen. ... Auch heute wieder macht sich der Rassismus aus der "Mitte" der Gesellschaft heraus breit. ...


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    Activman
    gestern 21:08 Uhr

Es ist mir noch immer unbegreiflich, wie ein hochkultiviertes Volk einer Bande von politischen Kriminellen nicht nur folgte, sondern auch bejubelte und ihnen bedingungslos gehorchte - bis zum bitteren Ende. Mir kann niemand erzählen, dass das deutsche Volk nicht wusste, was ungefähr mit den Juden geschah. Der Abtransport der jüdischen Mitbürger fand am Tag statt, jeder konnte es sehen, ebenso wie das gewaltsame Abholen aus den Wohnungen, oft unter dramatischen Umständen.
Man wusste, aber man sah weg und schwieg.

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    Mannelig
    gestern 21:22 Uhr

Das hochkultivierte Volk

Das hochkultivierte Volk hatte genug Mitläufer, Profiteure, Sadisten, Schreibtischtäter und (andere) Kriminelle zu bieten. Ohne diese hätte die "Bande von politischen Kriminellen" ziemlich alt ausgesehen. In jeder Nachbarschaft wohnt auch heute jemand, der andere quält und tötet, wenn man ihm nur den ideologischen Rahmen schafft und die Macht gibt. Das verführte Volk? Wohl kaum.

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Quote
    Mavel
    gestern 23:21 Uhr

Schauen Sie sich mal die anderen "Hochkulturen" und deren (Kolonial-) Geschichte genauer an, einfach z.B. mal nach Niederlande, Kriegsverbrechen und Indonesien googeln. Man sollte meinen, dass die Holländer nach den traumtischen Erfahrungen des zweiten Weltkriegs Verständnis für die von ihnen kolonisierten Völker gehabt hätten. Stattdessen schlugen sie von 1945 bis 1949 die indonesische Befreiungsbewegung mit ca. 200.000 toten Indonesiern brutal nieder. Hochkultur schützt eben nicht vor Unmenschlichkeit.

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    _madonnenfötus_
    gestern 23:55 Uhr

Die Vergangenheit betrauern, während durch unsere Politik täglich tausende Menschen sterben (Mittelmeer, Waffenlieferungen, Handschlag mit Diktatoren für Rohstoffe, etc.)

Wir haben ja von nichts gewusst!
Heuchelei pur!
Wir alle sind genau so mitschuldig, wie das damalige Volk.
Wir schauen weg, wo man hinsehen müsste.
Vorallem die Medien tun zu wenig.


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    HH1960

Die Berichte zu den Jahrestagen der KZ-Befreiungen sind wichtig. Obwohl man gut unterrichtet ist, überkommt einem immer wieder das Grausen, wenn man diese Berichte liest.  ... Einige Vorkommentare beschreiben Verwunderung, warum ein "Kulturvolk" ( Anmerkung: jedes Volk hat seine Kultur) so handeln konnte. Nun, ich glaube das liegt nicht am Volk, sondern am Menschen. Kein Land ist davor gefeit ähnlich in die Irre geleitet zu werden und Andersgläubige, Angehörige anderer Völker und anderer politischer Meinung als minderwertig zu betrachten. Die Geschichte ist voll von unglaublichen Verbrechen aus den o.g. Gründen. Wobei die NS-Herrschaft aufgrund ihrer geradezu industriell angelegten Vernichtungsmaschine heraussticht.

Und wenn die Gesellschaft nicht immer hochgradig sensibilisiert ist, kann so etwas immer wieder vorkommen. Überall! Die NS-Herrschaft ist nicht über Nacht entstanden, sondern war am Anfang auch nur eine kleine Bewegung von wenigen Tausend. Insofern ist es richtig, auch bei kleinsten derartigen Tendenzen sofort zu reagieren. Auch wenn es manchmal aufgeregt wirkt.


Quote
    Perkunis

Die Zahl der dt. Täter inklusive Schreibtischtäter wird auf 500.000 geschätzt. Das ist viel, aber im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wenig. Diese 500.000 sind nicht durch die Gegend gerannt und haben jedem erzählt, was sie treiben. Für SS-Angehörige stand darauf zudem die Todesstrafe.

Die Masse der Bevölkerung kann zu Beginn des Holocaust also nicht gewußt haben, was abläuft. Das geschah erst im Laufe der Jahre durch Berichte unbeteiligter Zeugen und Hörensagen.

Was die 0,8% angeht, haben Sie Recht - ich hatte die Volkszählungen von 1933 und 1939 vermengt. Von diesen 0,8 (genauer 0,77) sind allerdings bis Kriegsbeginn schon etwa die Hälfte ins Ausland geflohen.


Quote
    Arlequin

Wann hat denn der Holocaust begonnen und was konnte der Einzelne wissen?

Konnte man nicht 1934 sehen, daß Kommunisten und Sozialdemokraten nach Dachau verschwanden? Kannte man nicht diese Schilder mit der Aufschrift: 'Kauft nicht bei Juden'? Wurde nicht 1935 das 'Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre' erlassen? Kam es nicht drei Jahre später zu der sogenannten 'Reichskristallnacht'?

Man muß schon reichlich blöd und führerhörig gewesen sein, um 1936 ncht 1 + 1 zusammenzuzählen können.


QuoteArnold Fritz

Es ist mir noch immer unbegreiflich, wie ein hochkultiviertes Volk einer Bande von politischen Kriminellen nicht nur folgte, sondern auch bejubelte und ihnen bedingungslos gehorcht ...

Hochkultivierte Schlächter und Mörder

In Ihrem Kommentar zeigt sich ein offenbar schwer ausrottbares Missverständnis von Kultur und Zivilisation.

Vollkommen zu unrecht gehen Sie davon aus, dass Kultur im Allgemeinen und unsere westliche, von Aufklärung und Humanismus geprägte Kultur im Besonderen etwas wäre, das mit Barbarei nicht vereinbar wäre.
Das Gegenteil ist der Fall.

Um es mit Walter Benjamin zu sagen: ,,Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein."
Es würde uns allen gut zu Gesicht stehen, diese Wahrheit in Demut anzuerkennen, statt unsere eigenen barbarischen Anteile auf "kulturlose" Fremdkörper zu projizieren.


QuoteAnna Kowalska

Es ist mir noch immer unbegreiflich, wie ein hochkultiviertes Volk einer Bande von politischen Kriminellen nicht nur folgte, sondern auch bejubelte und ihnen bedingungslos gehorchte - bis zum bitteren Ende. Mir kann niemand erzählen, dass das deutsche Volk nicht wusste, was ungefähr mit den Juden geschah. Der Abtransport der jüdischen Mitbürger fand am Tag statt, jeder konnte es sehen, ebenso wie das gewaltsame Abholen aus den Wohnungen, oft unter dramatischen Umständen. Man wusste, aber man sah weg und schwieg.

Hochkultiviert?
Das Volk war nicht hochkultiviert, sondern barbarisch. In den besetzten Ländern hat es nicht nur gemordet, sondern auch massenhaft Kulturgüter von unschätzbarem Wert vernichtet.



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Aus: "Konzentrationslager: Morden bis zum Ende" Stefan Hördler (ZEIT Geschichte Nr. 01/2015)
Quelle: http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/01/konzentrationslager-morde-ss-1944 (http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/01/konzentrationslager-morde-ss-1944)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 13, 2015, 05:02:11 PM
Quote[...] Noch weiß niemand, wer die geplante Asylbewerberunterkunft angezündet und damit das Interesse Deutschlands an diesem kleinen Ort neu belebt hat. Es ist auch überhaupt nicht klar, wie viele Flüchtlinge nun wirklich kommen und wann. Doch die Einwohner beschäftigt ohnehin am meisten das, was der zurückgetretene Bürgermeister Nierth kürzlich sagte: Dass nämlich Tröglitz nun "in einer Reihe mit Mölln und Hoyerswerda" stünde.

...  Der Fall Tröglitz hat viele aufgerüttelt, aber vielleicht hat er auch neue Missverständnisse gebracht. Zum Beispiel die Vorstellung, es reiche der gute Wille der Bevölkerung, um die Flüchtlingswelle zu bewältigen. Den braucht es tatsächlich. Aber es gibt noch immer auch Behördenversagen, administrative Fehlkonstruktionen, falsche Gesetze und unaufmerksame Medien.

Angelegenheiten, die viel ermüdender sind als die Erzählung vom schaurigen Nazikaff hinter den sieben Bergen. Ermüdender auch und weniger attraktiv als eine Heldengeschichte, wie die von Andy Haugk, dem Bürgermeister des Städtchens Hohenmölsen.

Über dessen Stadt – nicht weit von Tröglitz entfernt – wird gerade so positiv berichtet wie über Tröglitz negativ. Seit dem 1. April werden dort Flüchtlinge untergebracht. Man hat versucht, die lokalen Eliten einzubeziehen und die Bürger frühzeitig zu informieren. Übergriffe und Proteste hat es in Hohenmölsen bisher nicht gegeben.

Nun sitzt Haugk bei Stern TV und befindet sich in der absurden Rolle, zu verhindern, dass seine Stadt übertrieben positiv dargestellt wird. Der Moderator will offenkundig die Geschichte von Villariba und Villabajo: "Was unterscheidet die beiden Orte?" Und: "Was haben Sie richtig gemacht?"

Haugk sagt aber etwas anderes, etwas, das nicht nach Triumph klingt. Er sagt, dass es in Hohenmölsen genauso viele Ängste und Vorurteile gibt wie in Tröglitz. Es gebe zwischen den Orten nur einen kleinen Unterschied: "Wir hatten Glück, dass bei uns kein Idiot ein Feuer gelegt hat."

Quote
    deri punkt partei
    11. April 2015 8:54 Uhr

Villariba - Villabajo

nun, wo ist der Unterschied: Meiner Meinung nach hatte Tröglitz das Pech das es von den organisierten Rechtradikalen ausgesucht wurde um ein Exempel zu statuieren. Zeitz hatte das Glück das dieser Kelch an dem Ort vorbei ging.
Und desshalb finde ich es auch müßig hier über "den Bürger mitnehmen" usw zu reden. Das Problem wird nicht von den Bürgern gemacht, es wird von organisierten rechtsradikalen gemacht. Und da hilft auch kein "mitnehmen". Wer Ausländer haßt weil sie Ausländer sind, dem ist nichts zu erklären.


Quote
    Flüchtlingspate
    11. April 2015 10:50 Uhr

Probleme im gesamten Migrations/Integrationsmanagement von Bund, Ländern und Kommunen sind nicht wegzuleugnen, Brandstiftung als Lösungsansatz erinnert aber doch etwas an die "gute alte Zeit" ...



Aus: "Asylbewerber: Hinter Tröglitz"  Christian Bangel (11. April 2015)
Quelle: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-04/troeglitz-asylbewerber-fluechtling-rechtsextremismus (http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-04/troeglitz-asylbewerber-fluechtling-rechtsextremismus)

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Quote[...] Ramelow berichtete im Zusammenhang mit der Asyldebatte der vergangenen Wochen von drei Morddrohungen. Sie hätten ihn per Brief, Mail und über das soziale Netzwerk Facebook erreicht. "Der sprachliche Bezug zur Flüchtlingsdebatte ist eindeutig", sagte Ramelow der Nachrichtenagentur dpa.

... In den vergangenen Wochen war es mehrfach zu ähnlichen Vorfällen gekommen. Nach dem Brandanschlag auf die geplante Asylbewerberunterkunft Anfang April in Tröglitz in Sachsen-Anhalt waren der frühere Bürgermeister des Ortes, Markus Nierth, sowie Landrat Götz Ulrich (CDU) von Rechtsextremen massiv bedroht worden. Am Wochenende hatte auch die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoğuz (SPD), von gegen sie gerichteten Drohungen und Beschimpfungen berichtet. Nahezu täglich gingen "Hassmails" in ihrem Büro ein, sagte Özoğuz der Welt am Sonntag. Auch bekomme sie Briefe, in denen stehe: "Du gehörst am nächsten Baum aufgehängt."


Aus: "Ramelow will trotz Morddrohungen gelassen bleiben" (13. April 2015)
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/politik/thueringens-ministerpraesident-ramelow-will-trotz-morddrohungen-gelassen-bleiben-1.2432801 (http://www.sueddeutsche.de/politik/thueringens-ministerpraesident-ramelow-will-trotz-morddrohungen-gelassen-bleiben-1.2432801)

Title: [Sicher gibt es Grundfesten... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 27, 2015, 12:42:07 PM
Quote[...]  In den Justizvollzugsanstalten Werl, Straubing und Bruchsal (und anderswo) sitzen sogenannte "Langzeit-Gefangene" ein. .... In der Durchschnittsbevölkerung wird sie gefürchtet und verachtet. Richter wie ich haben sie wegen "schweren Raubs" oder "besonders schwerer Vergewaltigung", wegen "Totschlags in Tateinheit mit Geiselnahme" oder wegen "bandenmäßiger Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge" zu Freiheitsstrafen verurteilt, die zwar im Vergleich zu den abgehärteten Tarifen in den USA ("15 bis 50 Jahre", "25 Jahre bis lebenslänglich") und anderswo lächerlich erscheinen mögen, aber eine reale, furchtbare Gestalt gewinnen, sobald wir uns vorstellen, sie träfen uns selbst: Acht Jahre Bruchsal! Dreizehn Jahre Straubing! Fünf Jahre Werl! Keine schöne Vision.

Warum? Weil ich mit einer Pistole in eine Tankstelle gegangen bin, sagt der eine. Weil ich Pech gehabt habe, sagt ein anderer. Weil ich besoffen war und nicht nachgedacht habe, sagt der Dritte. Keiner sagt: Weil die Gesellschaft symbolisch die Geltung des Verbots der Tötung oder des Raubs vollziehen muss.

Wenn man mit Strafgefangenen spricht (oder mit Beschuldigten), findet man dort eine ganz erstaunlich hohe Bereitschaft, die "Strafe" – das Verfahren, die Verurteilung, die Vollstreckung – zu akzeptieren, als was auch immer: als Schicksal, als Pech, als Ungerechtigkeit, als eingerechnete "Kosten". Dabei überwiegt ein sehr schlichtes, am Austausch von Vor- und Nachteilen orientiertes Bild: Für diese oder jene Tat gibt es diese oder jene Strafe. Empörung, Zustimmung oder Verzweiflung bemisst sich an Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit: milde oder hart, lang oder kurz. Strafgefangene stammen mehrheitlich aus sozialen Schichten, in denen die Feinheiten der Philosophie und der kritischen Theorien nicht sehr verbreitet sind. Sie akzeptieren, was man ihnen antut, als Ausdruck einer zwingenden Macht, welche das ganze Leben bestimmt. Ganz wenige nur stellen das System der Bestrafung an sich infrage, die Mehrheit übernimmt es sogar in verzerrter Form in die Subkultur der Gefängnisse: "Kinderschänder" werden gequält, Bankräuber mit hoher Beute bewundert. ...


Aus: "Strafrecht: Wer hat die Schuld?" Thomas Fischer (26. Mai 2015)
Quelle: http://www.zeit.de/gesellschaft/2015-05/schuld-strafrecht-fischer-recht/komplettansicht (http://www.zeit.de/gesellschaft/2015-05/schuld-strafrecht-fischer-recht/komplettansicht)

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Quote[...] Sicher gibt es Grundfesten, auf die jede Gesellschaft baut: etwa das Verbot zu töten, zu betrügen oder zu rauben. Sie sind essenziell für eine funktionierende Gemeinschaft – aber sind sie auch naturgegeben? Angesichts zahlloser gewalttätiger Konflikte mag man das bezweifeln. Womöglich gibt es die moralischen Auflagen von Fairness und Friedfertigkeit ja gerade, weil wir uns "von Natur aus" selbst am nächsten sind und Interessen notfalls auch brutal durchsetzen? ...

Philosophen und Theologen galten die Regeln der Ethik jahrhundertelang als gottgegeben. Ehrfürchtig staunte etwa Immanuel Kant (1724 – 1804) über das moralische Gesetz in ihm, das so unbezweifelbar sei, dass es von einer höheren Macht stammen musste. Der zu Beginn in kindgerechtem Deutsch zitierte "kategorische Imperativ" galt ihm als oberster Grundsatz. Das Prinzip der Reziprozität, das darin zum Ausdruck kommt, halten auch heute noch viele Ethiker für universell gültig – doch das liegt wohl vor allem daran, dass es so abstrakt ist. ...

Bei so handfesten Fragen wie der, ob und welche Tiere man essen oder welche Formen der Sexualität man leben darf, herrscht heute ein historisch wohl einzigartiger ethischer Relativismus: Es ist uns quasi in Fleisch und Blut übergegangen, dass andere Menschen – zumal in fremden Ländern – oft nicht nur andere Sitten pflegen, sondern auch andere Vorstellungen davon haben, was ethisch akzeptabel ist. ...

... Menschen mit einer Schädigung in Hirnbereichen, die emotionale Bewertungen steuern, haben meist auch große Probleme, Handlungen moralisch einzuordnen. Forscher wie der Bielefelder Neuropsychologe Hans Joachim Markowitsch vermuten solche Defekte auch bei Psychopathen (siehe GuG 7-8/2009, S. 28).

Ein weiterer wichtiger Hinweis: Wissenschaftlern gelang es, moralische Urteile zu manipulieren, indem sie die Gefühle der betreffenden Probanden zuvor in bestimmte Bahnen lenkten. Wie zum Beispiel Arbeiten der Psychologin Simone Schnall von der University of Cambridge (England) ergaben, verurteilen Menschen moralische Vergehen wie Kannibalismus oder das Überfahren eines Hundes oft schärfer, wenn sie sich gleichzeitig ekeln – etwa weil ein übler Geruch in der Luft liegt. Eine ganze Reihe solcher Studienbefunde machten den Ekel zum heißesten Anwärter auf den Titel der "moralischen Emotion".

Paul Rozin von der University of Pennsylvania in Philadelphia erforscht die Macht des Angewidertseins bereits seit den 1980er Jahren. Wie er und seine Kollegen zeigen konnten, löst Unmoral regelrecht körperliche Abscheu in uns aus. So bereitet es Probanden starkes Unbehagen, wenn sie etwa die (vermeintliche) Kleidung eines Serienmörders anziehen oder Leuten mit offenbar rassistischen Ansichten die Hand geben sollen. Aus dem gleichen Grund befreit simples Händewaschen häufig von Schuldgefühlen.

Ekel, erklärt Rozin, hat nicht nur eine biologische Schutzfunktion und bewahrte schon unsere Vorfahren davor, potenziell giftige Nahrung zu sich zu nehmen. Der "nützliche Widerwille" habe sich im Lauf der Evolution auf die Regeln der Gemeinschaft übertragen. Unrecht, Betrug, Mord ekeln uns seither an – und auf Grund der gemeinsamen neuronalen Ausstattung fühle sich das für alle Menschen wohl auch ähnlich an. Doch gibt es deshalb angeborene Werte?

Für den Neurophilosophen Jesse Prinz von der New York University zeugt die enge Verbindung von Ekel und Moral im Gegenteil davon, wie stark uns Erziehung und Kultur prägen. Denn was genau dem Einzelnen widerwärtig erscheint, sei nicht weniger flexibel als das soziale Gefüge selbst. Dass sich moralische Emotionen im Gehirn niederschlagen, beweise keineswegs, dass ihr jeweiliger Gegenstand irgendwie biologisch festgelegt sei.

... Wie bereits der antike Philosoph Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) erklärte, bedeutet Moral nicht das Anwenden eines strikten Regelwerks, sondern das Gewichten verschiedener Ansprüche, die wir an unser Handeln und seine Konsequenzen stellen. Wer nach den biologischen Wurzeln der Ethik sucht, unterschätzt dabei leicht die Macht der Kultur. Dann ist es häufig nur noch ein kleiner Schritt, vermeintlich "Widernatürliches" wie Homosexualität oder Suizid kategorisch abzulehnen.

Andererseits birgt auch zu großer Relativismus Risiken für die Gemeinschaft, denn die lebt davon, dass Menschen miteinander und nicht bloß nebeneinanderher agieren. Wie viel Toleranz muss also sein? Eine Antwort darauf gilt es immer wieder auszuhandeln; auch die Neuroethik liefert keine bessere Lösung. Doch sie lehrt zumindest eins: Nicht Gut und Böse selbst sind im Gehirn angelegt, sondern unsere Fähigkeit, sie zu empfinden. Der Mensch ist zur Moral geboren – nur nicht zu einer bestimmten.

...

QuoteCocoschwanzer, 26.05.2015

Sozialverträglichkeit funktioniert im Frieden

Wenn der Krieg kommt, bricht alles zusammen und Menschen foltern und morden ihre Nachbarn. Vergewaltigen und quälen Frauen und Kinder ohne mit der Wimper zu zucken.

Quote
    BuntScheck, 26.05.2015

Der hauchdünne Firnis Zivilisation grade das zeigt uns, wie empfindlich diese Oberfläche ist und was uns erwartet, wenn wir sie preisgeben


QuoteThomasSchweden

zu..... "Der hauchdünne Firnis Zivilisation"

vielleicht ist gerade Ihre Firnis der Zivilisation schuld daran das Menschen starke destruktive Neigungen aufweisen. Aufgewachsen im kulturellen Trommelfeuer immer darauf bedacht naturgegebene Empathie und Selbstwert den Menschen zu minimieren. Um dann Neigungen an Zerstörungsfreude der Natur in die Schuhe schieben wollen



QuoteRealMagnum, 26.05.2015

Moral ist ein Kulturprodukt
Die Zeit seit der Entwicklung moralischer Vorstellungen ist gemessen am Gesamtzeitraum menschlicher Evolution nur ein Wimpernschlag.
Während der überwältigenden Mehrheit dieser Evolution war der Mensch Teil des Dschungels im Sinne von Fressen oder gefressen werden.
Unsere Gene sind egoistisch und nicht moralisch, moralische Sichtweisen müssen uns durch Sozialisation vermittelt werden.


QuoteHan_Yolo, 26.05.2015

Moral ist eindeutig ein Produkt der Kultur.

Ansonsten würde man ja rassistisch sein, wenn man über das Verständnis von Ethik und Moral in manchen Kulturkreisen den Kopf schüttelt. Auch das Verständniss von Ehre und Stolz scheint doch eindeutig abhängig von der jeweiligen Kultur zu sein.


QuoteSophie8, 26.05.2015

Politiker erklären Kriege nicht die Völker. Politiker sind Individuen die in Netzwerken mächtiger "Eliten" agieren. Kriege dienen Wirtschaftsinteressen. Der "normale Mensch" lebt in der Regel gerne friedlich miteinander.

QuoteBraveTaylor, 26.05.2015

Sehr pauschalisierend
"Der "normale Mensch" lebt in der Regel gerne friedlich miteinander."
Von der Regel abweichende Gegenbeispiele gibt es zuhauf.
Kriegserklärende Politiker hingegen, spiegeln mir ihrer Entscheidung leider auch allzu oft eine vorherrschende Meinung der von ihnen vertetenen Bevölkerung wieder. Bspw. hatte die NSDAP damals nur ein Chance weil ihre Ideologie auf fruchtbaren Boden fiel.



Quote
    UhuruMovement, 26.05.2015

Wir möchten bitte nicht vergessen, dass das Konzept eines "Naturrechts", eines "göttlichen Rechts" oder einer "universalen Moral" durch die Europäer dazu missbraucht wurde, um andere Völker zu ermorden und zu versklaven.

Nur ein Blick in die Werke von vor allem Hegel, Kant, Thomas von Acquin oder Descartes zeigt die gesamte Fäule der euro-westlichen Moraltheorie, denn alle diese Philosophen haben schlichtweg den europäischen Stand für allgemeinverbindlich erklärt und sodann begründet, dass man überall auf der Welt dahinter "zurückbleibt". Hegel ging sogar so weit Afrikanern das Menschsein gleich ganz abzusprechen, weil sie angeblich (es war natürlich eine Lüge) hinter dem euro-westlichen Standard "zurückgeblieben" seien.

Es gibt keine naturgegebene Moral, kein "götlliches" oder "natürliches" Gesetz. Es gibt nur kulturelle Vorstellungen von richtig oder falsch und eine bei jedem Menschen mehr oder weniger ausgeprägte Empathie. Und ich halte es für gerechtfertigt, wachsam zu sein, wenn gerade wieder aus dem euro-westlichen "Kulturkreis" derartiges verkündet werden soll.

Deklarationen der Menschenrechte gab es schon lange bevor die ersten Europäer afrikanischen Boden betreten haben (z.B. die Kurukan Fuga). Sogar Leopold II wusste ganz genau, dass es gewiss nicht Moral und moralische Ordnung ist, die Afrikanern fehlt (siehe Brief an belgische Missionare).

Ich empfehle in Fragen der Moralphilosophie den Blick nach vorkolonialem Afrika, dort können Europäer noch was lernen.


QuoteTobias87,

Es gibt keine einfache Antwort

Ich kenne die Antwort nicht, aber ich kenne zwei Antworten, die mit Sicherheit falsch sind: ,,Es liegt einfach an der Natur des Menschen" und ,,Es liegt einfach an der Kultur".

Wenn es an der Natur des Menschen liegt – die ja etwas sein muss, was allen Menschen über Zeit und Raum hinweg gemein ist – woher kommen dann die geografischen und historischen Unterschiede in den herrschenden Moralvorstellungen? Wie kann es sein, dass unsere Vorfahren vor ein paar 100 Jahren biologisch im Grunde identisch mit heutigen Menschen waren, aber sich die herrschende Moral im selben Zeitraum in vielen Fragen (z. B. Verhältnis zwischen Staat und Bürger, Rechte von Frauen) dramatisch gewandelt hat?

Wenn es an der Kultur liegt – die nach gängiger Vorstellung etwas ist, was allen Menschen in einem bestimmten Gebiet und einem bestimmten Zeitraum gemein ist – woher kommen dann die teils drastischen Unterschiede in den ethischen Standpunkten zwischen Menschen in Deutschland, wenn es um Integration, Asylpolitik, Sterbehilfe etc. pp. geht? Wie kann es sein, dass die westliche Kultur sowohl den demokratischen Rechtsstaat als auch den Faschismus hervorbringen konnte?

...


...


Aus: "Geht gar nicht klar!" Steve Ayan (26. Mai 2015)
Quelle: http://www.zeit.de/wissen/2015-05/moral-werte-kultur-emotionen (http://www.zeit.de/wissen/2015-05/moral-werte-kultur-emotionen)

Title: [Der Kern einer jeden Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 08, 2016, 11:12:30 AM
Jan Philipp Reemtsma (* 26. November 1952 in Bonn) ... Sohn des Unternehmers Philipp Fürchtegott Reemtsma. Er studierte Germanistik und Philosophie in Hamburg. ... Vom 25. März bis zum 26. April 1996 war er Opfer der so genannten Reemtsma-Entführung. Seine Verschleppung, Gefangenschaft und Befreiung hat er im Buch Im Keller geschildert und reflektiert. Es gelang ihm danach, den Entführer durch von ihm beauftragte Ermittler in Südamerika ausfindig zu machen und so der Strafjustiz zu übergeben. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Jan_Philipp_Reemtsma (https://de.wikipedia.org/wiki/Jan_Philipp_Reemtsma)

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Quote[...] ZEIT Wissen: Was ist so anziehend an Gewalt, dass sie immer wieder die Menschen verführt?

Reemtsma: Gewalt ist ein Machtangebot an den Menschen. Ein Angebot, das diese Gesellschaft nicht zur Verfügung hat, auch nicht haben soll. Wenn jemand kommt und Gewalt im Angebot hat, dann ist das die größte Macht, die man einem Menschen verleihen kann: seinen Mitmenschen töten und tottreten. Nicht jeder fährt darauf ab, aber genug tun es. Diese Leute – um ganz ins Extreme zu gehen – gehen zum IS. Darf ich mich bitte in die Luft sprengen? Darf ich köpfen? Diese Leute hat es immer gegeben, da dürfen wir uns auch nichts vormachen. Die sind früher in die Kolonien gegangen oder in die Fremdenlegion. Warum geht man in die Fremdenlegion? Weil man töten will. Ich finde das alles nicht rätselhaft. Es hat immer Leute gegeben, die ganz vorn an die Front rennen wollten. Im Krieg nennt man sie dann Helden.

ZEIT Wissen: Sie haben sich fast Ihr gesamtes Berufsleben mit Gewalt beschäftigt, dazu geforscht und sie selbst erlebt – was muss man als Erstes verstehen?

Reemtsma: Dass wir seit – sehr grob gesprochen – Ende des Dreißigjährigen Krieges in eine andere Zeit eingetreten sind. Zuvor war die Kultur gewaltgetränkt, sie ließ sich Gewalt als Amüsement und Volksschauspiel gefallen und kam nicht auf die Idee, etwas nur wegen seiner Brutalität anzuprangern. Unsere Moderne kennzeichnet, dass sie Gewalt als Anormalität betrachtet.

ZEIT Wissen: Wodurch hat sich das geändert?

Reemtsma: Ich habe mir dafür den Begriff eines "koevolutionären Prozesses" zurechtgelegt. Es ist ein Zusammenspiel von Verschiedenem. Zum einen funktionierten die Religionen nicht mehr als Rechtfertigung für alles Mögliche. Gleichzeitig wurde das Individuum wichtiger. Man definierte sich nicht mehr nur über Stände, Verbände oder Religion. Das Ich tritt als verletzliche Einheit in Erscheinung. In England fragte Thomas Hobbes, wie Gewalt zu begrenzen sei, und diese Idee drang in die Philosophie, die Politik, den Habitus der Menschen ein.

ZEIT Wissen: Verdrängt Zivilisation Gewalt?

Reemtsma: Gewalt findet weiterhin statt, aber unser Blick auf sie ist ein anderer. Wir brauchen jetzt Rechtfertigungsmuster. Denken Sie an die koloniale Gewalt. Die wird im Namen der Zivilisation ausgeübt, mit der Begründung, die Gewalt der Barbaren abzuschaffen. Oder Guantánamo: Das ist ganz klar ein Foltercamp, aber man darf es nicht so nennen, denn Folter, das Wort, passt nicht zur modernen Gesellschaft.

ZEIT Wissen: Versuchen wir manchmal, Gewalt abzuschaffen, indem wir sie einfach leugnen?

Reemtsma: Ja, das gibt es. Oder indem wir sie pathologisieren: Im kriminellen Milieu gibt es bizarre Vögel, aber die sind verrückt. Das muss man nicht weiter an sich heranlassen.

ZEIT Wissen: Daneben existiert auch die Zone der erlaubten Gewalt.

Reemtsma: Jede Gesellschaft unterscheidet zwischen verbotener, erlaubter und gebotener Gewalt. Ein Mörder zum Beispiel: Seine Gewalt war verboten. Dann haben sie ihn verhaftet und in Handschellen gelegt; auch das ist Gewalt. Aber die ist eben erlaubt beziehungsweise geboten. Es gibt keine schlechthin ungewalttätigen Gesellschaften. Und wir würden sie auch nicht wollen.

ZEIT Wissen: Wo verlaufen die Grenzen zwischen erlaubt und nicht erlaubt?

Reemtsma: Das unterscheidet sich von Gesellschaft zu Gesellschaft. Ich denke, das festzulegen ist der Kern einer jeden Zivilisation. ...

... ZEIT Wissen: Die Suche nach den Ursachen und Anlässen für Gewalt ist ja weit verbreitet.

Reemtsma: Davon halte ich insgesamt nicht viel, weil es eine Illusion ist, dass es dieses Warum immer gibt. Man kann das gut verfolgen in der NS-Forschung. Auf die Frage, wie der Holocaust möglich sein konnte, kommt immer mal jemand mit einer Lösung. In den fünfziger Jahren versuchte man sich einzureden, es wären alles Sadisten gewesen. Dann waren es Weltanschauungstäter. Dann Täter mit materiellen Motiven. Der NS-Forscher Götz Aly trug lange die Formulierung vor sich her: "Es waren keine fanatischen Antisemiten, sondern kühl kalkulierende Wissenschaftler." Aber das ist doch ein völlig defizitäres Menschenbild. Die Menschen können beides sein. Gewalt entsteht in komplexen Situationen, und das Warum verführt einen dazu, irgendetwas zu identifizieren und zu sagen: Das ist es. Man sucht den einen Schalter, den man umlegen kann. Und den gibt es nicht.

ZEIT Wissen: Wie kann man dann Gewalt beikommen?

Reemtsma: Indem die Gesellschaft deutlich macht, dass sie Gewalt nicht akzeptiert. Dass Gewalttäter ausgeschlossen werden.

ZEIT Wissen: Aber der Tabubruch scheint manchen Tätern auch zu gefallen. Pegida und AfD sammeln mit ihren verbalen Attacken gerade ziemlich viele Unterstützer.

Reemtsma: Trotzdem bleibt immer die Frage, ob die tatsächliche Gewalt akzeptiert wird. Als es diese ersten Gewalttaten gegen Flüchtlingsheime gab, kurz nach der Wiedervereinigung in Hoyerswerda, da war unklar, ob das ein Flächenbrand wird. Und dann gab es Lichterketten. Das war eine ganz große Demonstration: Ihr habt unsere Billigung nicht. Damit war die Gewalt eingedämmt. Sie hatte keinen Resonanzraum mehr.

ZEIT Wissen: Könnten die aktuellen Anschläge auf Flüchtlingsheime eine Sogwirkung entwickeln und zu etwas Größerem werden?

Reemtsma: Ich würde weniger von Sog sprechen als von Angebot, denn auf Sog reagiert man ja mechanisch und automatisch, aber ein Angebot muss man wahrnehmen. Ich möchte dieses Moment der Aktivität und des Entschlusses aus diesen Phänomenen nicht herausnehmen. Diese Anschläge sind nicht von der Bevölkerung geächtet worden, sondern es hat eine gewisse Zustimmung gegeben. Und das verführt den Nächsten, der sonst vielleicht diesen Schritt nicht täte. Auf einmal hat er das Gefühl, wenn ich das tue, kriege ich auch noch Applaus. In manchen Gegenden Deutschlands werden diese Angebote eher wahrgenommen, weil diese Gegenden merkwürdig sind, irgendwie auch sozial tot. Da hat man nicht das Gefühl, dass eine Kultur existiert, die Resistenz genug hat, zu sagen: Wer hier etwas anzündet, der kommt nicht mehr in die Gaststätte rein – unter anderem, weil es die Gaststätte gar nicht gibt.

ZEIT Wissen: Sie haben gesagt, Sie wunderten sich nicht über Gewaltbereitschaft und es sei ein Fehler, das Kriminelle zu pathologisieren. Jetzt sagen Sie, die Gewalttäter seien merkwürdig. Ist das nicht dasselbe?

Reemtsma: Sie nehmen mich beim Wort, das ist auch in Ordnung. Aber ich bin natürlich auch Teil dieser Affekte und sage: Die haben sie wohl nicht mehr alle!

ZEIT Wissen: Kommen wir von Menschen, die Gewalt ausüben, zu denen, die sie erleiden, die also währenddessen und danach damit umgehen müssen. Sie gehören selbst dazu.

Reemtsma: Meine Erfahrung ist die, entführt worden zu sein, einen Monat lang an der Kette gelegen zu haben und von Stunde zu Stunde nicht zu wissen, ob man das überlebt oder nicht – das ist schon, sagen wir: bemerkenswert. Ein Beispiel: Sie hatten mir gesagt, um acht Uhr morgens kriege ich ein paar Brote hingestellt und um acht Uhr abends wieder etwas. So war das auch ein paar Tage lang. Dann passierte auf einmal morgens nichts. Und ich wusste nicht, was los ist. Vielleicht sind die abgehauen, was mache ich dann? Soll ich versuchen, mit dem Plastikmesser, das ich habe, die Kette aus der Wand zu kratzen? Und dann? Komme ich dann durch die Tür durch? Werde ich verdursten oder ersticken, weil die Luftzufuhr ausbleibt? Das sind die Gedanken, die man sich macht. Und irgendwann, drei Stunden später, kommt jemand rein und stellt mir doch die Brote hin. Er hat einfach nur länger geschlafen. Und ich habe im Keller Todesangst. Diese Hilflosigkeit ist eine sehr extreme Erfahrung. Die prägt Ihr ganzes Leben. Das ist nicht mehr nur anekdotisch, so, wie ich es jetzt erzähle, sondern eine Grundunsicherheit, eingebaut ins Leben.

... ZEIT Wissen: Macht uns diese starke Idee vom Individuum auch verletzlicher gegenüber Gewalt?

Reemtsma: Das ist die andere Seite davon, ja. Wenn Sie ein frommer, ichloser Mensch sind, kommen Sie vielleicht besser klar. Améry hat mal gesagt, in den Konzentrationslagern habe es zwei Typen gegeben, die ganz gut klarkamen: die ganz frommen Christen und die Kommunisten. Für die Christen war es eine Prüfung und für die Kommunisten das Vorspiel zum letzten Gefecht. Er sagte, wir Atheisten, Agnostiker, wir hatten nichts, für uns war es einfach nur die große Sinnlosigkeit der Quälerei. Und von uns sind mehr physisch kollabiert und gestorben als von denen.

ZEIT Wissen: Weil man in dieser Situation erkennt, wie unwichtig das Ich ist?

Reemtsma: Die Vorstellung vom Ich kann nicht stabil bleiben, wenn die Wirklichkeit anzeigt, dass es darauf gar nicht ankommt.

...


Aus: "Jan Philipp Reemtsma: "Ich bin sehr für Rache, sie darf nur nicht sein"" Interview: Andreas Lebert und Katrin Zeug (7. Juni 2016)
Quelle: http://www.zeit.de/zeit-wissen/2016/03/jan-philipp-reemtsma-gewalt-menschen-grenzen-waffen-krieg/komplettansicht (http://www.zeit.de/zeit-wissen/2016/03/jan-philipp-reemtsma-gewalt-menschen-grenzen-waffen-krieg/komplettansicht)

Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 04, 2016, 10:08:56 AM
Quote[...] Sowohl Lammert als auch Merkel betonten, dass es nach 26 Jahren der Einheit heute neue Herausforderungen und Probleme in Deutschland gebe. "Wer aber in diesem Streit das Abendland gegen tatsächliche und vermeintliche Bedrohungen verteidigen will, muss seinerseits in dieser Auseinandersetzung den Mindestansprüchen der westlichen Zivilisation genügen", forderte Lammert mit Blick auf den Streit um die Flüchtlingspolitik. Dazu gehörten Respekt, Toleranz, die Freiheit der Meinung, die Wahrung der Religionsfreiheit und des Rechtsstaates. Der CDU-Politiker betonte zugleich, dass auch die Flüchtlinge die in Deutschland geltenden Regeln zu achten hätten. Das gelte "für alle, ausnahmslos". ...

QuoteMartin Günzel #41

Pöbeleien, Beschimpfungen, Nazi-Sprüche und rassistische Anmache - DAS ist das Volk? Na gute Nacht, Abendland ...


Quote
Zivilisationswächter #8.35

Aber Demokratie ohne Konflikt bekommen Sie nicht, dabei bleibe ich.

Made my day, der Satz. Denn Sie haben volkommen recht. Demokratie muß immer wieder erneuert werden. Sie muß verteidigt werden gegen ihre Feinde. Und - ganz wichtig - diese Feinde können sehr wohl auch in gewählten Staatsämtern sitzen. Das hat nichts mit "rechts" zu tun, sondern ist eine schlichte Tatsache.

Deutsche Innenminister und Geheimdienste, die permanent den Polizei- und Überwachungsstaat forcieren wollen, mit wolkigem Verweis auf Terroristen, sind nicht weniger Demokratiefeinde als Menschen, die was von "Merkeldiktatur" erzählen oder mit "Volksverrätern" rumwerfen.

Demokratie muß also auch immer neu bestimmt werden. Können wir dies und das tun und trotzdem demokratisch sein? Können wir zulassen, daß Bürgerdaten Freiwild der Wirtschaft und der Politik sind, aber umgekehrt gilt immer der Datenschutz?

Können wir demokratisch sein - glaubhaft und ernsthaft - wenn unsere offiziellen besten Freunde Folterer, Drohnenmörder oder wahabitische Ölfaschisten sind?

Demokratie muß immer wieder neu erungen werden, auf allen Ebenen, und das erfordert permanente Diskussion. Jeden Tag. Denn sonst ist sie eines Tages weg, die Demokratie. ...


...


Aus: ""Wir leben so, wie es ganze Generationen vor uns nur träumen konnten"" (3. Oktober 2016)
Quelle: http://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2016-10/dresden-pegida-proteste-attacke-politiker (http://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2016-10/dresden-pegida-proteste-attacke-politiker)

Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 06, 2016, 09:55:17 AM
Quote[...]  Der Ton ist schärfer geworden. Zum einen entfaltet das Internet enthemmende Wirkung, denn es bietet den Schutzraum der Anonymität. Zweitens ist es in der Ellbogengesellschaft opportun, den starken Mann zu markieren. Drittens schlägt schnell mal um sich, wer verunsichert ist. Die Meinungs- und Kunstfreiheit wird strapaziert in diesen Tagen. Kein Wunder also, wenn auch die Plädoyers für eben diese Freiheit schärfer ausfallen, angesichts von Morddrohungen gegen Karikaturisten, Attentaten auf Satiremagazine und Einschüchterungsversuchen eines türkischen Autokraten. Man nennt es Selbstverteidigung.

Prompt reagiert der Satiriker Martin Sonneborn auf die Entscheidung der Mainzer Staatsanwaltschaft mit beißender Satire. ,,Wenn Erdogan Eier hat, verklagt er jetzt die Staatsanwalt wegen Strafvereitelung im Amt", sagte Sonneborn dem Tagesspiegel. ,,Tut er das nicht, ist er in meinen Augen kein überzeugender Despot."

Die zeitliche Koinzidenz von Dresden-Aufruhr und eingestelltem Böhmermann-Verfahren wirft zudem ein Schlaglicht auf die komplizierte Gemengelage im öffentlichen Raum. Einerseits erweist sich die Zivilisationskruste mal wieder als brüchig, das war sie wohl schon immer. Andererseits ist die Sensibilität im öffentlichen Gebrauch der Sprache hierzulande deutlich höher als noch vor wenigen Jahrzehnten. Diskriminierung, Sexismus, Rassismus, Antisemitismus gelten längst nicht mehr als Kavaliersdelikte, political correctness versteht sich im Parlament, in den Medien, an Schulen und Hochschulen von selbst. Und in Diskussionen über Pippi Langstrumpfs Negerkönig-Papa und ,,schlimme Wörter" in Kinderbüchern verständigt die Gesellschaft sich darüber, wo die Grenze zwischen notwendigen Eingriffen in Klassiker und übertriebener Moralapostelei verläuft.

Die Zeiten ändern sich eben doch. Trump ist Trump, aber ein bundesdeutsches Parlament, in dem verbal attackiert wird wie zu Zeiten von Franz Josef Strauß (,,Hetzer!", ,,Schnauze, Iwan!") oder Herbert Wehner (,,Übelkrähe" zu Jürgen Wohlrabe, ,,Hodentöter" zu Jürgen Todenhöfer), ist in der Berliner Republik nicht mehr vorstellbar. Aller Sehnsucht nach politischem Temperament zum Trotz.

Nicht nur Böhmermann freut sich in seiner Video-Stellungnahme auf Facebook, dass die Staatsanwaltschaft sich seine komplette Sendung und sein ,,juristisches Proseminar" zum Thema Schmähkritik angeschaut hat, auch andere Satiriker begrüßen die Mainzer Entscheidung. Tagesspiegel-Karikaturist Klaus Stuttmann spricht von einer ,,selbstverständlichen Nachricht. Alles andere wäre eine Katastrophe für unseren Rechtsstaat gewesen." TV-Comedian Dieter Nuhr nennt die Einstellung wegen Belanglosigkeit ,,exakt richtig". Die Justiz habe entschieden, ,,das nennt man Rechtsstaat, und ich bin froh, in einem solchen zu leben. Er funktioniert." Florian Schroeder würdigt den Beweis dafür, ,,dass Meinungs- und Kunstfreiheit in diesem Land etwas gelten".

Was das Gespür für den richtigen Sprachgebrauch angeht, betont der SWR-,,Spätschicht"-Moderator allerdings auch, dass man sich ,,bei sensiblen Themen wie etwa dem Islam" in die Nesseln setzen könne. Es gehöre für Satiriker zum Arbeitsethos, genau hinzusehen und präzise zu formulieren. Zudem zeige die Böhmermann-Geschichte, ,,dass Satire doch ankommt, doch wunde Punkte trifft".

... Jan Böhmermann ist kein Satiriker der virtuosen, entwaffnenden Art. Seine Show hat etwas Selbstgewisses, Machohaftes, sein ,,Schmähgedicht" funktioniert nach der plumpen Methode: Ich sag' jetzt mal, was man nicht sagen darf – um dann mit Wonne ressentimentgeladene, rassistische Wörter wie ,,Ziegenficker" auszusprechen. Man muss das nicht mögen. Aber man muss die Freiheit auch für ein solch satirisches Proseminar verteidigen. Wo kommen wir hin, wenn nur noch Witze gerissen werden dürfen, die man selber für gelungen hält? ...


Aus: "Schlimme Wörter" Christiane Peitz (06.10.2016)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/kultur/was-der-fall-boehmermann-lehrt-schlimme-woerter/14647254.html (http://www.tagesspiegel.de/kultur/was-der-fall-boehmermann-lehrt-schlimme-woerter/14647254.html)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 14, 2018, 03:37:55 PM
Quote... Ich stelle mir vor, ich wohne in einem Mietshaus mit vielen Wohnungen und einem gemeinsamen Garten. An der Grenze unseres Grundstücks verläuft eine Straße, und aus irgendeinem Grund verunglücken dort täglich mehrere Fahrradfahrer schwer. Keiner von uns Mietern kann etwas dafür, dass diese Menschen dort verunglücken, keiner hat sie gebeten, hier vorbeizufahren. Vielleicht sind wir sogar ausdrücklich dagegen, dass hier überhaupt jemand langfährt. Aber wäre es vorstellbar, die Nachbarn dafür zu kritisieren, dass sie in dieser Situation den Notarzt rufen? Wäre es vorstellbar, den Notarzt zu verklagen und einzusperren, weil er den verunglückten Radfahrern hilft? Wäre es vorstellbar, oben am Fenster zu stehen und zu argumentieren: Erst wenn es da unten genügend Tote gegeben hat, werden andere lernen, dass man hier nicht langfährt? Sicher nicht in einem Haus, in dem ich noch wohnen möchte.
Doch genau das passiert gerade in Europa. Plötzlich gibt es im öffentlichen Diskurs zwei unterschiedliche Meinungen darüber, ob man Menschen in Lebensgefahr helfen soll, oder ob man sie lieber sterben lassen soll. »Je mehr man rettet, desto mehr kommen doch«, das sagt man plötzlich laut und ungeniert. Der Satz hat sich von den hasserfüllten Kommentarspalten auf Facebook in die angsterfüllte Mitte der Gesellschaft geschlichen. Er wird heute in Büros ausgesprochen, auf Gartenpartys und in Parlamenten.
Derweil steht der Kapitän des Rettungsbootes »Lifeline« in Malta vor Gericht, andere Rettungsboote werden am Auslaufen gehindert. Die AfD präsentiert stolz eigene Strafanzeigen gegen weitere Helfer, etwa von »Ärzte ohne Grenzen« oder »Save the Children«. Italiens Innenminister nennt die Retter »Vizeschlepper« und schließt die Häfen für sie. Europas Populisten applaudieren dazu, und in der CSU, immerhin eine deutsche Regierungspartei, verunglimpft man diejenigen, die es lebend übers Mittelmeer und bis nach Deutschland geschafft haben, als Touristen. Seit Anfang des Jahres sind 1400 Menschen an den Grenzen der Europäischen Union gestorben, und die reichste Staatengemeinschaft der Welt und Trägerin des Friedensnobelpreises lässt kein echtes politisches Interesse daran erkennen, das Problem gemeinsam anzugehen. Der Grund dafür: Niemand hätte dabei etwas zu gewinnen, außer den ertrinkenden Menschen.
Das ist der Anfang vom Ende der europäischen Idee. Wir können uns nicht auf Menschenrechte, Aufklärung und Humanismus berufen und gleichzeitig die Rettung Ertrinkender kriminalisieren. Der kleine Stolz, den man noch vor Kurzem empfinden konnte, ein Europäer zu sein, er ist zusammen mit Tausenden Männern, Frauen und Kindern im Mittelmeer ertrunken. Während wir alle im Fernsehen, auf Twitter und Facebook nahezu live dabei zusehen können.
Es geht nicht um unterschiedliche Auffassungen, wie man mit Migranten- und Flüchtlingsbewegungen umgehen soll. Es geht nicht darum, dass man »nicht alle aufnehmen« kann. Es geht schlicht um ein Mindestmaß an Zivilisiertheit: Wer gerade dabei ist, zu ertrinken, der ist weder Flüchtling noch Migrant, der ist weder Afrikaner noch Europäer, weder Muslim noch Christ, der ist ein Mensch, der gerade dabei ist, zu ertrinken, und man muss alles unternehmen, um ihn zu retten.
... Menschen [ ] sehenden Auges ertrinken zu lassen, als abschreckendes Beispiel für andere, das ist keine Meinung. Es ist der erste Schritt in die Barbarei. ...

Aus: "Der Untergang" Wolfgang Luef (05. Juli 2018)
Quelle: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/abschiedskolumne/der-untergang-85837 (https://sz-magazin.sueddeutsche.de/abschiedskolumne/der-untergang-85837)

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Quote[...] Schon in der frühen Schrift «We refugees» (Wir Flüchtlinge) erklärte die deutsch-jüdische Philosophin: «Flüchtlinge repräsentieren die Avantgarde ihrer Völker.» Arendt hat aus ihren Untersuchungen (und ihrer Erfahrung) des Totalitarismus den Schluss gezogen, dass die Missachtung der Grundrechte in einer ersten Phase stets nur Flüchtlinge und schutzlose Minderheiten betrifft, bevor sie sich in einer zweiten Phase generalisieren kann. Historisch betrachtet war die Flüchtlingspolitik das Laboratorium der Barbarei. Erst zielt die Aufhebung der Menschenrechte nur auf Migranten – und irgendwann auf die gesamte Bevölkerung.

Wir sollten nicht so naiv sein, zu glauben, dass die namenlosen Tragödien, die sich Tag für Tag und Nacht für Nacht auf offener See abspielen, ohne Einfluss bleiben werden auf das Leben, die Politik und die Gesellschaft in Kontinentaleuropa. Wir sollten nicht so naiv sein, zu glauben, dass diese Toten nicht die unseren sind.


Aus: "Binswanger: Avantgarde der Völker" Daniel Binswanger (30.06.2018)
Quelle: https://www.republik.ch/2018/06/30/avantgarde-der-voelker (https://www.republik.ch/2018/06/30/avantgarde-der-voelker)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 26, 2018, 04:09:15 PM
Quote... Ein Video einer Pegida-Kundgebung vom 25. Juni in Dresden sorgt derzeit für Aufsehen: Als Redner und Gründungsmitgried Siegfried Däbritz über ein Rettungsschiff der Hilfsorganisation ,,Lifeline" spricht, riefen Teilnehmer der Kundgebung lautstark ,,Absaufen! Absaufen!".

Zunächst hatte die ,,Rheinische Post" über das Video berichtet. Däbritz sagt in dem Video: ,,Ihr habt ja bestimmt gehört, was im Mittelmeer mit unserer herzallerliebsten Dresdner Schlepper-Organisation gerade passiert, oder?"

Zu diesem Zeitpunkt war die Dresdner Hilfsorganisation ,,Mission Lifeline" noch mit 234 Flüchtlingen an Bord auf dem Mittelmeer unterwegs. Über Tage wartete sie darauf, in einen europäischen Hafen einzulaufen, weil Italien und Malta zunächst ein Anlegen verweigerten. Schließlich durfte das Schiff in Malta anlegen, wurde aber von den Behörden beschlagnahmt. Der Kapitän der ,,Lifeline" wird nach der Rettungsaktion vor der libyschen Küste in Malta der Prozess gemacht.

Auf die ,,Absaufen"-Rufe der Teilnehmer reagiert Däbritz mit einem Grinsen und sagt dann: ,,Nein, nein, nicht absaufen, wir brauchen das Schiff noch, um die alle wieder zurückzufahren."

...



Aus: "Pegida-Redner spricht über Rettungsschiff "Lifeline" - Teilnehmer rufen "Absaufen!"" (16.07.2018)
Quelle: https://www.focus.de/politik/deutschland/staatsanwaltschaft-prueft-vorfall-pegida-redner-spricht-ueber-rettungsschiff-lifeline-teilnehmer-rufen-absaufen_id_9266925.html (https://www.focus.de/politik/deutschland/staatsanwaltschaft-prueft-vorfall-pegida-redner-spricht-ueber-rettungsschiff-lifeline-teilnehmer-rufen-absaufen_id_9266925.html)

Quote20.07.2018 | Zacharias Zyrte
Liebe Pegidisten und andere "Alternative"

"Absaufen, Absaufen, Absaufen!" Ja das ist freie Meinungsäußerung - auch wenn's weh tut. Mal sehen wie Eure Aufrufe bei der nächsten Elbüberschwemmung in Dresden ankommen....


...

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Bei einem Anschlag auf zwei Moscheen in Christchurch (Neuseeland) sind am 15. März 2019 mindestens 49 Menschen getötet und weitere 40 Menschen verletzt worden. Die Tat ist nach Zahl der Todesopfer das schwerste Verbrechen in der Geschichte Neuseelands.  ... (16.03.2019)
https://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_auf_zwei_Moscheen_in_Christchurch (https://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_auf_zwei_Moscheen_in_Christchurch)

Quote[...] Die Muslime von Christchurch sind ermordet worden, weil ein Nazi, ein Hasser nicht damit leben konnte, dass zu einer zivilisierten, zu einer westlichen Werten verpflichteten Demokratie natürlich auch das Recht gehört, seine Religion in Frieden leben zu dürfen. ...


Aus: "Zu den Geschehnissen in Christchurch" In Politik | Autorengruppe (Am 15. März 2019)
Quelle: https://www.ruhrbarone.de/zu-den-geschehnissen-in-christchurch/163433 (https://www.ruhrbarone.de/zu-den-geschehnissen-in-christchurch/163433)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 12, 2018, 11:13:02 AM
"USA: Bundesstaat Washington schafft Todesstrafe wegen Rassismus ab" (12. Oktober 2018)
Der Oberste Gerichtshof des US-Bundesstaates hat die Todesstrafe für verfassungswidrig erklärt. Sie werde oft willkürlich und aufgrund rassistischer Vorurteile verhängt.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-10/usa-washington-todesstrafe-urteil-verfassung (https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-10/usa-washington-todesstrafe-urteil-verfassung)

QuoteGuenther100 #18

Herzlichen Glückwunsch. Es gibt viele Gründe, die gegen die Todesstrafe sprechen, der heir ausschlaggebende ist einer davon.



Quotewachsmueller #4

... An der Haltung zur Todesstrafe zeigt sich meiner Meinung nach der moralische Fortschritt einer Gesellschaft. ...


QuoteAllesKeinProblem #16.1

"Diese Entscheidung ändert nichts an Rassismus und sozialer Schieflage."

Dürfte den Betroffenen erst mal egal sein. :-)


QuoteMickyMesser #21

Für Serienmörder ist die Todesstrafe richtig. Nicht aus Rache sondern um die Gesellschaft (auch im Gefängnis) zu schützen .


Quotebabasikander #21.1

Wenn die Serienmörderin aber doch die Zwillingsschwester war, wie sich nach der Vollstreckung des Urteil heraus stellte? ...


QuoteEmma Stoned #21.3

Schwachsinn. Die Todesstrafe ist nie richtig.


Quote
J-J-Rousseau #22

Man ist erleichtert, dass diese barbarische Strafe wenigsten in diesem Staat der USA abgeschafft wird. Der unangenehme Beigeschmack dieser Entscheidung: diese US-Verfassungsrichter würden die Todesstrafe belassen, wenn es keine rassistische Auswahl beim staatlich organisierten Abschlachten gäbe. Was für ein Land! Aber wir hier in Europa folgen dem mit übergroßen Schritten nach. Der allgemeine Rechtsruck in Europe hat vielerorts auch die Wiedereinführung der Todesstrafe auf der Agenda. Die ultrarechte Le Pen in Frankreich z.B. löst mit diesem blutrünstigen Vorschlag begeisterten Beifall aus. ...


QuoteEmma Stoned #22.4

"Mein Mitleid mit Mördern, Kinderschändern, Vergewaltigern und gewalttätigen Tätern hält sich in überschaubaren Grenzen."

Zufällig verhält es sich mit meinem Respekt vor Befürwortern der Todesstrafe ganz genau so.



Quotewhite raven #28

Eines der stichhaltigsten Argumente gegen die Todesstrafe, die ich kenne: sie ist zu mild.

Was ist schon das sekundenschnelle Versetzen in einen tiefen, traumlosen ewigen Schlaf im Vergleich zu lebenslanger Haft in einem amerikanischen Knast - einem der unbehaglichsten Aufenthaltsorte, den das Land der Tapferen und Freien zu bieten hat - und das mit der 100%igen Gewissheit, bis zum allerletzen Atemzug dort bleiben zu müssen?



QuoteBusters Onkel #24

Sehr begrüßenswert. Insbesondere in Zeiten wie diesen. Spannend ist im Hinblick auf die USA ja auch, dass ebenjene, die gegen die Abtreibung "ungeborenen Lebens" sind, gleichzeitig sich das Recht vorbehalten, eben jenes Leben vorfristig zu beenden.
Und das auch noch (wie man oft genug im Rechtssystem der USA feststellen durfte) aufgrund hanebüchener Anklagen und Scheinprozessen.

Lebenslange Haft hat den Vorteil, dass etwaige Ermittlungsfehler irgendwann noch ausgebadet werden können und eine lebendige Rehabilitierung stattfinden kann. Bei der Todesstrafe macht sich der Rechtsstrafe auf ewig eines Mordes schuldig.

Abgesehen davon sollte der Rechtsstaat nicht die selben Methoden anwenden, wie beispielsweise rechtmäßig verurteilte Mörder, denn der Rechtsstaat sollte diesen moralisch überlegen sein.


...
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 17, 2018, 10:57:12 AM
Quote[...] Montreal - In Ländern, in denen die körperliche Bestrafung von Kindern verboten ist, prügeln auch die Jugendlichen weniger. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie mit Daten aus 88 Ländern, die im ,,British Medical Journal Open" veröffentlicht ist. Die Forscher um Frank Elgar von der McGill University in Montreal (Kanada) hatten Studien zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ausgewertet, in denen auch nach der Häufigkeit von Prügeleien gefragt worden war.

Einer Untersuchung des Kinderhilfswerks Unicef zufolge hatten etwa 17 Prozent der Jugendlichen weltweit körperliche Bestrafung innerhalb des Vormonats erfahren, entweder in der Schule oder zu Hause. Inzwischen gibt es jedoch mehrere Untersuchungen, die die negativen Folgen der Prügelstrafe belegten, schreiben die Wissenschaftler um Elgar. Auswirkungen seien beispielsweise aggressives und antisoziales Verhalten, psychische Probleme, geistige Defizite, geringes Selbstwertgefühl und körperliche Misshandlungen.

Elgar und seine Mitarbeiter nutzten für ihre Untersuchung nun Daten von zwei großen internationalen Studien aus den vergangenen Jahren und ergänzten diese um einige landesweite Erhebungen. Angaben zu den gesetzlichen Regelungen in den 88 untersuchten Ländern liefert eine globale Initiative zur Beendigung der körperlichen Bestrafung von Kindern. Als gewalttätig stuften die Wissenschaftler diejenigen Jugendlichen ein, die angaben, in den vergangenen zwölf Monaten an vier oder mehr körperlichen Auseinandersetzungen beteiligt gewesen zu sein.

Im Durchschnitt aller Länder waren 9,92 Prozent der männlichen und 2,81 Prozent der weiblichen Jugendlichen regelmäßig in Prügeleien verwickelt. Allerdings gibt es sehr große Unterschiede zwischen den Ländern: von 0,86 Prozent der Mädchen in Costa Rica bis 34,78 Prozent der Jungen in Samoa. Nimmt man solche Gewalt aus Ländern ohne Verbot der Prügelstrafe als 100 Prozent, dann lag der Anteil der gewalttätigen männlichen Jugendlichen in Ländern mit Verbot bei 69 Prozent. Bei weiblichen Jugendlichen sind es sogar nur 42 Prozent.

Andere Faktoren, wie Waffengesetze, Mordrate, Elternerziehungsprogramme oder Wohlstand wurden als mögliche Ursachen für die Unterschiede untersucht. Sie hatten jedoch wenig bis gar keinen Einfluss auf die Anzahl der prügelnden Jugendlichen, teilweise zur Überraschung der Wissenschaftler: ,,Wir gingen davon aus, dass wir in wohlhabenderen Ländern weniger Prügeleien finden würden", schreiben sie, ,,aber in Kambodscha, Myanmar und Malawi fanden wir die geringste Häufigkeit von Prügeleien bei männlichen Personen und an beiden Enden des Spektrums eine Mischung aus einkommensschwachen und einkommensstarken Ländern."

Mit Ausnahme von Ghana und Sambia sind männliche Jugendliche stets häufiger in Prügeleien involviert als weibliche, zeigte die Analyse weiter. Teilweise sei der Unterschied erheblich. Weshalb das so ist, ist unbekannt, schreiben die Forscher. ,,Es könnte sein, dass männliche Personen, im Vergleich zu weiblichen, außerhalb der Schule mehr körperlicher Gewalt ausgesetzt sind oder durch körperliche Bestrafung von Lehrern anders betroffen sind." Dies müsse jedoch noch untersucht werden.

Die Forscher betonen auch, dass die Studie nur eine statistische Beziehung zwischen Verbot der Prügelstrafe und Prügeleien unter Jugendlichen aufzeigt. Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sind damit noch nicht geklärt. In Deutschland ist eine körperliche Bestrafung von Heranwachsenden seit dem Jahr 2000 nicht mehr erlaubt.

Von dpa/RND


Aus: "In Ländern ohne Prügelstrafe gibt es weniger Gewalt unter Jugendlichen" (16.10.2018)
Quelle: http://www.kn-online.de/Nachrichten/Wissen/In-Laendern-ohne-Pruegelstrafe-gibt-es-weniger-Gewalt-unter-Jugendlichen (http://www.kn-online.de/Nachrichten/Wissen/In-Laendern-ohne-Pruegelstrafe-gibt-es-weniger-Gewalt-unter-Jugendlichen)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 16, 2020, 01:41:56 PM
Quote[...] Auf die vieldiskutierte Frage nach der Vergleichbarkeit unserer zwanziger Jahre mit denen des vergangenen Jahrhunderts lässt sich Wolfgang Martynkewicz gar nicht erst ein, er weiß um die prägnanten Differenzen zwischen beiden historischen Krisenlagen. Das Jahr 1920 in jenem Deutschland mit seinen fieberhaften Endzeit- und Untergangsvisionen, mit seiner zivilisatorischen Hypertonie infolge der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs, ist nicht überein zu bringen mit der heutigen Angstlust und der Beschwörung von vermeintlichen historischen Parallelkatastrophen.

War in jenem Nachkriegsjahr 1920 nicht schon alles vorhanden, was wenig später zu einem menschheitsgeschichtlichen Inferno führen sollte? ,,Die Hoffnung auf einen neuen Menschen, die Suche nach Mythen und Selbstgewissheit, die Affekte gegen die unverständliche Moderne, die Hysterie und Suggestibilität der Massen, das unbedingte Glaubenwollen und gleichzeitig die Furcht vor Täuschung und Manipulation – sogar der Führer war schon da."

Martynkewicz lässt das Gespensterhafte jener goldenen, so genuss- wie gegenwartssüchtigen Jahre in einem Furioso von Impressionen und Expressionen intellektueller Zeitgenossen Revue passieren. Alles drängt sich damals zu explodierender Gleichzeitigkeit zusammen, alles überstürzt sich in momentaner Ereignishaftigkeit. Man weiß, die alte Welt ist zur unwiederbringlichen Vergangenheit eingestürzt, aber man vermag nicht zu sagen, wie Deutschland in der sich radikal modernisierenden Zukunft aussehen könnte. Es heißt vielmehr überleben in einer seelisch traumatisierten und zutiefst überforderten Nachkriegsgesellschaft, in der Armut, Kriminalität und Fememorde, ideologische und politische Psychosen, aber auch mondäner Star-Glamour und Tanzwut, Theaterlust, Revue- und Kabarett, neben Box-Events, Rad- und Auto-Rennen nahezu orgiastische Formen annehmen.

Kein Wunder, dass die Filme über sinistre Figuren wie Dr. Mabuse und Dr. Caligari zu den erfolgreichsten Kino-Ereignissen avancieren: ,,Die Gesellschaft Anfang der zwanziger Jahre war von den heimlich-unheimlichen Herrschern fasziniert, die zerstörerische Kräfte entwickeln und Unterwerfung fordern."

Angst vor und zugleich Faszination von den heraufziehenden Gewaltkräften der Zukunft, Zurückschrecken vor den Unbegreiflichkeiten einer explodierenden wissenschaftlichen Moderne – in der Bewunderung und hasserfüllten Abwehr einer Persönlichkeit wie Albert Einstein wird zu jener Zeit beides sinnfällig. Überhaupt sehen sich Führergestalten gleichermaßen sehnsüchtig erwartet wie beargwöhnt. Sigmund Freud schreibt damals: ,,Der Führer der Masse ist noch immer der gefürchtete Urvater, die Masse will immer noch von unbeschränkter Gewalt beherrscht werden, sie ist im höchsten Grade autoritätssüchtig."

Aber was soll aus der ,,ermüdeten und mythenentleerten Welt" werden, wie Gottfried Benn die zwanziger Jahre nennt? Diese Zeit besitze etwas ,,Gespensterhaftes", sie sei verloren zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sekundiert damals Kurt Tucholsky. Soll man auf den neuen Menschen setzen, auf einen verjüngten Heros und seine unendlichen Möglichkeiten, oder befindet sich die Welt am ,,Nullpunkt des Sinns", droht nun so etwas wie eine ,,stürmische Leere" heraufzuziehen?

So verschieden wie die intellektuellen Geister, die Martynkewicz ausgiebig zitiert und kommentiert, so variantenreich kommen in jenen Jahren auch die einschlägigen Denkansätze und Problemphantasien daher. Kann man einen individuellen Reizschutz entwickeln vor den Schock-Erlebnissen der neuen Gegenwart, bzw. in abgeklärter Kälte verharren gegenüber den Gefahren einer kriegsähnlichen Arbeits- und Leistungswelt à la Ernst Jünger? Oder könnte es eine Rückkehr zum christlichen Glauben, zum Ganzheitsdenken des Orients, oder zur Beruhigung in russischer Seelenfülle geben?

Besonders an Freud und Brecht, Döblin und Kafka macht Martynkewicz gleichsam die intellektuellen Aufmerksamkeitsspitzen gegenüber dem Mentalitätsumbruch von 1920 erkennbar. Freud muss jetzt, ähnlich wie C. G. Jung, unter dem Eindruck der grässlichen Zeitverhältnisse den Aufklärungsimpetus der Psychoanalyse relativieren, weil sich die archaisch-destruktiven Triebimpulse auch des zivilisierten Menschen nicht länger übersehen lassen.

Brecht demonstriert in seinem antiromantischen ,,Baal" die ungebändigte männliche Triebnatur, den Tier-Menschen, und in späteren Stücken die ,,schamlose Großartigkeit", ja den enthumanisierenden ,,Stadt-Dschungel der Weltgeschichte" zwischen Amerika und Europa. Aber auch Döblin kann als Romancier vom ,,Zerstörungstaumel" der neuen technisch-apparativen Modernisierungsmächte nicht lassen, ihn zieht es auf dem Wege der Naturmystik zurück zu den grundlegenden Lebenstatsachen von Individuum und Gesellschaft, zu einer ,,Urwesenheit, einem einzigen Ursinn". Dass die immer abstrakter werdende Welt der Moderne aus den Fugen geraten sei und man unter dem Druck einer ,,Katastrophenerwartung" stehe, gegen den sich ein jeder zu wappnen habe, hat damals auch Franz Kafka wahrgenommen, dessen Lebens- und Liebesversuche sich von einem ,,unterirdischen Drohen", von dämonisch wirkenden Zwängen gesteuert sahen.

An die Katastrophen der dreißiger Jahre hätten die Protagonisten von 1920 (noch) nicht ge-dacht, meint Wolfgang Martynkewicz, ihr Problemhorizont sei der Untergang der Zivilisation, der clash der Kulturen gewesen. Das mag schon deshalb zutreffen, weil – nach einem Wort von Robert Musil – die Menschen eigentlich nichts gelernt hätten, obwohl sie seit Jahren ,,Weltgeschichte im grellsten Stil" machten.

Fazit: Erinnerung und Anschauung können als Medien des Geschichtsverstehens sehr wohl versagen, denn zum Trauma gehört der Symbolisierungsverlust, die Unverfügbarkeit der Ereignisse, als Angstträume und Wiederholungszwänge kehren sie im Seelenhaushalt der Individuen wieder. 1920 war der Inbegriff eines Zeitenbruchs, einer Ära der Haltlosigkeiten und der Relativitäten, sie hat ihren eigenen Taumel in die zivilisatorische Katastrophe nicht zu ahnen vermocht. Der kenntnisreich und prägnant schreibende Kulturhistoriker Martynkewicz entlässt seinen Leser mit der Frage, an welchem Geschichtspunkt des Sinns wir uns hundert Jahre danach befinden.

Das Buch: Wolfgang Martynkewicz: 1920. Am Nullpunkt des Sinns. Aufbau Verlag, Berlin 2019. 383 S.


Aus: "Sachbuch über 1920: ,,1920. Am Nullpunkt des Sinns": Gespensterhafte Zeiten" Harro Zimmermann (16.03.2020)
Quelle: https://www.fr.de/kultur/literatur/1920-nullpunkt-sinns-gespensterhafte-zeiten-13599546.html (https://www.fr.de/kultur/literatur/1920-nullpunkt-sinns-gespensterhafte-zeiten-13599546.html)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 21, 2020, 09:11:26 AM
Quote[...] Die Zahl der Hinrichtungen ist im vergangenen Jahr weltweit erneut kleiner geworden. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die darüber jährliche Berichte verfasst, verzeichnete für 2019 einen erneuten Rückgang der Exekutionen um fünf Prozent in einem Jahr. 657 Hinrichtungen statt der noch 690 ein Jahr zuvor, so der am Dienstag veröffentlichte Bericht, sei nicht nur die geringste Zahl in einem Jahrzehnt, es setze sich auch ein seit 2015 anhaltender Trend fort.

Die Organisation weist allerdings darauf hin, dass das nur die Zahl ist, die sie aus offiziellen Quellen, Berichten von Angehörigen oder anderen Zeugen und Zeitungsberichten gewinnen konnte.

Man nehme nur Fälle in die Zählung auf, für die es eine nachvollziehbare Bestätigung gebe. Insofern läge die tatsächliche Zahl sicher höher als jene 657, die der Bericht verzeichnet.

Für China, das seine Hinrichtungspraxis als Staatsgeheimnis - das tun auch Weißrussland und Vietnam - unter Verschluss hält, veröffentlicht Amnesty bereits seit zehn Jahren keine Zahl mehr. Die Organisation vermutet aber, dass jährlich Tausende Menschen in China exekutiert werden.

Amnesty zeigte sich über diesen Teil des Zahlen zufrieden. Er belege, "dass die Bewegung anhält, die grausame, inhumane und entwürdigende Höchststrafe weltweit abzuschaffen", heißt es im Bericht. Allerdings stünden einige Länder dagegen.

Im Irak zum Beispiel habe sich die Zahl der vollstreckten Todesurteile fast verdoppelt, in Saudi-Arabien sei sie um ein knappes Viertel gestiegen. Überhaupt sind Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas 2019 für 88 Prozent der bekannt gewordenen Hinrichtungen verantwortlich - China wieder ausgenommen.

In Iran sank die Zahl der Hinrichtungen leicht, was Amnesty auf eine Ergänzung des Anti-Drogen-Gesetzes zurückführt, allerdings auf einem sehr hohen Niveau: Amnesty verzeichnete im letzten Jahr mindestens 251 Menschen, an denen die Todesstrafe im Iran vollstreckt wurde, zwei weniger als im Jahr zuvor.

Vier sollen noch minderjährig gewesen sein, darunter zwei Cousins, beide bei ihrer Verhaftung 15 Jahre alt, die in einem unfairen Verfahren wegen mehrfacher Vergewaltigung verurteilt wurden und in der Haft Peitschenhiebe erleiden mussten. Amnesty spricht von Iran als dem "Top-Henker der Region".

In Saudi-Arabien verzeichnete Amnesty im vergangenen Jahr 184 vollstreckte Todesurteile, die höchste jemals festgestellte Zahl. Mehr als die Hälfte der Opfer hatte einen nichtsaudischen Pass, sechs der Hingerichteten waren Frauen.

84 Menschen wurden wegen Drogendelikten geköpft - die übliche Form der Vollstreckung -, 55 wegen Mordes und 37 wegen Vorwürfen des Terrorismus. Die Todesstrafe werde jedoch auch gezielt gegen Dissidenten aus der schiitischen Minderheit Saudi-Arabiens eingesetzt, bemerkt Amnesty.

In Europa außerhalb der EU verzeichnet der Bericht nur noch die früheren Sowjetrepubliken Russland, Weißrussland, Kasachstan und Tadschikistan als Länder, die die Todesstrafe verhängen; nur Weißrussland vollstreckt sie allerdings. Und die USA erwerben sich mit 35 Hinrichtungen im vergangenen Jahr nicht nur den traurigen Ruhm, dies als einziges Land der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) zu tun.

In den USA sitzen auch weltweit die meisten Menschen in Erwartung ihrer Hinrichtung in Todeszellen. Amnesty wirft den Vereinigten Staaten zudem vor, dass unter den Opfern auch im vergangenen Jahr wieder geistig Behinderte waren.

Aber auch dort sind Fortschritte zu verzeichnen. New Hampshire schaffte im 2019 als 21. Bundesstaat der USA die Todesstrafe komplett ab; Kaliforniens Gouverneur setzte ihre Vollstreckung aus.

Das Bekenntnis von Gouverneur Gavin Newsom hat Amnesty seinem diesjährigen Bericht sogar vorangestellt: "Es ist falsch, einen Menschen absichtlich zu töten und als Gouverneur werde ich die Hinrichtung keines einzigen erlauben", sagte Newsom am 13. März 2019 und bekannte zugleich, dass das US-Strafsystem "in jeder Hinsicht ein Fehlschlag war". Es diskriminiere Angeklagte, "die geisteskrank, schwarz oder braun waren oder sich keine teuren Anwälte leisten konnten".

Ein weiterer souveräner Staat, der die Todesstrafe abgeschafft hätte, ist 2019 nicht hinzugekommen - auch dies vermerkt der Bericht. Bisher sei sie in 106 Ländern komplett verboten, in 142 Ländern werde sie nicht angewandt.

Der Generalsekretär von Amnesty in Deutschland, Markus N. Beeko, forderte weiteren "entschlossenen Druck der internationalen Staatengemeinschaft auf diese letzten Staaten, die weiterhin an dieser grausamen unmenschlichen Praxis festhalten". Dass sie "mit den grundlegenden Menschenrechten unvereinbar" sei, werde von den weitaus meisten anerkannt. "Wir müssen die internationale Aufmerksamkeit verstärkt auf die kleine Gruppe von Staaten lenken, die Jahr für Jahr Menschen hinrichten."


Aus: "Amnesty verzeichnet weniger Hinrichtungen" Andrea Dernbach (21-04.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/exekutionen-weltweit-amnesty-verzeichnet-weniger-hinrichtungen/25757972.html (https://www.tagesspiegel.de/politik/exekutionen-weltweit-amnesty-verzeichnet-weniger-hinrichtungen/25757972.html)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 27, 2020, 10:04:55 AM
Quote[...] Der saudi-arabische König Salman hat die Todesstrafe für minderjährige Straftäter im Land abgeschafft. Die Entscheidung helfe dem Königreich, ein modernes Strafgesetz zu etablieren und verdeutliche dessen Willen zu Reformen, sagte Auwad Alauwad, der Vorsitzende der Menschenrechtskommission der saudischen Regierung. Weitere Reformen sollten kommen. Zuletzt hatte Saudi-Arabien die Strafe Auspeitschen abgeschafft. Straftäter sollen stattdessen zu Haft-, Geldstrafen oder Sozialstunden verurteilt werden.  ...


Aus: "Saudi-Arabien will keine Minderjährigen mehr hinrichten" (26. April 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/todesstrafe-saudi-arabien-minderjaehrige-hinrichtungen-koenig-salman (https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/todesstrafe-saudi-arabien-minderjaehrige-hinrichtungen-koenig-salman)

QuoteU8888 #8

Ein weiterer kleiner Schritt in die richtige Richtung!


Quoteguinnessleber #42

Das klingt wie der Ausgang aus dem Spätmittelalter in die Frühe Neuzeit. Das ist doch schon mal was.


QuoteHyperion87 #12

Kuschel-Justiz^^


Quotekomakino #30

Reichlich spät, dass Minderjährige nicht mehr hingerichtet werden dürfen. Selbst die USA hatten dieses, wenn auch nur mit einer äußerst knappen Mehrheit der Richterstimmen des Obersten Gerichtshofs, schon im März 2005 verboten.


Quotegordon2freeman #25

Wir lassen die Menschen, die uns nicht passen, im Mittelmeer ertrinken. Seit 2014 geschätzt 20 Tausend. Darunter viele Kinder, Kleinkinder, Säuglinge.
Die Flüchtlinge hat die US Politik im Nahen Osten erzeugt. Die Politik, die wir mittragen.




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Quote[...] Riad – Saudi-Arabien hat die Strafe des Auspeitschens abgeschafft. Das geht aus einem Dokument des Obersten Gerichtshofes des erzkonservativen Königreichs hervor, das AFP in Riad am Samstag einsehen konnte. So solle künftig die Einhaltung "internationaler Menschenrechtsstandards (gegen) körperliche Bestrafung" in Saudi-Arabien gewährleistet werden, heißt es in der im April getroffenen Entscheidung des Gerichtshofes.

Zuvor stand das von Menschenrechtsorganisationen heftig angeprangerte Auspeitschen als Strafe auf Tötungsdelikte, aber auch auf die Störung der "öffentlichen Ordnung" sowie auf außereheliche Beziehungen. Die Richter sollen in diesen Fällen künftig Haft- oder Geldstrafen oder die Verpflichtung zur gemeinnützigen Arbeit verhängen.

Der Schritt sei eine Maßnahme im Zuge der Reformen unter Führung des saudi-arabischen Kronprinzen Mohammed bin Salman. Der Kronprinz, der seit 2017 de facto die Politik des Landes bestimmt, strebt eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Öffnung Saudi-Arabiens an, die jedoch nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen von einer verstärkten Repression gegen Kritiker begleitet wird.

Die Veröffentlichung der Gerichtsentscheidung erfolgte, nachdem der Menschenrechtsaktivist Abdallah al-Hamid am Freitag im Gefängnis an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben war. Der 69-jährige al-Hamid hatte eine elfjährige Freiheitsstrafe verbüßt, laut Amnesty International unter anderem, weil er die "Treue zum Königshaus" gebrochen und die "öffentliche Ordnung" gestört habe.

In den vergangenen Jahren hatte auch der Fall des Bloggers Raif Badawi immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. Weil er sich öffentlich für Meinungsfreiheit engagiert hatte, wurde Badawi 2014 wegen Beleidigung des Islam zu tausend Peitschenhieben und zehn Jahren Gefängnis verurteilt.

Saudi-Arabien steht wegen massiver Menschenrechtsverstöße international in der Kritik. Dort sitzen zahlreiche Menschenrechtsaktivisten trotz unklarer Vorwürfe in Haft. Kritiker machen dafür vor allem Kronprinz Salman verantwortlich. Sie sehen ihn auch als eigentlichen Drahtzieher des Mordes an dem regierungskritischen saudischen Journalisten Jamal Khashoggi. (APA, 25.4.2020)


Aus: "Saudi-Arabien schafft Strafe des Auspeitschens ab" (25. April 2020)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000117114890/saudi-arabien-schafft-strafe-des-auspeitschens-ab (https://www.derstandard.at/story/2000117114890/saudi-arabien-schafft-strafe-des-auspeitschens-ab)

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Larifari123

Ah, die Suadis holen auf. In Europa wurde das Auspeitschen als Strafe '''bereits'''' 1871 offiziell aufgegeben, also vor rund 150 Jahren. Allerdings gibt es den ein oder anderen Bericht das bis in die 60iger Jahre bei uns in Europa diese Methode der Bestrafung angewendet wurde. Jede Kultur ist eben so weit wie sie ist. Wir haben ja neuerdings, dank Corona wieder ein paar Blockwarte dazubekommen. Gewisse Berufungen lasen sich eben auch in den angeblich zivilisiertesten Ländern nicht vermeiden.


Quote
Infowesen

Naja, im 20. Jhdt wurde in Europa noch vergast, wer einer "falschen" Personengruppe angehörte. Und die letzten Kolonien, wo gepeitscht und die Todesstrafe eingesetzt wurde, wurde in den 1970iger Jahren aufgegeben.  ...


Quote
papadimos

Es ist schon schizophren, die Abschaffung der Peitschenstrafe als Fortschritt zu "feiern", während weiterhin fröhlich gesteinigt und geköpft wird. Jetzt kann man sich ob dieses Fortschritts zufrieden zurücklehnen und diese "prowestlichen" Islamisten mit lästiger Kritik verschonen. Und nachdem die Frauen jetzt auch Autofahren dürfen, kann es ja dort nicht so schlimm sein...


Quote
H.-C.Starche

Na bitte ned! Nachdem ich auf Kurzarbeit bin wollte ich den Gehaltsverlust als
angelernter Auspeitscher in Riad ausgleichen (übe schon seit 3 Wochen an meiner Frau und den Kindern). Wär auch wegen der Pendlerpauschale interessant gewesen. Naja, werds mal bei der CIA versuchen.


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moejoe187

Richtig "modern", das neue Saudi-Arabien.


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HerrFranz1

Es geht immer weiter bergab - fangen die auch schon mit der Kuscheljustiz an....


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gunkeldibunkel

Das hat in Wirklichkeit wenig mit dem Mittelalter zu tun. Körperliche Züchtigung im Strafrecht war bis weit in das 20JH in Europa verbreitet. In manchen Bereichen war das bis in die 1970er Jahre gesetzlich gedeckt und noch darüber hinaus angewandt: https://de.wikipedia.org/wiki/Tatze_(Strafe) (https://de.wikipedia.org/wiki/Tatze_(Strafe))

Ich behaupte mal der Fortschritt kam aus einer Kombination aus 68er Bewegung und Sozialdemokratie.


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Kritischer Esel

Frauen dürfen Auto fahren, kein Auspeitschen mehr....Saudi-Arabien wird immer mehr zu einer Vorzeige-Diktatur!


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Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 27, 2020, 03:44:52 PM
Quote[...] Ist das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ein absoluter Wert? Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble verneint das. Im Gespräch mit dem  Tagesspiegel sagt er: ,,Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig."

Aus seiner These, der Schutz von Leben sei nur ein relativer Wert, leitet Schäuble eine nur relative Pflicht des Staates ab, Leben zu retten und zu schützen. Das gelte aktuell vor allem in der Corona-Eindämmungspolitik.

Schäubles Argumentation erinnert an seine vehemente Kritik, damals als Bundesinnenminister, an einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Dabei ging es, im Nachgang zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001, um die Frage, ob ein Passagierflugzeug abgeschossen werden darf, das Terroristen entführt haben und auf ein ziviles Ziel lenken. Haben die an Bord befindlichen Passagiere ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verwirkt?

Das Bundesverfassungsgericht sagte klar: Nein! Dieses Recht könne den Passagieren bis zu ihrem Tode nicht genommen werden. Eine Abwägung ,,Leben gegen Leben" verstoße gegen das Grundgesetz. Der Staat dürfe niemanden ermächtigen, Menschen zu opfern, um möglicherweise mehr Menschen zu retten.

Schäuble dagegen berief sich auf das Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte. Das verbiete nur Angriffe, die in keinem vertretbaren Verhältnis zu den erwarteten militärischen Vorteilen stünden. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit bleibe aber gewahrt, wenn zur Vermeidung einer noch größeren Katastrophe wie bei einem Terroranschlag durch ein Flugzeug die entführte Passagiermaschine abgeschossen würde. Der Tod unschuldiger Menschen sei in einem solchen Fall zu akzeptieren.

Leidenschaftlich und ausdauernd setzte sich Schäuble – wegen des eindeutigen Urteils des Bundesverfassungsgerichts – für eine Grundgesetzänderung ein, die den Abschuss entführter Passagierflugzeuge doch noch erlauben würde.

Schließlich griff der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, in die Debatte ein und warnte Schäuble, seine Pläne weiter zu verfolgen. Die ,,Menschenwürdegarantie" könne ,,selbst durch eine Verfassungsänderung nicht eingeschränkt werden", sagte Papier.

Es gibt Extremsituationen, in denen Menschen nicht handeln können, ohne sich schuldig zu machen. Bestimmte Dinge, wie Folter und Mord, sollen unter allen Umständen verboten sein, die physische Unversehrtheit immer gewahrt werden. Aber manchmal kollidiert die Rettungspflicht gegenüber den einen mit der Schutzpflicht für die anderen.

Im September 2002 entführte Magnus Gäfgen den damals elfjährigen Jakob von Metzler. Er lockte ihn in seine Wohnung und erwürgte ihn. Gäfgen wurde gefasst, schwieg aber.

Am Abend des dritten Tages nach der Entführung wurde dem dringend Tatverdächtigen von Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner Gewalt angedroht, damit er den Aufenthaltsort des Kindes nennt. Für diese Drohung wurde Daschner später verurteilt. Vertreter des Staates dürfen weder foltern noch Folter androhen.

Ein Gemeinwesen muss an der absolut geltenden Schutzpflicht für Menschen ebenso festhalten wie am absolut geltenden Folter- und Tötungsverbot. Das schließt nicht aus, dass in Extremsituationen in Abwägung von Prinzip und Konsequenz Entscheidungen getroffen werden, die gegen die Prinzipien verstoßen. Dann müssen die Handelnden Verantwortung übernehmen, ohne auf Absolution spekulieren zu dürfen.

Um es paradox zu formulieren: Wenn ein Verteidigungsminister fragt, ob er ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug äußerstenfalls abschießen darf, muss die Antwort der Öffentlichkeit ,,Nein" lauten. Wenn er es trotzdem tut – und dafür einsteht -, zollen ihm viele womöglich Respekt.

Wenn ein Polizeibeamter fragt, ob er in einer verzweifelten Lage durch Androhung von Folter herausfinden darf, wo ein entführtes Kind versteckt gehalten wird, muss die Antwort ,,Nein" lauten. Wenn er es trotzdem tut – und dafür einsteht -, kann er zum Helden werden.

Auch in der Coronakrise muss abgewogen werden. Nur ein Narr würde das bestreiten. Aber die Diskussion muss geführt werden, ohne dass die absolute Geltung von Grundrechten infrage gestellt wird. Wie viele gerettete Covid-19-Erkrankte rechtfertigen eine Maskenpflicht? Wie viele rechtfertigen eine Zunahme der Arbeitslosigkeit? Solche Debatten erzeugen mehr Verletzungen, als sie an Klarheit produzieren.

Eine große Zumutung der Coronakrise besteht darin, dass sie die Verantwortlichen in moralische Dilemmata stürzt. Keiner von ihnen will mutwillig die Wirtschaft ruinieren, damit ein paar mehr Intensivbetreuungsbetten frei werden. Aber es ist ein Unterschied, ob in die Abwägungen bestimmte Gewichtungsaspekte einfließen, oder ob öffentlich Werte relativiert werden, um Gewichtungen vornehmen zu können.

Wenn Wolfgang Schäuble fragt, ob der Schutz des Lebens ein absoluter Wert ist, muss die Antwort ,,Ja" lauten. Wenn er in Abwägungsdebatten in sein Urteil auch andere Grundrechte einbezieht, tut er das aus eigener Verantwortung. Er darf auf Absolution dafür hoffen, er darf sie aber nicht einfordern.


Aus: "Wolfgang Schäuble meint das Richtige, sagt aber das Falsche" Malte Lehming (27.04.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/ist-der-schutz-des-lebens-ein-absoluter-wert-wolfgang-schaeuble-meint-das-richtige-sagt-aber-das-falsche-/25777154.html (https://www.tagesspiegel.de/politik/ist-der-schutz-des-lebens-ein-absoluter-wert-wolfgang-schaeuble-meint-das-richtige-sagt-aber-das-falsche-/25777154.html)

QuoteMalafide 15:23 Uhr

Du gute Güte!

Ich bin mir sicher, dass Lehming nicht erst darauf hingewiesen werden muss, dass das, was er da "zusammengeschrieben" hat - mit Verlaub - Stuss ist. Es entbehrt jeder vernünftigen Grundlage.

Nicht von Ungefähr versucht Lehming einen kläglichen Rettungsversuch auf dem Feld von Terror, Krieg und vorsätzlicher Tötungsabsicht, um sowohl Schäubles moralisch-ethische Entgleisung, als auch dessen Relativierung unseres Grundgesetzes schönzureden.

Der Fall Schäuble hat mich sofort an die "Jenniger-Rede" erinnert. Und, tut mir leid, aber der hilflose Versuch Lehmings aus Schäubles Entgleisung ein positives Narrativ zu konstruieren, macht die Sache wirklich icht besser - ganz im Gegenteil wirkt es problemverstärkend, da beim Llesen durch alle Ritzen, respektive Zeilen seines Kommentars ein eiskalter und ungemütlicher Wind durchpfeift und eine Grundwärme sich einfach nicht einstellen will, nicht einstellen kann, weil man Fakten nicht beliebig umdeuten kann.


Quoteeismann872 15:19 Uhr

Ich denke,mit körperlicher Unversehrtheit kann die Ansteckung mit Viruskrankheiten nur äußerst bedingt gemeint sein.
Sonst könnte ich bei jeder Grippe oder jeder anderen beliebigen Viruserkrankung den Staat auf Schadensersatz verklagen, da er mich nicht vor einer Ansteckung geschützt hat.
Sollte er mich nur ab einer bestimmten Todesrate schützen müssen, wäre diese noch festzulegen. Eine Diskussion, die meiner Meinung nach geführt werden muss.


QuotePedro_Garcia 14:59 Uhr

... Wer den absoluten Schutz des Lebens befürwortet, muss auch Auto fahren verbieten, denn auch da sterben Menschen und jeder weiß das. Das selbe gilt mit Luftgrenzwerten und vileen anderen Dingen die direkt oder indirekt Menschenleben kosten, aber zu Gunsten von anderen Dingen akzeptiert werden. Grippe tötet, Masern töten und auch Corona wird weiterhin töten, wahrscheinlich selbst dann noch, wenn es schon einen Impfstoff gibt.


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Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 05, 2020, 04:51:05 PM
Quote[...] Mit dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie wurden in vielen Ländern Wissenschaftsräte gebildet, die die Politik beraten sollen. Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass in verschiedenen Ländern das Vertrauen in die Wissenschaft gewachsen ist und über dem gegenüber Politikern rangiert. Könnte dies dazu führen, dass nach der Pandemie ein Systemwechsel bevorsteht und die Wissenschaft einen neuen Rang bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens einnimmt.

...


Aus: "Istanbul Post: Die Woche vom 24. April bis zum 1. Mai 2020"
Quelle: http://www.istanbulpost.net/index.php/news/view/200403/1766 (http://www.istanbulpost.net/index.php/news/view/200403/1766)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 05, 2020, 04:52:25 PM
Quote[...] Bei einem Zaubertrick besteht die Kunst darin, die Aufmerksamkeit des Publikums abzulenken, damit es nicht merkt, was tatsächlich vor seinen Augen geschieht. Bei der Corona-Epidemie liegt die Magie in einem Diagramm mit zwei Kurven, das auf Fernsehkanälen in der ganzen Welt zu sehen ist. Die x-Achse gibt die Zeit an, die y-Achse die Zahl der schweren Erkrankungen.

Die erste Kurve geht steil nach oben, sie zeigt den Verlauf der Epidemie, wenn nichts unternommen wird. Diese Kurve überschreitet sehr schnell die horizontale Linie, mit der die maximale Aufnahmefähigkeit der Krankenhäuser angegeben ist. Die zweite Kurve zeigt die Entwicklung, wenn Maßnahmen wie Kontaktsperren und Ausgangsbeschränkungen die Verbreitung des Virus begrenzen. Sie ist leicht gewölbt, wie ein Schildkrötenpanzer, und bleibt unter der horizontalen Kapazitätsgrenze.

Das in den Medien allgegenwärtige Diagramm macht deutlich, wie dringend notwendig es ist, den Rhythmus der Ansteckungen zu verlangsamen, um die Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern. Wenn jetzt Journalisten in der ganzen Welt dieses Schaubild weiterverbreiten, wird ein wesentliches Element oft vergessen: die unauffällige Gerade, die die Zahl der Betten darstellt, die für Schwerkranke zur Verfügung stehen. Diese ,,kritische Schwelle" wird quasi als gottgegeben akzeptiert. Dabei ist sie das Ergebnis politischer Entscheidungen.

Wenn man heute ,,die Kurve abflachen" muss, liegt das auch daran, dass die seit vielen Jahren herrschende Austeritätspolitik die Messlatte gesenkt und das Gesundheitswesen seiner Aufnahmefähigkeit beraubt hat. 1980 gab es in Frankreich elf Krankenhausbetten pro tausend Einwohner, davon sind heute noch sechs übrig. Macrons Gesundheitsministerin hat im September 2019 vorgeschlagen, sie ,,bed managers" zu überlassen, die das rare Gut zuteilen sollten.

In den USA sank die Zahl von 7,9 Betten 1970 auf 2,8 im Jahr 2016.1 Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es in Italien 1980 für ,,schwere Fälle" 922 Betten pro 100.000 Einwohner. 30 Jahre später waren es nur noch 275. Überall galt nur eine Devise: Kosten senken. Das Krankenhaus sollte wie eine Autofabrik im Just-in-time-Modus funktionieren. Das Resultat ist, dass die Italienische Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Reanimation und Intensivtherapie (Siaarti) die Arbeit der Notärzte heute als ,,Katastrophenmedizin" bezeichnet. Sie warnt, angesichts der fehlenden Ressourcen ,,könnte es nötig werden, eine Altersgrenze für den Zugang zur Intensivversorgung festzulegen".2 Auch im Nordosten von Frankreich spricht man mittlerweile in ähnlicher Weise von ,,Kriegsmedizin".

Die Coronakrise hat also nicht nur mit der Gefährlichkeit der Krankheit Covid-19 zu tun, sondern auch mit dem organisierten Niedergang des Gesundheitssystems. Doch statt diese Tatsache kritisch zu hinterfragen, laden die großen Medien – seit jeher die Echokammern der Sparpolitik – Leser und Zuschauer zu einer atemberaubenden philosophischen Diskussion ein: Wie entscheiden wir, wen wir retten und wen wir sterben lassen?

Diesmal wird es jedoch schwierig werden, die politische Frage hinter einem ethischen Dilemma zu verstecken. Denn die Corona-Epidemie führt allen vor Augen, dass unsere Wirtschaftsorganisation noch weit absurder ist, als man vermutet hatte: Während die Airlines ihre leeren Flugzeuge fliegen ließen, um ihre Slots zu behalten, erklärte ein Virologe, wie neoliberale Politik die Grundlagenforschung über das Coronavirus behindert hat.3

Offenbar muss man manchmal die Normalität verlassen, um zu begreifen, wie unnormal sie ist. Marshall Burke, Dozent am Zentrum für Ernährungssicherheit und Umwelt der Universität Stanford, twitterte dazu folgendes Paradox: ,,Die Reduktion der Luftverschmutzung aufgrund von Covid-19 in China hat vermutlich zwanzigmal so viele Leben gerettet, wie durch den ­Virus bisher verloren gingen. Das heißt

nicht, dass Pandemien gut sind, aber es zeigt, wie gesundheitsschädlich unsere Wirtschaftssysteme sind, auch ohne Coronavirus."4

Der Höhepunkt der Absurditäten in der Corona-Krise liegt dabei nicht einmal darin, dass es durch die Verlagerung von Produktionsketten einen Mangel an Medikamenten geben könnte, und auch nicht in der Verbohrtheit, mit der die Finanzmärkte Italien bestraften, als die Regierung die ersten Maßnahmen ergriff. Nein, den Höhepunkt finden wir in den Krankenhäusern selbst: Die Mitte der 2000er Jahre in Frankreich eingeführte ,,Gebührenberechnung nach Tätigkeit" (tarification à l'activité, T2A) kalkuliert die Finanzierung der Einrichtungen anhand des Behandlungsaufwands für jeden einzelnen Patienten. Die Leistungen werden wie im Supermarkt einzeln abgerechnet.

Würde nun dieses aus den USA importierte Prinzip der Pflege als Ware während der aktuellen Krise angewendet, wären die Krankenhäuser, die die Schwerkranken aufnehmen, bald ruiniert. Denn der kritische Verlauf von Covid-19 erfordert vor allem eine Beatmung, die Zeit kostet, aber in der Tariftabelle weniger einbringt als diverse Untersuchungen und Eingriffe, die wegen der Epidemie verschoben wurden. Einbußen der Kliniken durch die Pandemie bestätigte etwa der deutsche Virusforscher Christian Drosten in seinem populären Podcast. Drosten sagte am 30. März im NDR: ,,Wir haben Betten freigeräumt. Das macht natürlich auch im Krankenhaus massive finanzielle Verluste. Auch die Medizin ist ein Wirtschaftszweig, und die Verluste sind extrem, die da jeden Tag entstehen."

Für kurze Zeit schien es so, als sprenge das Virus die sozialen Grenzen. Seine Ausbreitung führte zu Maßnahmen, die wir uns jedenfalls in Friedenszeiten nie hätten vorstellen können. War nicht der Wall-Street-Banker plötzlich ebenso bedroht wie der chinesische Wanderarbeiter? Sehr schnell aber wurde deutlich, dass auch in der Krise vor allem das Geld den Unterschied macht. Auf der einen Seite machen die Gutbetuchten es sich in ihren Villen mit dem Homeoffice-Laptop neben dem Pool gemütlich. Und auf der anderen Seite sind die bislang Unsichtbaren des Alltags, Pfleger, Reinigungskräfte, Kassiererinnen im Supermarkt und Lieferanten, einem Risiko ausgesetzt, das den Begüterten erspart bleibt. Eltern sitzen im Homeoffice in ihrer kleinen Wohnung, durch die das Geschrei der Kinder schallt, Wohnungslose würden gern in einem Zuhause bleiben.

Der Historiker Jean Delumeau, Autor einer Geschichte der ,,Angst im Abendland", stieß in seiner Untersuchung über ,,typische kollektive Verhaltensweisen in Pestzeiten"5 auf eine Konstante: ,,Wenn die Gefahr der Ansteckung auftaucht, versucht man zunächst, die Augen davor zu verschließen." Und Heinrich Heine notierte nach der offiziellen Ankündigung der Choleraepidemie 1832 in Paris: ,,Die Pariser tummelten sich umso lustiger auf den Boulevards", als ,,das Wetter sonnig und lieblich war".6 Als Nächstes flohen dann die Reichen aufs Land, und die Regierung ordnete für die Stadt Quarantäne an.

,,Die Unsicherheit entsteht nicht nur aus dem Auftreten der Krankheit", erklärt Delumeau, ,,sondern ebenso aus einer Auflösung des Alltags und der gewohnten Umgebung. Alles ist anders geworden." Genau diese Erfahrung machen heute die Einwohner von Wuhan, Rom, Madrid oder Paris.

Die großen Pestepidemien zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert wurden oft als Zeichen des Jüngsten Gerichts, des Zorns eines rächenden Gottes gedeutet. Damals wandten sich die Menschen entweder der Religion zu und flehten um Gnade oder sie suchten Schuldige in der Nachbarschaft. Juden und Frauen waren beliebte Sündenböcke. Im Europa des 21. Jahrhunderts trifft die Corona-Epidemie säkularisierte Gesellschaften, die seit der Finanzkrise von 2008 bei Themen wie Klimaverschlechterung, Politik, Finanzen, Demografie oder Migration in unterschiedlichem Ausmaß unter einem Gefühl des Kontrollverlusts leiden.

In dieser Endzeitstimmung, in der wieder Bilder der brennenden Kathedrale von Notre-Dame kursieren und über den kommenden Zusammenbruch geredet wird, richten sich alle Blicke auf die Regierung. Der Staat hat das Problem durch die langjährige Zerstörung des Gesundheitssystems verschärft – und ist dennoch die einzige Instanz, die eine Antwort auf die Epidemie finden kann. Aber wie weit kann man dabei gehen?

Noch im Februar löste die mehrwöchige Isolierung von 56 Millionen Einwohnern der chinesischen Provinz Hubei, die Stilllegung der Fabriken oder die Ermahnung der Bürger durch Drohnen mit Kameras und Megafonen in Europa spöttische Reaktionen aus oder Kritik an der eisernen Faust der Kommunistischen Partei.

,,Aus der chinesischen Erfahrung lassen sich keine Lehren hinsichtlich der möglichen Dauer der Epidemie ziehen", erklärte die Zeitschrift L'Express noch am 5. März. Sie sei dort durch ,,drastische Quarantänemaßnahmen verlangsamt worden, die in unseren Demokratien wahrscheinlich nicht anwendbar sind". Doch kurze Zeit später war klar: Im Kampf gegen das Virus, das sich nicht um die Überlegenheit ,,unserer" Werte schert, kommt man nicht umhin, zentralisierten Entscheidungen den Vorrang zu geben gegenüber den Freiheiten des Wirtschaftsliberalismus.

WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus betonte, es sei möglich, die Epidemie zu besiegen, aber nur mit einem kollektiven, koordinierten und umfassenden Herangehen und unter Einsatz aller Kräfte.7 Kollektiv und staatlich koordiniert: Das ist das Gegenteil von Markt. In wenigen Tagen vollführen die bis dato unangreifbaren Experten, die uns die Welt erklären, eine 180-Grad-Wendung: ,,Alles ist anders geworden." Begriffe wie Souveränität, Grenze, Einschränkung und sogar staatliche Hilfen, die seit einem halben Jahrhundert im öffentlichen Diskurs stets in die populistische Ecke gestellt oder als ,,nordkoreanisch" bezeichnet wurden, erscheinen plötzlich als Lösungen in einer bis dato vom Kult der Geld- und Warenströme und von der Sparpolitik regierten Welt.

Von Panik getrieben, entdecken selbst die Mediengurus plötzlich, was sie eifrig ignoriert hatten: ,,Kann man nicht auch sagen, dass uns diese Krise im Grunde auffordert, ganz neu über Aspekte der Globalisierung, unsere Abhängigkeit von China, Freihandel und Flugverkehr nachzudenken?", fragte am 9. März auf France Inter der Journalist Nicolas Demorand, der sein Mikrofon seit Jahren den Kritikern des Protektionismus überlässt.

Die Marktlogik muss den Verstand schon gründlich deformiert haben, wenn die Mächtigen erst nach dem Ausbruch einer mörderischen Pandemie den einfachen Wahrheiten Gehör schenken, die Mediziner seit Jahrzehnten wiederholen: ,,Ja, wir brauchen eine staatliche Krankenhausstruktur, die ständig verfügbare Betten hat", betonen die Mediziner André Grimaldi, Anne Gervais Hasenknopf und Olivier Milleron.8 ,,Das neue Coronavirus hat das Verdienst, uns an Selbstverständlichkeiten zu erinnern: Man bezahlt die Feuerwehrleute nicht nur, wenn es brennt. Man möchte, dass sie in ihrer Wache bereitstehen, auch wenn sie nur ihre Fahrzeuge polieren, während sie auf den Alarm warten."

Von der Krise im Jahr 1929 bis zur neoliberalen Offensive in den 1970ern hat sich der Kapitalismus erhalten und erneuert, indem er seine Institutionen, oft widerwillig, der Verpflichtung unterwarf, vorauszusehen, was ohne Warnung hereinbricht: Brände, Krankheiten, Naturkatastrophen, Finanzkrisen. Um das Unvorhergesehene zu planen, musste man mit der Marktlogik brechen, die allein nach Angebot und Nachfrage einen Preis festlegt, das Unwahrscheinliche ignoriert und die Zukunft mit Formeln berechnet, in denen die Gesellschaft nicht vorkommt.

Diese Blindheit der Standardökonomie, die an den Börsen ins Extrem getrieben wird, bemerkte auch der ehemalige Broker und Statistiker Nassim Nicholas Taleb. In seinem Buch ,,Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse", das wenige Monate vor der Finanzkrise von 2008 erschien, schrieb er über die Prognostiker: ,,Das Expertenproblem besteht darin, dass sie keine Ahnung von dem haben, was sie nicht wissen."9 Taleb bezeichnete es als absurd, das Unvorhergesehene zu ignorieren in einer Welt, die durch die Vervielfachung unerwarteter Ereignisse – eben die ,,schwarzen Schwäne" – geprägt sei.

Ende März 2020 kann jeder, der an seinem Fenster die Stille der eingesperrten Stadt dröhnen hört, über die Verbissenheit nachdenken, mit der sich der Staat nicht nur der Intensivbetten beraubt hat, sondern auch seiner Planungsinstrumente, die heute von ein paar globalen Versicherungs- und Rückversicherungskonzernen monopolisiert werden.10

Kann die Zäsur dieser Pandemie die Entwicklung umdrehen? Um das Mögliche und das Zufällige wieder in die Steuerung der öffentlichen Daseinsvorsorge aufzunehmen, um weiter zu schauen als bis zur Kosten-Nutzen-Rechnung und eine ökologische Planung vorzunehmen, müsste man den größten Teil der Dienste verstaatlichen, die für das Leben der modernen Gesellschaft unverzichtbar sind, von der Straßenreinigung über die digitalen Netze bis zum Gesundheitswesen.

Die Sichtweise des Historikers legt nahe, dass eine Veränderung der Verhältnisse, der Entwicklung, des Nachdenkens über das kollektive Leben und die Gleichheit unter normalen Umständen unmöglich ist. ,,Im Laufe der Geschichte", schreibt der österreichische Historiker Walter Scheidel, ,,haben vier verschiedene Arten gewaltsamer Brüche die Ungleichheit verringert: Massenmobilisierungskriege, Revolutionen, der Bankrott von Staaten und verheerende Pandemien."11 Sind wir an diesem Punkt angelangt?

Andererseits hat das Wirtschaftssystem im Verlauf seiner Geschichte eine außergewöhnliche Fähigkeit bewiesen, die immer häufiger werdenden Stöße zu parieren, die seine Irra­tio­nalität verursacht. So setzen sich auch bei den heftigsten Erschütterungen in der Regel die Verteidiger des Status quo durch. Sie nutzen die allgemeine Fassungslosigkeit aus, um die Macht des Marktes noch weiter auszudehnen. Der Katastrophen-Kapitalismus, den Naomi Klein kurz vor der großen Rezession von 2008 analysierte, schert sich nicht um die Erschöpfung der Rohstoffe und der sozialen Sicherungssysteme, die die Krise dämpfen könnten. In einer Anwandlung von Optimismus schrieb die kanadische Journalistin: ,,Wir reagieren auf einen Schock nicht immer mit Regression. Manchmal wachsen wir auch angesichts einer Krise – und zwar schnell."12 Diesen Eindruck wünschte wohl auch Präsident Macron in seiner Erklärung vom 12. März zu erwecken.

Er wolle, ,,das Entwicklungsmodell, dem unsere Welt seit Jahrzehnten folgt und das jetzt seine Tücken offenbart, und die Schwächen unserer Demokratie hinterfragen", sagte Macron. Bereits heute offenbare diese Pandemie, dass ein kostenloses Gesundheitswesen ohne Unterscheidung nach Einkommen, Karriere oder Beruf sowie unser Wohlfahrtsstaat kein bloßer Kostenfaktor sei, sondern ,,ein unverzichtbarer Trumpf, wenn das Schicksal zuschlägt". Die Pandemie zeige, dass es Güter und Dienstleistungen gebe, die außerhalb der Marktgesetze stehen müssten. ,,Es ist Wahnsinn, wenn wir unsere Ernährung, unseren Schutz, die Fähigkeit, unser Leben zu gestalten, in fremde Hände geben. Wir müssen wieder die Kontrolle übernehmen."

Drei Tage später verschob er die Rentenreform und die Reform des Arbeitslosengelds und verkündete Maßnahmen, die bisher als unmöglich galten: die Einschränkung von Entlassungen und die Aufgabe der Haushaltsbeschränkungen. Und die Umstände könnten diesen Wandel noch verstärken: Die Obsession des Präsidenten etwa, die Ersparnisse und Beamtenpensionen an den Aktienmärkten zu investieren, wirkt vor dem Hintergrund des Absturzes der Börsenkurse nicht gerade wie ein visionärer Geniestreich.

Das Arbeitsgesetz aussetzen, die Bewegungsfreiheit einschränken, Unternehmen mit vollen Händen unterstützen und sie von Sozialabgaben freistellen, auf denen das Gesundheitssystem beruht – diese Maßnahmen allerdings stellen keinen radikalen Bruch mit der bisherigen Politik dar. Der massive Transfer von öffentlichen Geldern in den Privatsektor erinnert an die staatliche Bankenrettung von 2008. Die Rechnung kam dann in Form der Sparpolitik, von der vor allem die Angestellten und die öffentlichen Dienstleistungen betroffen waren. Weniger Krankenhausbetten, um die Banken wieder flottzumachen: das war die Devise.

Auch deshalb drängte sich bei Macrons Rede die Erinnerung an einen Septembertag des Jahres 2008 auf. Damals, kurz nach dem Crash von Lehman Bro­thers, trat der damalige Präsident Sarkozy vor die Kameras und verkündete seinen verblüfften Anhängern feierlich: ,,Eine bestimmte Vorstellung der Globalisierung stirbt gerade mit dem Ende eines Finanzkapitalismus, der der ganzen Wirtschaft seine Logik aufgezwungen und dazu beigetragen hat, sie zu verderben. Die Idee, dass die Märkte immer recht haben, war eine irrsinnige Idee."13 Das hinderte ihn allerdings nicht daran, auf den Weg des gewöhnlichen Wahnsinns zurückzukehren, sobald das Unwetter vorüber war.

1 Quelle OECD.

2 ,,Raccomandazioni di etica clinica per l'ammissione a trattamenti intensivi e per la loro sospensione", Siaarti, Rom, 6. März 2020.

3 Bruno Canard, ,,J'ai pensé que vous avions momentanément perdu la partie", Rede am Ende der Demonstration vom 5. März 2020, nachzulesen unter academia.hypotheses.org.

4 Twitter, 9. März 2020.

5 Jean Delumeau, ,,Angst im Abendland, Die Geschichte kollektiver Ängste in Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts", Reinbek (Rowohlt) 1998.

6 Heinrich Heine, ,,Französische Zustände", online frei verfügbar bei Zeno.org.

7 New York Times, 11. März 2020.

8 Le Monde, 11. März 2020.

9 Nassim Nicholas Taleb, ,,Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse", München (Hanser) 2008.

10 Razmig Keucheyan, ,,La Nature est un champ de bataille. Essai d'écologie politique", Paris (La Découverte) 2014.

11 Walter Scheidel, ,,Nach dem Krieg sind alle gleich: Eine Geschichte der Ungleichheit", Darmstadt (Konrad Theiss Verlag) 2018.

12 Naomi Klein, ,,Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus", Frankfurt a. M. (Fischer) 2009.

13 Rede in Toulon am 25. September 2008.


Aus: "Marktlogik und Katastrophenmedizin" (Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Le Monde diplomatique vom 09.04.2020, von Renaud Lambert und Pierre Rimbert)
Quelle: https://www.monde-diplomatique.de/artikel/!5672009 (https://www.monde-diplomatique.de/artikel/!5672009)

Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 10, 2020, 09:35:57 AM
Quote[...] Leopold war Anhänger kolonialistischer Ideen und gründete in Zentralafrika den offiziell eigenständigen Kongo-Freistaat, dessen absoluter Monarch und persönlicher Eigentümer er von 1876/1885 bis 1908 war. Zu dieser Zeit wurde aus dem Kongo vor allem Elfenbein und Kautschuk exportiert.

... Der Bedarf an diesem Rohstoff war seitdem stetig gewachsen. 44 Jahre, nachdem sich Goodyear die Vulkanisierung des Kautschuks hatte patentieren lassen, erfand John Boyd Dunlop den Luftreifen. Er war angesichts der damaligen gepflasterten Straßen und der Schlaglöcher auf den Landstraßen ein Erfolg, der die Nachfrage nach Kautschuk nochmals deutlich steigerte. Die Truppen des Königs überfielen Dörfer, und die Bewohner erhielten den Befehl, eine bestimmte Menge Kautschuk zu sammeln, sonst würde das ganze Dorf niedergebrannt werden. Wer zu fliehen versuchte, wurde erschossen. Um zu kontrollieren, ob die Soldaten nicht nur gejagt hatten, mussten sie für verbrauchte Munition die Hände der erschossenen Menschen vorlegen. Wenn Soldaten doch gejagt hatten, wurden deshalb auch lebenden Menschen die Hände abgehackt. Eine andere Deutung der Praxis, die Hände abzuhacken, ist laut der Fachzeitschrift Message, dass Druck auf die Zulieferer ausgeübt wurde: Wer nicht genug Kautschuk liefert, dem wird eine Hand abgehackt. Zudem bewirkte der Druck auf die Einheimischen, ständig Kautschuk zu sammeln, dass diese immer weniger dazu kamen, ihre Felder zu bestellen. So verhungerten in manchen Gegenden 60–90 % der Bevölkerung oder verließen ihre Dörfer, um sich dem Zugriff des ,,Staates" zu entziehen. Betrug 1890 der Kautschukertrag lediglich 100 Tonnen im Jahr, waren es 1901 bereits 6.000 Tonnen.

Die Methoden, mit denen belgische Handelsgesellschaften und das Militär im Kongo vorgingen, sind unter anderem in Joseph Conrads Buch Herz der Finsternis (veröffentlicht 1899) geschildert. Conrad (1857–1924) hatte 1890 als Kapitän eines Flussschiffes angeheuert. Er wurde jedoch schon bald nach seiner Ankunft krank. Auch was er im Kongo mit ansehen musste, ließ ihn so bald wie möglich nach England zurückkehren. Unter anderem sah er, wie die Soldaten Körbe voller verwesender Hände zum Zählen zu ihren Stützpunkten schafften. Er sah auch, wie an einem Stützpunkt die Köpfe von Hingerichteten auf Pfählen ausgestellt waren.

Zudem begünstigten die Strukturen des ,,Staates" den Missbrauch der Macht. Von einem wirklichen ,,Staat" konnte man nur in der am Atlantik gelegenen westlichsten Provinz Kongo Central sprechen. Der überwiegende Teil des riesigen Landes von der Größe Westeuropas wurde von rund 3.000 Europäern kontrolliert und sollte so billig wie möglich verwaltet werden. Viele belgische Offiziere kamen aus dem Kleinbürgertum und hatten keine Vorstellungen von Afrika und seinen Lebensbedingungen. Auf einen einsamen Posten fernab jeder vertrauten Umgebung versetzt, von Malaria und Luftfeuchtigkeit geplagt, bildeten sich unter den Offizieren oftmals Ängste, Melancholie bis hin zu komplettem Wahnsinn und Allmachtsfantasien, was schließlich in zahlreichen Massakern endete. Auch gab es faktisch keinerlei Rechtswesen. Durch das Fehlen von Gerichten, überhaupt weitgehenden Gesetzen, oder einer Gewaltenteilung war dem Machtmissbrauch der Offiziere, der Beamten und der Angestellten der Gesellschaften Tür und Tor geöffnet. So bildete erst der belgische Staat nach dem Ende des Freistaates eine erste unabhängige Staatsanwaltschaft (procureur général), die gegen korrupte oder gewalttätige Beamte vorgehen konnte. Bis dahin waren weite Gebiete des Kongo auch de jure in einer absoluten Despotie der örtlichen Beamten gefangen, die sowohl politisch als auch juristisch vor Ort die oberste Instanz bildeten und deren Exzesse nur im Umland der Hauptstadt Boma (in der einige europäische Mächte offizielle Gesandtschaften eingerichtet hatten) unterblieben. So ließ Leon Fievez in den ersten vier Dienstmonaten als Distrikt-Kommissar der Provinz Équateur 572 Menschen ermorden. Anschließend unternahm er immer wieder Strafaktionen. Bei einer einzelnen Strafexpedition ließ er 162 Dörfer niederbrennen und 1.346 Menschen hinrichten. In seiner Provinz wurde der höchste Kautschukertrag erzielt.

...


Aus: "Leopold II. (Belgien)" (10. Juni 2020)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Leopold_II._(Belgien) (https://de.wikipedia.org/wiki/Leopold_II._(Belgien))

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Quote[...] Antwerpen – Als Reaktion auf die Proteste tausender Belgier gegen Rassismus haben die Behörden in Antwerpen eine Statue des früheren Königs Leopold II. entfernt. Die Statue soll künftig im Depot eines örtlichen Museums aufbewahrt werden.

Wegen der brutalen belgischen Kolonialherrschaft im Kongo im 19. und 20. Jahrhundert ist das Andenken an den damaligen Monarchen seit langem umstritten. Wie in zahlreichen anderen Ländern weltweit beteiligten sich nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis auch in Belgien tausende Menschen an Protesten gegen Polizeigewalt und Rassismus. Seit Beginn der Proteste wurden mehrere Statuen und Büsten von Leopold II. beschmiert.

Die Gruppe "Reparons L'Histoire" (Die Geschichte reparieren), die sich für die Aufarbeitung der belgischen Kolonialverbrechen einsetzt, forderte die Entfernung aller Denkmäler für Leopold II., der Belgien von 1865 bis 1909 regierte. Sie bezeichnete den König, "der für einige ein Held" sei, als "Henker, der zehn Millionen Kongolesen getötet hat".

Im Namen der "Zivilisationsmission" Belgiens im Kongo errichtete Leopold II. Ende des 19. Jahrhunderts ein Kolonialregime, das von Historikern als eines der gewalttätigsten der Geschichte bezeichnet wird. Rohstoffe wie Kautschuk plünderten die belgischen Kolonialherren durch Sklaverei und Gewalt systematisch aus.

Auch in Großbritannien haben Aktivisten im Rahmen der Proteste gegen Rassismus die Entfernung von Denkmälern gefordert, die an Menschenrechtsverbrechen während der Kolonialzeit erinnern. Am Sonntag hatten Demonstranten im englischen Bristol eine mehr als fünf Meter hohe Bronze-Statue des Sklavenhändlers Edward Colston gestürzt und im Hafen versenkt.

Parallel zur Beisetzung George Floyds in Houston kündigten Aktivisten in Oxford an, die Statue für den Bergbaumagnaten Cecil Rhodes in Oxford zu stürzen, der im 19. Jahrhundert für die britische Krone mehrere Kolonialgebiete im Süden Afrikas erwarb. (APA, AFP, 9.6.2020)


Aus: "Antwerpen entfernt Statue König Leopolds II" (9. Juni 2020)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000117986944/antwerpen-entfernt-statue-koenig-leopolds-ii (https://www.derstandard.at/story/2000117986944/antwerpen-entfernt-statue-koenig-leopolds-ii)

Quote
Christian Kreil

Primitivität, unsere Baustelle

Das gute an der Diskussion: König Leopold und sein monströses Gewaltregime im Kongo werden thematisiert. ... Was wir benötigen, sind keine Denkmäler, sondern Narrative: Das wissen, das "unsere Zivilisation" eben exakt mit jener Bestialität, Wildheit, Primitivität und Rohheit zu agieren vermochte, die die "Neue Rechte" anderen Kulturen anheftet.


...
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 30, 2020, 12:07:03 PM
QuoteBohrhammer #1.3

"Was läuft bei diesen Tätern falsch? Ich werde das nie begreifen"

Das ist die Frage. Mich würde das auch interessieren. Geht es um die nahezu unbeschränkte Macht, lieben sie es etwas wehrlosem Schmerz zuzufügen? Oder geht es "nur" um das plumpe Stillen eines Triebes?

... Leider muss ich feststellen, das sich der Justizminister in NRW mit der Aussage "Ich habe nicht damit gerechnet, nicht im Entferntesten, welches Ausmaß Kindesmissbrauch im Netz hat" sehr disqualifiziert hat.


https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-06/kindesmissbrauch-missbrauchsfall-bergisch-gladbach-paedophilen-netzwerk-verdaechtige?cid=53208923#cid-53208923 (https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-06/kindesmissbrauch-missbrauchsfall-bergisch-gladbach-paedophilen-netzwerk-verdaechtige?cid=53208923#cid-53208923)

https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-06/kindesmissbrauch-missbrauchsfall-bergisch-gladbach-paedophilen-netzwerk-verdaechtige (https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-06/kindesmissbrauch-missbrauchsfall-bergisch-gladbach-paedophilen-netzwerk-verdaechtige)


...

Die Empörung ist nun riesengroß. Doch finden diese schrechliche Verbrechen mitten in unserer "zivilisierten" Gesellschaft statt.

Was wiederum zur Frage nach dem zivilisatorischen Zustand der Gesellschaft zurückführt.

...

Quote[...] Sexuelle Gewalt gegen Kinder wird noch immer häufig mit Pädophilie gleichgesetzt. Dabei ist nur gut die Hälfte aller Menschen, die Kinder sexuell misshandeln, auch pädophil. Pädophilie ist eine Neigung, bei der erwachsene Menschen sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, die meist noch vor der Pubertät stehen und jünger als elf Jahre sind. Pädophil zu sein ist zudem nicht gleichbedeutend damit, diese Neigung auch auszuleben.

Kindesmissbrauch kennt viele Täterinnen und Täter, beispielsweise Menschen, die traumatisierende Erfahrungen in ihren Familien erlebt haben, unter Persönlichkeitsstörungen leiden, Probleme haben, Empathie zu empfinden, oder dazu neigen, sich und anderen zu schaden. Manche Täter missbrauchen Kinder auch, weil ihnen etwa die sozialen Fähigkeiten fehlen, sexuelle Beziehungen zu Erwachsenen einzugehen.

Wichtig ist auch zu wissen: Missbrauch findet oft in den Familien statt, in denen Kinder ohnehin leben. Der Täter kommt also nicht zwingend von außen.


Welches Mittel ist am besten geeignet, um ein Kind ruhigzustellen, das man missbrauchen möchte? Es gibt Menschen, die diese Frage stellen. Und Menschen, die diese Frage beantworten, weil sie Erfahrung damit gemacht haben. Es sind anonyme Mitglieder in Chaträumen und Onlineforen, die sich Bilder und Videos, Kinderpornos hin- und herschicken, die sich zum gemeinsamen Missbrauch der eigenen Kinder verabreden, die andere, die noch zögern, regelrecht anfeuern, es doch mal zu probieren.

30.000 Spuren hat die Staatsanwaltschaft Köln im Komplex um Bergisch Gladbach mittlerweile gefunden. Das teilte Nordrhein-Westfalens Justizminister Peter Biesenbach (CDU) nun mit. Am Ende könnten 30.000 Verdächtige stehen, vielleicht mehr. "Ich habe nicht damit gerechnet, nicht im Entferntesten, welches Ausmaß Kindesmissbrauch im Netz hat", sagte Biesenbach. "Verstörend" nannte er das Ergebnis.

Oder besser: das Zwischenergebnis. Denn das, was hier sichtbar wurde, ist womöglich nur der kleinere Teil. Die dicken Wurzeln, die aus der Erde ragen. Manche würden zum gleichen Ursprung zurückführen, weil ein Täter mehrere Taten begangen haben könnte. Andere sind womöglich als Mitglieder in diesen Chaträumen, aber haben sich bislang nicht strafbar gemacht. Aber vieles, fürchtet der zuständige Staatsanwalt Christoph Hebbecker, sei noch gar nicht offenbar. Die Zahl der Spuren, die Zahl der Täter und auch die Zahl der Opfer könnte also noch weiter steigen.

Und niemand weiß, wie tief die Wurzeln schon gewachsen sind. "Wir sehen, dass bei den Beteiligten das Verlangen nach mehr wächst", sagt Hebbecker. Irgendwann reichten die Fotos und Videos nicht mehr und in einem solchen geschlossenen Resonanzraum wäre es leichter, den nächsten Schritt zu gehen. Bei dem, was die Ermittler und die Staatsanwaltschaft gefunden haben, ist die gesamte Bandbreite dabei, von Nacktfotos bis zur Vergewaltigung kleiner Kinder.

Angefangen hatte alles mit einem einzelnen Verdächtigen im vergangenen Oktober. Der 43-Jährige soll in Bergisch Gladbach seine 2017 geborene Tochter mehrfach sexuell missbraucht und sie dabei gefilmt haben. Die Aufnahmen habe er mit anderen im Internet geteilt. Der Fall nahm bald größere Dimensionen an, ein 27-jähriger Bundeswehrsoldat wurde bereits verurteilt. Er hatte in mindestens 30 Fällen seine Tochter, den Stiefsohn, die Nichte und die Tochter eines Chatpartners zum Teil schwer missbraucht. Das Landgericht Kleve verurteilte ihn zu zehn Jahren Haft und Aufenthalt in einer geschlossenen Psychiatrie.

Ursula Enders ist davon nicht überrascht. Die Traumatherapeutin ist Mitbegründerin von Zartbitter, einer Kölner Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch. Die 67-Jährige arbeitet seit mehr als 20 Jahren in dem Bereich und sagt: Missbrauch passiert häufig im engen sozialen Umfeld der Opfer. Täter würden zunächst vorsichtig austesten, ob es eine Art Kontrollmechanismus gibt, also Nachbarn, Bekannte, Lehrerinnen, die aufmerksam werden. Dann fangen sie an, die Kinder zu desensibilisieren, zum Beispiel für Nacktfotos. Das Vergewaltigen kommt erst später.

Mittlerweile habe Enders es in mindestens der Hälfte ihrer Fälle mit Bildmaterial zu tun. Kinder würden heute ständig und überall fotografiert, es finde eine digitale Entgrenzung statt. Da beginne das Problem bereits. "Eltern machen Fotos von ihren Töchtern und Söhnen und schicken sie im Bekanntenkreis rum, selbst wenn es den Kindern peinlich ist." Wenn Kinder sich hier nicht ernst genommen fühlen, würden sie sich jedoch schwertun, von Nacktbildern zu berichten. Und dann erst recht, wenn mehr passiert ist. "Fotos, die den Kindern peinlich sind, sind niemals süß", sagt die Erziehungswissenschaftlerin.

Und doch habe es, bei allem Schmerz, etwas Positives, dass mittlerweile so viel Bildmaterial entsteht. Die Beweislast würde den Kindern ein Stück weit von den Schultern genommen. Früher habe es Berichte von Opfern gegeben, die erzählten, Micky Maus habe sie vergewaltigt. Das wurde dann als Einbildung abgetan – dabei hatte der Täter eine Micky-Maus-Maske getragen.

Im Fall um Bergisch Gladbach gibt die Staatsanwaltschaft an, die gesicherten Daten bewegten sich im Terabyte-Bereich. Dazu zählen Chatverläufe, Videos und Fotos. Zur Einordnung: Auf eine Festplatte mit einem Terabyte Speicher passen etwa 250.000 Fotos oder 500 Stunden HD-Videos. Aus diesen hat die Taskforce Berg nun die 30.000 Spuren destilliert, bislang wurden 72 Verdächtige identifiziert, von denen zehn zuletzt in U-Haft saßen. Mehrere Hundert Ermittler waren an der Untersuchung beteiligt. Drei seien mittlerweile krankgeschrieben – das Anschauen der Videos sei zu belastend gewesen. Bislang seien 44 Kinder identifiziert und befreit worden, darunter ein drei Monate altes Baby.

Experten und Ermittler rechnen allerdings nicht damit, das Problem nachhaltig gelöst zu haben. Es sei anzunehmen, dass wir in Zukunft häufiger von solchen Netzwerken hören werden, vermutet Staatsanwalt Hebbecker. Einerseits werde das sogenannte Hellfeld größer, die Ermittler seien technisch und personell immer besser ausgestattet und würden solche Gruppen besser aufspüren. Andererseits sei aber durch die digitalen Möglichkeiten auch damit zu rechnen, dass der Austausch von Material und Erfahrungen unter Tätern immer leichter werde.

Das vermutet auch Ursula Enders: "Wir sehen mehr, aber auch die Fälle werden wohl mehr." Qualitativ sei das jedoch nichts Neues: "Über das Ausmaß der Gewalt mache ich mir keine Illusionen." Das sei schon immer brutal gewesen. "Ich hatte in den Neunzigerjahren schon mit Fällen zu tun, da ging es um Snuff-Pornos. Da wurden Kleinkinder vor der Kamera zu Tode vergewaltigt."

Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, spricht von einem "pandemischen Ausmaß". Er sei froh, dass es bereits erste Gesetzesänderungen gegeben habe, und hofft, dass das Thema nun auch in allen anderen Bundesländern Priorität bekommt. "NRW hat den Kampf gegen Kinderpornografie und Missbrauch zur Chefsache gemacht, das erwarte ich von allen Innenministern und eigentlich auch Ministerpräsidenten", sagte Rörig.

Die Behörden in NRW hatten zuletzt mehrere solcher Netzwerke aufgedeckt, unter anderem in Münster, Lügde und eben in Bergisch Gladbach. Das liegt allerdings offenbar nicht daran, dass sich hier besonders viele Täter ballten. Verdächtige haben die Ermittler laut Staatsanwaltschaft mittlerweile in allen Bundesländern identifiziert. Und sie stehen erst am Anfang.


Aus: "Missbrauchsfall in Bergisch Gladbach: Das Vergewaltigen kommt erst später" Christian Vooren (29. Juni 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-06/missbrauchsfall-bergisch-gladbach-staatsanwaltschaft-koeln-cybercrime-taskforce/komplettansicht (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-06/missbrauchsfall-bergisch-gladbach-staatsanwaltschaft-koeln-cybercrime-taskforce/komplettansicht)

QuoteAlexis Machine #7

Krieg und Kindesmissbrauch sind die einzigen Dinge, bei denen sich nahezu alle Menschen einig sind: Das will keiner! Warum gibt es dann so unendlich viel davon auf der Welt?


Quotegnugo #7.1

Weil die, die es wollen oder denen es egal ist, das niemals aussprechen würden - demzufolge trifft die Schätzung "nahezu alle Menschen" nur auf die zu, die sich tatsächlich auch äußern. Die anderen halten schön ihre Klappe, das wäre ja sozialer Selbstmord, so eine Haltung zu offenbaren. Die wenigen, die sowas aussprechen, sind Psychopathen, die nichts mehr zu verlieren haben, oder völlig verirrte Breiviks, die nicht mehr zu retten sind.


QuoteLinksrechtsobenunten #7.4

Naja, Kriege werden sich schon öfters mal gewünscht, auch ganz offen. ...


QuoteAP- #10

Ich lese soviel Scheiße, die in der Welt passiert, aber bei diesem Thema bin ich ratlos. ... Die Täter gehören zumindest in psychatrische Behandlung, vielleicht lebenslang. Manchmal, wenn ich mich nicht zusammenreiße, wünsche ich mir ganz andere Methoden.


QuoteMahlanlage #19

... die Fallzahlen sind das, was mich doch sehr nachdenklich werden lässt. In wieviel Prozent der Bevölkerung schlummert die Perversion? Wieviel Prozent pädosexuelle, wieviel Prozent sadistisch veranlagte Menschen gibt es? Die 30 000 Fälle sind ja auch nur die Spitze des Eisbergs.

Das Internet mit seiner statistisch geballten Kraft spült den ganzen Dreck im Schutz der Anonymität nach oben.

Wir schauen in den Spiegel unserer sensiblen Gesellschaft, die sich um Tierrechte, Klima und Genderfragen Gedanken macht. Ziemlich hässlich, was sich da zeigt, wenn man einmal in die dunklen Ecken leuchtet.


QuoteJuliusU995 #23

"Ich hatte in den Neunzigerjahren schon mit Fällen zu tun, da ging es um Snuff-Pornos. Da wurden Kleinkinder vor der Kamera zu Tode vergewaltigt."

Was soll man dazu noch schreiben ?
Es ekelt einen nur an und macht unglaublich wütend.


Quote
La Canada #28

Ich habe Angst, dass ich statistisch gesehen einen(?) der vielen tausend Täter kenne, aber davon nichts bemerke. Als Familie mit 3 Kindern kennen wir reichlich andere Familien mit Kindern (Schule, Sport, Freunde, Nachbarn, Verwandten).


Quote
Shinoda #37

Ich bekomme es einfach nicht in meinen Kopf. Ich bekomme nicht in meinen Kopf, was ich eben gelesen habe. ...


QuoteLinksrechtsobenunten #40

"Drei seien mittlerweile krankgeschrieben – das Anschauen der Videos sei zu belastend gewesen."

100% verständlich. ...


QuoteHansSprungfeld #50

Dieser Artikel lässt mich fassungslos, traurig und verstört zurück. Ich kann die Trauer und Wut kaum in Worte fassen.


Quote
Cranston #53

Das Erstaunen über die Vielzahl von Kontakten erstaunt mich wiederrum. Wo sollen die sich wohl sonst so sorglos austauschen, wenn nicht "anonym" im internet? Im Netz werden Waffen gedealt, Drogen verkauft, Kinder gehandelt. Wirklich eine neue Information?

Hut ab vor den Ermittlern.Sowas muß extrem belasten. Erst Recht wenn man eigene Kinder hat. Aber dennoch: Das Entsetzen der "allgemeinen Politik" und sonstigen Amtsträgern kaufe ich denen dann ab, wenn sie etwas unternehmen. So wie im vorliegenden Fall.

Deutschland bleibt für diese "dunklen Ecken" immernoch ein gewisses Paradies. Was wieder die Frage aufwirft, die an anderer Stelle auf andere Art diskutiert wird: Wieviel "Kontrolle" ist uns unsere Freiheit wert?

Das alles nicht nicht halb so leicht aus meiner Sicht wie man annehmen mag.


Quotesibore #59

Mir wird gerade schlecht!


QuoteKrawallschachtel #67

Als Jugendlicher war ich in einem Schüler- und Jugendforum aktiv (oxybrain). Trotz guter Moderation (Danke Flo83), schlugen nicht selten Typen jenseits der 30 auf und versuchten junge Mädchen zu ködern oder um Akzeptanz für ihre "Sexuelle Vorliebe" zu werben.
Typische abstruse Argumentation:

-sei doch ok, wenn alles einvernehmlich ist
-Verbote seien unmenschlich und verhindern, dass Kinder sich frei entwickeln können ( durch Sex mit älteren Männer, wtf?)
- wer das nicht toleriert, ist im Grunde ein Nazi
- Generell die Opferrolle, denn man würde ja stigmatisiert

Einmal wurde ein Text geteilt, wo es darum geht, dass der Erzähler im Kindergarten praktikum macht und die kleinen von sich aus den Erzähler zu verführen versuchen würden (dafuq?).

Darüber hinaus wurde von ähnlichen Gestalten auch für die Pro-Ana oder Pro-Mia Szene geworben. Erwachsene Männer, die kleine Mädchen quasi als Mentor in die harte Magersucht führen wollen und dafür aber Bilder und Hörigkeit erwarten.

In den nächtlichen Grabenkämpfen im Forum bin übrigens zu der Krawallschachtel geworden, die ich heute bin.

Was man daraus lernen kann:

1. Von Unrechtsbewusstsein gibt es überhaupt nicht den Hauch einer Spur
2. Täter fühlen sich sicher: Oxybrain war jetzt nicht gerade das Darknet
3. schon damals gab es eine organisierte Szene
4. Eltern haben keinen Schimmer, womit ihre Kinder im Internet konfrontiert werden
5. Das Internet ist auch ein sehr hässlicher Ort


Quoteautist #68

30.000 Spuren zu Verdächtigen - allein, dass es nur eine einzige aufgemachte Quelle ist, macht den Umfang so unfassbar. Wenn es aber auch noch 30.000 Verdächtige wären, aus einer einzigen entdeckten Quelle, würde sich die Frage nach dem zivilisatorischen Zustand der Gesellschaft ganz eindringlich stellen.

Unabhängig davon, wie sich dies im Laufe der weiteren Vermittlungen aufhellt, scheint neben Drogen und Prostitution Kindesmissbrauch ein Geschäftsmodell zu sein. Was wiederum zur Frage nach dem zivilisatorischen Zustand der Gesellschaft zurückführt.


QuoteNaturliebe #95

Die Empörung ist nun riesengroß. Doch finden diese schrechliche Verbrechen mitten in unserer "zivilisierten" Gesellschaft statt. ...


...
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 06, 2020, 05:19:21 PM
Norbert Leo Elias (* 22. Juni 1897 in Breslau[1]; † 1. August 1990 in Amsterdam) war ein deutsch-britischer Soziologe, der seit seiner Emigration 1933 hauptsächlich in England und den Niederlanden lebte. Er wurde 1952 naturalisierter britischer Staatsbürger.[2] Lange Zeit unbeachtet, wird sein Werk seit den 1970er Jahren breit rezipiert. Mit seinem Namen sind die Begriffe ,,Figuration" sowie ,,Prozess- und Figurationssoziologie" verbunden, die eine methodologische Neuprägung der Soziologie in Anknüpfung an Karl Mannheim bezeichnen. Sein Werk Über den Prozeß der Zivilisation aus dem Jahre 1939 (Neuauflage: 1969/1976) wird zu den bedeutendsten Werken der Soziologie im 20. Jahrhundert gezählt. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Norbert_Elias (https://de.wikipedia.org/wiki/Norbert_Elias)

Über den Prozeß der Zivilisation (1939) ist das erste große wissenschaftliche Werk des deutschen Soziologen Norbert Elias (1897–1990) und begründete seine Zivilisationstheorie. In diesem Werk beschreibt er den langfristigen Wandel der Persönlichkeitsstrukturen in Westeuropa im Zeitraum von etwa 800 bis 1900 n. Chr., dessen Richtung er mit dem Begriff Zivilisation kennzeichnet. ... Die Veränderung des menschlichen Verhaltens, der Affekte und Empfindungen, sieht Norbert Elias als einen Teil des Prozesses der Zivilisation. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cber_den_Proze%C3%9F_der_Zivilisation (https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cber_den_Proze%C3%9F_der_Zivilisation)

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Quote[...] Nachdem sich viele in den 1990er und Nuller-Jahren eingeredet haben, der deutsche Nationalismus gehöre der Vergangenheit an, ist er heute nicht mehr zu leugnen und beeinflusst immer offensichtlicher und immer stärker die gesellschaftlichen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata. Politikjournalist und Berliner Gazette-Autor Heinrich Thüer liest wichtige Texte über den Nationalismus neu. Ein Essay.


    Volksempfinden, Heimatdiskurse, Leitkultur – in dem Maße, in dem diese Begriffe den politischen Mainstream erreichen, wird das Werk des deutsch-britischen Soziologen Norbert Elias wieder interessant. Der ,,nationale Habitus der Deutschen", dieses Thema zieht sich durch das gesamte Leben des im Juni 1897 in Breslau geborenen und im August 1990 in Amsterdam verstorbenen Norbert Elias, dem Autor des Jahrhundertwerkes Über den Prozess der Zivilisation. Es geht um die Frage nach der spezifisch deutschen Tradition bei der Bildung sozialer Persönlichkeitsstrukturen.

    Norbert Elias, der "deutsche Jude aus Breslau", wie er sich nannte, musste nach Hitlers Machtantritt die Frankfurter Universität und das Land verlassen, die Nazis töteten seine Mutter in Auschwitz und er selbst lebte nach 1945 bis zu seinem Tode in London und Amsterdam. Noch im Jahre 1989 erscheint von Elias eine Aufsatzsammlung mit dem Titel ,,Studien über die Deutschen" mit einem aktuellen Vorwort von ihm.


    Der europäische ,,Prozess der Zivilisation", den man durchaus als demokratisches Projekt bezeichnen kann, stößt lange vor dem Untergang der Weimarer Republik auf besondere Verachtung in Deutschland. ,,Zivilisationsliterat" – diese von Thomas Mann Anfang der 1920er Jahre erfundene Hassfigur ist auf die "undeutsche" linke Intelligenz gemünzt, die sich an den Freiheits-und Demokratie-Idealen der ,,westlichen" Gesellschaften orientiert. Dagegen bietet Thomas Mann damals die "Natürlichkeit" und "Wahrhaftigkeit" – heute würde man sagen: Heimat und Identität – der "deutschen Kultur" auf, mit einer im Kern apolitischen Stoßrichtung gegen die Parlamentspolitik eines demokratischen Staates.

    Die erste Veröffentlichung von Norbert Elias im Jahre 1925 heißt ,,Der Zivilisationsliterat" und zehn Jahre später beginnt er im englischen Exil systematisch damit, den langen Prozess der Zivilisation im Zusammenhang mit der Staatsbildung in Frankreich nachzuzeichnen, die ,,aufs engste" mit der Entwicklung eines zivilen Habitus verbunden ist. Zivilisation als Veränderung der Trieb- und Affektkontrollen bei gleichzeitiger Ausbildung eines weit vorausschauenden staatlichen Planens und Handelns.

    Aufgrund der Herausbildung des modernen Staates mit demokratischer Verfassung, Gewaltmonopol und der Zunahme der funktionalen Arbeitsteilung im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung werden Menschen in neuartige Figurationen eingebunden. Elias' Begrifflichkeit des ,,Habitus" bezeichnet erlernte, inkorporierte und sich ständig in Reproduktion befindliche Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata.

    Die soziale Position wird fortan durch sorgfältiges Kalkulieren und Verhandeln und nicht mehr durch Kämpfe festgelegt. Diese Affekt- und Triebregulierung findet in dem Vorrücken von Scham- und Peinlichkeitsschwellen ihr Pendant. Es findet eine Umwandlung der gesellschaftlichen Notwendigkeiten in einen zivilen Selbstzwang, in einen inneren Zwang und in größere Selbstbeherrschung statt. Von der Zunahme der Affektkontrolle bei der Gewaltanwendung über die Tisch- und Trinksitten bis zum diplomatischen Geschick im Umgang mit der politischen Macht – sämtliche Manieren verfeinern und zivilisieren sich im Laufe der Zeit und breiten sich langsam auf alle Bereiche und Schichten der Gesellschaft aus.

    Hier siedelt Elias seine These von der deutschen Sonderentwicklung an. Im Erinnerungsbild der Franzosen, der Engländer und Niederländer stellen sich die ersten neuzeitlichen Jahrhunderte als eine der glanzvollsten ihrer Entwicklung dar, als eine Periode der Kulturschöpfung und Zivilisierung. Für die Deutschen sind die Jahrhunderte nach dem Dreißigjährigen Krieg eine Zeit der Verarmung, des kulturellen Verfalls und der Verrohung der Menschen. Zwar spricht und lebt der deutsche Adel französisch, doch das deutsche Bürgertum übernimmt früh in Wirtschaft und Politik die Lebenshaltung und Normen des Militäradels.

    Im Deutschen kann man viel gröber sein als im Englischen und Französischen, sagt Elias dazu. ,,Das bedeutet unter anderem, dass man in Deutschland wenig Zeit und Gelegenheit hatte, um diejenige Art der Selbstkontrolle, diejenige Form des Gewissens zu entwickeln, die es möglich macht, die Feindseligkeiten gegen andere Gruppen und Schichten der eigenen Gesellschaft individuell, aus eigener Kraft im Zaume zu halten. Man hat nur gelernt, sie im Zaum zu halten durch Kontrolle von außen, durch Befehle von oben.", so Elias in seinen Studien über die Deutschen. Elias operiert hier mit Vokabeln aus der Psychoanalyse: "Das deutsche Über-Ich und das Ich-Ideal ließ den Mittelklassen, Unterklassen und Bauern immer mehr Raum für Gewaltausbrüche. In Deutschland bekamen die Menschen nie die Chance, gewaltlos mit Konflikten umzugehen." (so Elias in "Über sich selbst").

    Dieses Defizit steht unmittelbar in Verbindung mit einem besonders autoritär geprägten Nationalismus. Elias: ,,Die konservativ-nationalistischen Gruppen der Mittelklassen in anderen Ländern versuchten immer wieder, menschheitliche und moralische Ideale mit nationalistischen zu verschmelzen. Die vergleichbaren Gruppen der deutschen Mittelklassen verwarfen den Kompromiss. Sie wandten sich oft mit einer Miene des Triumphs gegen die humanistischen und moralischen Ideale aus der Aufstiegsperiode der Mittelklassen, deren Falschheit nunmehr entlarvt sei."

    Elias sieht die postfaschistische Gesellschaft der westdeutschen Bundesrepublik, die in einer Welt aus US-Sicherheitsgarantie, internationalem Freihandelsregime, demokratischer Welle und Unterdrückung des Nationalismus lebt, natürlich nicht in diesem extremen Licht. In einem Zeitschriftenaufsatz von 1977 "Gedanken über die Bundesrepublik", spricht er die sozialliberale Entwicklung in der zweiten deutschen Republik an und wiederholt zehn Jahre später seine Beobachtung eines in Ansätzen zivilgesellschaftlichen Habitus in der Bundesrepublik der 1980er Jahre.

    Doch dann äußert er sich im Jahr des Mauerfalls, ein Jahr vor der deutschen Wiedervereinigung betont skeptisch über die Langzeitwirkung der traumatischen Kollektiverlebnisse der Deutschen, vom Dreißigjährigen Krieg angefangen bis zu den beiden Weltkriegen, von der Überdosis brutalen Nationalismus' im wilhelminischen Zeitalter bis zum ,,Entzivilisierungsschub der Hitler-Epoche". Seine Sorge gilt dem notorisch blassen Citoyen in Deutschland, sie gilt dem schwachen politisch-liberalen Habitus und der geringen demokratiepolitischen Bildung in Deutschland, die den traditionellen Mangel an Augenmaß von deutschen Führungsschichten ausmacht.

    Elias sieht nach wie vor eine eigentümliche ,,Geschichtsvergessenheit", die eine ,,Katharsis der Deutschen" blockiert. Wie die Deutschen mit ihrem Land nicht froh sind, diese Erkenntnis kann man aus den letzten Arbeiten von Elias ziehen, so ist die politische Klasse in Deutschland ihrer Macht nicht froh, die sie nicht richtig handhaben kann. Wenn es um die Entwicklung eines humanen ,,Habitus der Deutschen" mit neuen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata geht, so formuliert Norbert Elias im ersten Wendejahr 1989 eine grundsätzliche Bedingung für die ,,Katharsis der Deutschen": Es sei im künftigen Deutschland ,,ein entschiedener Bruch mit der Tradition des Obrigkeitsstaates" erforderlich, denn nur ,,eine beharrliche experimentelle Humanisierung aller Instanzen des Staates, Parteien, Bürokratie, Militär mit eingeschlossen, wäre sicher als Mittel der Reinigung vom Stigma der Vergangenheit."

30 Jahre später kann davon kaum die Rede sein. Die inhumane Unterlassung staatlicher Hilfe für hunderttausende Flüchtende an den Außengrenzen der Festung Europa korrespondiert mit der wachsenden Polizeigewalt und Behördenwillkür gegen Migrant*innen im eigenen Land. Auch bleiben in der Regel die Reaktionen der politischen Eliten auf die wachsenden völkischen Netzwerke in Polizei, Bundeswehr und Verfassungsschutz aus.

Hinter der populären Vorstellung von einer deutschen Leitkultur steht der Glaube, dass es für die bundesdeutsche Gesellschaft einer hierarchischen, autoritären Ordnung bedarf, die nur der Staat liefern kann und dem sich alle Teile der Gesellschaft unterordnen müssen. Währenddessen spricht Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, zum Gedenktag am 8. Mai 2020 von einem zwar ,,gebrochenen", doch am Ende ,,aufgeklärten, demokratischen Patriotismus", der mittlerweile in Deutschland vorherrsche. Damit redet er sich nicht nur den autoritären Kern der patriotischen Idee in Deutschland schön, die mit großer Wucht wieder nach oben drängt und völkische Opfermythen reaktiviert. Er redet zugleich die für die Nachbarn bedrohliche Historie des größten und wirtschaftlich stärksten Nationalstaates in Europa klein.

Mit dem Wort vom ,,ruhelosen Reich" hatte einst der konservative Historiker, Michael Stürmer, die historische Angst der Nachbar*innen auf den Begriff gebracht. Die deutsche Geschichtsvergessenheit, von der Elias spricht, wird heute zwar von einer breiten Gedenkkultur und regem Historisieren selbst kleinster Orte und Ereignisse begleitet. Damit ändert sich jedoch kaum etwas daran, dass ein offizielles Gedächtnistheater meist nicht weniger geschichtslos ist wie vorher das Vergessen.

So wird zum Gedächtnis an den 8. Mai 1945 gern und viel über die ,,Befreiung der Deutschen vom Hitlerregime" gesprochen, nicht aber darüber, dass die Mehrheit der Deutschen am 8. Mai 1945 nicht befreit, sondern endgültig durch die Alliierten des Zweiten Weltkrieges besiegt wurde, nachdem sie bis zum bitteren Ende die Naziherrschaft unterstützt hatten. Der Nationalsozialismus ist nun einmal eine Volksbewegung gewesen und gerade angesichts der aktuellen Idealisierung der deutschen Geschichte und Kultur muss bezweifelt werden, ob Deutschland diese Vergangenheit tatsächlich verarbeitet hat.


Aus: "Schwamm drüber: Geschichtsvergessenheit und Gedächtnistheater in der Bundesrepublik" Heinrich Thüer (08.09.2020)
Quelle: https://berlinergazette.de/schwamm-drueber-geschichtsvergessenheit-und-gedaechtnistheater-in-der-bundesrepublik/#more-78765 (https://berlinergazette.de/schwamm-drueber-geschichtsvergessenheit-und-gedaechtnistheater-in-der-bundesrepublik/#more-78765)

Quote
Andre am 21.09.2020 12:10

"Im Erinnerungsbild der Franzosen, der Engländer und Niederländer stellen sich die ersten neuzeitlichen Jahrhunderte als eine der glanzvollsten ihrer Entwicklung dar, als eine Periode der Kulturschöpfung und Zivilisierung."

Was Chiffren sind für Kolonialismus. Siehe dazu auch https://www.treffpunkteuropa.de/wir-sind-hier-weil-ihr-da-wart (https://www.treffpunkteuropa.de/wir-sind-hier-weil-ihr-da-wart)


QuoteHeinrich Thüer am 26.09.2020 23:14
Dass der Begriff der "Zivilisation" bei Elias eine Chiffre für Kolonialismus sei, halte ich für eine grobe Vereinfachung seiner Soziologie, die nicht den Anspruch hat, eine Theorie zu entwickeln, sondern Entwicklungen zu beschreiben. Norbert Elias, Pierre Bourdieu, Georges Balandier gehörten übrigens im Zeitalter der Dekolonialisierung zur ,,kolonialen" Soziologie und hier zur Avantgarde ihres Faches. Zum Titel eines Professors der Soziologie brachte es der Emigrant Norbert Elias nicht in England, sondern in Afrika. Nach seiner Pensionierung in Leicester wirkte er von 1962 bis 1964 am University College von Ghana. In dem gerade unabhängig gewordenen westafrikanischen Land leitete Elias ein ausgedehntes Projekt zur Untersuchung der sozialen Auswirkungen der Zwangsumsiedlungen für den großen Staudamm im Voltafluss, das Vorzeigeprojekt des jungen Ghana. Auch zahlreiche andere Soziologen haben in der Phase des Spätkolonialismus und der frühen Unabhängigkeit in den französischen und britischen Kolonien vor allem in Afrika gewirkt. Der später berühmteste Vertreter dieser Gruppe war Pierre Bourdieu.


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Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 08, 2020, 02:13:56 PM
Quote[...]  Filimon Mebrhatom brach als 14-Jähriger aus Eritrea nach Europa auf. Er verdurstete fast, wurde von Schleppern gequält, dann in libyschen Gefängnissen gefoltert. Nun hat er seine Geschichte aufgeschrieben.

... Filimon Mebrhatom hat seine Geschichte aufgeschrieben. In einer Januarnacht 2014 brach er auf, als 14-Jähriger, von seinem Heimatland Eritrea, zunächst nach Äthiopien, dann in den Sudan, irgendwann durch die Sahara, Richtung Libyen. Wie er sind in den vergangenen Jahren Hunderttausende aus Eritrea geflohen. Mebrhatom vertraute sich Schleppern an, er verdurstete ein paar Mal fast, so schreibt er es.

Er landete in mehreren libyschen Gefängnissen, in den Händen einer Dschihadistenmiliz. Das einzige Zeugnis seiner Herkunft, ein Schülerausweis, wird in der Zeit verbrannt. Fast ein Jahr später landete er auf einem Schiff Richtung Italien und kurz darauf in München, wo er blieb.

Mebrhatom, heute 20 Jahre alt, wurde in Deutschland als Flüchtling anerkannt. Er beendete die Schule und eine Ausbildung zum Cutter und Kameramann. Er will die Mittlere Reife nachholen, sagt er, unbedingt studieren. "Ich will doch nur frei sein" heißt sein Buch, es erscheint am 24. August; Ausschnitte daraus zitieren wir im Text kursiv. Der SPIEGEL kann seine Erinnerungen nicht in Gänze verifizieren, wir haben jedoch keinen Anlass, an deren Richtigkeit zu zweifeln. Das Interview führten wir mit Mebrhatom am Telefon.

SPIEGEL: Was nimmt man aus seiner Heimat mit, wenn man für immer geht?

Filimon Mebrhatom: Mein Cousin und ich sind gemeinsam aufgebrochen. Wir hatten etwas Geld dabei, sonst nichts. Das haben wir uns in die Kleidung genäht. Mit Gepäck ist es schwer, die Grenzen zu passieren. Man fällt auf. Wird vielleicht angeschwärzt. Ohne Gepäck kann man leichter rennen, wenn man verfolgt wird.

SPIEGEL: Wie haben Sie sich von Ihrer Familie verabschiedet?

Mebrhatom: In der Nacht meiner Flucht habe ich nicht bei meinen Eltern übernachtet. Ich ging abends zu Bett, am nächsten Morgen ging ich, ohne ein Wort. Ich habe mich nie von meiner Mutter verabschiedet. Ich konnte meinen Eltern nicht sagen, dass ich sie verlasse. Denn meine Schwester ist kurze Zeit vorher auf der Flucht gestorben.

SPIEGEL: Sie sind im Sudan auf den Jeep von Schleppern aufgestiegen und mit ihnen durch die Wüste Richtung Libyen gefahren. Sie beschreiben Hunger, Durst, Folter. Was hat Sie davon abgehalten umzukehren?

Mebrhatom: Ein Leben in Eritrea wäre keine Option gewesen. Ich wusste schon, dass die Flucht gefährlich sein würde, aber ich sah keine andere Möglichkeit als aufzubrechen. In Eritrea wird man gefoltert, wenn man ein Leben führt, das der Regierung nicht gefällt. Man wird unterdrückt. Ich hätte in den Militärdienst gemusst. Das ist kein gutes Leben, kein freies. Und ich wollte meine Eltern im Alter unterstützen, das wäre mir in Eritrea nicht gelungen.

SPIEGEL: Warum sind die Schlepper so brutal?

Mebrhatom: Es ist ihre Art zu überleben. Das sind Menschen, die nie etwas anderes gelernt haben, als ihre Waffe zu benutzen, um Geld zu erpressen. Sie haben diese Prioritäten von klein auf so gelernt. Jeder, der eine Waffe hat, nutzt diese Macht, um andere Menschen zu unterdrücken, zu verkaufen, zu behandeln wie Sklaven. Wenn du in der Hand der Schlepper bist, wirst du wie ein Tier behandelt.

SPIEGEL: Sie schreiben, dass auch Mädchen und Frauen bei der Überfahrt in der Wüste dabei waren. Wie ist es ihnen ergangen?

Mebrhatom: Manchmal haben die Schlepper die Frauen aus dem Innenraum des Wagens zu sich nach vorn befohlen. Sie wurden dann angefasst, manche wurden während unserer Pausen in der Wüste vergewaltigt. Einige wurden schwanger. Wir konnten gar nichts tun, ich konnte sie nicht beschützen. Manchmal haben wir ihre Schreie gehört.

SPIEGEL: Nur selten erfährt die Öffentlichkeit, wie es in den libyschen Gefängnissen zugeht. Wie war es dort?

Mebrhatom: Es stank, die Menschen können sich nicht waschen. Es gab fast keine Toiletten. Tausende Menschen saßen eng gedrängt. In einem Lager musste ich, als ich nachts ankam, über die Menschen regelrecht drübersteigen, über Beine und Köpfe, so dicht lagen sie da. Wenn die Wärter kamen, war da immer die Hoffnung, dass wir weitergelassen werden Richtung Mittelmeer. Aber meistens kamen sie und schikanierten uns. Es herrscht Bürgerkrieg in Libyen, niemand muss sich an ein Gesetz halten.

SPIEGEL: Welche Menschen haben Sie in den Gefängnissen getroffen?

Mebrhatom: Sie kamen von überall her, viele hatten Ähnliches erlebt wie ich. Da waren Menschen, die die Fahrt übers Mittelmeer nicht schafften und zurückkehren mussten. Manche wurden wie Arbeitssoldaten gehalten. Manche hatten kein Geld mehr und keine Verwandten, von denen sie hätten freigekauft werden können. Manchmal sind Männer nachts umgefallen und waren tot. Es gab keine Ärzte und keine Medikamente.

SPIEGEL: Sie waren über Monate in diesen Gefängnissen. Wie fühlt sich dort drinnen die Zeit an?

Mebrhatom: Du weißt irgendwann nicht mehr, wo du bist, welcher Tag es ist. Die Schlepper nahmen uns die Handys ab, ich hatte keine Uhr. Sie haben uns zum Beispiel in einen Kühllaster verladen, ohne Fenster. Darin ging es von dem einen Gefängnis ins nächste. Ich war in mehreren libyschen Lagern. Du fährst in der Nacht los, manchmal mit verbundenen Augen, den Kopf musst du stets gesenkt halten. Manchmal sagten uns die Libyer absichtlich falsche Uhrzeiten.

SPIEGEL: Die Schlepper haben Ihre Verwandten immer wieder angerufen und gefordert, neues Geld zu schicken und für Ihre Fahrt übers Mittelmeer zu zahlen. Sie wurden während dieser Telefonate mit Strom gefoltert. Irgendwann brachten die Männer Sie dann tatsächlich an die Küste und auf ein Schiff. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie auf das Boot stiegen?

Mebrhatom: Ich kann nicht schwimmen. Mein Mut schwand. Wir saßen alle zusammen, Christen und Muslime, und beteten. Wir wurden dann von der italienischen Marine gerettet, aber ich weiß nicht, in welchem italienischen Hafen wir europäischen Boden betraten. Ich verstand kein Wort, ich war so müde.

SPIEGEL: Sie sind dann mit dem Zug nach München gekommen, von dort in eine Flüchtlingsunterkunft, und haben irgendwann ein Paar kennengelernt, das Sie bei den ersten Schritten in Deutschland unterstützte.

Mebrhatom: In München konnte ich die ersten zwei Jahre nicht gut schlafen. Im Schlaf kannst du nicht kontrollieren, welche Bilder du siehst. Ich habe immer Bilder gesehen, die ich nicht mehr sehen wollte. Ich bin dann oft nachts spazieren gegangen oder habe gebetet. Wenn es einen Streit im Flüchtlingsheim gab, sind die Erinnerungen wieder hochgekommen, das Leid, die Aggressionen. Wenn ich die Polizei sehe, dann bekomme ich heute noch Panik, ich denke dann an Libyen. Viele fragen mich, ob ich eine Therapie machen will. Aber ich schreibe viel, rede darüber und mache Musik. Ich habe vor drei Jahren angefangen, meine Geschichte zu erzählen. Ich will, dass viele sie kennen und verstehen, was es heißt, es als Flüchtling bis Europa geschafft zu haben.

SPIEGEL: Wie geht es Ihrer Familie? Wie oft hören Sie von ihr?

Mebrhatom: Ich will nicht viel über meine Familie sprechen, sie ist nicht in Sicherheit. Ich habe, seit ich in München bin, viermal mit meiner Mutter telefonieren können. Es gibt in meinem Heimatdorf sehr schlechtes Netz. Ich probiere es oft, aber ich komme fast nie durch. Ich wollte eigentlich dieses Jahr nach Äthiopien fliegen und meine Familie dort treffen - nach Eritrea kann ich unmöglich zurück. Doch wegen der Coronakrise geht das nicht.

SPIEGEL: Laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk müssen jeden Tag 37.000 Menschen ihre Heimat verlassen. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Bilder von Menschen auf der Flucht siehst?

Mebrhatom: Ich frage mich, wann ist das Sterben zu Ende? Selbst wenn die Menschen die Flucht überleben, stirbt etwas in ihnen, denn sie sehen Unmenschliches. Dabei wünschen sie sich nur Freiheit. Die Menschen leben auf der Flucht nicht wie Menschen. Sie sind allein. Kein Mensch geht einfach so durch die Wüste, wo es kein Wasser gibt, kein Leben.

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Aus: "Geflüchteter über libysche Gefangenschaft: "Selbst wenn die Menschen die Flucht überleben, stirbt etwas in ihnen" " Ein Interview von Maria Stöhr (22.08.2020)
Quelle: https://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtling-aus-eritrea-erzaehlt-von-seiner-flucht-a-f9486350-4cc2-4d6f-a5b5-63cb79a08ac2 (https://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtling-aus-eritrea-erzaehlt-von-seiner-flucht-a-f9486350-4cc2-4d6f-a5b5-63cb79a08ac2)

QuoteDirk

Er kann sich leisten, in München zu wohnen? Glückwunsch, viele können das nicht.


QuoteFeldmann

Soll ich mich so schuldig fühlen, dass ich in die Spree springe, aber vorher noch mein Konto räume und in der Hasenheide (Park in Berlin) an Migranten verteile?


QuoteRolf

Das wird ja langsam penetrant. Ich will das nicht mehr lesen, Framing und fortwährende Volkserziehung müssen aufhören. ...


QuoteSven

Ja das ist in der Tat alles sehr traurig. Mir erschließt sich aber nicht aus welchem Grund ich für den Lebensunterhalt der Millionen Flüchtlinge die die deutsche Regierung in die BRD bittet aufzukommen hätte. ...


QuotePetra

Schlechtes Interview -wirklich relevante Fragen wurden nicht gestellt. Woher zum Beispiel ein 14jähriger mind.
€ 2.600 für die Schlepper hat, wenn das jährliche Durchschnittseinkommen in Eritrea bei ca. € 650,00 liegt? Das wäre zu vergleichen mit einem deutschen Jugendlichen, der mit einer Viertelmillion nach Amerika oder Australien will!


QuoteGoldregenpfeifer

Es zieht nicht mehr, wir haben keinen Bock mehr.


QuoteThomas

Ich kann mit diesen Beiträgen nichts mehr anfangen. Bin ich als alter weißer Mann jetzt an allem Schuld? Man wird mit dem ganzen Elend doch überfüttert (Klimakrise, Flucht , Vertreibung usw).


QuoteMichael

Danke für das Interview mit Herrn Mebrhatom. Es ist wichtig, dass er und andere Geflüchtete ihre Geschichte einem breiten Publikum erzählen können. Wie wichtig das ist, zeigt auch die krasse Abwehr unter den Kommentatoren hier die sich in teils hahnebüchenen Statements bahnbricht. Diesen offenbar recht verängstigten Mitbürgern sei gesagt: Wenn auch Eure Angst vor Menschen mit Fluchtgeschichte völlig unbegründet ist, mit einem habt Ihr Recht: Dieses Land verändert sich tatsächlich und Ihr werdet immer weniger. Gott sei Dank.


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Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 13, 2020, 01:27:54 PM
Quote[...] Der Tiroler Fotograf Lois Hechenblaikner befasst sich seit Jahrzehnten mit dem Massentourismus in den Alpen. Seinen neuen Fotoband widmet er dem jährlichen Party-Exzess in Ischgl. Dokumente des Wahnsinns, die fassungslos machen. ... Der österreichische Fotograf Lois Hechenblaikner ist ein genialer Dokumentarist des nackten Grauens. Geboren im Tiroler Alpbachtal, fotografiert Hechenblaikner seit vielen Jahren schon den massentouristischen Exzess, der sich namentlich in Ischgl alljährlich winters wiederholt. Ischgl – seit diesem Frühjahr bekannt als "Corona-Hotspot", aber für Menschen, die den Ort so wie der 62-Jährige sehr gut kennen, seit langem bereits eine Art "Partnergemeinde von Sodom und Gomorrha". Tatsächlich kommt, wer Lois Hechenblaikners Fotografien betrachtet, aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Skipisten schnapsglas-, sekt- sowie bierflaschenübersät, Menschen, Männer in der Mehrzahl, die komasaufend Sexpuppen wie Voodoopuppen malträtieren und zum Après-Ski in der Schatzi-Bar oder im Kitzloch einkehren, um dort Donald Trumps Wahlspruch "Grab them by the pussy" an Frauen wahr werden zu lassen, die freizügig auf den Theken tanzen. All das ist zu sehen im Fotobuch "Ischgl". Knut Cordsen hat mit Lois Hechenblaikner gesprochen. ...

Knut Cordsen: Ich dachte, wer einmal gesehen hat, wie es zu Wiesn-Zeiten im Bierzelt zugeht, der sei gestählt und gewappnet, aber selbst ein Münchner Oktoberfest-Besucher dürfte relativ fassungslos vor dem stehen, was Sie auf Ihren Fotografien festhalten.

Lois Hechenblaikner: Für mich war es einfach interessant, in einer Langzeitbeobachtung zu schauen, wie weit die Touristiker dort bereit sind, die Spirale hochzuschrauben. Wo ist das Ende? Mein Buch ist eine Art visueller Geigerzähler des touristischen Wahnsinns. Ich wollte das festhalten in Form einer Langzeit-Dokumentation. Ich war doch immerhin 26 Jahre an diesem Thema dran und hatte deswegen eben diese dichte Sammlung an Bildern. Ich wollte schauen, was aus einem ehemaligen Bauerndorf geworden ist. Früher herrschten in Ischgl die ärmlichsten Verhältnisse, auf einmal kehrte dort der Wohlstand ein. Zweifelsohne hat Ischgl ein fantastisches Skigebiet und tolle Liftanlagen. Aber was dazugekommen ist, ist diese unglaubliche Dimension Alkohol und der Party-Tourismus.

Knut Cordsen: Sie sprechen mit Blick auf Ischgl vom "Delirium Alpinum. Sie sind als Kind von Pensionswirten nicht weit entfernt vom Paznauntal aufgewachsen. Wann hat diese Mischung aus Alkoholabusus und Notgeilheit dort Einzug gehalten?

Lois Hechenblaikner: Ja, wann war das? Ich habe ein Bild im Buch, auf dem sieht man ein Plakat von 1996, mit dem Sado-Maso-Shows beworben werden. Ich glaube, ich habe das damals selbst gar nicht realisiert. Aber ich habe es fotografiert, und deswegen ist es so wichtig, eine Langzeit-Dokumentation zu machen. Der Alpenraum ist so etwas geworden wie ein Überdruckventil für die Leistungsgesellschaft: Druck ablassen gegen Bezahlung. Nehmen wir die Deutschen, die in Ischgl den Hauptmarkt bilden: Der Deutsche muss in seiner Firma wirklich sehr viel Leistung erbringen. Der kriegt sein Geld nicht umsonst. Deutschland ist Leistungsprinzip. Das nährt diese Sehnsucht, Druck abzulassen. Hans-Peter Dürr hat mal gesagt: Das Primitive ist mächtig. Das merkt man halt, dass die Gäste hier abdriften in eine vulgäre Welt. Das ist anscheinend im Menschen angelegt, selbst in den intellektuellen Kreisen. Wenn man sich mal das Milieu anschaut, so ist das doch eine interessante Mischung: Manager sind genauso in Ischgl wie einfache Arbeiter. Die Ski-Kleidung macht sie gleich.

Knut Cordsen: Ein Hotelier und Bar-Betreiber aus Ischgl wird im Nachwort Ihres Buches mit den Worten zitiert, man müsse "mehr mit dem Penis denken", um neue Gäste zu erreichen. Eine Table-Dance-Bar wirbt mit dem mehrdeutigen Wort "Abwedeln" um Après-Ski-Gäste. Man sieht auf Ihren Bildern Männerhorden, die mit Motto-Shirts wie "Muschifreunde Karlsruhe" oder "Geile Sau" herumlaufen und Dildos auf dem Kopf tragen – ein Ort totaler Enthemmung. Ist das eine Art Karneval?

Lois Hechenblaikner: Ich habe ja versucht, sozusagen den genetischen Code von Ischgl zu knacken, weil ich mich immer gefragt habe: Warum brauchen die Leute das? Gleichzeitig ist es nicht mein Recht, als Moralapostel aufzutreten und die zurechtzuweisen, sondern ganz im Gegenteil: Als Fotograf versuche ich, mich möglichst neutral zu verhalten und die Leute in ihrer Freude zu lassen. Ja, das ist ganz wichtig, damit ich auch die Bilder machen kann. Nicht wertend hineingehen, sondern einfach als begleitender Beobachter. Also was ist hier passiert? Der Deutsche ist ein sehr, sehr kontrollierter Mensch. Deutschen nimmt man das Geld nicht so einfach ab. Den Deutschen muss man eben einstellen, zwischen 0,5 und einem Promille, da, wo die Wurschtigkeit beginnt – und dann kannst du ihn abmelken. Das haben diese Bergbauern-Buben kapiert. Das ist genial. Sie haben einen nahezu animalischen Instinkt entwickelt, um diesen eingesperrten Menschen abzuholen, so dass er loslässt. Wir sind ja nicht immer kontrollierte Menschen. Was dazukommt, ist die Gruppendynamik. Wenn zu viele Männer beisammen sind, dann werden's deppert natürlich, Frauen ebenso. Keine Frage, es sind ja auch ganz wilde Frauen-Horden, die da durchziehen. Deswegen war es für mich auch wichtig, Bilder weiblicher Enthemmung zu zeigen. Bei dieser ganzen MeToo-Debatte sind eindeutig Männer die Schweine. Aber in Ischgl sieht man, wo auch Frauen hin driften, wenn es ins Dumpfe geht. Dieses Wegdriften in eine dunkle Welt ist schon sehr fragwürdig.

Knut Cordsen: Es gibt in Ischgl auch die sogenannte "Champagnerhütte". Eine Ihrer Fotografien zeigt Rechnungsbeträge aus dieser Champagnerhütte für mehrere Flaschen Montrachet – die Flasche zu je 2.900 Euro. Es ist also auch der reiche Pöbel, der dorthin fährt, um mal die Sau rauszulassen, der geldige Prolet.

Lois Hechenblaikner: Absolut. Wobei ich da ja noch eine kleine Rechnung gezeigt habe. Ich hätte noch eine Preisliste gehabt mit einer Sechs-Liter-Flasche Dom Perignon Rosé. Die Flasche ist vergoldet und kostet 55.000 Euro. Ja, warum denn nicht beim Après-Ski mal eben einen Audi Quattro wegsaufen? Schauen Sie: Der Bankomat an der Talstation von Ischgl hat die zweithöchste Entnahme-Frequenz von ganz Österreich. Der ganze Ort wirkt wie in Hirn-Nebel. Der Gast ist aus der Ratio herausgehoben, und wenn er heimkommt, hat er großes Kopfweh, weil das Konto leergeräumt ist. Aber Hauptsache, es ist in Tirol geblieben.

Knut Cordsen: Das "Handelsblatt" hat Sie mal einen "fotografischen Thomas Bernhard" genannt. Sehen Sie sich als einen solchen?

Lois Hechenblaikner: Es gibt Parallelen, keine Frage. Ich will einfach an den Schmerzkörper kommen, an das Destillat. Deswegen bin ich auch drangeblieben. Jedes Land hat sein eigenes Selbstverständnis, seine eigene Wirklichkeit. Bei mir ist vielleicht das Verrückte, das ich Tiroler bin und einen wahnsinnigen Abstand habe zu diesem ganzen Treiben. Ich will schauen, was die Wirklichkeit ist. Paul Watzlawick hat das in seinem Buch "Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen" so wunderbar beschrieben. Ich frage mich: In welcher Wahnwelt, in welcher Täuschung leben die Tiroler? Wie beschreiben sie sich selber? Was ist die Eigenwahrnehmung und was Fremdwahrnehmung? Deshalb diese Langzeit-Dokumentation. Und jetzt ist mit Corona der richtige Zeitpunkt, Bilanz zu ziehen. Das Buch ist ein visueller Echoraum, ein Spiegel in Form eines Gewissens mit den Mitteln der Fotografie, wo die Tiroler nun mal reinschauen müssen.

Knut Cordsen: Wird man da nicht irgendwann zum Misanthropen, wenn man sich das täglich anschaut?

Lois Hechenblaikner: Durchaus möglich. Gut, es ist ja nur eine meiner Werkserien. Aber es macht ja sonst keiner etwas in der Beziehung. Warum ist keiner da? Auch von den ganzen Medienleuten? Die Lokalmedien schweigen.

Knut Cordsen: Wie nimmt man Sie in Tirol wahr? Als Nestbeschmutzer?

Lois Hechenblaikner: Ich habe kein lustiges Leben. Ich lebe auch sehr, sehr isoliert. Im Dorf ist man ganz klar der vollkommene Außenseiter. Und es gibt massivsten Liebesentzug. Unser älterer Sohn geht auch deswegen im Ausland in die Schule. Das ist schon eine harte Nummer. Das muss man auch aushalten können. Aber ich habe immer an meine Arbeit geglaubt. Das Thema muss wahrhaftig sein. Man muss eben dranbleiben und auch an die Arbeit glauben.

Knut Cordsen: Glauben Sie, dass Ihre Bilder einen Wandel im Denken anstoßen können?

Lois Hechenblaikner: Meine Bilder alleine glaube ich nicht. Es ist eine Kombination aus vielem, zu dem jetzt diese Wirtschaftstragödie kommt. Das wirft diese Leute jetzt wahrscheinlich zurück in eine tiefe Nachdenkpause, die sie sonst wahrscheinlich nie gemacht hätten. Sie hätten sonst nie innegehalten. Man darf ja nicht vergessen: Das war bitterste Armut da in Ischgl. Die Leute konnten kaum überleben. Steilstes Bergbauern-Gebiet. Niemals hätten die Leute da drinnen eine Chance gehabt zu überleben. Und auch in Zukunft wird es ohne Tourismus nicht gehen. Hier ist die Frage, ob es ihnen gelingt, den Wandel zu vollziehen. Sie haben es ja selber gesehen, dass sie damit an die Wand fahren. Was ist da los, wenn ein Kind in Ischgl aufwächst, was hat das für einen Eindruck von den Gästen? Sind das Monster, Wahnsinnige, völlig Entgrenzte? Wenn ich als Einheimischer Angst haben müsste, wenn meine Kinder durch den Ort gehen, dann ist schon mal etwas krank.


Aus: "Nacktes Grauen: Lois Hechenblaikners Fotoband über Ischgl" (kulturWelt vom 02.06.2020)
Quelle: https://www.br.de/nachrichten/kultur/der-fotoband-ischgl-des-tiroler-fotografen-lois-hechenblaikner,S0MuEmh (https://www.br.de/nachrichten/kultur/der-fotoband-ischgl-des-tiroler-fotografen-lois-hechenblaikner,S0MuEmh)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 01, 2020, 11:20:44 AM
Quote[...] Soziale Normen (gesellschaftliche Normen, soziale Skripte) sind konkrete Handlungsanweisungen, die das Sozialverhalten betreffen. Sie definieren mögliche Handlungsformen in einer sozialen Situation. Sie unterliegen immer dem sozialen Wandel, sind gesellschaftlich und kulturell bedingt und sind daher von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. Normen bringen (äußerliche) Erwartungen der Gesellschaft an das Verhalten von Individuen zum Ausdruck. Die Verbindlichkeit dieser Erwartungen variiert. ...


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Norm (https://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Norm) (26. April 2020)

Quote[...] Eine Sitte ist eine durch moralische Werte, Regeln oder soziale Normen bedingte, in einer bestimmten Gruppe oder Gemeinschaft entstandene und für den Einzelnen verbindlich geltende Verhaltensnorm. ...


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Sitte (https://de.wikipedia.org/wiki/Sitte) (5. Juni 2020)

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Quote[...] Sie rauben, erpressen und morden – im Namen ihrer Urururgroßväter: Ein Clanmitglied berichtet von den Ehrvorstellungen Berliner Großfamilien. Das Problem der Clankriminalität ist gar nicht so schwerwiegend? Doch, ist es, sagt Khalil O.  – der Berliner, heute 37, gehört selbst zu einer der verbrecherischsten arabischen Großfamilien in Deutschland. Jahrelang brach er in Häuser ein und handelte mit Kokain, wie zahlreiche seiner Cousins es bis heute tun.

Hier erklärt er, wo das brutale Verhalten seiner Familie seinen Anfang nahm: weit weg von Berlin, in zwei kleinen Dörfern in der Türkei. Der Text ist ein Auszug aus dem Buch ,,Auf der Straße gilt unser Gesetz", erschienen bei Heyne, in dem er zusammen mit der Journalistin Christine Kensche von seiner kriminellen Karriere in Berlin berichtet.

Er selbst stieg vor 15 Jahren aus. Als Erwachsener holte er die Schule nach, machte Abitur und studierte. Heute arbeitet Khalil O. als Sozialarbeiter und betreut kriminelle junge Männer.


Manchmal sprechen mich fremde Leute auf der Straße an und sagen: ,,Du bist doch der Sohn von dem und dem." Und während ich noch überlege, wo ich die Typen schon mal gesehen habe, sagen die: ,,Wir sind verwandt." Berlin ist zwar eine Großstadt, aber wir leben immer noch wie auf dem Dorf. Jeder kennt jeden, und alle sind vernetzt.

Das liegt daran, dass fast alle großen Clans aus derselben Gegend stammen. Mardin ist eine Provinz am hinterletzten Ende der Türkei, und da, an der Grenze zu Syrien, liegt eine arabische Enklave von ein paar Dutzend Dörfern. Die meisten Familien, die immer wieder in der Zeitung stehen, kommen aus zwei Dörfern, die Luftlinie knapp drei Kilometer auseinanderliegen: Üçkavak und Yenilmez.

Das erste Dorf heißt übersetzt so viel wie ,,Drei Pappeln", das zweite ,,Unbesiegbar". Die Jungs, die im Frühjahr 2017 die Riesengoldmünze aus dem Berliner Bode-Museum gestohlen haben, zum Beispiel sind von der Familie R. Die R.s kommen aus Drei Pappeln und waren damals wie heute unsere Nachbarn.

Ich selbst kenne die Dörfer nur von alten Fotos, die mein Vater in einem Koffer aufbewahrt, und aus den Geschichten meiner Oma. Drei Pappeln und Unbesiegbar waren zwei Flecken aus quadratischen Häusern, die die Leute mit den schweren gelben Steinen bauten, die sie aus den Feldern zogen. So weit man gucken konnte, sah man nur Felder, Olivenbäume und eine staubige Straße. Ziegen, Schafe, Kühe und Kinder liefen frei herum.

Die Frauen schleppten Wasser, das sie aus dem Speicher schöpften. Eigentlich war es nur ein Loch in der Erde, das sie mit Lehm verputzt hatten. Der Dreck sank auf den Grund, und von oben schöpften sie halbwegs sauberes Wasser ab. Die Männer arbeiteten auf den Feldern und stellten sich an die Straße, um Durchreisenden Obst und Gemüse zu verkaufen.

Geld hatte eigentlich keiner, aber wenn mal was zusammenkam, wurde es in das Minarett gesteckt. Der Turm der Moschee war so groß wie der Stolz des Dorfes. Drei Pappeln zählte die meisten Familien und baute das größere Minarett.

Das konnte Unbesiegbar sich natürlich nicht bieten lassen und zog nach. Das Verhältnis zwischen Unbesiegbar und Drei Pappeln war ungefähr so wie zwischen Köln und Düsseldorf, oder Madrid und Barcelona. Nur dass Kriege bei uns anders ausgetragen wurden als mit Karneval oder Fußball.

Vor hundert Jahren gab es genau wie heute viel Streit zwischen den Familien und auch in den Familien selbst. In Drei Pappeln ging das so weit, dass sie irgendwann eine zweite Moschee bauen mussten, weil ein Zweig einer Familie so heftig mit einem anderen Zweig aneinandergeraten war, dass sie nicht mehr zusammen beten wollten. Selbst jetzt in Berlin ist das noch eine entscheidende Frage bei uns, in welche Moschee deine Familie damals ging: Real Madrid oder FC Barcelona? Freund oder Feind?

In Drei Pappeln erzählten sich die Leute, dass die von Unbesiegbar nachts ihre Ziegen stahlen. Umgekehrt war es wahrscheinlich genauso. Drei Pappeln hatte den Vorteil, dass sie mehr Männer, also auch mehr Fäuste hatten. Aber Unbesiegbar gab niemals auf, und wer eine Schlägerei gewann, behielt recht.

Streit gab es immer dann, wenn jemand sein Wort gebrochen hatte. Zum Beispiel: Einer verkaufte ein Stück Land an seinen Nachbarn. Der Deal wurde mit Handschlag beschlossen und die neue Grenze mit Steinen markiert. Aber in der Nacht setzte der Verkäufer die Steine heimlich zu seinem Vorteil um. Oder: Ein Bauer sagte einem Händler zu, ihm die gesamte Ernte zu verkaufen, und kassierte einen Vorschuss.

Doch dann bekam der Händler raus, dass der Bauer die Ernte schon einem anderen versprochen und doppelt abkassiert hatte. Oder: Einer von Unbesiegbar klaute eine Ziege von Drei Pappeln und behauptete, die sei ihm zugelaufen – ,,Ich schwöre auf meinen Bart!" So etwas konnte böse enden.

Konflikte machten die Familien unter sich aus. Staatliche Institutionen kannten sie ja nicht. Schon zur Zeit des Osmanischen Reichs hatte man sich einen Dreck um die paar Dörfer geschert. Und als im Jahr 1923 die türkische Republik gegründet wurde, haben sie zwar eine Polizeistation in die Provinz gebaut, aber die war immer noch ziemlich weit weg, und wahrscheinlich hätten die türkischen Beamten keinen Finger gekrümmt, wäre ein Araber da aufgekreuzt. Auf die Idee kamen meine Leute auch gar nicht.

Es ist so: Wenn du um Hilfe bittest, giltst du als schwach. Und wenn du schwach bist, kommen die anderen und fressen dich. So ungefähr endete jede Geschichte, die meine Oma uns erzählte.

Mit anderen Worten: Wer sich einmal verarschen lässt, wird immer wieder verarscht. Deswegen können wir nicht auf die Schnauze kriegen und einfach nach Hause gehen.

Wenn einmal Krieg ausgebrochen ist, wird meine Familie niemals Ruhe geben. Niemals. Die sind so gepolt, noch von damals. Ich habe Onkel, die laufen hier mit einer scharfen Knarre rum, weil vor hundert Jahren jemand aus unserer Familie jemanden aus einer anderen Familie umgebracht hat. Noch heute kann es jederzeit passieren, dass dafür einer von denen einen von uns umlegt. Egal wen, Hauptsache einen aus der gleichen Familie. Das nennt man Blutrache.

Es gab zwar keine Gesetze und keine Richter auf den Dörfern, aber es gab Traditionen und Familienoberhäupter. Unter den Leuten waren keine Gelehrten, darum legte die Community das Recht selbst aus, nach Gewohnheiten, die sich mit der Zeit so eingespielt hatten.

Gab es Stress, wurden die Familienältesten gerufen. Die versuchten zu vermitteln, bevor eine Sache zu einer Fehde eskalierte. Wenn zwei Familien Streit hatten, riefen sie den Ältesten einer dritten Familie dazu, und der verhandelte einen Kompromiss. Das nennt man Sulha, Versöhnung.

Bei einem Mord musste die Familie des Täters Blutgeld an die Familie des Opfers zahlen. Über die Summe entschied der Vermittler. Damit war die Sache allerdings nicht unbedingt geregelt. Manchmal war der Drang nach Rache stärker.

Der Mann einer Tante von meiner Frau wurde vor 20 Jahren umgebracht, in Drei Pappeln. Worum es da eigentlich ging, weiß keiner mehr so genau, ich glaube, er war die Vergeltung für einen anderen Mord. Jedenfalls versteckten sich die Täter danach fünf Jahre lang in ihrem Haus. Warum? Das Haus eines anderen Mannes ist tabu. Du kannst nicht einfach zu ihm gehen und ihn umbringen. Du darfst ihn auch nicht in deinem eigenen Haus umbringen. Zu Hause darfst du deinen Todfeind nicht anfassen.

Wenn zum Beispiel eine Beerdigung in einer Familie stattfindet, dann kommt die verfeindete Familie zur Trauerfeier, auch wenn die beiden bis aufs Blut zerstritten sind. Man zollt sich Respekt, das gehört sich so. Du musst deinen Feind empfangen und ihm Tee servieren. Sobald er rausgeht, darfst du ihn abschießen, aber vorher nicht.

Deswegen haben die Täter sich also zu Hause versteckt, fünf Jahre lang, bis ein Blutgeld ausgehandelt wurde. Die Söhne des Opfers, die Cousins meiner Frau, akzeptierten die Zahlung auch. Aber nur scheinbar. Sie haben so getan, als sei jetzt alles okay, damit die anderen sich sicher fühlen und wieder aus dem Haus gehen. Das war ihre Chance.

Jahrelang haben sie nur auf diesen Moment gewartet, in dem sie die Mörder ihres Vaters rächen konnten. Ich habe ja schon gesagt, meine Familie gibt niemals auf.

Das ist das Schlimme eigentlich. Im wilden Osten hat diese Härte vielleicht einmal Sinn gemacht, weil sie abschreckend auf Feinde wirkte. Aber jetzt ist sie die Wurzel aller Probleme.

Meine Leute haben Angst, als Idioten dazustehen. Wer einmal einknickt, wird nicht mehr für voll genommen und macht sich angreifbar. Deshalb denken sie, sie müssen Blut mit Blut begleichen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das ist das Prinzip und das gilt auf dem Dorf genauso wie in Berlin.

Die Geschichte hat sich zwar Tausende Kilometer entfernt abgespielt, aber selbst hier in Deutschland haben die Verwandten der Täterfamilie Geld gesammelt und nach Drei Pappeln geschickt, damit sie dort das Blutgeld zahlen konnten.

Oder nehmen wir Nidal, den Typen, der vor dem Tempelhofer Feld in Berlin ermordet wurde. Der ist zwar Palästinenser, aber die haben ähnliche Sitten. In dem Krieg zwischen Nidals Leuten und einer anderen Familie ging es eigentlich um Drogengeschäfte, wem welcher U-Bahnhof in Neukölln gehört und wer da dealen darf und wer nicht.

Doch eskaliert ist es dann – das erzählt man sich so in der Community –, weil Nidal einen krassen Fehler gemacht hat: Er war auf einer Hochzeit eingeladen und hat einen älteren Mann geschlagen, vor dessen Frau und Kindern. Das hätte Nidal nicht machen sollen.

Es war eine heftige Ehrverletzung, der andere hat das Gesicht verloren. Nidal hat danach versucht, die Sache zu bereinigen. Er hat einen Vermittler losgeschickt, und der hat gesagt: ,,Nidal will das klären, es tut ihm leid" und dies und das. Aber der Vertreter der anderen Seite hat nur gesagt: ,,Nidal muss sterben."

Und dann haben sie ihn erschossen, im Park, beim Grillen mit seiner Familie. Dass Nidal vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder getötet wurde, ist kein Zufall, genau das war die Rache. Man fasst keinen Mann vor seiner Frau und seinen Kindern an. Das ist ein Gesetz, und wer das bricht, muss dafür bezahlen.

Vor ein paar Tagen hat mir ein Cousin ein Video aus Drei Pappeln geschickt. Da gab es einen Mord, eine Blutrache an entfernten Verwandten von mir, die sind eine bedeutende Familie in der Gegend und hier in Deutschland auch. Ich nenne sie mal Familie A. Davor soll Familie A., also der Vater von dem Opfer, vier Männer der Familie B. umgelegt haben, weil die B.s einen der A.s im Streit getötet hatten. Klingt kompliziert?

Ist es auch, das geht da jetzt schon seit Jahrzehnten so hin und her. Auf dem Video ist der Vater des jetzigen Opfers zu sehen, der selbst schon gemordet hat. Vater A. darf nur unter Polizeischutz aus dem Knast, um auf die Beerdigung seines Sohnes zu gehen. Polizisten mit Maschinengewehren und kugelsicheren Westen schirmen ihn ab.

Er steigt in einen Bus, der ihn zurück ins Gefängnis transportieren soll, da dreht er sich zu seinen Leuten um und brüllt: ,,Ihr unternehmt jetzt nichts, das ist eine Angelegenheit für echte Männer – ich werde mich darum kümmern!" Man kann sich also ausrechnen, wie es da unten weitergehen wird. Es ist ein ewiger Teufelskreis.

Das Verrückte ist: Von uns hier in Deutschland ist niemand mehr da geboren, selbst mein Vater kennt die Dörfer nur vom Hörensagen. Und trotzdem haben die Traditionen noch immer einen krassen Einfluss auf uns.

Bei jedem Familientreffen werden die alten Geschichten aufgewärmt, die Jüngeren posten Fotos und Videos auf Instagram, die sich auf unsere Herkunft beziehen. So ein Bild zum Beispiel: Zwei goldene Sturmgewehre kreuzen sich in der Mitte, drum herum stehen die Namen von allen wichtigen Clans – mein Nachname ist auch dabei. Die Magazine und Gewehrläufe bilden ein Dreieck, in dem ,,LKC" steht, das ist die Abkürzung für libanesisch-kurdische Clans. So bezeichnen uns Polizisten und Kriminalforscher.

Die haben sich sogar die Mühe gemacht, in unsere alten Dörfer zu reisen, um mehr über unsere Herkunft herauszufinden. Ein anderer Name für uns ist Mhallami-Kurden, und auch das ist ein Grund, warum wir irgendwo alle miteinander verwandt und bekannt sind: Wir stammen nicht nur aus derselben Gegend, wir gehören auch zur selben Ethnie. Wobei die Bezeichnung Kurden falsch ist. Wir selbst nennen uns nur Mhallami, weil wir eigentlich Araber sind, die nur lange Zeit unter Kurden gelebt haben. Bis es uns da zu brenzlig wurde.

Die Mhallami haben einen eigenen arabischen Dialekt, der von niemandem sonst gesprochen wird. Man erzählt sich viele Geschichten darüber, wo unser Volk herkommt und wie unser Dörfer entstanden sind. Einige behaupten, wir wären ursprünglich christliche Aramäer gewesen, die irgendwann zum Islam konvertierten, weil sie von den Muslimen unterdrückt wurden.

Manche sagen auch, dass wir auf einen großen arabischen Beduinenstamm zurückgehen, der bei den Feldzügen mitmachte. Die beliebtere Geschichte ist, dass wir die Nachkommen von arabischen Kriegern sind, die mit den islamischen Eroberungsfeldzügen im achten Jahrhundert in die Gegend kamen, um die christliche Bevölkerung in Schach zu halten.

Mahall ist der Ort und Mi'a ist hundert. Unser Name bedeutet also so viel wie ,,Der Ort der Hundert".

Für meine Familie steht jedenfalls fest, dass wir echte Araber sind. Einer meiner Onkel hat mal eine DNA-Analyse machen lassen, bei der man sich ein Wattestäbchen in den Mund steckt und es in ein Labor schickt. Dabei kam heraus, dass wir ursprünglich von der Arabischen Halbinsel stammen. Das war eine wichtige Erkenntnis für uns, weil wir immer wie Dreck behandelt wurden, auch von Arabern.

Mein Vater hat einen Stammbaum gezeichnet, mit allen Informationen, die er aus der Verwandtschaft kriegen konnte. Ein großer Baum mit dicken Ästen und vielen Zweigen, in denen Namen stehen – aber nur von den Männern. Bei uns zählt die Blutlinie des Vaters.

Die eigene Familie, also das gleiche Blut, geht über alles. Wenn wir Stress mit einer anderen Mhallami-Familie haben und es eine Schlägerei gibt, werden deshalb auch immer nur die Onkel und ihre Söhne zur Verstärkung gerufen, nicht die Söhne meiner Tanten.

Das könnte uns sonst jemand als Schwäche auslegen, so nach dem Motto: ,,Die sind nicht stabil genug, um sich selbst zu verteidigen." In dem Stammbaum ist jeder dritte Name gleich, weil es bei uns so üblich ist, dass der Erstgeborene den Namen des Großvaters erbt.

Meine Vorväter sind schon immer viel gewandert. Vom Jemen nach Saudi-Arabien, in den Irak und nach Syrien, von dort in die Türkei, dann in den Libanon und von Beirut schließlich nach Berlin. Meine Großeltern haben hier inzwischen 300 Nachfahren, und soweit ich weiß, planen alle zu bleiben.

Früher gab es viele Gründe, zu gehen. Entweder versiegte die Wasserquelle im Ort, oder die Familie wurde zu groß und das Land reichte nicht mehr für alle Söhne. Oder es gab Streit mit einem anderen Stamm, und damit die Fehde nicht auf die Kinder überging, zog man lieber weiter. Im Osmanischen Reich war ja alles eins, es gab keine Grenzen, keine Kontrollen, keine Abschiebungen.

Ein Mann konnte wandern, wie er wollte. Mein Urururopa war Maurer und deshalb nicht so mit der Erde verbunden wie ein Bauer. Wenn eine Arbeit erledigt war, zog er ins nächste Dorf. Mein Ururopa dagegen bestellte ein Feld und baute ein kleines Steinhaus, in dem meine Familie über mehrere Generationen lebte. Doch dann kam Mustafa Kemal Atatürk, gründete die Türkei und verbot alles, was nicht türkisch war.

So war das damals mit Minderheiten: Erst vertrieben oder töteten die Türken die Armenier. Dann gingen sie gegen die Kurden vor und dann gegen unsere arabische Kultur. Den Familien wurden neue Namen verpasst, sie sollten nur noch Türkisch reden. ,,Atatürk hat uns unsere Namen genommen, Atatürk hat uns unsere Sprache genommen", sagen die Älteren.

Und als die Kurden dann einen Aufstand machten, waren wir auf einmal mittendrin, dabei hatten wir gar nichts mit den Kurden zu tun und mit den Türken auch nicht. Aber unsere Dörfer lagen in den kurdischen Gebieten, und so gerieten wir in die Unruhen.

Die Mhallami wurden gegen die Kurden bewaffnet: Die Türken gaben dem Bürgermeister ein Gewehr und wollten die Jungen in den Militärdienst einziehen. Daraufhin griffen die Kurden unsere Dörfer an. In den 1940er Jahren entschied mein Opa, endgültig in den Libanon zu gehen. Er und sein Vater hatten schon als Saisonarbeiter auf dem Gemüsemarkt von Beirut gearbeitet, als die Lage in den Dörfern immer schlechter wurde, und darum wussten sie, wie gut die Leute da lebten.

Der Libanon war die Schweiz des Nahen Ostens. In der Schweiz gehörten wir zwar zu den Ärmsten der Armen, aber das war immer noch besser, als auf den Steinfeldern zu ackern oder als Kollateralschaden der Kurdenaufstände zu enden. Also machten sie sich zu Fuß auf in die große Stadt.


Aus: "Wo die Gewalt ihren Ursprung hat: Fast alle Taten Berliner Clans gehen auf die Fehde zweier Dörfer zurück" Khalil O. (31.10.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/berlin/wo-die-gewalt-ihren-ursprung-hat-fast-alle-taten-berliner-clans-gehen-auf-die-fehde-zweier-doerfer-zurueck/26573888.html (https://www.tagesspiegel.de/berlin/wo-die-gewalt-ihren-ursprung-hat-fast-alle-taten-berliner-clans-gehen-auf-die-fehde-zweier-doerfer-zurueck/26573888.html)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 20, 2020, 02:37:01 PM
Quote[...] Fast jedes fünfte Kind weltweit wächst laut einem Bericht der Hilfsorganisation Save the Children in einem militärischen Konflikt auf. Die Zahl der betroffenen Kinder sei 2019 im Vergleich zum Vorjahr um elf Millionen auf 426 Millionen gestiegen, heißt es in dem Bericht Krieg gegen Kinder, den die Organisation zum Internationalen Tag der Kinderrechte veröffentlicht hat. Die Zahl der Verbrechen an Kindern in Konfliktgebieten erreichte demnach ein Allzeithoch.

Seit 2010 wurden dem Bericht zufolge mehr als 93.000 Kinder getötet oder verstümmelt. Allein aus dem vergangenen Jahr seien 10.300 Fälle dokumentiert. Ein Drittel gehe auf den Einsatz von Explosivwaffen zurück. Save the Children forderte die Staatengemeinschaft auf, den Einsatz und den Handel mit diesen Waffen einzuschränken und Verletzungen internationaler Vereinbarungen zu bestrafen.

Die gefährlichsten Staaten für Kinder waren demnach im vergangenen Jahr Afghanistan, die Demokratische Republik Kongo, Irak, Jemen, Mali, Nigeria, Syrien und Somalia, der Sudan, Südsudan sowie die Zentralafrikanische Republik. Die Kinder seien "Opfer von Menschen, die internationale Regeln missachten und von Regierungen, die ein Auge zudrücken", sagte die Vorstandsvorsitzende von Save the Children Deutschland, Susanne Krüger. "Der Krieg gegen Kinder muss gestoppt werden."

Die Zahl der von den Vereinten Nationen verifizierten Verbrechen an Kindern ist laut dem Bericht im vergangenen Jahr auf ein Allzeithoch von 26.233 gestiegen, die Dunkelziffer liegt demnach aber noch deutlich höher. Die UNO zählt dazu unter anderem die Rekrutierung von Kindern durch Streitkräfte und bewaffnete Gruppen sowie Vergewaltigungen oder andere sexuelle Gewalt.

Erschwerend kommt dem Bericht zufolge in diesem Jahr die Corona-Pandemie hinzu, die zu wachsender Armut und überlasteten Gesundheitssystemen führt. Dies habe direkte Folgen für die Überlebenschancen von Kindern. Genaue Daten für dieses Jahr seien in dem Bericht jedoch noch nicht berücksichtigt.

Die Organisation Save the Children veröffentlicht den Bericht anlässlich des Internationalen Tags der Kinderrechte am 20. November zum vierten Mal.


Aus: "Bewaffnete Konflikte: 426 Millionen Kinder wachsen in bewaffneten Konflikten auf" (20. November 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-11/bewaffnete-konflikte-kinderhilfsorganisation-save-the-children (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-11/bewaffnete-konflikte-kinderhilfsorganisation-save-the-children)

QuoteChancen für eine bessere Welt #1

"Die Zahl der betroffenen Kinder sei 2019 im Vergleich zum Vorjahr um elf Millionen auf 426 Millionen gestiegen"

Wir müssen diesen Kindern und ihren Familien Schutz spenden.


Quote
Raoul_Duke #1.1

Oder sie lehren, dass man Konflikte auch ohne Waffen lösen kann.


Quotegender #2

Das interessiert Deutschand und die EU gar nicht. Geschichtsvergessen haben wir ein paar Kinder aus Moria aaufgenommen, es ist unfassbar, dass hier noch irgendein Mensch auf unsere besonderen Werte insistiert.


QuoteJosy Edmund #2.1

Die ganze Welt mit unseren Werten beglücken hat schon zig mal nicht funktioniert.
Wir werden weder Länder, wie Afghanistan, die Demokratische Republik Kongo, Irak, Jemen, Mali, Nigeria, Syrien und Somalia, der Sudan, Südsudan sowie die Zentralafrikanische Republik stabilisieren noch werden wir die Menschenrechte dort durchsetzen können. Solche Werte müssen aus den dortigen Gesellschaften erwachsen. Eine Kolonialpolitik 2.0 wird es durch Europa nicht geben und das ist, so hart es auch klingen mag, gut so!


Quoteambra #5

Das werden Generationen traumatisierte Menschen, vielleicht auch die Krieger der Zukunft, weil sie nichts anderes kennen und gelernt haben.
Das ist so bitter und traurig, es gibt nicht wirklich Worte, die ausdrücken können, wie schlimm das ist und dass wir es überhaupt heute noch zulassen.


...
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 25, 2020, 10:56:55 AM
Quote[...] Er selbst [Klaus Heinrichs], Jahrgang 1927, hatte seine Jugend im nationalsozialistisch beherrschten Berlin zugebracht, war als Flakhelfer herangezogen und wegen ,,Wehrkraftzersetzung" angeklagt worden. Bis ins hohe Alter standen seine Forschungen im Zeichen der Erfahrung eines durch Mythologien bedrohten Lebens. Über Schwierigkeiten, nein zu sagen, schrieb wenige Jahre vor dem Studentenprotest von 1968 freilich auch ein Autor, der seine Erfahrungen mit den ,,leibhaft Nachlebenden des NS" und ihren Verdrängungen gemacht hatte.

... Zivilisation beruht für Heinrich auf dem Unsichtbarmachen ihrer Kräfte. In allen ihren Hervorbringungen suchte er die Widersprüche auf, die sie konstituieren: Fluchtimpulse und solche der Vereinigung, des Beschwörens, des Opferns und der Triebunterdrückung, der Ordnungssuche wie dem Freiheitsstreben. Eine ,,Balance" zwischen solchen, einzeln unvermeidbar gewalttätig werdenden Kräften zu finden, setzte für ihn ihr Verständnis voraus.

...


Aus: "Zum Tod von Klaus Heinrich: Nichts, was wir erinnern können, ist vorbei" Jürgen Kaube (24.11.2020)
Quelle: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/zum-tod-von-klaus-heinrich-17069031.html (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/zum-tod-von-klaus-heinrich-17069031.html)

Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 29, 2020, 11:57:58 AM
Quote[...] Die Psychologin Susanne Witte vom Deutschen Jugendinstitut hat in diesem Frühjahr für den 9. Familienbericht des Bundesfamilienministeriums Studien und Befragungen aus dreißig Jahren zu Gewalt in Familien ausgewertet. Die Ergebnisse seien zwar nicht ohne Weiteres zu vergleichen, sagt Witte, sie hält es aber für realistisch, dass 30 bis 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland zu Hause leichte Gewalt erfahren, rund 10 Prozent schwere.

Die neuesten Zahlen liefert eine gerade veröffentlichte repräsentative Studie der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm, des Deutschen Kinderschutzbundes und von Unicef Deutschland, für die 2500 Menschen ab 14 Jahren befragt wurden. Mehr als 40 Prozent von ihnen halten einen "Klaps auf den Po" für eine angemessene Erziehungsmaßnahme, bald jeder Fünfte sagt das über eine leichte Ohrfeige.

Das Ulmer Forschungsteam um den Kinderpsychiater Jörg Fegert hat allerdings nicht nur nach den Einstellungen gefragt, sondern auch nach selbst erlebter Gewalt: Sogar in der jüngsten Gruppe, bei den 14- bis 30-Jährigen, gibt die Hälfte an, Klapse auf den Po bekommen zu haben, mehr als jeder Zehnte wurde "niedergebrüllt". Nur 20 Prozent der Menschen in Deutschland hat nach eigenen Angaben keinerlei Erfahrungen mit Gewalt in der Erziehung gemacht.

Diese Zahlen mögen erschreckend wirken, doch sie stehen für eine Erfolgsgeschichte: Laut der Ulmer Studie gaben vor zwanzig Jahren noch gut 75 Prozent der Menschen an, dass sie einen Schlag auf den Hintern für eine angemessene Erziehungsmaßnahme hielten. Zugleich ist durch das Ideal der Gewaltfreiheit aber ein Schweigeraum entstanden: Die meisten Eltern wissen, sie dürfen auch beim größten Frust keine Gewalt anwenden. Viele Eltern wollen diesem Ideal entsprechen, scheitern aber daran – und trauen sich dann nicht, darüber zu reden.

... Kinder körperlich zu strafen war traditionell Aufgabe der Männer. Im Bürgerlichen Gesetzbuch des Kaiserreichs, das am 1. Januar 1900 in Kraft trat, war das Recht, "angemessene Zuchtmittel gegen das Kind" zu benutzen, ausdrücklich dem Vater vorbehalten. Im Idealbild der bürgerlichen Familie war er das Oberhaupt und übte die Autorität aus. Durch Körperstrafen ein gewünschtes Verhalten zu erreichen war schon davor jahrhundertelang eingeübt. Den Konsens kann man etwa so zusammenfassen: Sinnloses Prügeln war verpönt, Schläge im Alltag galten aber als notwendig und unvermeidlich, weil Kinder "durch körperliche Schmerzen sich werden beugen lassen", wie es der Pädagoge Johann Heinrich Campe 1788 formulierte.

Noch bis in die Nachkriegszeit war es in der Bundesrepublik üblich, Kinder an öffentlichen Orten wie in Schulen oder Internaten zu schlagen. Erst seit 1970 verbannten die Bundesländer den Rohrstock nach und nach aus den Lehrinstituten. Damit war das Schlagen im Privaten aber noch nicht ausdrücklich verboten. Zwar fiel das explizite Recht des Vaters zu "angemessenen" Züchtigungen im Jahr 1957 – allerdings hatte der Gesetzgeber nicht etwa von Körperstrafen generell Abstand genommen, sondern lediglich davon, dass in Zeiten der Gleichberechtigung das Züchtigungsrecht allein dem Mann zukommen sollte.


Ist eine Ohrfeige in Ordnung?

    62 % der Frauen lehnen körperliche Bestrafung ab. Bei den Männern sind es nur 51 Prozent.
    43 % der Befragten halten einen "Klaps auf den Hintern" als Strafe in der Erziehung für angebracht. 2001 waren es noch 76 Prozent.
    13 % der Befragten unter 31 Jahren befürworten "leichte Ohrfeigen" als Erziehungsmethode. Bei den über 60-Jährigen sind es fast doppelt so viele.
    61 % aller Befragten wurden in ihrer Kindheit selbst mit einem "Klaps auf den Hintern" bestraft.


Die Angaben stammen aus einer repräsentativen Studie von Unicef Deutschland, Kinderschutzbund und der Universitätsklinik Ulm. Im Frühjahr 2020 wurden dafür 2500 Personen zwischen 14 und 95 Jahren befragt



... Beschimpfen, herabwürdigen, anschweigen: Erst seit einigen Jahren blickt man auch auf psychische Misshandlungen. Man weiß wenig darüber, in welchem Umfang Kinder diese Gewalt erleben. Experten vermuten allerdings, dass die Zahl der Fälle steigt und es möglicherweise sogar eine Verschiebung von der körperlichen hin zur seelischen Gewalt gegeben hat. Leid, das nicht in blauen Flecken an Kinderkörpern sichtbar wird. Gewalt, die noch leichter versteckt werden kann.

Denn auch die Kinder schweigen. Weil sie Angst haben, die Familie könnte auseinanderbrechen. Weil sie die Eltern lieben und von ihnen abhängig sind. Weil sie ihnen glauben, wenn diese sich wieder und wieder entschuldigen und schwören, es komme niemals mehr vor. Und weil auch die Kinder sich schämen – dafür, dass ihnen Gewalt angetan wird.

... Über das eigene Versagen zu sprechen, statt es zu beschweigen, das ist noch keine Lösung. Aber es ist ein Anfang.


Aus: "Gewalt gegen Kinder: Schlag mich nicht!"  Katrin Hörnlein, Maria Rossbauer und Judith Scholter (25. November 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/2020/49/gewalt-gegen-kinder-corona-krise-erziehung-kindesmisshandlung/komplettansicht (https://www.zeit.de/2020/49/gewalt-gegen-kinder-corona-krise-erziehung-kindesmisshandlung/komplettansicht)

QuoteS.Mali #14

Für alles und jede Aufgabe und Job in Deutschland/ Europa braucht es Leistungs-& Qualifikationsnachweise.
Kinder in die Welt setzen, ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben, was Fürsorge und Erziehung bedeuten, dürfen alle.

...


Quote
Nihi Liana #16

... Leider sind wir Menschen dem Alltag manchmal nicht gewachsen. ...


QuoteBluto Blutarski #18

"Noch immer scheitern viele Eltern an diesem Erziehungsideal"
Würde bei Gewalt in der Ehe hier wohl auch formuliert werden:
"Scheitern viele Paare an diesem Beziehungsideal"?


Quoteregenmacher999 #27

Ich bin gegen Gewalt in der Erziehung. Trotzdem ist mir bei meinem Sohn auch einmal die Hand ausgerutscht. Hat es ihm geschadet? Ein lebenslanges Trauma hat er nicht bekommen. ... Man sollte hier schon differenzieren zwischen einmalig im Affekt die Hand ausgerutscht, was sicher nicht gut ist, und regelmässigen Schlägen.

Und an alle, die hier die moralische Keule schwingen - wer ohne Schuld ist werfe den ersten Stein.


QuoteFiorentoni #27.14

"Hat es ihm geschadet? Ein lebenslanges Trauma hat er nicht bekommen."

Woher sollen wir das wissen?... Um Schuld oder die Moralkeule geht es hier nicht (oder sollte es nicht), sondern darum, dass jedem zumindest bewusst ist, was Gewalt in der Erziehung bewirkt. Mein Onkel war Lehrer und wurde gefeuert, nachdem er einem (extrem frechen) Kind eine Ohrfeige gegeben hat. Er selbst wurde genauso erzogen von seinem Vater... und irgendwann viele Jahre später hat ihm das nun seinen Traumberuf gekostet.


QuoteUmelaphi wakho #30

"Seit 20 Jahren haben Kinder in Deutschland ein Recht darauf, ohne Gewalt aufzuwachsen. Noch immer scheitern viele Eltern an diesem Erziehungsideal – und schweigen aus Scham über ihr Versagen."

Das hängt mit der Erziehung der Eltern zusammen. Wer nicht gelernt hat seine Emotionen zu kontrollieren und Lösungen für Probleme zu finden, der dürfte an dem Ideal scheitern.
Für diese Menschen ist es einfacher, den Emotionen freien Lauf zu lassen, was sich dann in Gewalt ausdrückt.


QuoteS.Mali #30.1

Die intellektuelle wie emphatische Überforderung vieler Mütter und Väter ist Legion.
Schon weil kaum Eltern darauf vorbereitet wurden oder sind.


QuoteFelixLassmann #46

Gewalt ist in der Welt. Gewalt ist in Europa und Deutschland sichtbar. Wir unterliegen alle struktureller Gewalt.
Schlimm, sehr sehr schlimm ist immer wieder, daß sich diese Gewalt immer wieder an den Kleinsten und Schwächsten "entlädt".
WIR müssen diese Gruppen am umfangreichsten und besten schützen.
Das beginnt im Privaten und reicht bis in wirtschaftliche und staatliche Strukturen. Stichwort: Mobbing.


QuoteNur Vernunft #55

,,Noch immer scheitern viele"

Leichter ist es, seinem Zorne nachzugeben, als diesem zu widerstehen.


QuoteHennerB. #56

Bei der Gelegenheit möchte ich noch einen Tipp loswerden, der ebenso banal wie hilfreich ist. Mich regen manchmal schon Kleinigkeiten auf. Ich sah mal im Freibad einen kleinen Jungen, der mit vier oder fünf schon so verantwortlich war, dass er ein Stück Müll selbst zum Mülleimer trug und dabei seiner Mutter meldete: "Ich schmeiß das Papier in den Müll!" - Die Mutter hatte dafür allerdings weder einen Sinn noch ein Lob übrig. Sie quittierte seine Worte ernsthaft meckernd mit "... Wir sagen aber nicht `schmeißen´, Luca, sondern `werfen´..." Sorry, aber solche Eltern bringen mich auf die Palme.
Loben wir die Kinder doch für das, was sie richtig, gut und aufmerksam tun! Sehen wir es nicht als selbstverständlich und "wenig" an, was sie richtig machen! "Ich finde es toll, dass du ..." - kann Wunder bewirken und Selbstvertrauen und Achtsamkeit bei Kindern bestärken. Es muss natürlich ein ernstgemeintes Lob sein. Messen wir sie nicht mit dem Erwachsenenmaß. Oder dem Druck, möglichst schnell "erwachsen" werden zu müssen. Geben wir ihnen oft und immer das Gefühl, als Mensch wertvoll und "gewollt" zu sein! Durchatmen. Ruhig reden. Die Zuneigung entdecken, die wir für diese Wesen empfinden.


QuoteThe Modelist #57

Gewalt ist grundsätzlich keine Lösung. Und die Anwendung von Gewalt hat immer etwas mit mangelndem Respekt vor seinem Gegenüber zu tun. Und mit Respekt ist ein Umgang auf Augenhöhe zu tun.

Das habe ich bei meinem Ältesten verstanden, als ich ihn als 3-jährigen in einer gefährlichen Situation im Straßenverkehr zurechtweisen wollte und mich dazu auf die Knie begab. Da musste ich feststellen, dass er die Situation aus seiner Augenhöhe gar nicht als Gefahr erkennen konnte. Und da habe ich begriffen, dass das ,,von oben herab", in dem wir uns als Eltern unseren Kindern gegenüber ab der Geburt befinden, mit einer der Übel ist und in mangelndem Respekt mündet.

Ich habe mich danach immer in wichtigen Situationen auf Augenhöhe mit meinen 3 Kindern begeben, zu einer Gewalteskalation ist es nie gekommen. Weder von der einen noch der anderen Seite. Eines war aber immer sichergestellt: jeder wusste, was jetzt kommt, ist wichtig und wird sich auf Augenhöhe ins Gesicht gesagt.

Und dieser Umgang mit Menschen, respektvoll auf Augenhöhe miteinander umzugehen, hilft mir auch in jeder anderen Lebenssituation. Nicht in jedem Fall, aber in den allermeisten.

Ich kann Eltern nur empfehlen: begegnet Euren Kindern häufiger auf Augenhöhe. Es zahlt sich aus, denn die Kinder werden es Euch später gleichtun, auch wenn sie dann körperlich größer sind. Dann ist es aber nicht mehr erforderlich, dass sie in die Knie gehen, der Respekt ist bis dahin gefestigt und braucht diese Geste nicht mehr.


Quotemounia #58

Arbeite im Kinderschutz und kann die Zahlen aus dem Artikel bestätigen. Gewalt gegen Kinder ist leider weit verbreitet,nur der Grad und die Facetten unterscheiden sich je nach Familie. Familien aus sog. bildungsfernen Schichten geben die Gewalt häufig zu und sagen,dass sie überfordert sind und nehmen auch Hilfe gut an.
Im Akademikermilieu wird mehr geleugnet und geschauspielert und der Fehler beim Kind gesucht.


Quoteritarichtig #62

Ich habe sehr viel Unsinn gemacht als Kind und wenn es zu extrem wurde gab es auch mal was aufs Hinterteil. Es wurde sehr viel geredet, aber irgendwann ist meiner Mutter der Kragen geplatzt. Auch heute noch sage ich, es war berechtigt.
Später als ich etwas älter war gab es nix mehr auf den Hintern aber meine Mutter hat tagelang nicht mit mir gesprochen und diese Art der Bestrafung war für mich tausendmal schlimmer als eins hinter die Ohren und Fall erledigt.


Quoteanderfoerde #62.1

Beides schlimm. Das erste physische Gewalt, das zweite psychische Gewalt.

"es war berechtigt": Nein. Gewalt ist nie berechtigt.


QuoteSøren Wasaknust #68

Gewaltfreie kommunikation für alle. ...


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Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 23, 2021, 09:59:36 AM
Quote[...] Richmond – Im US-Bundesstaat Virginia wird die Todesstrafe abgeschafft. Beide Kammern des Parlaments des Bundesstaats stimmten für die Abschaffung, womit nur noch die Unterschrift von Gouverneur Ralph Northam fehlte. Seine Zustimmung gilt als sicher.

"Das ist ein wichtiger Schritt nach vorne, um sicherzustellen, dass unsere Strafjustiz fair und angemessen ist", erklärte Northam am Montag in einer gemeinsamen Stellungnahme mit den Vorsitzenden des Abgeordnetenhauses, Eileen Filler-Corn, und dem Mehrheitsführer im Senat, Dick Saslaw. In den USA haben bisher 22 der 50 Bundesstaaten die Todesstrafe abgeschafft.

"In Virginias langer Geschichte hat dieser Staat mehr Menschen hingerichtet als jeder andere Bundesstaat", hieß es in der Erklärung. "Es ist Zeit, dass wir dieser Maschinerie des Todes ein Ende bereiten." Die Todesstrafe sei kein faires und effektives Instrument der Strafjustiz, hieß es weiter. Seit 1976 gab es nach Angaben des Informationszentrums Todesstrafe 113 Hinrichtungen in dem Bundesstaat.

Die Todesstrafe ist in den USA insgesamt eher auf dem Rückzug. Das hat vielerorts mit einer sich wandelnden öffentlichen Meinung zu tun, aber auch den zunehmenden Schwierigkeiten, die nötigen Stoffe für die Giftspritze zu beschaffen. Zudem führt das Verhängen der Todesstrafe meist zu langwierigen – und kostspieligen – Rechtsstreitigkeiten.

2020 wurden in den USA dem Informationszentrum Todesstrafe zufolge von fünf Staaten und der Bundesregierung insgesamt 17 Menschen hingerichtet. Der Bund hatte fast zwei Jahrzehnte lang keine Todesstrafen mehr vollstrecken lassen. Die Regierung von Ex-Präsident Donald Trump setzte jedoch deren Wiedereinführung durch. Der neue Präsident Joe Biden lehnt die Todesstrafe ab. (APA, 23.2.2021)


Aus: "US-Bundesstaat Virginia schafft Todesstrafe ab" (23. Februar 2021)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000124396409/virginia-schafft-die-todesstrafe-ab (https://www.derstandard.at/story/2000124396409/virginia-schafft-die-todesstrafe-ab)

Quote
harvester

willkommen im 21. jahrhundert liebe virginiaaner und innen


Quote
bloody-nine

willkommen in der zivilisation


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Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 14, 2021, 07:24:53 PM
Quote[...] Erst gestern hat Sammy den 16. Strich gemacht. Arnold. "Hat sich aufgehangen." Unruhig schaut er nach rechts und links, späht über die Reeperbahn nach der Polizei und fliegenden Flaschen. Nach Junkies, die nicht mehr klarkommen und Ärger suchen. Sammy zählt die Toten seit November. Er kannte die meisten von ihnen, nicht gut, aber alles Leute, mit denen er mal auf der Straße geschlafen hat, Platte gemacht oder "in einem Laden war" – "Kollegen" eben.

Nicht nur Sammy zählt. Der Senat zählt. Die Opposition zählt. Das Straßenmagazin Hinz&Kunzt zählt. Sie alle versuchen, die Ahnung zu beziffern, die seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie viele hatten: Dass die Pandemie kaum eine Gruppe so hart treffen wird wie die 50.000 Obdachlosen in Deutschland. Während sich die meisten Menschen in Deutschland hinter Haustüren und Bildschirmen zurückzogen, Ladenbesitzer Jalousien runterließen, Wirte Schlösser an sonst dauergeöffnete Kneipen hängten, blieben die übrig, die weder Home noch Office besitzen und keiner Ausgangssperre nachkommen konnten.

Nirgendwo zeigt sich deren Not so deutlich wie in Hamburg. Die Hamburgische Bürgerschaft zählt 13 tote Obdachlose in diesem Winter. Im gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor waren es nur fünf. Die Hamburger Rechtsmedizin zählt sogar 17 Todesfälle, manche von ihnen kamen vor ihrem Tod noch ins Krankenhaus. Die Rechtsmediziner fassen die Todesursachen der Verstorbenen so zusammen: "innere Erkrankungen, Verletzungen, Vergiftungen und Unterkühlungen".

Konkret bedeutet das:

Paul nahm sich am 11. Januar das Leben.

Leslaw erlitt auf dem leeren Kiez einen Herzinfarkt.

Jonathan sprang von der Hebebrandbrücke.

Robert starb an einer Alkoholvergiftung.

Thomas an einer Überdosis.

Hamburg steht mit seinen Zahlen bundesweit an der Spitze. Doch die Zahlen sind überall hoch. "Seit den Neunzigerjahren sind nicht mehr so viele Obdachlose den Kältetod gestorben", sagt Werena Rosenke von der Bundesgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe. 22 Menschen sind seit Ende September in ganz Deutschland draußen erfroren. Wie hoch die Dunkelziffer derer ist, die an anderen Ursachen starben, weiß niemand.

Man weiß nicht mal genau, wie viele Obdachlose eigentlich in Hamburg leben. Laut einer Studie im Auftrag der Sozialbehörde sind es heute rund 2.000, fast genau so viele wie im doppelt so großen Berlin. Die Zahl ist nicht vollständig, aber sie zeigt, dass sich die Zahl der Obdachlosen in Hamburg innerhalb von zehn Jahren mehr als verdoppelt hat.

Glaubt man den Sozialarbeitern, Ehrenamtlichen und manchen Politikern in Hamburg, sind die jetzt steigenden Todeszahlen ein Symptom für eine zunehmende Verelendung, die weit vor der Pandemie begann. Mitarbeiter der Drogenkonsumräume berichten, dass sich der Gesundheitszustand vieler Süchtiger deutlich verschlechtert habe. Streetworker erzählen von Menschen, die plötzlich schon morgens im eigenen Urin liegen und die schon vor dem Winter kaum mehr Kraft hatten.

Doch warum sterben ausgerechnet seit der Corona-Pandemie mehr Menschen? Egal, wen man in der Stadt spricht, Sozialarbeiter, die Mitarbeiter von Hinz&Kuntz, die Leute der Drogenkonsumstätte, Obdachlose – niemand weiß genau zu sagen, wer die Schuld trägt und wie das Sterben hätte verhindert werden können. Sogar Menschen, die von der Politik die sofortige Öffnung aller Hotels fordern, sind ratlos. Claudia Meister, die Geschäftsführerin des Vereins Hanseatic Help, sagt: "Du hättest alle Hotels der Stadt aufmachen können, Leute wären trotzdem gestorben." 

Um zu verstehen, warum die Pandemie für manche Obdachlose den Tod bedeutet, muss man sich deshalb das komplizierte Geflecht ansehen, aus dem das Elend gemacht ist. In diesem Geflecht spielen verschlossene Kiezkneipen eine Rolle, genauso wie die Minusgrade, die Notunterkünfte, die Flüchtlinge und der Arbeitsmarkt.

In der Nähe der Helgoländer Brücke am Hamburger Hafen, unter der in diesem Winter einer der Obdachlosen starb, liegt die Jugendherberge am Stintfang. Wo sonst laute Jugendliche sitzen, die Wodka und Red Bull in Thermoskannen schütten, wo sich Mädchen heimlich aufs Jungszimmer schleichen, sitzen jetzt unter Flaggen-Girlanden stille Menschen und mit ihnen ihre Geschichten.

Die Solidarität in der Hansestadt war in Anbetracht der zweistelligen Minusgrade im Februar groß. Sie erfasste auch Sven Seidler, den Betreiber der Herberge. Vor wenigen Wochen beschloss er, seine Räume für die Obdachlosen zu öffnen. Seitdem wohnen hier knapp 50 Hamburger Obdachlose. Organisiert haben den Aufenthalt auf Zeit zwei Vereine: Straßenblues und Hanseatic Help. Beide Organisationen finanzieren mit privaten Spenden die Unterkunft, 40 Euro pro Person und Nacht.

Beim Abendessen ist es still an diesem Tag. Gabeln kratzen über die Teller, die Hafenlichter zittern in der Elbe vor der Glasfassade des Speisesaals. Vor den beigen Tischen sitzt an diesem Abend ein polnischer Mann mit Wollmütze, Arme und Beine ineinander verschränkt, als presse die Kälte der letzten Wochen immer noch seinen schmalen Körper zusammen. Eine Flüchtlingsfamilie, die mit zwei kleinen Mädchen und rosa Kinderrucksack am Morgen vor der Herberge stand. Der tätowierte Punkrocker Jochen, "seit 25 Jahren bayerischer Flüchtling". Der Autist Carlos, der sich vor allem fragt, was die Deutschen gegen Karl Marx haben. Die Notariatsfachangestellte Nadine, die Perlen an den Ohren und Narben am Hals hat. Menschen, die meist früh, manchmal erst spät einen Weg nahmen, den keiner von ihnen so geplant hatte.

Und da sitzt an diesem Abend ein junger Mann in weißer Adidas-Jacke, der sich wünscht, dass diese verdammte Einsamkeit aufhört. Und diese Pandemie, wegen der er Job und Wohnung verlor.

Olegs ist ein Nichtbürger. Er hat jüdische, deutsche und russische Vorfahren, wegen derer er bei seiner Geburt in Lettland keine Staatsbürgerschaft bekam. Der einzige Pass, den er besitzt, ist ein "Alien Passport", ein lettischer Pass, der wirklich so heißt, für Menschen ohne Staatsbürgerschaft. "Ich bin ein Alien", stellt er nüchtern fest.

Und so hört sich dieses Leben an: Die erste Nacht auf der Straße erlebte er in einer Winternacht in Lettland, da war er zehn Jahre alt, erzählt er. Sein Vater hatte ihn vor die Tür gesetzt. Seitdem schlägt er sich durch, arbeitete auf Baustellen, reiste nach Salzburg, Tschechien, Paris. Er hatte da ein paar "Aktionen". In Karlsbad raubte er ein Casino aus, und saß dafür zwei Jahre im Gefängnis. Im Fünf-Sterne-Hotel hatten sie ihn geschnappt. Später ging er dahin, wo sich viele einen Neuanfang versprechen: In Frankreichs Fremdenlegion. Aber davon erzählt er nicht gern. Er sollte nach Syrien, Bomben entschärfen. Aus Protest schnitt er sich die Adern auf. Olegs schiebt seinen Ärmel nach unten, eine Narbe zieht sich quer über den blassen Unterarm. Sie ist der einzige Beleg für das Leben, von dem er berichtet.

Olegs hatte nie ein wirkliches Zuhause, in das er sich hätte zurückziehen können. Und es ist das, wonach er sich am meisten sehnt. Fragt man ihn, wie er sich seine Zukunft vorstellt, sagt er: "Ich will ein ganz normales Leben."

Noch im März war er diesem normalen Leben, von dem er träumt, ganz nah. Er arbeitete auf Baustellen als Stuckateur, erhielt viele Aufträge. Dann aber, ab dem ersten Lockdown im März 2020, habe ihn sein Chef nicht mehr angerufen. Als die Aufträge ausblieben, habe ihn erst seine Freundin verlassen, dann verlor er seine Wohnung. Die Pandemie machte ihn einmal mehr obdachlos. Er musste zurück auf die Straße, zu den "Kollegen", zur Gegend um den Hauptbahnhof. Zurück in das Leben, das er hinter sich lassen wollte. "Ich muss weg von da", sagt er. "Wenn ich wieder in meine alten Schritte steige, passieren immer schlimme Sachen."

In Hamburg landen viele Menschen wie Olegs, die sich ein besseres Leben erhoffen. 2009 hatten laut der Hamburger Sozialbehörde rund 70 Prozent der Obdachlosen eine deutsche Staatsangehörigkeit. 2018 waren es nur noch 36,1 Prozent. Viele von ihnen kamen, um Arbeit zu finden. Doch das ist in der Pandemie so schwer wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Auch Olegs läge in nicht-pandemischen Zeiten vielleicht nicht im Stockbett einer Jugendherberge. Und müsste nicht stundenlang gegen die Einsamkeit anspazieren, bis die Leere der Stunden ihn doch erwischt.

Gerade prekär Angestellte traf die Krise besonders hart. Freiberufler, Selbstständige, Kurzarbeiter, Bauarbeiter. Menschen, die in guten Wirtschaftsjahren instabile Jobs annahmen, mit denen sie über die Runden kamen. Es sind die unverbindlichsten Arbeitsverhältnisse, die zarten Fäden, die bei einem Zittern der Konjunktur als erstes reißen. Die Arbeitsagentur spricht in einem im November veröffentlichten Bericht vom "Corona-Effekt" auf dem Arbeitsmarkt. Vor allem bei zwei Gruppen stellt sie einen noch stärkeren Anstieg der Arbeitslosigkeit als bei allen anderen fest: Bei Ausländern und Personen ohne Berufsausbildung. Der Sozialverband Hamburg warnte schon vor Monaten wegen der Pandemie vor einer steigenden Armut in der Hansestadt.

Die Arbeitslosigkeit, die wegfallenden Aufträge, die erlahmte Wirtschaft macht es den Menschen noch schwerer, aus der Obdachlosigkeit wieder herauszufinden. Die Pandemie wirkt wie ein zäher Strudel, der Perspektiven schluckt. Und sie verlangsamt wichtige Prozesse: das Einreichen von Anträgen, Terminvergaben, das Verstreichen von Zeit. Die Menschen hängen länger im Übergang fest. Drogensüchtige müssen länger auf Entzugsplätze warten. Arbeitslose auf Vorstellungstermine. Auf den Bescheid für Sozialleistungen. Auf eine Zukunft.

Auf den Straßen fehlen freundliche Gesichter und die zugehörigen Institutionen, die das Leben vor der Pandemie für Obdachlose erträglicher machten. Wer den Job verliert und auf der Straße landet, landet nicht auf dem belebten Kiez, sondern streicht an verschlossenen und vernagelten Türen entlang. Der stellt seinen Becher in eine ausgestorbene Fußgängerzone, dem fehlen die leeren Astra-Flaschen der Studenten am Kiosk, die Samstag jetzt Netflix schauen, statt auf der Reeperbahn zu feiern.

Dem fehlen die Orte, die ihn kurz vergessen lassen, dass er ein Übriggebliebener ist. Einer der nicht zu Hause bleiben kann, dem ohne Dach keine Decke auf den Kopf fallen kann. Dem fehlen Momente, die daran erinnern, dass sich Menschen zumindest manchmal auf Augenhöhe begegnen. Wie im Elbschlosskeller, der 24 Stunden geöffnet hatte, ein Ort für alle, für Partygänger, Tänzer, Sexarbeiterinnen, für die Nachbarn, für Sammy und die Leute von der Platte, die sich mal aufwärmen wollten. Ein Ort, an dem vor der Pandemie alle ein bisschen gleicher wurden.

Die wenigen Orte, die für Obdachlose noch geöffnet sind, lassen keine Sekunde vergessen, wo man in der Gesellschaft steht, wie etwa die Notunterkünfte. "Wenn ich nicht so stark wäre und ein inneres Ziel hätte, wäre ich zerbrochen", sagt Jochen.

Er ist Ende 40, Punkrocker und hatte früher einen Iro, "mit dem konntest du Augen ausstechen – brutal". Jetzt glänzt sein kahler Kopf im Licht des Speisesaals der Jugendherberge. Die Buchstaben ACAB an den rechten, PUNK auf den linken Fingern, ein Wettergott auf der Hand, ein Dämon am Hals. Messer im Oberschenkel, Stuhl auf dem Kopf, Ehering auf die Augenbraue. [...] Sein Körper ist eine Kampfzone. Während Menschen wie Olegs nie einen geraden Weg kennenlernten, lebte Jochen schon immer gegen den Bausparvertrag, gegen das Sonntagsessen und den Nine-to-five-Job. Zuletzt hatte er einen Marktstand in der Hippiestadt Christiana in Kopenhagen. Den musste er schließen wegen Corona, er reiste nach Hamburg.

Zwei Wochen schlief er in Notunterkünften, für Jochen ein 14-tägiger Alptraum. Er erzählt, sein Zimmernachbar in der ersten Notunterkunft habe die Krätze gehabt, ein anderer wollte ihn verprügeln, nur weil er ihn bat, die Mandarinenschalen in den Müll und nicht daneben zu werfen. "Die Leute dort saufen, bis alles leer ist, meistens bis fünf Uhr morgens."

Ein paar Mal schütteten sie Bier um sein Bett. Hopfengeruch ist nicht hilfreich bei der Jobbewerbung. "Ich kann die Menschen verstehen, die später draußen erfroren sind. Du hältst es da drin nicht aus." Seit drei Tagen ist Jochen hier in der Herberge am Stintfang, jetzt hat er ein Vorstellungsgespräch als Baggerfahrer.

Theoretisch, also regierungstheoretisch, muss niemand auf der Straße schlafen. Und niemand erfrieren. Die Koalition nannte in den vergangenen Wochen bei den vielen, teils heftigen Diskussionen um die Obdachlosen das Zauberwort "Winternotprogramm". Einige in der Herberge wie Jochen waren in diesem Winternotprogramm. Manche von ihnen schliefen lieber auf der Straße oder in Zelten. 1.400 Betten stellt die Stadt für die mindestens 2.000 Menschen ohne Dach über dem Kopf. Vier-Bett-Zimmer in einer Zeit der Kontaktbeschränkungen.

Eine ungewöhnliche Allianz aus CDU und Linke forderte deshalb Ende Januar die Öffnung der leerstehenden Hotels und Herbergen wie in anderen Städten, etwa in Düsseldorf oder Berlin, um den Menschen Einzelzimmer zu bieten. Doch die Sozialbehörde Hamburg beharrte auf den Notunterkünften, obwohl deren schlechter Zustand nach Ansicht von Sozialarbeitern eine Erklärung sind, warum Menschen auf der Straße erfroren sind.

Auch Sammy, der die Toten zählt, und die anderen Punkrocker von der Reeperbahn meiden die Notunterkünfte. Gegenüber des verschlossenen Elbschlosskellers sitzt zwischen den schmutzigen Matratzen, Penny-Tüten und Wodkaflaschen Inge, Hamburgs selbst ernannte Bordsteinamsel und Königin der Platte unter Kentucky Fried Chicken. Rauchend und hustend schimpft sie gegen das Winternotprogramm. Da, sagt sie, sei es "noch beschissener als hier". Inge hat 35 Jahre Straßen-Expertise und kann Sätze sagen wie: "1986 hatten wir auch 'nen scheiß kalten Winter."   

Sie streicht über ihren zertrümmerten Wangenknochen, irgendwer raucht Crack neben ihr, ein Mädchen mit Sekt unterm Arm schaut im Vorbeigehen zu ihr hinab, und Inge sagt: "Die Menschenwürde ist unantastbar."

Auch wenn später Wolken aufziehen und es abends wieder regnen wird in Hamburg, scheint an diesem Nachmittag die Sonne auf Inges Reich. Die Plattenkönigin beschließt, dass es Zeit für Wodka ist. Neben Inge sitzt "ihre Schwester" Kerstin, die habe dreißig Jahre in der Altenpflege gearbeitet. "Ist das fair?", krächzt Kerstin, die Stimmbänder wie mit Stacheldraht geschliffen. Inge hat noch eindreiviertel Ohren, ein Viertel verlor sie an Nazis. "Aber für was, Schatz? Für was?", fragt sie und lässt den Kopf mit ihrem blassrosa Iro hängen, das Gefieder der erschöpften Bordsteinamsel.

Inge braucht keine halbe Minute, um ihre Geschichte zu erzählen. Sie hatte mal eine Wohnung am Fischmarkt. Die Miete wurde zu hoch, sie suchte Hilfe beim Sozialamt, bekam keine. Dann kürzt sie ab: "Na ja, und so bin ich in der Prostitution gelandet." Sie schaut einem in die Augen: "Solange ich lebe, will ich kein Arschloch sein. Ich bin für alle da." Inge weiß auch nicht, was genau hier draußen schiefläuft. Sie kannte einige der Toten. Tränen steigen ihr in die geschwollenen Augen, wenn sie von ihnen spricht. Eine Freundin von ihr sei im Krankenhaus gestorben. Mit dem Wodka schwappen die Tränen zu Kerstin rüber, die weint und einen Schluck gegen die Traurigkeit nimmt.

Sie spüre die Angst vor Corona auf der Straße. Aber damals hätten auch alle Angst vorm Kalten Krieg gehabt. "Diese Einstellung brauchst du, anders kannst du hier nicht überleben." Und Inge will noch ein bisschen überleben.

Am Abend kommt ein Junge mit schweren Lidern an der Herberge am Stintfang an. Er heißt Khalid, ist afghanischer Flüchtling und wird hier zum ersten Mal seit sechs Nächten Schlaf finden. Auch seine Geschichte ist voller Verzweiflung und Ausweglosigkeit. In dieser Nacht aber wird ihn zumindest der Regen nicht kümmern, der von draußen an sein Fenster prasselt, so wie an die Fenster von Jochen, Olegs und den anderen Obdachlosen.

Zumindest in dieser Nacht kann ihnen wenigstens der Regen egal sein.


Aus: "Obdachlosigkeit in der Corona-Krise: Die toten Kollegen" Marlene Knobloch (14. März 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-03/obdachlosigkeit-corona-krise-pandemie-armut-strassenleben-tote/komplettansicht (https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-03/obdachlosigkeit-corona-krise-pandemie-armut-strassenleben-tote/komplettansicht)

QuotePeleador #20

Danke für den schonungslosen und zugleich liebevollen Blick auf einzelne Menschen, auf die kaum einer schaut. ...


QuoteWaltraud Gundlach #20.1

Ich denke auch nicht, daß niemand auf diese Menschen schaut. Es ist sehr schwer, jemanden zu helfen, der nicht die Kraft aufbringt, mitzumachen. Da hilft dann eben nur Kältebus, Essen ausgeben, Arzt anbieten.

Wer selbst alkoholabhängige Väter oder Mütter als Kind erlitten hat, der sieht diese Krankheit, auch mit noch soviel Liebe, als endlosen Schmerz für jene, die nicht helfen können und dies mitertragen müssen.


Quoteratzeputz le Grand #21

In Hamburg geht das schon seit sehr vielen Jahren so.
Die Stadt der meisten Reichen und es gibt womöglich die meisten leerstehenden
Bürogebäude in dieser Stadt. Mehr muss man fast nicht sagen.

Was in diesem Artikel nicht erwähnt wird:
Die Notunterkünfte sind eher Schlafplätze als ein Ort wo man mal etwas Ruhe
finden kann. Die Leute müssen jeden morgen wieder auf die Strasse, egal ob krank oder Schneesturm, und dürfen erst gegen Abend wieder kommen.
Schon vor der Pandemie war es alles andere als menschenwürdig.


QuoteKoronbock #2

Na ja, manchmal ist es wirklich schwer, diesen Menschen zu helfen. Ich habe früher beim Roten Kreuz mitgeholfen, Obdachlose zu betreuen. Lieder war es manchmal so, dass wir mit Aggression und totaler Verweigerung "begrüßt" wurden. Nicht, dass das die Norm war.
Aber es gibt Obdachlose, die wollen einfach nicht, dass man ihnen hilft, sind stur wie Panzer. Da läuft jedes Hilfsangebot ins Leere. Das gehört auch zur Wahrheit.


QuoteKeine Macht den Verschwörugnsmythen #2.2

Wenn noch eine F-Diagnose ins Spiel kommt, sprich psychische Erkrankung, ist es allerdings auch mit dem Helfenlassen nicht so leicht, wie es nach außen erscheint. Oder auch, weil man mit der Gesellschaft innerlich abgeschlossen hat, was ich mir gut vorstellen könnte bei Menschen, die mehrere Jahre auf der Straße gelebt haben.


Quotejoaber #2.4

"Selbst wenn die Stadt Unterkünfte anbietet, werden die kaum genutzt."

Also mir hat zumindest mal einer erzählt, er würde immer mal wieder in den Unterkünften von Leidensgenossen beklaut werden. Und deswegen nicht mehr dort hin gehen. Er und zwei andere zogen die warmen Abluft-Schächte unserer Firma "hinten" vor.


QuoteMiami-HH #2.5

Das ist absolut richtig.

Ein EX Kollegen meiner Frau war auch "abgerutscht"
War schon immer der Flasche zugeneigt, dann ging die Frau, wenig später der Job und Sie traf ihn im Park mit "Kollegen"
Meine Frau, in der Zwischenzeit als Freelancer Selbständig gemacht, bot ihm an Aufträge zuzuschustern,
Oh ja toll ich melde mich bei dir.
Jahre später auf der Platte verstorben.
Hatte keine Kinder, keine Eltern mehr, keinen Halt gefunden.
Furchtbar.


QuoteDerax #2.6

Ich habe/arbeite schon lange im Gesundheit System. Obdachlose sind arme nette Menschen/Patienten aber ab einem gewissen Level kann man Ihnen von unserer Seite nicht helfen.


Quotenichtimmerdanurmanchmal #2.7

Ja, das stimmt wohl. Aber zur Wahrheit gehört es auch, dass Politik und Gesellschaft diese Menschen egal sind,bzw sie in Augen vieler nicht als Menschen existieren.


QuoteFitnesstante #6

Zur Obdachlosigkeit in diesem Land führen nie äußere Rahmenbedingungen allein, sondern immer nur ergänzt durch einen zentralen Faktor: Psychische Erkrankungen. Zu letzteren zählt auch Alkoholismus.
Das macht es nicht weniger traurig.


QuoteFakten bitte #6.2

Anstatt Vorurteile zu bedienen sollten Sie sich mit den Betroffenen unterhalten. Immer wieder erzählen diese wie Sie obdachlos geworden sind weil Sie Ihren Job verloren und die Miete nicht mehr zahlen konnten. Seit Hartz-IV geht dies sehr schnell. Jeder ist dem Risiko von Sanktionen ausgesetzt die zu Obdachlosigkeit führen können.
Diesen dann auch noch die Verantwortung in Form von Vorurteilen über zu stülpen stellt aus meiner Sicht eine völlige Ignoranz gegenüber der Realtiät dar.
Und dies gilt in beide Richtungen. Sie bedienen nicht nur Vorurteile gegenüber Obdachlosen, sondern auch gegenüber psychischen Erkrankungen.


Quoteatlantik #7

Warum hat es der Staat nicht geschafft, für die Obdachlosen für die Dauer des Lockdowns ein Teil der leeren Hotels anzumieten?
Da wäre sowohl den Hotelbesitzern als auch den Obdachlosen geholfen gewesen.


Quoteatlantik #7.3

"Du hättest alle Hotels der Stadt aufmachen können, Leute wären trotzdem gestorben."

Aber mit größter Wahrscheinlichkeit weniger und für die anderen wäre es wenigstens für einen kurzen Zeitraum weniger Elend gewesen.

"Auch in Hotels hätten Regeln gegolten, halten sich viele Obdachlosen nicht daran?"

Ist das so? Oder ist das ein Vorurteil?


QuoteYoginiMuffin #7.4

Nein, es ist zu vermuten, dass nicht alle mitmachen. Es gibt auch rollende Suppenküchen für Obdachlose und mobile Ärzteteams, und die halten IMMER in Frostnächten Zimmer vor, nicht selten sogar Einzelzimmer in Jugendherbergen oder Pensionen. Doch circa die Hälfte der Angesprochenen nimmt das Angebot nicht an. Die Gründe sind vielschichtig, aber zwingen kann man eben nicht.


Quotelassteskrachen #7.8

Es gibt auch Regeln in Obdachlosenunterkünften, so zB kein Alkohol und keine Drogen. Es ist wohl kein Vorurteil, wenn Süchtige hier die Hilfe nicht annehmen.
In Stuttgart hat eine Pension für Obdachlose geöffnet, allerdings werden hier eher unproblematische Fälle untergebracht.


QuoteClemensinhh #14

Die Wohnungsnot ist ein gewollter Zustand. Und somit ist auch die Obdachlosigkeit ein gewollter Zustand. Die Lobbyarbeit der Immobilien Branche ist wirklich sehr erfolgreich gewesen. Sie haben es geschafft diesen Zustand als einen Natürlichen erscheinen zu lassen. Wir sind wirklich alle sehr, sehr dumm, das wir uns das schon so lange gefallen lassen.


Quotemenschhj #15

Ohne das Ehrenamt wäre die Not sehr viel schlimmer. Kein Ruhmesblatt für die staatlichen Institutionen.


QuoteJebussss #16

Wenn ich am Hauptbahnhof vorbei Fahre und die Obdachlosen vor den Türen der Theater schlafen, mit dünnen Schlafsäcken, bei -10 Grad in der Nacht. Da habe ich mir schon gedacht, dass dies nicht alle Überleben werden.

Es gibt Unterkünfte, viele Obdachlose nehmen diese nicht wahr, aus Angst beklaut oder verprügelt zu werden.


QuoteDardix #16.1

Nicht nur das, einige nutzen auch die Unterkünfte nicht, weil dort ihre Hunde nicht mit reindürfen. Und das ist oft das Einzige, was sie noch haben.


Quoter.schewietzek #24  —  vor 2 Stunden

So macht es übrigens Finnland.


Soziale Gerechtigkeit: "Straßenobdachlosigkeit gibt es in Finnland nicht mehr"
In Finnland ist die Obdachlosigkeit gesunken wie sonst nirgends. Denn jeder Bürger bekommt dort eine Wohnung vom Staat. Könnte das auch in Deutschland funktionieren?
Interview: Elisabeth Kagermeier 1. März 2018
Juha Kaakinen: In Finnland sinkt die Obdachlosigkeit seit den Achtzigern, weil Regierung und NGOs sehr eng zusammenarbeiten. Außerdem ist in der finnischen Gesellschaft tief verankert, dass wir uns um alle kümmern müssen und keiner zurückgelassen wird. Ich denke, jeder Mensch hat ein Grundrecht darauf, einen anständigen Ort zum Leben zu haben.
Aber bis vor zehn Jahren haben wir die Gruppe der Langzeitobdachlosen, die auf der Straße leben, nicht erreicht. Damals gab es vor allem in der Metropolregion Helsinki viele Menschen, die auf der Straße lebten. In einem Park hatten sich Obdachlose kleine Dörfer aus Zelten und Hütten zwischen den Bäumen gebaut und dort in ärmlichen Verhältnissen gelebt.
Jetzt, zehn Jahre später, sieht man in Finnland keine Obdachlosen mehr, wenn man durch die Straßen läuft. Es gibt immer noch Leute, die keine eigene Wohnung haben und zum Beispiel bei Freunden unterkommen. Aber das Phänomen der Straßenobdachlosigkeit gibt es in Finnland nicht mehr.
ZEIT ONLINE: Woran liegt das?
Kaakinen: Wir haben das Prinzip umgedreht: Normalerweise müssen Obdachlose erst ihr Leben auf die Reihe kriegen, um wieder eine eigene Wohnung zu bekommen. Wir machen das andersherum. Wir geben ihnen eine dauerhafte Wohnung, damit sie ihr übriges Leben wieder in den Griff kriegen können. ...

https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/finnland-soziale-gerechtigkeit-grundwohnen-juha-kaakinen-interview (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/finnland-soziale-gerechtigkeit-grundwohnen-juha-kaakinen-interview)

Vielleicht sollte Deutschland bzw. die deutschen Kommunen das Konzept mal übernehmen.


QuoteGimmeldinger #27

Unerklärlich und nicht nachvollziehbar wie menschlich kalt diese Stadt sein kann, obwohl wegen Corona tausende Zimmer in Hotels, Pensionen und Kasernen leer stehen.


Quoteoisisblues_muc #30

Jeder, der hier die Unterbringung in Hotels fordert, möge sich fragen, ob er sein eigenes Hotel dafür vermieten würde. Obdachlose rauchen häufig, haben Alkoholprobleme oder psychische Krankheiten, oder einen Hund.
Schon mal an der Rauch - und Tierverbot in den Hotels gedacht? Wenn jemand wochenlang in einem Hotelzimmer raucht, kann man das danach generalsanieren.
Und liest man, welche Probleme Obdachlose oftmals habe, glaube ich nicht so recht daran, dass das mit dem Nichtrauchen oder -trinken in einem Hotelzimmer funktionieren würde.

Wenn es so einfach wäre, warum finden sich unter den Kommentatoren keine, die einen freien Raum im Winter einem Obdachlosen zur Verfügung stellen?


QuoteMr Pro Evens #28

Einige Kommentare sind wirklich schwer zu ertragen. Ich empfehle jeden, der/die meint, weitergehende Einschätzungen über Obdachlosigkeit zu treffen, einen Realitätscheck. Sprecht mit den betroffenen Menschen! Falls die Hemmungen dafür zu groß sein sollten, empfiehlt sich ein Stadtrundgang der anderen Art:

Hamburg hat viele Seiten – unsere Stadtführer zeigen auf dem Rundgang ,,Hamburger Nebenschauplätze" ein ganz anderes Gesicht der Hansestadt. Harald und Chris führen viele Neu­gierige durch die Innen­stadt, wie sie kaum einer kennt. Sie möchten, dass die Menschen erfahren, wie Wohnungslose leben.
Jetzt Termin buchen
https://www.hinzundkunzt.de/stadtrundgang/ (https://www.hinzundkunzt.de/stadtrundgang/)


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Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 23, 2021, 05:33:06 PM
Quote[...] Rom – Die Vereinten Nationen warnen vor dem Anstieg des akuten Hungers in mehr als 20 Ländern weltweit. Extreme Wetterlagen, Heuschreckenplagen, politische Konflikte und die Corona-Pandemie könnten die Ernährungssituation von vielen Millionen Menschen in den kommenden Monaten drastisch verschlechtern, wie die UN-Landwirtschaftsorganisation FAO und das Welternährungsprogramm WFP am Dienstag in Rom in einem Bericht feststellten.

"Wir sehen, wie sich eine Katastrophe vor unseren Augen entwickelt", erläuterte WFP-Direktor David Beasley aus den USA. Besonders kritisch sei die Lage der notleidenden Menschen im Bürgerkriegsland Jemen, im Südsudan und im Norden Nigerias.

Obwohl der Großteil der betroffenen Krisenländer in Afrika liegt, dürfte der akute Hunger nach der UN-Prognose auch in vielen anderen Regionen der Welt stark wachsen. Genannt werden etwa Afghanistan, Syrien, Libanon sowie der Karibikstaat Haiti.

Über 34 Millionen Menschen haben nach UN-Angaben schon jetzt mit so starker Unterernährung zu kämpfen, dass der Hungertod nicht mehr weit ist. "Es ist unsere Aufgabe, sofort zu handeln und schnell vorzugehen, um Leben zu retten, den Lebensunterhalt zu sichern und das Schlimmste zu verhindern", forderte der aus China stammende FAO-Chef Qu Dongyu. "In vielen Regionen hat die Pflanzsaison gerade erst begonnen oder steht kurz vor dem Start." Es sei ein Wettlauf gegen die Zeit. (APA, 23.3.2021)


Aus: "Der akute Hunger wächst in mehr als 20 Ländern, 34 Millionen Menschen bedroht" (23. März 2021)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000125289575/der-akute-hunger-waechst-in-mehr-als-20-laendern-34 (https://www.derstandard.at/story/2000125289575/der-akute-hunger-waechst-in-mehr-als-20-laendern-34)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 18, 2021, 09:32:49 AM
Quote[...] Zur Vollstreckung der Todesstrafe will der US-Bundesstaat South Carolina künftig auch Erschießungen erlauben. Der Gouverneur des Staates, Henry McMaster, schrieb am Montag auf Twitter, er habe eine entsprechende Gesetzesänderung unterzeichnet.

Bislang war eine Vollstreckung der Todesstrafe in dem Staat durch eine Giftspritze vorgesehen. In vielen US-Bundesstaaten sind aber die tödlichen Substanzen für die Giftspritzen knapp, weil sich europäische Pharmafirmen weigern, den US-Behörden Nachschub zu liefern. Deshalb gab es in South Carolina in den vergangenen Jahren keine Hinrichtungen.

Durch die Gesetzesänderung sollen zum Tode Verurteilte nun wählen können, ob sie auf dem elektrischen Stuhl oder durch Erschießung sterben wollen, wenn eine Giftspritze nicht verfügbar ist.

In den USA ist die Todesstrafe insgesamt auf dem Rückzug. Nach Angaben des Informationszentrums für Todesstrafe haben bislang 23 der 50 Bundesstaaten die Todesstrafe abgeschafft, zuletzt Virginia. Drei weitere Staaten haben die Vollstreckung der Todesstrafe demnach ausgesetzt.

In Staaten, in denen es noch Hinrichtungen gibt, ist die Verabreichung einer Giftspritze die gängige Methode. Es gibt auf dem Papier jedoch Alternativen, wozu prinzipiell auch Erschießungen gehören. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Informationszentrum zur Todesstrafe ist South Carolina nach Mississippi, Oklahoma und Utah nun der vierte US-Bundesstaat, der bei Hinrichtungen auch Erschießungen erlaubt. Seit der Oberste US-Gerichtshof die Todesstrafe 1976 grundsätzlich wieder zugelassen hatte, wurden demnach nur drei Verurteilte erschossen - alle drei in Utah.

2020 wurden in den USA nach Angaben des Zentrums von fünf Staaten und der Bundesregierung insgesamt 17 Menschen hingerichtet. Der Bund hatte fast zwei Jahrzehnte lang keine Todesstrafen mehr vollstrecken lassen - die Regierung von Ex-Präsident Donald Trump setzte jedoch deren Wiedereinführung durch. Der neue Präsident Joe Biden lehnt die Todesstrafe dagegen ab. (dpa, AFP)


Aus: "US-Staat South Carolina erlaubt Hinrichtung durch Erschießen" (18.05.2021)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/weil-nachschub-fuer-giftspritzen-knapp-ist-us-staat-south-carolina-erlaubt-hinrichtung-durch-erschiessen/27199934.html (https://www.tagesspiegel.de/politik/weil-nachschub-fuer-giftspritzen-knapp-ist-us-staat-south-carolina-erlaubt-hinrichtung-durch-erschiessen/27199934.html)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 20, 2021, 12:42:56 PM
Quote[...] In den USA ist ein weiteres verschärftes Abtreibungsgesetz in Kraft getreten. Der texanische Gouverneur Greg Abbott unterzeichnete eine Bestimmung, die Abtreibungen verbietet, sobald der Herzschlag des Fötus festgestellt worden ist. Das kann bereits ab der sechsten Schwangerschaftswoche der Fall sein – also zu einem Zeitpunkt, zu dem viele Frauen noch nicht wissen, dass sie schwanger sind. Dies soll selbst nach Vergewaltigungen oder Inzest gelten. Bislang waren in Texas Abtreibungen nach 20 Schwangerschaftswochen verboten, außer die werdende Mutter befand sich in Lebensgefahr oder der Fötus hatte schwere Fehlbildungen.

So genannte Herzschlag-Gesetze gelten bereits in etwa zehn weiteren republikanisch regierten US-Staaten. Das Besondere in Texas ist, dass es nicht von staatlichen Stellen durchgesetzt werden darf. Vielmehr hat jeder und jede das Recht, diejenigen zu verklagen, die eine verbotene Abtreibung vornehmen oder unterstützt haben, wobei jede einzelne Person mit bis zu 10.000 Dollar Strafe belegt werden kann.

Kritiker warnen, damit bekämen Abtreibungsgegner selbst außerhalb von Texas die Möglichkeit, Gerichte mit Klagen zu überhäufen und Beteiligte zu drangsalieren – etwa Ärzte, Patienten, Krankenschwestern, Berater für häusliche Gewalt, einen Freund, der eine Frau in eine Klinik gefahren hat, oder sogar ein Elternteil, das für einen Eingriff bezahlt hat.

Alle bisherigen restriktiven Abtreibungsgesetze dieser Art wurden jedoch von Gerichten abgelehnt, da sie im Widerspruch zur Rechtsprechung des Obersten Gerichts der USA stehen. Mit dem Fall Roe v. Wade wurden 1973 Schwangerschaftsabbrüche in den USA bis zum sechsten Monat legalisiert. Das Abtreibungsrecht gehört seit Jahrzehnten zu den strittigsten innenpolitischen Themen in den USA. Viele Konservative hoffen, dass der Supreme Court sein Urteil von 1973 revidiert.

Erst vor einigen Tagen beschloss der Supreme Court, sich erneut mit dem Abtreibungsrecht zu befassen. Anlass ist ein Gesetz des Bundesstaats Mississippi. Es verbietet – von wenigen Ausnahmen abgesehen – Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche.


Aus: "Texas verschärft Gesetz zu Schwangerschaftsabbrüchen" (20. Mai 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-05/usa-texas-schwangerschaftsabbrueche-gesetz-sechs-wochen (https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-05/usa-texas-schwangerschaftsabbrueche-gesetz-sechs-wochen)

QuoteGuero #4

Bestimmen mal wieder alte Männer was Frauen machen dürfen und was nicht?


QuoteThantalon #4.1

Ich wüsste ja ganz genre mal was raus käme, wenn es einmal genau anders herum liefe. Junge Frauen bestimmen was alte Männer machen dürfen.


QuoteProvo-Kant #4.3

Bestimmen mal wieder alte Männer was Frauen machen dürfen und was nicht?

Eine "hippe" Äußerung- die sachlich (wie leider oft) völlig daneben geht.
Wenn Sie sich das "konservative" Klientel in den USA ansehen werden sie feststellen das sich das quer durchzieht- durch Alte und Junge, Männlein und Weiblein.
Das was wirklich zutrifft (es sind sehr überwiegend > "Weisse") lassen Sie dagegen außen vor- genau so wie die Tatsache das es wohl auch 50% der "alten Männer" gibt die das zum kotzen finden.
Pauschalisierungen, auch wenn Sie zwanghaft "woke" erscheinen wollen, sind nicht besonders schlau (freundlich ausgedrückt!)


QuoteHapsch #4.4

Laut Exit Polls haben bei der Wahl zum Governor in Texas 2018 auch 50% Abbott gewählt. Der hätte auch gewonnen, wenn nur Frauen gewählt hätten. und seine Pläne was Abtreibung angeht hat er nie verheimlicht. Das sollte man auch bedenken.


QuoteNemo Nolan #8

Woher kommt dieser Drang, Frauen bis in den Uterus hinein vorzuschreiben, was sie zu tun oder zu lassen haben?


QuoteRoyce from Scharbeuce #8.4

Panik vor der eigenen Bedeutungslosigkeit. Man macht sich wichtig, indem man über das Leben und die Freiheit anderer bestimmt. ...


QuotePetrucciation #8.5

"Woher kommt dieser Drang, Frauen bis in den Uterus hinein vorzuschreiben, was sie zu tun oder zu lassen haben?"

Naja, prinzipiell steht ja erstmal Leben gegen Entscheidung über den eigenen Körper, also Grundrecht vs. Grundrecht. Aber selbst im Vergewaltigungsfalle das so zu fordern und schon so früh in der Kindesentwicklung (wo es noch keine wirklich höhere Hirnaktivität mit Bewusstseinsstufen und Schmerzempfinden geben kann) zeigt schon arg, wie rein ideologisch verbohrt das Ganze ist ohne eben Rücksicht auf andere Grundrechte und Aspekte des Ganzen.


QuoteAlsoechtjetzt #8.7

Eigentlich nicht anders als in streng islamischen Ländern. Religiöser Fanatismus. Nur weil die Leute aussehen wie wir, sind sie nicht wie wir. Sieht man auch in Teilen Polens. Wir haben uns nur daran gewöhnt, dass so etwas immer aus dem arabischen Raum kommt. Aber religiöse Verblendung gibt es überall.


QuoteFranz1971 #11

Der Einfluss der evangelikaler Radikalchristen ist überdeutlich . Überzeugt das Leben im Namen eines imaginären Freundes zu schützen treten das Selbstbestimmungsrecht der Frauen mit Füßen und schwingen sich zu Richtern auf . Meine persönliche Meinung zur Abtreibung ist sehr ambivalent . Aber auch völlig egal , nur die einzelne Frau hat das Recht darüber zu entscheiden ob sie ein Kind möchte oder eben nicht .


Quoteartefaktum #14

Und demnächst wird dann wieder gepriesen, der Staat solle sich aus dem Leben der Bürger raushalten! In das Privateste aber soll sich einmischen. Besonders rational ist dieses urkonservative Denken nicht.

Völlig absurd wird es dann, wenn man dann auch noch gleichzeitig für die Todesstrafe ist - die es in Texas selbstredend noch gibt.


QuoteSebastian G. #21

Ich finde es ja immer wieder faszinierend, wie vehement sich die Abtreibungsgegner für die ungeborenen Föten einsetzen und wie vollkommen egal ihnen dann die geborenen Kinder sind. Ganz speziell die Republikaner tun sich ja immer wieder mit massiven Kürzungen im sozialen Bereich oder bei der Bildung hervor.


QuoteAlanFord #23

Ich gratuliere Texas auf seinen Weg zum Gottesstaat (Jesus wollte es so!)
ungeborene Föten gehören beschützt......und Menschen gehören auf den elektrischen Stuhl (sind ja keine Föten mehr)
Waffen für alle !...


QuoteNemo99 #24

Das Traurige ist nur, dass es den Abtreibungsgegnern in den USA häufig nur um ungeborenen Leben geht. Mehr Unterstützung für z.B. Alleinerziehende wäre ja sozialistisch, Kinderkrippe und sehr gute Ausstattung von Kinderheimen würde Geld kosten, das man nicht ausgeben will  ...


QuoteRon Siderius #25

Die republikanisch geführen Staaten werden die Abtreibungsgesetze verschärfen, auch wenn diese von den Gerichten wieder gekippt werden. Eines Tages wird sich der Supreme Court mit dieser Thematik beschäftigen und womöglich Roe vs. Wade revidieren. Die Revision wird dann die nächsten Dekaden gelten. Donald Trump hat mit der Wahl der Supreme Court Richter die Gelegenheit gehabt das konservative Amerika über seine vierjährige Amtszeit zu stärken.


QuoteSamsonit #26

"Der US-Bundesstaat verbietet Schwangerschaftsabbrüche künftig ab dem ersten Herzschlag des Kindes, auch nach einer Vergewaltigung. Jeder soll Beteiligte verklagen dürfen. "

Die perfideste, mit enormer Energie fabrizierte Machtdemonstration gegenüber Frauen die man sich vorstellen kann.


Quotehelmutleitz #33

Abtreibungsverbot nach Vergewaltigungen kannte ich eigentlich nur aus finster-katholischen Ostblockstaaten.

Seltsamer Weg auf dem die USA da gerade sind...


...
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 31, 2021, 02:38:38 PM
Quote[...] Wonsan - In der nordkoreanischen Provinz Gangwon soll ein Mann hingerichtet worden sein, der USB-Sticks und CDs mit südkoreanischen Filmen, Dramen und Musikvideos verkauft haben soll. Die südkoreanische Nachrichtenseite DailyNK berichtet unter Berufung auf eine Quelle in der Provinz von der Hinrichtung. Der Exekutierte sei gemäß dem Ende letzten Jahres eingeführten ,,anti-reaktionären Gedankengesetz" angeordnet worden, nachdem der Mann zuvor als ,,antisozialistisches Element" zum Tode verurteilt worden sei.

Der Mann, der den Nachnamen Lee getragen haben soll, soll als leitender Ingenieur bei der Wonsan Farming Management Commission gearbeitet haben. Er sei von der Tochter des Leiters seiner Volkseinheit (Inminban) beim heimlichen Verkauf der Speichermedien erwischt worden, worauf ihn jene gemeldet habe. Kurz darauf Sei Lee verhaftet worden.

Am 25. April, ungefähr vierzig Tage nach seiner Verhaftung, sei Lee vor fünfhundert Menschen öffentlich hingerichtet worden, darunter Beamte der Stadt Wonsan und ihre Familien, sowie Lehrende und Studierende. Lees engster Familienkreis sei gezwungen worden, bei der Hinrichtung in der ersten Reihe zu stehen. Ein Erschießungskommando habe Lee schließlich vor rund 500 Menschen exekutiert.

Die DailyNK, die bevorzugt Exil-nordkoreanische Angestellte beschäftigt, gibt an, das offizielle Urteil vorliegen zu haben. Darin heißt es laut Angaben der Nachrichtenseite: ,,Dies war die erste Hinrichtung in der Provinz Gangwon wegen antisozialistischer Handlungen nach dem antireaktionären Gedankengesetz." Weiter heißt es, dass ein ähnliches Vergehen in der Vergangenheit das Arbeits- oder Umerziehungslager zur Folge gehabt hätte.

Es sei jedoch ,,ein schwerer Fehler", für ,,antisozialistische Handlungen" – wie es heißt – ,,leichte Strafen" zu verteilen: ,,Solch ein reaktionäres Verhalten hilft Menschen, die versuchen, unseren Sozialismus zu zerstören. Reaktionäre sollten in unserer Gesellschaft nicht ohne Angst leben dürfen." Nachdem die örtlichen Behörden das Urteil verlesen hätten, seien zwölf Schüsse ertönt. Anschließend sei Lees lebloser Körper ,,in einen Strohsack gerollt und in eine Kiste geladen und dann irgendwohin gebracht" worden.

Die Quelle der DailyNK berichtet weiter: ,,Die Nachbarn der Familie brachen in Tränen aus, als sie sahen, wie vier Sicherheitsleute Lees zusammengebrochene Frau aufhoben und sie wie ein Gepäckstück in einen Transporter warfen." Weiter heißt es: ,,Sie waren gezwungen, ihre Lippen zusammenzupressen und in sich hinein zu weinen. Dies gebot ihnen die Angst davor, sich selbst aufgrund ihres Mitgefühls für einen Reaktionär zu Kriminellen zu machen."

Die Quelle führt aus, dass es in Nordkorea unter Kim Jong-un inzwischen reiche, sich ein Video aus Südkorea anzusehen, um zu lebenslanger Haft oder dem Tode verurteilt zu werden. Außerdem drohten Haftstrafen von bis zu sieben Jahren, wenn ,,antisozialistisches" Verhalten nicht gemeldet werde: ,,Die gesamte Bevölkerung zittert vor Angst." Zuletzt war bekannt geworden, dass Nordkorea Waisenkinder als ,,Freiwillige" auf Großbaustellen und in Minen als De-facto-Arbeitssklaven einsetzt. (Mirko Schmid)


Aus: "Nordkorea: Mann vor den Augen seiner Familie hingerichtet" Mirko Schmid (30.05.2021)
Quelle: https://www.fr.de/politik/nordkorea-mann-hingerichtet-kim-jong-un-antisozialistische-handlung-90781356.html (https://www.fr.de/politik/nordkorea-mann-hingerichtet-kim-jong-un-antisozialistische-handlung-90781356.html)

Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 13, 2021, 11:15:16 AM
Quote[...] Sein Vorgänger trat gleich in mehrere Fettnäpfchen und ließ die Queen sogar warten. Nun kann US-Präsident Joe Biden zeigen, ob er die Hof-Etikette besser beherrscht als Donald Trump: Nach den Beratungen beim G7-Gipfel im englischen Cornwall ist Biden mit First Lady Jill am Sonntag bei der britischen Königin Elizabeth II. auf Schloss Windsor eingeladen. Eins steht jetzt schon fest: Bei dem Treffen wird sehr genau beäugt werden, ob und welche Fauxpas sich die Bidens leisten. Das höfische Protokoll sieht ein paar klare Regeln vor: [ ] Sobald der wohl mächtigste Regierungschef der Welt auf die Queen trifft, geht es schon los. Als Mann hat sich Biden vor der Queen zu verbeugen. Ein tiefer Diener muss aber nicht sein, ein Senken des Kopfes genügt. Von Jill Biden hingegen wird ein leichter Knicks erwartet. ... Der Queen zur Begrüßung die Hand schütteln oder sie gar herzlich umarmen, wäre ein No-Go. Sie darf nicht berührt werden. Die frühere First Lady Michelle Obama leistete sich hier im April 2009 mal einen Fehltritt, weil sie der deutlich kleineren Königin die Hand auf die Schulter legte. ...


Aus: "Die Bidens bei der Queen : Wo die peinlichen Fehltritte lauern" (12.06.2021)
Quelle: https://www.spiegel.de/panorama/leute/joe-biden-bei-queen-elizabeth-ii-wo-die-fettnaepfchen-stehen-a-94eed3b1-f8a4-4913-b92b-dc537c6e86a8 (https://www.spiegel.de/panorama/leute/joe-biden-bei-queen-elizabeth-ii-wo-die-fettnaepfchen-stehen-a-94eed3b1-f8a4-4913-b92b-dc537c6e86a8)

QuoteListkaefer

Befremdlich. Wir befinden uns im 21.Jahrhundert. ...


QuoteOlivia_q

Die Obsession mit Hofetiquette ist peinlich, nicht etwaige ,,Fehler". ...


QuoteChristian

Wir sollen alle noch "Ehrfurcht" haben vor dem ganzen Zirkus, der da veranstaltet wird: bei der Queen, bei den Kirchenleuten, ... Tolles 21. Jh.!


QuoteTEW

Royaler und klerikaler Mummenschanz. Vor dem braucht man als demokratischer Bürger des 21. Jahrhunderts weder Ehrfurcht noch Respekt zu haben ...


...
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 10, 2021, 09:54:37 AM
Quote[...] Zu dem Buch: Svenja Flaßpöhler: Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren. Klett-Cotta, Stuttgart 2021.

Was Ruhe und Ordnung ist, vermag nicht einmal die Polizei zu bestimmen. Jedenfalls lassen sich die Vertreter des Ordnungsamtes, wenn sie anlässlich einer Ruhestörung zur Schlichtung hinzugezogen werden, nicht auf verbindliche Aussagen ein. Maßgeblich für die Feststellung einer Störung sei nicht, was objektiv gemessen werde. Zur Bewertung der Situation gehöre vielmehr, was von den Betroffenen als Störung empfunden werde. Zwar sind die Beamten im Moment des Aufruhrs noch immer bemüht, so etwas wie gesunden Menschenverstand walten zu lassen. Bei der Verrichtung ihrer Arbeit aber sind sie gehalten, den Empfindungen der Beteiligten größtmögliche Beachtung zu schenken. Lärm ist nicht, was alle hören, sondern was von anderen als Lärm wahrgenommen wird.

Das Beispiel zeigt, wie sehr Sensibilität in unseren Alltag und nicht selten auch in die in ihm geltenden Rechtsverhältnisse Einzug gehalten hat. Es ist also überfällig, über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren nachzudenken, wenngleich die Berliner Philosophin Svenja Flaßpöhler beim Schreiben ihres Buches mit dem adjektivischen Titel ,,Sensibel" keinen Polizeieinsatz vor Augen gehabt haben dürfte. Eher schon waren die Ordnungsimpulse einer sich rasant verbreitenden Cancel Culture Auslöser für ihre stichprobenartige Inspektion einer Geschichte der Sensibilität.

Schon bei der begrifflichen Annäherung ist die Chefredakteurin des populären Philosophie Magazins auf gemischte Gefühle gestoßen.

Zwar sagt man den Sensiblen nach, mit Empfindung begabt und aufmerksam für die sie umgebenden Verhältnisse zu sein. Genauso schnell aber waren seit jeher negative Charakterisierungen wie Überspanntheit und Weinerlichkeit zur Hand. Nervosität und Gereiztheit zeichnen das moderne Ich – nicht selten verbunden mit Zuschreibungen des Weiblichen – ebenso aus wie dessen Fähigkeit zur Registrierung feiner Unterschiede. Die Fragestellung ist also eine doppelte: Wie wichtig ist Sensibilität im Kampf um Anerkennung benachteiligter Gruppen? Und kippt sie ins Regressive, wenn sie normativ eingefordert wird?

Flaßpöhler holt kulturhistorisch weit aus, um die mitunter gegenläufigen Phänomene einer Hypersensibilisierung verstehen zu helfen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang einmal mehr Norbert Elias' Studie ,,Der Prozess der Zivilisation", in der er die Transformation von äußerer Gewalt in Affektkontrolle sowie die allmähliche Etablierung von Scham- und Peinlichkeitsgefühlen beschreibt. Sensibilität ist im besten Elias'schen Sinn eine zivilisatorische Errungenschaft.

Svenja Flaßpöhler lässt sich einiges einfallen, um nicht stereotyp in die Fallen der laufenden Debatten zu tappen. Was ihr Buch zu einer kurzweiligen Lektüre macht, ist ihr Bemühen, die philosophischen und soziologischen Klassiker nicht einfach nur über Prunkzitate aufzurufen, sondern sie vor dem Hintergrund einer akuten Polarisierung zwischen einer zunehmenden sozialen Panzerung auf der einen und der Forderung nach einer neuen Achtsamkeit auf der anderen Seite zu befragen. Ganz in diesem Sinne inszeniert sie ein unterhaltsames Streitgespräch zwischen einem sogenannten Team Nietzsche und einem Team Lévinas, in dem sie die Positionen einer individuellen Selbstermächtigung auf die einer gesteigerten Verletzlichkeit prallen lässt.

Kritisch könnte man einwenden, dass Flaßpöhler sich damit im Kanon der westlichen Theoriegeschichte bewegt und etwa afrikanische Denker wie Achille Mbembe und Anthony Appiah oder den indischen Literaturhistoriker Homie Bhabha nicht berücksichtigt. Die besondere Stärke des Buches besteht jedoch im Aufspüren theoretischer Widersprüche der ,,Wokeness". So ist die längst in der gesellschaftlichen Mitte angekommene Sensibilisierung für sprachliche Ausdrucksformen kaum zu denken ohne die Arbeiten von Jacques Derrida und Judith Butler, die dessen Theorie des Dekonstruktivismus in Bezug auf eine geschlechtergerechte Sprache radikalisiert hat.

Sprache ist immer auch politisch, doch wer meint, sich dabei auf Derrida und Butler berufen zu können, unterschlägt mutwillig deren Ablehnung einer Fixierung von Festlegungen und Regeln. So zitiert Flaßpöhler Judith Butler in Bezug auf die Tabuisierung von Wörtern und die Einschränkung öffentlicher Diskurse: ,,Immer dämpft der Versuch, Sprechen zu reglementieren, den politischen Impuls, den effektiven Widerstand des Sprechens zu nutzen." So ließe sich hinsichtlich der grassierenden semantischen Kämpfe feststellen, dass die von Derrida und Butler hervorgehobene Bedeutung des Sprachspiels kurzerhand ausgeblendet wird.

Vermittelnd setzt Svenja Flaßpöhler indes unter Berufung auf Helmut Plessners Überlegungen zum Taktgefühl auf die Fähigkeit, Nähe und Distanz in der Beziehung zur Welt gleichermaßen zur Geltung kommen zu lassen. Takt, so heißt es bei Plessner, ,,ist die Bereitschaft, auf die feinsten Vibrationen der Umwelt anzusprechen, die willige Geöffnetheit, andere zu sehen und sich selbst dabei aus dem Blickfeld auszuschalten, andere nach ihrem Maßstab und nicht nach dem eigenen zu messen."

Weil Sensibilität eine zivilisatorische Errungenschaft sei, folgert Flaßpöhler, dürfe sie nicht verabsolutiert und instrumentalisiert werden. Die zuletzt vielfach als neoliberale Abwehrhaltung geschmähte Resilienz, schreibt sie schließlich, ,,ist nicht die Feindin, sondern die Schwester der Sensibilität. Die Zukunft meistern können sie nur gemeinsam."


Aus: "Svenja Flaßpöhler: ,,Sensibel" – Nähe, Distanz und andere Zumutungen" Harry Nutt (09.11.2021)
Quelle: https://www.fr.de/kultur/literatur/svenja-flasspoehler-sensibel-naehe-distanz-und-andere-zumutungen-91105066.html (https://www.fr.de/kultur/literatur/svenja-flasspoehler-sensibel-naehe-distanz-und-andere-zumutungen-91105066.html)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 10, 2021, 09:59:04 AM
Quote[...] Die polnische Regierung will hinter den Flüchtlingsbewegungen in Belarus Aggressionen Russlands erkennen. Derweil passieren Migranten illegal die Grenze.

Update von Mittwoch, 10.11.2021, 09.15 Uhr: Zwei größere Gruppen von Migranten haben Medienberichten zufolge die Grenze von Belarus nach Polen durchbrochen. Mehreren Dutzend Migranten sei es gelungen, Zäune in der Nähe der Dörfer Krynki und Bialowieza zu zerstören und die Grenze zu passieren, berichtete die polnische Nachrichtenagentur PAP am späten Dienstagabend unter Berufung auf den örtlichen Sender Bialystok.

... Einer aktuellen Umfrage zufolge befürworten 55 Prozent der Menschen in Polen gewaltsame Pushbacks. Nur jeder Dritte ist dagegen. Die gemäßigte ,,Rzeczpospolita" wertet das Ergebnis so: ,,Migranten sind in Polen unerwünscht." Zugleich herrscht in dem katholisch geprägten Land ein starker Impuls, notleidenden Menschen zu helfen. Drei von fünf Polen äußern sich entsprechend. Wie das zusammenpasst? ,,Gar nicht", sagen Meinungsforschungsinstitute. Es handele sich um widersprüchliche emotionale Reaktionen. Immerhin in einer Frage sind sich 80 Prozent der Befragten einig: Die Regierung soll sich schnellstmöglich mit der Bitte um Hilfe an die EU wenden. (Ulrich Krökel)


Aus: "Eskalation an der Grenze zu Polen: Migranten reißen Barrieren und Zäune nieder" Ulrich Krökel (10.11.2021)
Quelle: https://www.fr.de/politik/hunde-traenengas-kriegsgeheul-91105630.html (https://www.fr.de/politik/hunde-traenengas-kriegsgeheul-91105630.html)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 10, 2021, 12:32:58 PM
... Obwohl seit der Ermordung des konservativen Abgeordneten Sir David Amess im Oktober die Drohungen für Abgeordnete viel Aufmerksamkeit geschenkt haben, zeigt Burkes Erfahrung, wie allgegenwärtig Morddrohungen geworden sind und wie wenig erforderlich ist, um sie zu entfachen. Sie können zum Beispiel in einer Hausarztpraxis arbeiten und mit einem Durchschneiden der Kehle gedroht werden, weil Sie nicht genügend persönliche Termine anbieten können. Patsy Stevenson, die nach dem Mord an Sarah Everard an einer Mahnwache teilnahm und festgenommen wurde, sagte, sie könne ,,die Anzahl der Morddrohungen nicht zählen", nachdem sie auf den Titelseiten von Zeitungen erschienen war. ... Die Statistiken sorgen für erschreckende Lektüre. Im vergangenen Jahr stiegen die Meldungen über Morddrohungen in England und Wales um 13%, wobei zwischen April 2020 und März 2021 42.307 Drohungen eingegangen waren, gegenüber 37.347 im Jahr zuvor. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Bedrohungen vervierfacht, 2010/11 wurden laut der jährlichen Crime Survey nur 9.480 Bedrohungen registriert. Rückblickend gab es 1981 gerade einmal 620 Meldungen über ,,Drohung oder Verschwörung zum Mord" (die alte Bezeichnung für die Tat) und 1971 nur 102. Vor einem Jahrhundert, im Jahr 1921, waren es 16. ...

Quote[...] When Jon Burke went into local politics in 2014 he never imagined there would come a time when he considered carrying a rolling pin hidden inside his raincoat when he left the house – "just in case someone jumped out of a car at me with a wrench". But his mind turned to raiding his kitchen drawers for protection last September, after Hackney council officials called him to say they had received a handwritten letter that threatened to burn down his house while he was sleeping and hurt not just him, but his wife and children.

His crime? Trying to make Hackney a better, safer place – in his eyes – to walk or ride a bike, via the introduction of low traffic neighbourhoods. As the London borough's cabinet member for transport, Burke found himself at the centre of a row that had become part of the culture wars in which four wheels were pitted against two. The anonymous letter writer made clear they were a car driver: "You fucking cunts ride a bicycle," they observed.

The council called the police but Burke, a Labour councillor, didn't hold his breath: "We lost 265 officers from the streets of Hackney in a decade. Frankly, those left were not going to have time to dust a letter for fingerprints. I never heard from them again."

Although much of the attention has been on the threats posed to MPs since the murder of the Conservative MP Sir David Amess in October, Burke's experience shows how ubiquitous death threats have become and how little is needed to spark them. You can, for instance, work in a GP's surgery and be threatened with having your throat cut for not being able to offer enough face-to-face appointments. Patsy Stevenson, who attended a vigil after the murder of Sarah Everard and was arrested, said she couldn't "count the amount of death threats I've had" after appearing on newspaper front pages.

Even teachers are targeted. The National Association of Head Teachers (NAHT) says some of its members received death threats for teaching LGBT equality, but none would talk to the Guardian. "One head is too scarred by the experience to want to talk about it again, and the other is currently under attack so doesn't want to bring more attention on themselves or their school," an NAHT spokesperson says.

The statistics make for frightening reading. Last year, there was a 13% increase in reports of threats to kill in England and Wales, with 42,307 threats received between April 2020 and March 2021, up from 37,347 the year before. In the past decade there has been a four-fold rise, with only 9,480 threats recorded in 2010/11, according to the annual Crime Survey. Looking further back, in 1981 there were just 620 reports of "threat or conspiracy to murder" (the old name for the offence), and just 102 in 1971. A century ago, in 1921, there were 16.

Today, only a tiny proportion of cases reach court – just 1,228 in 2020, less than half of which (435) resulted in a conviction. In fact, prosecution rates have dropped over the past decade, with 1,579 cases making it to court in 2010. Most of those prosecuted made little or no attempt to hide their identities: spend any time in a magistrates court and you'll see most "threat to kill" cases involve domestic violence.

Then there are the people charged under the Communications Act 2003, for sending "grossly offensive messages by electronic communications". In 2020/21, there were a staggering 275,628 reports of malicious communications, according to the Crime Survey of England and Wales. Of these, just 1,096 reached court in 2020, down from 1,511 in 2010.

Yet Prof Neil Chakraborti, director of the Centre for Hate Studies at Leicester University, thinks even these statistics may underestimate the true scale of the problem. "In reality, the numbers are likely to be much higher because many recipients of death rates just won't report them. There's often a fear of retaliatory violence," he says. Also, victims think: "It'll be futile."

Having interviewed more than 2,000 victims of hate crime, Chakraborti puts the boom in death threats down to three things. First, social media and email have made sending a death threat extremely low effort, and immediate – you no longer have to take the trouble even to go and buy a stamp. Online communication "gives perpetrators this cloak of anonymity to be abusive and hateful, but worse than that, it gives them a sense of invincibility, too," says Chakraborti. His first death threats were a series of letters signed by "Death Incarnate" back in the early 00s, after he published research into rural racism in England.

His second explanation is the modern blame culture and the polarising culture wars playing out across all the media, which he sees as "an extension of this kind of binary, entrenched, distorted world. Blame just seems everywhere, in every context, and we can attach blame to ordinary people now."

Third, he thinks that hateful language has been normalised to such a degree that most people making death threats underestimate their power. There appear to be few consequences for those using intemperate language, whether that's the Daily Mail calling judges "enemies of the people", or a US president describing Mexican immigrants as "rapists".

As a result, he says, perpetrators don't "necessarily understand the gravity of what they're doing".

However, more recipients are speaking out against this onslaught. One of the first was the journalist and feminist campaigner Caroline Criado Perez, who in 2013 successfully campaigned to have Jane Austen on bank notes. This minor change led to hundreds of threats and two people were jailed as a result. In an interview with the Guardian she said: "I feel it's my responsibility to maintain this defiant stance of: 'Fuck you, you are not getting to me and you're not going to win.'"

Attacking strident women is not new. Emmeline Pankhurst received an anonymous postcard, which said of the suffragettes: "If you have no homes, no husbands, no children, no relations, why don't you just drown yourselves?" Yet previously, only those with the highest profiles were targeted.

Death threats certainly weren't part of everyday life for public servants. Siobhan Brennan, a GP from Marple, an affluent area of Stockport, had to call police twice recently. First, when a patient said he would wait outside for her that night and "have it out with me" about his wife's care; and then when a man phoned and threatened to cut a colleague's throat when she told him registering as a patient wasn't an instant process. Patients have also thrown masks at colleagues and threatened to spit on them, she added. "I was called a bitch on the phone for not prescribing inappropriate meds, too," she says. She hears similar horror stories from GPs across the country, with some practices looking at equipping staff with bodycams to record abuse and assaults.

Brennan, who has been a doctor for 25 years, says while most patients appreciate GPs' hard work, aggression has ramped up "massively" this year. She prides herself on her toughness but admits she's scared – "I run ultramarathons and I'm used to putting my body through hell. I don't get afraid when I'm running in the middle of the night in the Lake District, but I have had times at the surgery when I have been terrified."

She blames sections of the media, particularly newspapers that have run front pages lambasting GPs in recent months, for whipping up emotion against doctors. She also singles out the health secretary Sajid Javid's criticism of GPs for directing the public's anger towards doctors. "I shouldn't be made to feel embarrassed to say what I do for a living," says Brennan.

Doctors and teachers may be shocked to be targeted, but it is now rare to find an MP who hasn't been sent death threats. At the end of October, the deputy Labour leader Angela Rayner talked of the "terrifying" abuse she had received as a man was sentenced for telling her to "watch your back and your kids". The same week, her shadow cabinet colleague Naz Shah was breathing a sigh of relief after Sundas Alam, 30, a woman in her Bradford West constituency, pleaded guilty to sending her death threats.

This was, in fact, the third person convicted for threatening to kill Shah, who became an MP in 2015 after a bitter battle with George Galloway. Her first serious threat was unrelated to this and was intercepted by police when she had only been in parliament for a year. At this time, Shah had been campaigning for an investigation into the suspected "honour" killing of a local girl, Samia Shahid, and "a bounty was put on my head", she recalls.

The fight has been hard on her physical and mental health. She says she had a "complete breakdown" in 2019 after receiving a particularly awful email. But she insists she will not let the threats stop her doing her job: "Then they would have won", is how she sees it. But it can be hard on her children, now aged 10, 14 and 17. After the Shahid incident in 2016 she sat her eldest daughter down and said: "If anything happens to me, do not let this baton drop, keep on fighting. I expect you to march through Bradford for the rights of women to live violence-free."

Defendants, meanwhile, often claim they were only joking. In February 2020, a Conservative activist was jailed for nine weeks after sending messages claiming to have paid "crackheads" £100 to beat up the Labour MP Yvette Cooper and warning that "if you make peaceful revolution difficult you make a violent one inevitable". In mitigation, Joshua Spencer's solicitor said his client had sent the messages "in drink" and was never seriously planning an attack. After Amess's murder, a member of Cooper's team, Jade Botterill, said she quit under the strain of the threats, having once reported 100 in a week.

Even people in the public eye to entertain, rather than effect change, do not escape, however. This autumn, Morag Crichton, a 31-year-old trainee vet from Essex, appeared on the E4 reality show Married at First Sight. She had a "blind marriage" with a Welsh firefighter called Luke.

Crichton had told researchers she liked confident, muscular men. The experts thought she'd be better off with shy but thoughtful Luke, who'd had his heart broken in the past. On the show, Crichton appeared to be trying to make Luke into a totally different person, forcing him to buy new clothes costing hundreds of pounds, and saying she could only get intimate with him after drinking. The show wrapped in July and was broadcast from 30 August. The torrent of abuse was instant, says Crichton, who has been offered antidepressants and therapy to cope.

At first, she was called ugly and fake. Then it "became a lot worse where it was comments, like: 'Kill yourself. I hope you get raped. I hope you get Aids, cancer.' One of them was even like: 'I hope I die so I don't have to put up with you any more.'"

The vast majority of abuse came from other women, "mothers, daughters, sisters, grandmas", making no attempt to hide their identities. The worst was anonymous. Recently, she was on a night out and received a message saying "Come outside", which made her worry that someone was watching her.

Crichton believes she was deliberately edited to look bad – a claim denied by a spokesperson for E4, who said: "Episodes can represent several days in the lives of the couples. What we broadcast is a fair reflection of the events that unfolded."

The network said it was supporting Crichton and that "robust protocols are in place" to ensure "appropriate support is available".

Sarah Schulman is the American author behind Conflict Is Not Abuse, which explored whether a culture of victimhood had led people to overstate the harm posed to them by others. She believes "the 1%" – whether major corporations or world leaders – have set the tone for an era of intolerance and aggression, by committing "every possible violation with absolutely no consequence". This high-level lack of accountability filters down to ordinary people who feel emboldened to do or say whatever they want "because they know nothing is going to happen", she argues.

What Schulman sees as the "chaos" of the world has led to people feeling "so violated and unprotected" that they feel disproportionately threatened by people with other viewpoints. "This idea of difference is so threatening at a time when everything is polarised politically. People feel that the fact that somebody else is different means that they are in danger, because we're in a heightened state of political paranoia," she says.

Jon Burke, who is no longer a councillor, points out the internet has also radicalised new communities of "oddballs" who may have previously been isolated, but find networks and "egg each other on". Conspiracy theories spreading online don't help either: after the Everard protest, Stevenson said she was accused of being a "crisis actor" paid to attend the vigil and get arrested to legitimise attacks on the police.

Since the threats, Burke has left Hackney and works as a carbon reduction consultant for local authorities. "If you're in a situation where your wife turns around and says: 'I don't think we should go to that shop that we go to every year with the kids to get the Christmas tree in case someone spots us on the street', that is no way to live," he says.

"People need to ask themselves, if you were an 18-year-old woman doing a politics degree or getting into trade unionism on the shop floor, and you looked at what came with the territory of being a local councillor, would you put your hand up in the air and say: 'I'll do that?'"

He makes the point that it is women of colour, notably his former local MP, Diane Abbott, who often draw the most abuse. "If you are from a minority ethnic background and you had a look at the kind of abuse that Diane's been subjected to – most of which is misogynistic, or racially motivated – are you going to bother going into politics?"

Changing society and the prevailing culture won't be easy, warns Chakraborti, but social media companies must do more to deal with death threats and prove that they take them seriously. The police, too, must do "everything they can to be empathic" when a threat is reported to them.

Schulman, however, believes that ultimately the solution may lie offline in reinforcing social norms in which death threats have no place. "People need to have more in-real-life gatherings, more subcultural communities. We need more congresses and festivals and galas and discussions about what their feelings are towards each other and what their standards of behaviour should be. You can't rely on the people in power for the solutions."


From: "'There was a bounty on my head': the chilling rise of the death threat" Helen Pidd (Wed 10 Nov 2021)
Source: https://www.theguardian.com/uk-news/2021/nov/10/there-was-a-bounty-on-my-head-the-chilling-rise-of-the-death-threat (https://www.theguardian.com/uk-news/2021/nov/10/there-was-a-bounty-on-my-head-the-chilling-rise-of-the-death-threat)

Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 11, 2021, 11:11:52 AM
Quote[...] Die Freundlichkeit des wahren Gentleman, der natürlich ebenso ein Taxifahrer oder Hoteldirektor sein kann ... ist absichtslos und steht nicht im Dienst einer Geschäftstüchtigkeit, eines Flirts oder einer Verhandlung.

Als zwischenmenschlicher Diplomat ist er jederzeit auf Ausgewogenheit und Gerechtigkeit bedacht, er tritt niemals dominant auf, ist nicht nachtragend, spricht ungern über sich und bleibt am liebsten unauffällig, ohne dabei schüchtern zu sein. Er beherrscht die Kunst der verstellbaren Augenhöhe, auf der er sich mit jedem treffen kann. ... Eine oft zitierte Definition stammt von dem Autor John Henry Newman, nach der ein Gentleman insgesamt jemand sei "der niemals Schmerz zufügt".

... Heute aber hat der Gentleman vielleicht ein Update nötig. Es wäre fatal, wenn der Eindruck entstünde, er wäre nur noch eine Kostümrolle aus einem Schwarz-Weiß-Film. Nein, gerade in einer Zeit, in der Rüpelei und Beleidigtsein, populistische Unflat und rohe Muskelspiele wieder zu den Stilmitteln gehören, besteht dringender Bedarf an einem zivilisierten Männerbild. Denn der Gentleman ist mit seiner Haltung und seiner wohlwollenden Klarsicht auch immer Inbegriff der Kultiviertheit und Zierde seiner Zeit. Aber was würde ihn in der Gegenwart auszeichnen?

Zwei Punkte irritieren heute am klassischen Gentleman. Er ist zum einen sehr analog, zum anderen sehr heteronormativ und geschlechtsfixiert. Den Mann trägt er nun ja schon im Namen, es wäre aber angebracht, darüber nachzudenken, ob der Gentleman nicht auch eine Frauenrolle sein könnte, oder noch eher: eine UnisexLebensart. Dagegen ist nichts einzuwenden, wäre da nicht der leise Verdacht, dass viele Gentleman-Eigenschaften an Frauen ohnehin als normale Wesenszüge gelten. Das sanfte, sozial-emotionale, intelligente Wesen, dem grundsätzliche an Harmonie und Respekt gegenüber jeder Kreatur gelegen ist und das sich nicht immer in den Mittelpunkt spielen will? Klingt nach Klischee-Frau. Erst am Hetero-Manne scheint diese Ausstattung zu kontrastieren und damit bemerkenswert. Seit das andere Geschlecht nicht mehr beschützt werden muss, fällt zudem ein prominentes Aufgabengebiet weg. Zum Türaufhalten reicht ein Galan, damit ist ein Gentleman unterfordert.

... brauchbare role models wie der kanadische Premier Justin Trudeau oder der britische Schauspieler Benedict Cumberbatch machen es vor: offensives Bekennen zum Feminismus, bei gleichzeitiger Wahrung einer männlicher Note. Modern ist ein Mann, der sich seiner Maskulinität so sicher ist, dass er problemlos hinter einer Frau zurücktreten kann. Der sich, im Gegensatz zu amtierenden Alphamännchen, nicht zu ernst nimmt und dem man die Gleichberechtigung deshalb nicht abtrotzen muss, der sie vielmehr uneitel und schon aus Solidarität unter Menschen praktiziert, ohne weiteres Aufhebens darum zu machen.

Das ist aber kein Plädoyer für einen schwachen, eingeschüchterten Mann, im Gegenteil - gerade der Gentleman war immer ein brillantes Beispiel dafür, wie man auch in freundlicher Zurücknahme Würde behalten und Stärke ausstrahlen kann. Was der Dandy nur mit Putz und Dekadenz, der Snob nur mit seinem Geld und Extravaganz schafft, vermag der Gentleman schließlich ganz aus sich heraus: zu glänzen. Der Philosoph Martin Scherer schreibt in seinem Standardwerk "Der Gentleman" über ihn: "Das Weniger an Selbstdarstellung bedeutet ein mehr an Offenheit und Entspanntheit."

... der verschmitzte Portier im Grand Hotel oder Peter Ustinov im Schaufelraddampfer auf dem Nil, das sind Ansichten aus dem Gentleman-Bilderbuch. Dabei ist er in der digitalen Welt nicht nur genauso denkbar, sondern umso dringender vonnöten. Schließlich gehört angemessene Kommunikation zu seinen Talenten und die Contenance, die ihn auch angesichts ungeheuerlicher Vorgänge einen kühlen Kopf und sämtliche Manieren behalten lässt. Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und intellektuellen Gefasstheit sind gerade im Netz gefragt, wo sich unentwegt Fronten bilden und Ansichten kollidieren. Der Webvordenker und Publizist Sascha Lobo entspricht mit seinem roten Irokesenhaarschnitt vielleicht nicht dem romantischen Phänotyp des Gentlemans. Aber er hat es in der vergangenen Woche geschafft, als solcher eine Netzdiskussion zu moderieren, die sonst in üblicher Kinnhakenmanier geführt worden wäre.

Lobo gelang es auf Facebook, unter seiner Einlassung zur "Nafri"-Debatte alle Lager miteinander ins Gespräch zu bringen, Schreiern und Störern entgegenzukommen und sie einzubinden, gleichzeitig allzu selbstgefällige Seilschaften zu lockern. Seine Waffe der Wahl war eine freundliche und respektvolle Sprache, die jeden einfing. Ein enormer Aufwand, der eines zeigte: Das Netz müsste nicht ein Jahrmarkt der niederen Instinkte sein, gäbe es nur genug Engagement für Kultiviertheit und gelassenen Umgang miteinander.

Ein weiteres Talent macht den Gentleman in der neuen Welt erst recht überlebensfähig: Ironie. Der Philosoph Martin Scherer erkennt sie als eines seiner wichtigsten Merkmale und notiert dazu: "Ironie entsteht aus der Überzeugung, dass es nichts ist mit der einen Wahrheit und gestanzten Lebensnorm für alle. (...) Wenn der Zynismus eine Attitüde der Macht ist, dann ist die Ironie ein Signal der Humanität. Jeder Gentleman zuckt zusammen bei Kaltblütigkeit, aggressiven Parolen oder schneidigen Thesen mit Absolutheitsanspruch."

... Ironie bedeutet auch immer Zulassenkönnen und ist damit eben kein Dogma. Der Gentleman ist deswegen auch nicht jener von Parolen verunstaltete "Gutmensch", dem in seiner ewigen Mildheit angeblich das praktische Maß fehlt. Nein, gerade eine gewisse moralische Großzügigkeit, das Wissen um die ewige Unperfektheit aller Pläne und Systeme und eine kleine Neigung zum Ungehorsam im richtigen Moment - das ist die unwiderstehliche Ironie des Gentleman.

Diese gelassene Distanz zum Weltirrsinn entsteht übrigens wie seit jeher durch Reisen, durch Flanieren, Studieren und waches und geneigtes Beobachten der Umwelt. Vielleicht ist das die wichtigste Eigenschaft des modernen Gentleman: eine echte Weltgewandtheit. Eine, die sich aus der neuen digitalen und alten analogen Welt gleichermaßen speist und ihn in die Lage versetzt, seine Entscheidungen auf Grundlage des eigenen Wissens und einer gereiften Erfahrung zu treffen. Und damit nicht auf eine postfaktische Wirklichkeit vertrauen zu müssen, in der ein Rüpel umstandslos zum Gentleman verklärt wird.



Aus: "Die Rückkehr des Gentleman" Max Scharnigg (11. Januar 2017)
Quelle: https://www.sueddeutsche.de/stil/hoeflichkeit-kuess-die-hand-die-rueckkehr-des-gentleman-1.3318162-0 (https://www.sueddeutsche.de/stil/hoeflichkeit-kuess-die-hand-die-rueckkehr-des-gentleman-1.3318162-0)

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Quote[...] NEW YORK taz | In jedem Unternehmen der USA würde ein Beschäftigter, der per Video auf seinem Twitter-Account eine Kollegin umbringt und den Chef bedroht, fristlos entlassen. Nicht so im US-Kongress. Die Republikanische Partei ließ ihren Abgeordneten aus Arizona, Paul Gosar, gewähren, als er einen Trickfilm veröffentlichte, in dem er der linken Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez, den Rücken aufschlitzt und den US-Präsidenten Joe Biden mit zwei Schwertern bedroht. Erst nachdem Hunderttausende Gosars Gewaltphantasien gesehen hatten, löschte er sie am Mittwoch von seinem Twitter-Konto.

,,Gibt es hier Comic-Fans?", hatte Gosar scheinheilig gefragt, als er sein japanischen Mangas nachempfundenes 90-Sekunden-Video am Montag sowohl auf seinem privaten als auch seinem politischen Twitter-Konto veröffentlichte. Es mischt Aufnahmen von Flüchtlingen, die durch den Rio Grande waten, während Worte wie ,,Verbrechen", ,,Drogen", ,,Mord" und ,,Banden" sowie Blutflecken, ins Bild eingeblendet werden, mit Fantasiefiguren, die Gesichter von Kongressabgeordneten haben. Gosar selbst ist der Super-Held in diesem Video. Nachdem er Ocasio-Cortez getötet hat, richtet er seine Waffen gegen Joe Biden.

Twitter warnte, dass das Video seine Regel der Gewaltfreiheit verletze. Das Unternehmen ließ es jedoch auf seiner Seite stehen und begründete das mit dem ,,öffentlichen Interesse". Als immer mehr demokratische Abgeordnete eine Ethik-Untersuchung über Gosar und dessen Ausschluss aus dem Kongress verlangten, verlautete aus dem Büro des Republikaners: ,,Dies ist ein Comic. Entspannt Euch alle". Der republikanische Fraktionschef im Repräsentantenhaus, Kevin McCarthy, und andere führende Republikaner sagten nichts zu dem Vorgang.

Ocasio-Cortez, die schon mehrfach von RepublikanerInnen verbal attackiert worden ist – unter anderem nannte sie der Abgeordneter Ted Yoho aus Florida auf einer Treppe des Kongress eine ,,Scheißschlampe" – war unterwegs zur Klimakonferenz in Glasgow, als das Video erschien. Sie reagierte auf Twitter mit den Worten: ,,Ein gruseliger Kollege, mit dem ich zusammenarbeite, und der Geld für Neonazi-Gruppen sammelt, hat ein Fantasievideo geteilt, in dem er mich tötet."

Später fügte die New Yorker Abgeordnete, deren Vorfahren aus Puerto Rico stammen, hinzu: ,,Die weiße Vorherrschaft ist etwas für extrem zerbrechliche Menschen und traurige Männer wie ihn, deren Selbstverständnis auf dem Mythos beruht, dass sie von Geburt an überlegen sind, weil sie tief in ihrem Inneren wissen, dass sie nicht einmal ein Gurkenglas öffnen oder ein ganzes Buch lesen können." Die afroamerikanische Abgeordnete der Demokraten, Cori Bush, fügte hinzu, dass ,,weiße Rassisten" die Grenzen täglich weiter verschieben: ,,Sie wollen sehen, wie weit sie ohne Konsequenzen gehen können."

Zumindest eine parlamentarische Rüge droht Gosar jetzt. Zehn demokratische Mitglieder des Repräsentantenhauses kündigten die Vorlage einer Resolution an, die sein Verhalten Gosars verurteilt. Sein Twitter-Post ,,überschreite die Grenze des Erlaubten", hieß es in einer Erklärung vom Mittwoch, die unter Federführung der Co-Vorsitzenden der Frauenorganisation der Fraktion der Demokraten verfasst wurde. Dies sei ein ,,klarer Fall für eine Rüge". Wie die Erstürmung des Kapitols am 6. Januar gezeigt habe, könnten böse und vulgäre Botschaften echte Gewalt schüren.

Gosar gehört zu einer Gruppe von mindestens sieben Trump-Getreuen im Repräsentantenhaus, die an den Vorbereitungen des Sturms auf den US-Kongress an den Vorbereitungen für den 6. Januar beteiligt gewesen sein sollen. Das haben mehrere Kongress-Stürmer in Interviews mit dem Magazin Rolling Stone erklärt. Die Abgeordneten Matt Gaetz aus Florida und Lauren Boebert aus Colorado, die ebenfalls zu der Gruppe der Trump-Getreuen gehören, haben darüber gewitzelt, die Metalldetektoren am Kongresseingang zu sprengen, um ihre Waffen ins Repräsentantenhaus bringen zu können.

Die Verrohung trifft auch Abgeordnete aus den Republikanischen Reihen. In diesen Tagen bekommt das Fred Upton aus Michigan zu spüren. Er ist einer der 13 Republikaner im Repräsentantenhaus, die in der vergangenen Woche für das Infrastrukturgesetz gestimmt haben. Upton erhält Todesdrohungen, seit seine Parteikollegin, die Abgeordnete Marjorie Taylor Greene aus Georgia, die Telefonnummern der Republikaner, die ,,Bidens kommunistische Machtergreifung" unterstützt haben, in sozialen Medien veröffentlicht hat. Bei einem TV-Interview spielte er eine ab, in der ein Anrufer ihn ,,Verräter" und ein ,,Stück Scheiße" nennt und ihm und seiner Familie den Tod wünscht.


Aus: "Den Rücken aufschlitzen" Dorothea Hahn, US-Korrespondentin (11. 11. 2021)
Quelle: https://taz.de/Mordfantasien-von-US-Republikanern/!5814877/ (https://taz.de/Mordfantasien-von-US-Republikanern/!5814877/)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 02, 2022, 07:24:30 PM
Quote[...] Uwe Wittstocks ,,Februar 33" ist ein erschütterndes Doku-Drama über die letzten Tage der Weimarer Demokratie, das allerdings Fragen zur Darstellung von Geschichte aufwirft [Uwe Wittstock: Februar 1933. Der Winter der Literatur. C.H. Beck, München 2021. 288 S.]

... Ein Spuk, das Scheitern absehbar, da ist sich Heinrich Mann sicher, und er wiederholt es gerne: Hitler ein Spuk. Will er sich das einreden? Der Schriftsteller gibt dem NS-Regime im Februar 1933 allenfalls ein halbes Jahr. Nicht anders Wilhelm Abegg, davon überzeugt, dass Hitler wie ein Dompteur in einem Käfig sitze, ausgesetzt hungrigen Löwen, die ihn zerfleischen werden. Ähnlich wie der Liberale Abegg, der als Staatssekretär und Verteidiger der Weimarer Republik die Polizei zu einer eigentlich gewappneten Institution ausgebaut hat, möchte auch derjenige Politiker wetten, der Hitler zur Kanzlerschaft verholfen hat, der Rechtskonservative Franz von Papen: ,,Was wollen Sie denn? In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass es quietscht."

Wieder einmal erschreckend, woran ein Buch über 1933 erinnert, diesmal Uwe Wittstocks ,,Februar 33. Der Winter der Literatur" – wobei der Autor auf die letzten Januartage und bis Mitte März ausgreift. Obwohl der Wahlerfolg der Nazis absehbar war, fühlten sich die Verteidiger der Weimarer Republik am 5. März wie vor den Kopf gestoßen: 43,9 Prozent für die Nazis. Zur Mehrheit verhalfen die Deutschnationalen mit acht Prozent. Trotz des gezielten Terrors gegen die Opposition, wofür Wittstock unzählige Belege aus den Zeitungen jener Tage liefert, holte die SPD 18,3 Prozent heraus, die KPD 12,3 Prozent.

Am 5. März waren Tausende Nazigegner, Nazigegnerinnen in SA-Folterkeller und erste Konzentrationslager verschleppt. Vier Tage vor den Wahlen, am 1. März, dröhnte der kommissarische Nazi-Minister Hermann Göring: ,,Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristischen Bedenken. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts!"

Kein Spuk. So undurchsichtig die Ursachen des Reichstagsbrandes, es war mehr als ein propagandistisches Ausschlachten, als Hitler noch in der Nacht des 27. Februar ankündigte: ,,Die kommunistischen Abgeordneten müssen noch in dieser Nacht aufgehängt werden. Auch gegen Sozialdemokraten und Reichsbanner gibt es jetzt keine Schonung mehr." Wer ein Antinazi war, wusste sich in Lebensgefahr, tauchte unter, verbrachte die Nächte in Todesangst. Der Schriftsteller Walter Mehring machte, als er auf der Straße Schergen noch rechtzeitig erkannte, auf dem Absatz kehrt, um sich ,,in den nächsten Zug Richtung Grenze" zu setzen, mit nicht einmal einem Koffer.

Ein Joseph Roth wird in Paris in bitterer Armut umkommen, eine Else Lasker-Schüler sich in ein Zimmer zur Untermiete in Jerusalem retten. Ein Erich-Maria Remarque hat so weit Glück, dass ihm sein pazifistischer Romanerfolg ,,Im Westen nichts Neues" und dessen Verfilmung ein finanziell sorgenfreies Leben in Hollywood eröffnen werden. Unzählige weitere Schicksale.

Wahrscheinlich wegen der Konzentration auf den Februar und März 1933 bleiben die Exilschicksale eines Walter Benjamin, eines Ernst Bloch oder Ernst Cassirer unerwähnt, überhaupt die Auswanderung der Philosophie aus Deutschland. Marginal erwähnt ein Kurt Tucholsky, der bereits ins Exil gegangen war; ungenannt bleibt ein Siegfried Kracauer, der unmittelbar nach dem Reichstagsbrand flüchtet.

Zu Beginn des Buches Unruhe nicht wegen politischer Schlagzeilen, sondern Lampenfieber vor einem Auftritt auf dem Presseball, möglichst chic. Zwei Tage später, am 30. Januar, krähen die Zeitungsjungen: ,,Adolf Hitler Reichskanzler!" Wer auf einen Spuk gehofft hat, irrt gewaltig, auch Heinrich Mann, der ins Exil hat fliehen müssen. Wie Albig, der zusehen muss, wie die Polizei Preußens als Institution versagt. Wie der Reaktionär Papen, der gemeinsam mit dem Reichspräsidenten, Paul von Hindenburg, die Macht an Hitler überträgt. Die Machtübergabe am 30. Januar zwischen 11 Uhr und kurz vor 12 ist eine Farce.

Der Pazifist, Linke und Chefredakteur der ,,Weltbühne", Carl von Ossietzky, dem vollkommen bewusst ist, dass er zu den ersten Opfern zählen wird, lässt sich einfach nicht umstimmen, er bleibt. Die Reaktionen unter den von den Nazis seit Jahren verhöhnten, verleumdeten ,,Asphaltliteraten" sind unterschiedlich. Bestürzung, hyperschlaue Ignoranz, hochpolitischer Durchblick, raffinierte Reaktionen, kleinkarierte, klägliche. Das anthropologische Spektrum ist stets größer als jedes politische. Selbstgefälliger Antifaschismus wäre es, man läse das Buch, heute, nicht im Bewusstsein der Gnade der späten Geburt. Versnobt wäre es, wenn man das ausschließlich als den Niedergang einer literarischen Epoche verstünde.

... Zu Recht heißt es bei Wittstock, dass es ,,vermutlich zur Natur eines Zivilisationsbruchs" gehöre, ,,schwer vorstellbar zu sein". Was heißt das für ein Urteil über die Klarsichtigen, die keinen Zivilisationsbruch voraussahen, wie auch?

...


Aus: "Uwe Wittstock ,,Februar 33": Wunschdenken in Erwartung der Hinrichtung" (14.12.2021)
Quelle: https://www.fr.de/kultur/literatur/uwe-wittstock-februar-33-wunschdenken-in-erwartung-der-hinrichtung-91178564.html (https://www.fr.de/kultur/literatur/uwe-wittstock-februar-33-wunschdenken-in-erwartung-der-hinrichtung-91178564.html)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 07, 2022, 02:15:14 PM
Quote[...] Einsatzkräfte sollen ohne Vorwarnung auf Demonstranten schießen, befiehlt Kasachstans Staatschef Tokajew. Verhandlungen mit seinen Gegnern lehnt er als "Dummheit" ab.

... Der erteilte Schussbefehl des Präsidenten trifft bei der Bundesregierung auf deutliche Kritik. "Wer ohne Vorwarnung auf Demonstranten schießen lässt, um zu töten, hat den Kreis zivilisierter Staaten verlassen", twitterte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) .

...


Aus: "Präsident Tokajew erteilt Schießbefehl gegen Demonstranten" (7. Januar 2022)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-01/kasachstan-tote-unruhen-kassym-schomart-tokajew (https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-01/kasachstan-tote-unruhen-kassym-schomart-tokajew)

Kazakhstan's Protests: How Fuel Prices Destroyed a Government - TLDR News (06.01.2022)
On January 1st the people of Western Kazakhstan woke up to find that the price of fuel had skyrocketed, increasing the price of... well essentially everything. This proved to be a tipping point, with protests starting about increasing costs as well as just the government more generally. So in this video we explain the protests, why the fuel rise happened and what happens now the government's collapsed.
https://youtu.be/Wi_q6xC8kdo (https://youtu.be/Wi_q6xC8kdo)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 23, 2022, 09:27:14 AM
Quote[...] Kinder dürfen in Wales nicht mehr von ihren Eltern oder Erziehungsberechtigten geschlagen werden. Seit Montag ist jede Form der körperlichen Züchtigung gesetzlich verboten. Dies gilt auch für Kinder, die in dem britischen Landesteil zu Besuch sind. "Im modernen Wales ist kein Platz mehr für körperliche Bestrafung", sagte Regierungschef Mark Drakeford. Mit dem neuen Gesetz gebe es keine Grauzone mehr.

Bisher war es in Wales zwar bereits ungesetzlich, ein Kind körperlich zu bestrafen. Aber Schläge oder ähnliche Gewalt waren zulässig, wenn sie eine "angemessene Strafe" darstellten. Vorfälle wurden darauf überprüft, wie alt das Kind ist, ob die Züchtigung äußere Folgen hinterließ und ob ein Hilfsmittel wie ein Rohrstock oder Gürtel genutzt wurde. In England und Nordirland ist dies nach wie vor die Rechtslage, in Schottland hingegen wurde jede körperliche Züchtigung 2020 abgeschafft.

Die Kinderschutzorganisation NSPCC begrüßte die walisische Änderung. "Bisher waren Kinder die einzige gesellschaftliche Gruppe, die unter bestimmten Umständen geschlagen werden durfte", sagte NSPCC-Vertreterin Viv Laing. "Wir erlauben keine körperliche Bestrafung von Erwachsenen oder Tieren, daher ist es absurd, dass wir sie so lange bei Kindern genehmigt haben."

Von den 47 Europaratsländern haben 30 jede Form körperlicher Strafen für Kinder – sei es in der Schule oder zu Hause – verboten. Vorreiter war Schweden, das Eltern bereits 1979 untersagte, ihre Kinder zu züchtigen. Diesem Beispiel folgten im Lauf der Jahre Staaten in allen Teilen Europas, zuletzt Litauen (2017) und Frankreich (2018). Österreich erließ 1989 ein vollständiges Verbot von Prügelstrafen für Kinder, Deutschland im Jahr 2000. (APA, red, 21.3.2022)


Aus: "Wales verbietet körperliche Züchtigung von Kindern" (21. März 2022)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000134270958/wales-verbietet-koerperliche-zuechtigung-von-kindern (https://www.derstandard.at/story/2000134270958/wales-verbietet-koerperliche-zuechtigung-von-kindern)

Quote
i brauch kan spruch

Wow, wie fortschrittlich, bereits im Jahr 2022 entsagt man ansatzweise der schwarzen Pädagogik - I'm impressed!


Schwarze Pädagogik
... 2016 haben auch Michael Milburn und Sheree Conrad kritisiert, dass Miller in ihren Analysen so vorgehe, als finde Erziehung in einem Vakuum statt, ohne historischen Kontext: ,,Wie wir unsere Kinder behandeln, spiegelt wider, wer wir sind und was wir als Gesellschaft glauben. Unsere sozialen und politischen Einstellungen, unsere Institutionen und unsere Erziehungspraktiken bringen die nächste Generation von Bürgern hervor, die durch ihre gesellschaftlichen Institutionen und durch ihr politisches Verhalten wiederum die Welt erzeugen, in der ihre Kinder leben werden." ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarze_P%C3%A4dagogik (https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarze_P%C3%A4dagogik)

...

Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 27, 2022, 12:36:46 PM
Quote[...] Die renommierte US-Universität Harvard will einen Fonds mit 100 Millionen Dollar (94 Millionen Euro) zur Wiedergutmachung ihrer Rolle bei der Sklaverei einrichten. Der Fonds solle dazu beitragen, entstandene Schäden durch Sklavenhandel und Rassismus zu mildern, teilte die Hochschule mit und räumte in einem Bericht eine Mitschuld an der Aufrechterhaltung der Sklaverei in den USA ein.

"Harvard profitierte von Praktiken, die zutiefst unmoralisch waren, und hielt sie in gewisser Weise aufrecht", schrieb Universitätspräsident Lawrence Bacow in einem Brief an Studierende und Mitarbeiter. "Folglich glaube ich, dass wir eine moralische Verantwortung tragen, alles zu tun, um die anhaltenden zersetzenden Auswirkungen dieser historischen Praktiken auf Einzelpersonen, auf Harvard und auf unsere Gesellschaft zu bekämpfen."

Harvard wurde 1636 in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts gegründet. Dem Bericht zufolge versklavten Harvard-Mitarbeiter, darunter vier Unipräsidenten, mehr als 70 Schwarze und Indigene, bis die Sklaverei 1783 in dem Bundesstaat verboten wurde.

Dem Bericht zufolge profitierte die Universität auch "von umfangreichen finanziellen Verbindungen zur Sklaverei", einschließlich Spenden von Sklavenhändlern.

Von Mitte des 19. bis weit ins 20. Jahrhundert förderten Harvard-Präsidenten und prominente Professoren zudem die Rassenkunde und Eugenik. Sie "führten missbräuchliche 'Forschungen' durch, einschließlich des Fotografierens von versklavten und unterworfenen Menschen".

Der hundertseitige Bericht enthält mehrere Empfehlungen für die Verwendung der Gelder, etwa die Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten für die Nachfahren von Sklaven, Gedenkstätten für versklavte Menschen und Forschung. Außerdem empfahlen die Autoren Partnerschaften mit schwarzen Hochschulen.
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Aus: "Harvard zahlt 100 Millionen Dollar für Wiedergutmachung von Sklaverei" (27. April 2022)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/2022-04/harvard-sklaverei-fonds (https://www.zeit.de/gesellschaft/2022-04/harvard-sklaverei-fonds)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 24, 2022, 11:15:02 AM
Quote[...] Die Zahl der weltweit dokumentierten Hinrichtungen ist im Jahr 2021 um rund 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen - ein Grund dafür sind auch Lockerungen von Corona-Beschränkungen. Nach den am Dienstag veröffentlichten Jahreszahlen der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wurde die Todesstrafe in 18 Ländern mindestens 579 Mal vollstreckt.

Der Anstieg war demnach in erster Linie auf den Iran zurückzuführen. Dort stieg die Zahl der Hinrichtungen von mindestens 246 im Jahr 2020 auf mindestens 314 im Jahr 2021 - ein Anstieg von 28 Prozent. Die Zahl der erfassten Todesurteile wuchs im Vergleich zum Vorjahr sogar um fast 40 Prozent auf mindestens 2052 in 56 Ländern.

Die Länder mit den höchsten bekannt gewordenen Hinrichtungszahlen sind nach Amnesty-Angaben China, Iran, Ägypten, Saudi-Arabien und Syrien. In der Statistik sind Tausende von Todesurteilen nicht berücksichtigt, von denen Amnesty International annimmt, dass sie in China verhängt und vollstreckt wurden. China blieb demnach das Land, in dem weltweit die meisten Hinrichtungen stattgefunden haben. Sowohl die Geheimhaltung in Nordkorea und Vietnam als auch der beschränkte Zugang zu Informationen in anderen Ländern hätten eine vollständige Beurteilung der globalen Entwicklung weiterhin behindert.

Unter den 579 Personen, von denen bekannt ist, dass sie 2021 hingerichtet wurden, waren 24 Frauen (4 Prozent) - 8 in Ägypten, 14 im Iran und je eine Frau in Saudi-Arabien und den USA.

Der Generalsekretär von Amnesty International Deutschland, Markus Beeko, kritisierte, für den Anstieg der Zahl von Hinrichtungen sei weiterhin die kleine Gruppe unbelehrbarer Staaten verantwortlich, ,,die an diesen grausamen und unmenschlichen Tötungen festhält, unter anderem Iran und Saudi-Arabien, die staatliche Exekutionen im letzten Jahr stark ausgeweitet haben". Auch in den ersten Monaten des Jahres 2022 habe sich dieser Trend fortgesetzt. So habe Saudi-Arabien im März an einem einzigen Tag 81 Menschen hinrichten lassen.

Die Zahl der Hinrichtungen im Iran war die höchste nach 2017. 132 Menschen wurden wegen Drogendelikten hingerichtet - das entspricht 42 Prozent der Exekutionen und einem Anstieg auf das beinahe Fünffache im Vergleich zu den 23 Exekutionen, die es 2020 aus diesem Grund gegeben hatte, schreibt Amnesty. In Iran sei die Todesstrafe zudem unverhältnismäßig häufig gegen Angehörige ethnischer Minderheiten wegen vager Anklagen wie ,,Feindschaft zu Gott" und als Mittel zur politischen Unterdrückung eingesetzt worden, schreibt Amnesty.

Als ein Grund für die signifikant höheren Zahlen von Hinrichtungen in einigen Ländern wird von Amnesty genannt, dass Einschränkungen wegen der Covid 19-Pandemie vollständig oder teilweise aufgehoben wurden und alternative Abläufe eingeführt worden seien. Zu diesen Ländern zählten Bangladesch, Indien und Pakistan. Aus Singapur sei dagegen zum zweiten Mal in Folge ein hinrichtungsfreies Jahr gemeldet worden.

Trotz Rückschlägen zeigten positive Entwicklungen, dass der Trend nach wie vor in Richtung Abschaffung der Strafe gehe, berichtet Amnesty International. Obwohl die Zahl der Hinrichtungen insgesamt anstieg, sei die globale Gesamtzahl auf einem historisch betrachtet niedrigen Niveau geblieben.

Weitere Erkenntnisse aus dem Bericht:

    Aus Indien, Katar und Taiwan - alles Länder, die im Vorjahr noch Menschen hingerichtet hatten, seien keine Exekutionen bekannt. Nach einer mehrjährigen Unterbrechung hätten dagegen drei Länder die Hinrichtungen wieder aufgenommen: In Belarus und Japan gab es die ersten Hinrichtungen seit 2019, in den Vereinigten Arabischen Emiraten die ersten seit 2017.

    In den USA wurden in Mississippi und Oklahoma zum ersten Mal seit 2012 beziehungsweise 2015 wieder Menschen exekutiert. Die US-Regierung hatte im Juli ein vorübergehendes Moratorium für Hinrichtungen auf Bundesebene verhängt. 2021 markierte die niedrigste Hinrichtungszahl in den USA seit 1988.

    Deutliche Anstiege der Zahl der Hinrichtungen seien in Somalia (von mindestens 11 im Jahr 2020 auf mindestens 21 im Jahr 2021), in Südsudan (von mindestens zwei im Jahr 2020 auf mindestens neun im Jahr 2021) und in Jemen (von mindestens fünf im Jahr 2020 auf mindestens 14 im Jahr 2021) verzeichnet worden, schreibt Amnesty.

    Einen Rückgang der Zahl der Hinrichtungen um 22 Prozent (mindestens 83) beobachtete Amnesty International in Ägypten. Noch 2020 hatte sich in dem Land die Zahl der Exekutionen auf mindestens 107 verdreifacht. Zugleich schreibt Amnesty, die Todesstrafe sei in Ägypten 2021 weiterhin extensiv angewendet worden. Dies sei auch auf der Basis von durch Folter erpressten Aussagen sowie durch Massenhinrichtungen geschehen. Ägypten gehörte im vergangenen Jahr zu den zehn Hauptempfängerländern deutscher Rüstungsexporte.

    Im Irak ging die Zahl um 62 Prozent zurück, von mindestens 45 im Jahr 2020 auf mindestens 17 im Jahr 2021. In den USA sank die Zahl um 35 Prozent, sie betrug 17 im Jahr 2020 und 11 im Jahr 2021.

    In Saudi-Arabien hat sich die Zahl der bekannt gewordenen Hinrichtungen nach Angaben der Organisation von 27 auf 65 mehr als verdoppelt. Syrien exekutierte bei einer Massenhinrichtung im Oktober 2021 24 Menschen. Damit rückte der Staat an die fünfte Stelle weltweit, was die Hinrichtungszahl im Land anging.

    Einen alarmierenden Anstieg bei der Anwendung der Todesstrafe unter Kriegsrecht verzeichnet Amnesty in Myanmar. Fast 90 Menschen seien willkürlich zum Tode verurteilt worden, mehrere in Abwesenheit. Dies werde allgemein als Maßnahme gegen politische Gegner und Protestierende angesehen.

Wie Amnesty erläuterte, hatten Ende des Jahres 2021 insgesamt 108 Länder die Todesstrafe im Gesetz für alle Verbrechen abgeschafft. In mehr als zwei Drittel aller Staaten ist die Todesstrafe gesetzlich oder in der Praxis außer Vollzug gesetzt. 55 Staaten hielten weiterhin an Tötungen als Strafen fest. Die Hinrichtungsmethoden 2021 waren laut Bericht Enthauptung, Erhängen, Giftinjektion und Erschießen. (dpa, KNA)


Aus: "Zahl der Hinrichtungen weltweit steigt um rund ein Fünftel" (24.05.2022)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/mehr-exekutionen-vor-allem-im-iran-zahl-der-hinrichtungen-weltweit-steigt-um-rund-ein-fuenftel/28369772.html (https://www.tagesspiegel.de/politik/mehr-exekutionen-vor-allem-im-iran-zahl-der-hinrichtungen-weltweit-steigt-um-rund-ein-fuenftel/28369772.html)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 30, 2022, 12:00:53 PM
Quote[...] Erzwingung des spurlosen Verschwindens von Menschen, auch Verschwindenmachen, Verschwindenlassen oder Erzwungenes Verschwinden genannt (span. desaparición forzada, engl. forced disappearance), ist eine Form der staatlichen Willkür, bei der staatliche oder quasi-staatliche Organe Menschen in ihre Gewalt bringen und dem Schutz des Gesetzes längere Zeit entziehen, wobei dies gleichzeitig gegenüber der Öffentlichkeit geleugnet wird. Das Verschwindenlassen wird als Mittel der staatlichen Unterdrückung in der Regel gegen politische Gegner, vermeintliche Straftäter bzw. auch nur der herrschenden Gruppierung missfallende Personen angewendet. Es ist im Völkerrecht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit sanktioniert und gilt als eine der schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen.

... In Lateinamerika wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren fast alle Länder längere Zeit von rechtsgerichteten, oft von den USA politisch unterstützten Militärdiktaturen regiert. Diese unterdrückten fast durchweg mit Gewalt die meist links stehende Opposition in so genannten Schmutzigen Kriegen. Ein verbreitetes Mittel dazu war das heimliche Verschwindenlassen von missliebigen Personen durch anonym bleibende Mitglieder von Sicherheitskräften.

...


Aus: "Verschwindenlassen" (30. Juli 2022)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Verschwindenlassen (https://de.wikipedia.org/wiki/Verschwindenlassen)

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Quote[...] Jedes Jahr verschwinden auf der Welt zahlreiche Menschen durch kriminelle Banden und korrupte Polizei. Hinterbliebenen bleiben oft nur Angst, Trauer und Unverständnis.

... Mal werden die Menschen von der Straße weg entführt oder während einer Demonstration, mal werden sie von zu Hause verschleppt oder an ihrem Arbeitsplatz festgenommen. Was danach mit ihnen passiert, kann nur erahnt werden. Vielleicht werden sie misshandelt, gefoltert, vielleicht verhört, zu Tode gequält, umgebracht und irgendwo im Nirgends "entsorgt", in Säure aufgelöst, ins Meer oder Seen versenkt, in abgelegenen Flächen verscharrt, vergraben. Keine Angaben über ihren Verbleib.

... Gewaltsames Verschwindenlassen von Personen – la desaparición forzada – war eine gängige Praxis der lateinamerikanischen Militärdiktaturen. Mit dieser Praxis "entsorgten" die Militärs Gegner oder politisch Andersdenkende, verbreiteten Angst und Terror. Von 1966 bis 1986 sind ungefähr 90.000 Menschen gewaltsam verschwunden. Angehörigen und Überlebenden gelang es, eine breite, internationale Öffentlichkeit über diese Verbrechen zu informieren. 1978 verabschiedete die UN-Generalversammlung eine Resolution, die gewaltsames Verschwindenlassen als spezifisches Verbrechen und als universales Problem benannte. Eine 1980 gegründete Arbeitsgruppe der UN-Menschenrechtskommission untersuchte, wie gewaltsames Verschwindenlassen völkerrechtlich geahndet werden könnte. Dieser Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances (WGEID) wurden in den ersten 30 Jahren seit ihrer Gründung rund 50.000 Fälle gewaltsamen Verschwindenlassens aus über 80 Ländern angezeigt.

... Verschwindenlassen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und doch ist es auch im Jahr 2022 nach wie vor eine angewandte Praxis in vielen Ländern dieser Welt. Beteiligt daran sind immer wieder staatliche Sicherheitskräfte, entweder als Täter, um ihre korrupten Praktiken zu sichern, oder indem sie die Täter schützen. Eine Strafverfolgung findet kaum statt und wenn überhaupt nur dann, wenn es gelingt, die Fälle öffentlich als das zu benennen, was sie sind: Verbrechen gegen die Menschlichkeit!

...


Aus: "In Säure aufgelöst, im Meer versenkt, verscharrt, vergraben, verbrannt" Erika Harzer (29. August 2022)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2022-08/tag-der-verschwundenen-entfuehrungen-gewaltsames-verschwindenlassen-lateinamerika-vereinte-nationen/komplettansicht (https://www.zeit.de/kultur/2022-08/tag-der-verschwundenen-entfuehrungen-gewaltsames-verschwindenlassen-lateinamerika-vereinte-nationen/komplettansicht)

QuoteNiklas Sieber #5

Mexiko macht aber auch Hoffnung. Ständiger Druck durch die Öffentlichkeit und die mutigen Angehörigen hilft.


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Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 30, 2022, 12:10:27 PM
Quote[...] Was könnte schlimmstenfalls passieren? Das ist eine Frage, die sich beispielsweise Ingenieurinnen und Ingenieure ziemlich häufig stellen - diese Planung gehört zu ihrem Beruf. Deshalb sind viele Atomkraftwerke heute auch für Flugzeugabstürze und Erdbeben ausgelegt. Mag das Eintreten solcher Ereignisse auch unwahrscheinlich sein, der Schaden wäre einfach zu groß, um sie guten Gewissens außer Acht zu lassen.

In Bezug auf den Klimawandel seien solche "Worst-Case-Szenarien" dagegen kaum erforscht, beklagten diese Woche zahlreiche Klimaforscher in einem Meinungsbeitrag im Fachjournal PNAS. Ein schweres Versäumnis, schreiben die Autoren um Luke Kemp von der Universität Cambridge. Schließlich gebe es durchaus Hinweise, dass eine Erderwärmung von mehr als drei Grad katastrophale Folgen für die Ökosysteme und den Menschen haben könne - von einem Massensterben in den Ozeanen bis hin zum Zusammenbruch von Staaten und Kriegen um knappe Ressourcen. Mein Kollege Benjamin von Brackel hat hier ausführlich über die Studie berichtet [https://www.sueddeutsche.de/wissen/klimawandel-folgen-kipppunkte-2100-1.5631958?reduced=true (https://www.sueddeutsche.de/wissen/klimawandel-folgen-kipppunkte-2100-1.5631958?reduced=true)].

Was soll man von diesem düsteren Zukunftsentwurf halten? Ihn nur als weitere Mahnung vor den gefährlichen Folgen der Erderwärmung zu sehen, wäre wohl ein Missverständnis. Zentral ist vielmehr die Forderung der Autoren nach systematischer Forschung: "Umsichtiges Risikomanagement erfordert, dass wir Worst-Case-Szenarien gründlich untersuchen." Wo sind menschliche Gesellschaften besonders verwundbar gegenüber Klimarisiken? Ab wann könnte die Erderwärmung zu einem Massensterben führen, bis hin zum Aussterben des Menschen? Was bedeutet ein höherer CO₂-Gehalt langfristig für das Leben auf der Erde? Wie sehr kann das Erreichen von Kipppunkten wie das Abtauen des arktischen Permafrosts den Klimawandel weiter beschleunigen? Diese und weitere Fragen müssten dringend beantwortet werden, möglicherweise sogar in einem Sonderbericht des Weltklimarats zu "katastrophalem Klimawandel".

Kaum von der Hand zu weisen ist, dass die Publikationen immer spärlicher werden, je extremer das betrachtete Klimaszenario ist. Die meisten Studien zu den Folgen der Erderwärmung beschäftigen sich mit einer um 1,5 oder 2 Grad wärmeren Welt oder etwas darüber. Jenseits von 3 oder 4 Grad wird die Luft schon dünn, dabei wären die Auswirkungen etwa auf die Nahrungsmittelversorgung in diesem Temperaturbereich wohl schon katastrophal. Und zu einer fast schon apokalyptischen 6-Grad-Zukunft lägen nur sehr wenige Studien vor, beklagt etwa der britische Wissenschaftsjournalist Mark Lynas im Buch "Our Final Warning", in dem er den Stand des Wissens zu den Folgen unterschiedlicher Temperaturszenarien auswertet. "Der Grund für dieses ziemlich ungewöhnliche Versäumnis könnte darin liegen, dass auch Klimatologinnen und Klimatologen letztlich Menschen sind und als Wissenschaftler lieber nicht über Worst-Case-Szenarien nachdenken", schreibt Lynas. Oder sie wollten nicht als "Alarmisten" und "Untergangspropheten" gelten.

Zwar würde eine Erwärmung um 6 Grad nach derzeitigem Wissensstand erfordern, dass die Emissionen praktisch ungebremst weiter steigen, was eher unwahrscheinlich ist. Allerdings sei die Wahrscheinlichkeit eben doch deutlich höher als etwa ein Flugzeugabsturz, argumentiert Lynas - und in die Verhinderung solcher Unglücke werde beständig investiert, um das Risiko noch weiter zu senken. "Aber im Fall des Planeten sind wir alle zusammen an Bord und haben keine andere Wahl."

Die schlimmste Zukunft zu kennen, könne dagegen zum Handeln ermutigen, so die Autoren des aktuellen PNAS-Papiers. So habe die Erkenntnis, dass ein Atomkrieg zu einem "nuklearen Winter" führen könnte, in den 1980ern zu mehr Anstrengungen für Abrüstung und Frieden geführt.

Ich persönlich finde ja, es braucht beides: einerseits mehr Wissen darüber, was der Welt bei einem ungezügelten Klimawandel droht. Andererseits aber auch positive Gegenentwürfe, Utopien, die aufzeigen, wie sich die Lebensqualität verbessern kann, wenn die Erderwärmung so gering wie möglich gehalten wird.


Aus: "Vom Nutzen der Katastrophe" Christoph von Eichhorn (5. August 2022)
Quelle: https://www.sueddeutsche.de/wissen/klimawandel-worst-case-1.5634602 (https://www.sueddeutsche.de/wissen/klimawandel-worst-case-1.5634602)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 10, 2023, 10:24:37 AM
Quote[...] Staatsbediensteten und Militärangehörigen in Belarus droht bei Hochverrat künftig die Todesstrafe. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko unterzeichnete ein entsprechendes Gesetz. Es sieht das Todesurteil für Funktionäre und Soldaten vor, die durch Akte des Verrats "irreparablen Schaden" für die nationale Sicherheit des Landes angerichtet hätten.

Die von Lukaschenko gebilligten Änderungen am Strafrecht umfassen zudem Strafen für die Verbreitung von "Propaganda des Terrorismus, Diffamierung der Streitkräfte sowie paramilitärischer Einheiten und die Verletzung von Regeln zum Schutz von Staatsgeheimnissen". Damit orientiert sich Belarus an ähnlichen Gesetzen wie sein Verbündeter Russland.

Belarus ist das einzige Land in Europa, das die Todesstrafe bisher nicht abgeschafft hat. Hinrichtungen drohen dort bisher bei Verurteilungen wegen Mordes oder Terrorismus. Vollzogen wird die Todesstrafe durch einen Schuss in den Hinterkopf.


Aus: "Belarus führt Todesstrafe bei Hochverrat ein" (10. März 2023)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-03/belarus-lukaschenko-todesstrafe-hochverrat-vorbild-russland (https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-03/belarus-lukaschenko-todesstrafe-hochverrat-vorbild-russland)

Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 21, 2023, 01:04:35 PM
Quote[...] Boise – Zum Tode Verurteilte könnten im US-Bundesstaat Idaho bald per Erschießungskommando hingerichtet werden. Der Senat von Idaho verabschiedete am Montag ein entsprechendes Gesetz, wie US-Medien berichteten. Zuvor hatte das Repräsentantenhaus von Idaho zugestimmt. Es sieht die Möglichkeit einer Hinrichtung durch ein Erschießungskommando vor, sollten die Chemikalien für die Giftspritze nicht verfügbar sein. Der Gesetzestext liegt nun beim Gouverneur zur Unterzeichnung.

Seit 1976 gab es nach Angaben des Informationszentrums Todesstrafe drei Hinrichtungen per Erschießungskommando in den USA – zuletzt 2010 in Utah. Nur die Bundesstaaten Mississippi, Utah und Oklahoma erlauben derzeit Erschießungskommandos, wenn andere Hinrichtungsmethoden nicht verfügbar sind. Ein entsprechendes Gesetz in South Carolina wurde angefochten und geht dort durch die gerichtlichen Instanzen.

Nach Angaben des Informationszentrums für Todesstrafe haben bisher 23 der 50 Bundesstaaten die Todesstrafe abgeschafft. In den US-Staaten mit Todesstrafe wird hauptsächlich die Giftspritze eingesetzt. Aus Mangel an den dafür nötigen tödlichen Präparaten wurden in den vergangenen Jahren aber immer wieder Hinrichtungen verschoben.

Es gebe nun eine Alternative, um das Todesurteil zu vollstrecken, sagte Generalstaatsanwalt Raúl Labrador der Lokalzeitung "Idaho Statesman". Er war an der Ausarbeitung des Gesetzestexts beteiligt. Die Bürgerrechtsorganisation ACLU nannte das Gesetz "entsetzlich". "Ein Erschießungskommando ist besonders grausam." Die Gewalt solcher Hinrichtungen hinterlasse bei allen Beteiligten bleibende Narben.


Aus: "US-Bundesstaat Idaho will Hinrichtungen durch Erschießen einführen" (APA, 21.3.2023)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000144711499/us-bundesstaat-idaho-will-hinrichtungen-durch-erschiessen (https://www.derstandard.at/story/2000144711499/us-bundesstaat-idaho-will-hinrichtungen-durch-erschiessen)

QuoteAr Mutschgerl

Von Republikanern regiert. Und die sind bekanntlich alle ProLifers. ...


QuoteSirus Vance

Mich wundert ja, dass sie noch nicht auf die Idee gekommen sind, die Guillotine wieder zu verwenden. Wiederverwendbar, schnell und sicher. Außerdem seit Jahrhunderten erprobt.


QuoteWoS2u

Und der nächste Schritt ist dann die Privatisierung der Hinrichtung und die Ermöglichung ihrer kommerziellen Auswertung.


QuoteTherealAdvocatusDiaboli

... Wie wärs mit einer Hinrichtungsauktion? Wer am meisten bietet darf mal nach Herzenslust ballern! Gegen Aufpreis sogar im Ambiente einer nachempfundenen Schulklasse? Oder das Luxuspaket: Kaufen sie sich mehrere zum Tode Verurteilte um ein ganzes Set an menschlichen Zielscheiben für ihr persönliches Jagdrevier! "Wir alle lieben Menschenverachtung, aber nur SIE leben sie wirklich! Rufen Sie gleich an unter...."

Spaß beiseite. ...


Quoteaccess_denied

Filmempfehlung dazu "The Hunt" .... bitte gern geschehen


Quoteslickibk

... oder Running Man


QuoteMaratoneta68

Ich finde, die Verurteilten werden in den USA viel zu stark fremdbestimmt. Es sollte sich doch jeder Todeskandidat unter den quasi zur Kulturgeschichte der USA gehörenden Klassikern Hängen und Erschießen, und der neumodischen Giftspritze selbst etwas aussuchen können. In den Staaten des Bible Belt könnte man als zusätzliche Option auch Kreuzigen anbieten.


QuoteHelga Spreiz

,,Zur Kreuzigung? Durch die Tür hinaus, zur linken Reihe, jeder nur ein Kreuz bitte!"


QuoteVorstadtneurotiker II.

Stickstoff. Absolut schmerzfrei, ohne Abwehrreaktion des Körpers.

Habe dazu mal auf YouTube eine Doku gesehen, wo ein ehemaliger britischer Minister nach der "menschlichsten" Exekutionsmethode gesucht hat und am Ende eine Stickstoffkammer selbst ausprobiert hat (er wurde kurz vor der Bewusstlosigkeit vom Team wieder herausgeholt und hat danach selbst gesagt, er wollte einfach gemütlich einschlafen.


QuoteGerald Ruschka

Öffentliche Enthauptungen waren auch eine Option, aber man konnte sich nicht auf einen Hauptsponsor für die Events einigen. Es waren Fastfoodketten, Ölkonzerne, Zuckerwasserproduzenten und ein Elektroauto-/Raketen-/Sozialemedienhersteller in der finalen Auswahl.


QuoteMotioon

Die Todesstrafe hat keine abschreckendere Wirkung als für 100 Jahre in den Knast zu kommen. Sie hat auch den entscheidenden Nachteil, dass sie bei einem Irrtum nicht revidiert werden kann. In USA gibt es mittlerweile eine dreistellige Anzahl an Exekutionen die im nachhinein als falsch oder zumindest "fragwürdig" zu werten sind. Lustig, dass sie ein Erschießungskomando als "barbarisch" empfinden, die Injektion von tödlichen Chemikalien in Abwesenheit von Gesundheitspersonal aber nicht hinterfragen. Die Todesstrafe ist, eine archaisches Mittel der Rache, das aus gutem Grund in nahezu allen zivilisierten Ländern abgeschafft wurde. ...


Quotevogelwuid

Das ist schönstes Mittelalter. Aber den Amerikanern scheint das in Teilen zu gefallen wenn sie sich in Wildwest Manier überlegen fühlen können und glauben dass damit der Gerechtigkeit genüge getan wird.


...
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 02, 2023, 11:47:15 AM
... das Kopftuch als "eine der zivilisatorischen Grundlagen der iranischen Nation" ...

Quote[...] Der Iran droht Frauen, die sich in der Öffentlichkeit ohne Kopftuch zeigen, mit gnadenloser Verfolgung. "Die Abnahme des Schleiers ist gleichbedeutend mit Feindseligkeit gegenüber unseren Werten", sagte der Justizchef der Islamischen Republik, Gholamhossein Mohseni Edschei, iranischen Medien zufolge. Diejenigen, "die solch anomale Handlungen begehen, werden bestraft" und "ohne Gnade verfolgt". 

Der Justizchef ließ offen, mit welchen Strafen die Frauen zu rechnen haben. Der demonstrative Verzicht auf ein das Haar bedeckendes Kopftuch ist zu einem zentralen Symbol des Widerstands gegen die Regierung in Teheran geworden.

... Ausgelöst wurden die seit Monaten anhaltenden Proteste durch den Tod der 22-jährigen Mahsa Amini, die Mitte September vergangenen Jahres in Polizeigewahrsam starb. Die Sittenpolizei hatte sie festgenommen, weil sie ihr Kopftuch falsch getragen haben soll.

... Vergangenen Donnerstag hatte das Innenministerium das Kopftuch als "eine der zivilisatorischen Grundlagen der iranischen Nation" bezeichnet und an Bürger appelliert, unverschleierte Frauen zur Rede zu stellen. Nach der 1979 eingeführten islamischen Scharia sind Frauen verpflichtet, ihr Haar zu bedecken und lange, locker sitzende Kleidung zu tragen, um ihre Figur zu verbergen. Wer dagegen verstößt, muss mit Geldstrafen oder Verhaftung rechnen.


Aus: "Iranische Regierung droht Frauen ohne Kopftuch mit Verfolgung" (1. April 2023)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-04/iran-frauen-kopftuch-verfolgung (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-04/iran-frauen-kopftuch-verfolgung)

Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 03, 2023, 09:31:31 AM
Quote[...] Die Zahl der Kinderehen geht nach Schätzungen von Unicef langsam zurück, doch Krisen könnten die hart erkämpften Fortschritte zunichtemachen. In einer neuen Analyse schätzt das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, dass jedes Jahr zwölf Millionen Mädchen eine Kinderehe eingehen müssen. Derzeit leben demnach 640 Millionen Mädchen und Frauen auf der Welt, die vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet wurden. 

Der Anteil der jungen Frauen in Kinderehen sei seit den jüngsten Schätzungen vor fünf Jahren von 21 Prozent auf 19 Prozent gesunken. Unicef-Exekutivdirektorin Catherine Russell warnte jedoch: "Multiple Krisen machen die Hoffnungen und Träume von Kindern weltweit zunichte – insbesondere von Mädchen, die Schülerinnen sein sollten und nicht Bräute." Gesundheits- und Wirtschaftskrisen, eskalierende bewaffnete Konflikte und die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels würden Familien dazu zwingen, vermeintliche Sicherheit in Kinderehen zu suchen.

Für Afrika südlich der Sahara sei aufgrund des starken Bevölkerungswachstums und der anhaltenden Krisen sogar eine steigende Zahl von Kinderehen zu erwarten. In Lateinamerika und der Karibik, im Nahen Osten und in Nordafrika sowie Osteuropa und Zentralasien stagniere die Entwicklung weitgehend. 

Für den global insgesamt positiven Trend seien hauptsächlich Fortschritte in Südasien verantwortlich. Die Region sei auf dem besten Weg, Kinderehen in rund 55 Jahren abzuschaffen, heißt es in dem Unicef-Bericht. Nach wie vor lebten in der Region allerdings fast die Hälfte aller Kinderbräute – 45 Prozent. Obwohl Indien in den zurückliegenden Jahrzehnten erhebliche Fortschritte erzielt habe, werde dort immer noch ein Drittel der weltweiten Kinderehen geschlossen.

Mädchen, die Kinderehen eingehen müssen, bleiben den Angaben zufolge mit geringerer Wahrscheinlichkeit in der Schule und sind einem erhöhten Risiko einer frühen Schwangerschaft ausgesetzt. Eine frühe Ehe könne Mädchen auch von Familie und Freunden isolieren. 

"Wir haben bewiesen, dass Fortschritte bei der Beendigung von Kinderehen möglich sind", sagte Russell. Die Unterstützung für gefährdete Mädchen und Familien müsse deshalb weitergehen. "Wir müssen uns darauf konzentrieren, Mädchen in der Schule zu halten und sicherzustellen, dass sie wirtschaftliche Chancen haben."


Aus: "Jedes Jahr werden zwölf Millionen Mädchen zwangsverheiratet" (3. Mai 2023)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-05/kinderehen-maedchen-zwangshochzeit-unicef-afrika (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-05/kinderehen-maedchen-zwangshochzeit-unicef-afrika)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 08, 2023, 01:35:16 PM
Quote[...] BERLIN taz | ,,Berlin-Charlottenburg, am 11. Mai 1933. Der Oberstaatsanwalt bei dem Landgericht II in Berlin zeigte an, daß der ledige Maurer Ernst Reins ... zu Berlin-Plötzensee verstorben sei." Im schönsten Beamtendeutsch registrierte der Standesamtsbeamte damals den Tod des 25-jährigen Reins. Der genaue Hintergrund aber wird in dieser Urkunde nicht verraten: Es war die erste Hinrichtung in Berlin unter dem nationalsozialistischen Regime.

Am 9. Mai um 6 Uhr morgens hatte Scharfrichter Carl Gröpler den Delinquenten im Hof des Gefängnisses von Plötzensee enthauptet. Dafür war Gröpler extra aus Magdeburg mit dem Zug angereist. Mit im Gepäck: sein Handbeil. Vor seiner Ernennung zum Scharfrichter war der Mann ,,Rossschlächter" gewesen. Zuerst hatten die Pferde dran glauben müssen, dann die Menschen, sprich: die zum Tode verurteilten Mörder, die Gröpler seit seiner Ernennung zum Scharfrichter im Jahr 1906 reihenweise köpfte. Pro Kopf verdiente er 850 Mark.

An jenem Morgen hatten sich etliche Leute versammelt, um der Exekution beizuwohnen, während die Armesünderglocke kontinuierlich läutete. Sie kamen nicht freiwillig: Die Strafprozessordnung verlangte unter anderem die Anwesenheit der Mitglieder des Gerichts, die das Urteil gefällt hatten; ebenso mussten der Verteidiger, ein Pfarrer sowie zwölf ,,ehrbare Bürger" aus dem Volk früh aufstehen, um der grausamen Hinrichtung beizuwohnen.

Ernst Reins, 1907 in Charlottenburg in eine kinderreiche Familie hineingeboren, hatte bis zuletzt den Vorwurf der beabsichtigten Tötung des Geldbriefträgers Gustav Schwan von sich gewiesen. Die Faktenlage aber war eindeutig: Der Täter hatte Schwan mit einer fingierten Postanweisung in eine kurz zuvor angemietete Wohnung gelockt, ihn mit einer Eisenstange geschlagen und nach kurzem Kampf erwürgt.

Reins war daraufhin mit seinen beiden Schwestern nach Italien geflohen. Kurze Zeit später wurde er festgenommen und ausgeliefert. Seltsam heiter soll diese Reisegesellschaft gewesen sein, vor allem aber extrem unvorsichtig. Telefonate nach Hause anmelden, mit dem richtigen Namen im Hotel einchecken ... Keine gute Idee, wenn man der Strafverfolgung entgehen will.

Dabei war Reins, wie man es an seinem selbst verfassten Lebenslauf aus der Strafakte merkt, ein intelligenter Mensch. Vor Gericht wirkte der äußerlich entfernt an den jungen Hans Fallada erinnernde Mann jedoch seltsam gedrückt, berichteten Prozessbeobachter, etwa als er seinen Lebenslauf erzählen sollte. Mit 16 Geschwistern war er aufgewachsen, doch nur er und seine Schwestern Johanna und Sophie hatten überlebt. Und in ihm war immer die latente Angst, so zu werden wie sein Vater, der in der ,,Irrenanstalt" als menschliches Wrack starb.

Tatsächlich gab es in der Familie noch weitere psychisch Kranke, darunter auch einen Onkel von Reins, der sein eigenes Kind tötete, um ihm das schwere Erbe einer Geisteskrankheit zu ersparen. Reins Traum, Architekt zu werden, erfüllte sich nicht: 1921 bestand der Vater, der einen sozialen Abstieg von der eigenen Firma zum Polier erlebt hatte, darauf, dass er Maurer wurde.

Augenprobleme plagten den Heranwachsenden, laut Ärzten war eine ,,ererbte Syphillis" schuld. Oft überkam ihn blanke Furcht, aber auch Melancholie: ,,Warum bin ich geboren, wozu der ganze Blödsinn?", fragte sich Reins, wie in seiner Strafakte, die im Landesarchiv Berlin aufbewahrt wird, nachzulesen ist.

1929 erfasst die Wirtschaftskrise das Land. Immer öfter wird Reins von starken Entfremdungsgefühlen geplagt, wenn er in den Spiegel blickt – Anzeichen für eine psychische Erkrankung mit dissoziativen Symptomen. Kurz keimt Hoffnung auf, als seine Schwester Sophie, die als Vorführdame in einem Warenhaus arbeitet, ihn mit der Welt des schönen Scheins bekannt macht.

Denn Reins' Maxime ist auch die Vermeidung des ,,verdammten Proletarierlebens". Manchmal begleitet er seine Schwester in Lackschuhen und weißem Hemd ins Adlon. Ein Maurer im Smoking, der schnell hinter den verlogenen schönen Schein blickt, in dem er sich nie wirklich sonnen würde. Dessen Luxus er zwar genießt, deren Protagonisten er aber verachtet.

Auslöser für das ganz große Drama werden dann seine eigene Arbeitslosigkeit und die Trennung von seiner Freundin – auf Wunsch ihrer Eltern. Nur kurze Zeit später tötet der zuvor völlig unbescholtene Reins den Geldbriefträger Gustav Schwan: einen 54-jährigen Ostpreußen, der Frau und Tochter hinterließ. Ernst Reins erbeutete 6.500 Mark.

Am 10. Dezember 1931 wird der Sensationsprozess vor dem Berliner Landgericht II verhandelt. Da ist Reins nur noch ein Häufchen Elend: ,,Es wäre ja Wahnsinn gewesen, ihn töten zu wollen, da ich ihn nur zu betäuben beabsichtigte", ruft er aufgeregt. Lebensangst, eine erbliche Vorbelastung – all das lässt das Gericht letzten Endes nicht gelten. Reins sei, psychiatrisch betrachtet, voll schuldfähig.

Eine ,,klare Überlegung" habe er ausgeblendet, sodass der Affekt sein Tun beherrschte, wirft man ihm vor. Am 13. Dezember 1931 um 18.30 Uhr wird Ernst Reins ,,wegen Mordes in Tateinheit mit schwerem Raub zum Tode und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt".

Reins nimmt das Urteil ruhig entgegen, bespricht sich mit seinem Verteidiger, der daraufhin Revision einlegt. Hoffnung keimt auf, der seit der Novemberrevolution 1918/19 sehr umstrittenen Todesstrafe zu entgehen. Sie wurde in der Zeit der Weimarer Republik zwar insgesamt 1.141 Mal verhängt, aber nur nur 184-mal vollstreckt.

In der sozialdemokratischen und liberalen Presse war es immer wieder zu Protesten gegen das – so zum Beispiel Die Weltbühne – ,,zivilisierte Pack" gekommen, das sich anmaßte, über Leben und Tod zu urteilen. Mit 17 zu 11 Stimmen war 1927 im Reichstagsausschuss für die Strafrechtsreform der SPD-Antrag auf Abschaffung der Todesstrafe abgelehnt worden. In der Praxis kam es meist zu einer Umwandlung in eine lebenslange Freiheitsstrafe nach einem Gnadengesuch.

Am 15. Januar 1932 zieht Reins' Verteidiger die Revision zurück und beantragt dessen Begnadigung. Er hat die Hoffnung auf eine Veränderung der politischen Verhältnisse zugunsten Reins in einer Zeit der politischen Desintegration, die sich auch durch Notstandsverordnungen und wechselnde Präsidialkabinette äußert.

Mehrfach wurde die Vollstreckung des Urteils verschoben. Nach dem ,,Preußenschlag" vom 20. Juli 1932, als die SPD-geführte Regierung abgesetzt und eine kommissarische Staatsregierung unter Franz von Papen als Reichskommissar in Preußen eingerichtet wird, wird die Entscheidung über eine Begnadigung Reins' erneut vertagt – bis zur finalen Klärung der Regierungsverhältnisse.

Doch als Adolf Hitler nach den Reichstagswahlen am 30. Januar 1933 von Reichspräsident von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wird, bedeutet das das endgültige Aus für alle Hoffnungen von Ernst Reins. Am 11. April 1933 wird Hermann Göring Ministerpräsident von Preußen, dann geht alles sehr schnell: Göring lehnt die Begnadigung ab. Am 9. Mai 1933 kurz nach 6 Uhr morgens verkündet Carl Gröpler auf dem Hof von Plötzensee: ,,Herr Staatsanwalt, das Urteil ist vollstreckt!" Ernst Reins ist tot.

Nur wenige Minuten später schwingt Gröpler erneut das Handbeil und enthauptet den Taxifahrermörder Johannes Kabelitz. Die brutale Hinrichtungsmaschinerie unter dem Hakenkreuz hat begonnen.

Die rechte Presse jubilierte freudig: ,,Die Todesstrafe wird wieder vollstreckt und damit das Gesindel in Schach gehalten!"


Aus: "Hinrichtung wegen Mordes in Berlin: Der Erste von so vielen" Bettina Müller (8. 5. 2023)
Quelle: https://taz.de/Hinrichtung-wegen-Mordes-in-Berlin/!5923691/ (https://taz.de/Hinrichtung-wegen-Mordes-in-Berlin/!5923691/)

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Quote[...] ,,Die Todesstrafe ist abgeschafft", so lautet Artikel 102 des Grundgesetzes. Und woran Thomas Fischer, ehemaliger Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, hier erinnert: dass die Forderung, diesen Artikel ins Grundgesetz aufzunehmen, erstaunlicherweise aus der rechtskonservativen Ecke kam. Genauer: von Hans-Christoph Seebohm, dem späteren Bundesverkehrsminister. Er und seine Freunde von der Deutschen Partei wollten das Verbot. Der Grund: Sie wollten damit weitere Hinrichtungen von NS-Tätern vor Militärgerichten der Alliierten stoppen.
Der frühere Innenminister von der FDP Gerhart Baum beschreibt, dass der Artikel 102 daher auf widersprüchliche Weise eine Folge aus dem Nationalsozialismus ist:
,,Das war natürlich eine vergiftete Initiative, die sollte also Kriegsverbrecher schützen und hat also nichts mit humanitären Impulsen zu tun. Die Abschaffung ist natürlich eine Reaktion auf die Nazi-Barbarei. Die Nazis haben die Todesstrafe exzessiv eingeführt und exzessiv praktiziert auch gegen politische Gegner. Und man wollte auf keinen Fall auch nur einen Hauch dieser Politik in das Grundgesetz haben."

In der NS-Terrorzeit wurden 16.000 Todesurteile gefällt und über 12.000 vollstreckt. Nach Schätzungen von 1989 wurden zusätzlich vor NS-Kriegsgerichten 33.000 Todesurteile verhängt. Neben Mord hatte das Willkürregime bis zum Ende des Krieges insgesamt 77 weitere Delikte bestimmt, für die es zum Schutze der ,,Volksgemeinschaft" die von ihm so genannte ,,Reinigungstodesstrafe" aussprechen ließ.
Trotz dieser historischen Last blieb der konstitutionelle Umgang mit der Todesstrafe im Parlamentarischen Rat 1948/49 eine umstrittene Prinzipienfrage. Der Journalist und Rechtsexperte Christian Bommarius schildert, wie SPD und CDU zunächst die Debatte eher reserviert führten. Denn es gab unter den Gegnern der Todesstrafe auch Abgeordnete, die der Meinung waren, das Verbot gehöre nicht in das Grundgesetz, sondern sei später im Rahmen einer Strafrechtsreform zu lösen.
,,Was ihnen in jedem Fall nicht behagte, war die Verbindung, die Herr Seebohm herstellte, Schutz des menschlichen Lebens, `Schutz keimenden Lebens` – also sprich: Schutz vor Abtreibung – mit der Todesstrafe."

Für Carlo Schmid, SPD-Wortführer im Parlamentarischen Rat, also unter den Vätern und Müttern des Grundgesetzes, ging es bei der Abschaffung um ein Bekenntnis der Deutschen zu einer Werteordnung. Das Menschenleben sollte in dieser Werteordnung nicht zum bloßen Mittel für gesellschaftliche Zwecke reduziert oder unter bestimmten Umständen ausgelöscht werden dürfen. Schmid in seinen 1979 erschienenen Erinnerungen:
,,Nach all dem, was in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland und anderswo durch deutsche Blutgerichte geschehen war, sollten wir Deutschen Zeugnis dafür ablegen, dass in allen Menschen, auch im Mörder, das Leben heilig zu halten ist, und dass diesem Postulat gegenüber kriminalpolitische Nützlichkeitserwägungen keine Argumente darstellen."
Ein weiterer wortmächtiger Fürsprecher für das Verbot der Todesstrafe war der aus Ludwigshafen stammende Justizrat Friedrich-Wilhelm Wagner, SPD, später Vize-Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Christian Bommarius:
,,Unabhängig aber von dem historischen Hintergrund, sagte er, dass der Staat, der das Leben nicht gebe, es auch nicht nehmen könne. Er habe kein Verfügungsrecht über das menschliche Leben."

Gegen die Einschätzung, eine staatliche Tötung sei nicht minder ,,barbarisch", brutal und unmenschlich als ein Mord, traten im Parlamentarischen Rat die Anhänger der Todesstrafe auf den Plan, allen voran Adolf Süsterhenn, der Justizminister von Rheinland-Pfalz. Barbarisch sei es, willkürlich zu töten wie im Nationalsozialismus, aber nicht die rechtlich einwandfreie Reaktion auf eine Mordtat. Der Christdemokrat und tief gläubige Katholik Süsterhenn trat noch nach Jahren für die Wiedereinführung der Todesstrafe ein:
,,Ich glaube, dass man grundsätzlich sagen muss, dass dem potenziellen Mörder, der in jeder Volksgemeinschaft lebt, klar gemacht werden muss, dass wenn er vorsätzlich das Leben eines Mitmenschen vernichtet, das Risiko auf sich nimmt, dass auch sein Leben durch die Strafjustiz durch die Verurteilung zum Tode vernichtet wird."
Am 8. Mai 1949 stimmten von 65 Abgeordneten des Parlamentarischen Rates 35 für die Abschaffung der Todesstrafe im Grundgesetz und 30 dagegen. Dafür votierten geschlossen die SPD sowie jeweils zwei Abgeordnete der KPD, des Zentrums und der FDP. Dagegen waren 27 Abgeordnete der Union und drei der FDP.

Seither zählt die Abschaffung der Todesstrafe zu den moralischen Grundlagen des deutschen Staates nach 1945. Die Mitgliedschaft der Bundesrepublik im Europarat hätte ohnehin eine Abschaffung verlangt, nachdem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 den Schutz des Lebens auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Der Jurist und Journalist Christian Bommarius:
,,Man muss sich bei diesen ganzen Fragen immer klar machen, was die Mehrheit der Deutschen, der Bundesbürger dachte. Und die Mehrheit der Bundesbürger war für die Todesstrafe. Insofern war auch der Parlamentarische Rat, der Grundgesetzgeber, nicht repräsentativ."
Dies ist auch einer der Gründe, warum in der neuen Bundesrepublik mehrere Wiedereinführungsdebatten aufflammten – im Bundestag und in der Gesellschaft. Stets geschah dies unter dem Eindruck von Aufsehen erregenden Serienstraftaten, die die Emotionen hochschießen ließen, so zum Beispiel Raub- oder Taxifahrermorde, die bestialischen Verbrechen des Frauenmörders Heinrich Pommerenke Ende der 1950er Jahre, des pädophil-sadistischen ,,Kirmesmörders" Jürgen Bartsch aus den 1960er Jahren oder die politisch motivierten Mordtaten der RAF in den 1970er Jahren.

Bereits 1950 versuchten die Bayernpartei und die Deutsche Partei Artikel 102 des Grundgesetzes zu kippen – ohne Erfolg. Zwei Jahre später wies der freidemokratische Bundesjustizminister Thomas Dehler in einer richtungweisenden Rede vor dem Deutschen Bundestag einen weiteren Versuch zurück, der dieses Mal von seinen Koalitionspartnern, CDU/CSU und der Deutschen Partei kam.
,,Im Allgemeinen wird man nicht leugnen können, dass die Todesstrafe für den Entschluss des Mörders im Wesentlichen nicht ursächlich ist; dass im Gegenteil von vielen Psychologen unterstellt wird, dass gerade durch die Todesstrafe die Bestie im Menschen geweckt wird."
Hinter des Volkes wütender Stimme witterte Dehler immer noch wirksame Residuen, die offenbar im Blute lägen, Reste früherer Entwicklungsstufen. Solche Stimmungen entzögen sich einer rationalen Kontrolle. Als ein Beispiel dafür nannte er das schlichte Präventivargument der Befürworter der Todesstrafe, wonach ein Hingerichteter anschließend nichts Böses mehr anrichten könne.
,,Na mit dieser Erwägung kann man beinahe für alle schweren Verbrechen die Todesstrafe fordern. Wir würden am Ende dazu kommen, zu gewissen Erwägungen in der NS-Zeit, die ja in der Ausdehnung der Todesstrafe immer weiter ging, und am Ende verlangte, dass jede Handlung, die die Sicherheit des Volkes gefährdet, mit dem Tode gesühnt werden muss".

Unbeeindruckt davon legten CSU-Abgeordnete 1958 nach. Das unbefriedigte Sühnebedürfnis des Volkes dürfe nicht vom Bundestag ignoriert werden. Immerhin gab es in der alten Bonner Republik drei Bundesjustizminister, die für die Wiedereinführung der Todesstrafe eintraten. Allen voran Richard Jaeger, CSU, Minister von 1965 bis ´66, Spitzname: ,,Kopf-ab-Jaeger", der sich immer auf die Mehrheit des Volkes berief. So auch 1958, als in Umfragen 75 bis 80 Prozent für die Wiedereinführung waren.
,,Ich finde es sehr verständlich, dass die Diskussion über die Todesstrafe in der Öffentlichkeit nicht zu Ende kommt. Gerade die Raubüberfälle bei Bankräubern, die sich in letzter Zeit so scheußlich ereignet haben, haben eigentlich bei breitesten Schichten des Volkes, gerade des Durchschnittsstaatsbürgers den Ruf nach der Wiedereinführung der Todesstrafe lebhafter werden lassen."
Bis Ende der 1960er Jahre war die in Umfragen gemessene Mehrheit für die Todesstrafe gekippt – doch dann schlug im Deutschen Herbst 1977 nach der Entführung von Arbeitergeberpräsident Hanns-Martin Schleyer und der Kaperung des Passagierflugzeugs ,,Landshut" die Forderung nach Wiedereinführung erneut hohe Wellen. Denn prominente Repräsentanten von Politik und Justiz schienen bereit, den terroristischen Geiselnehmern der RAF mit einer Grundgesetzänderung zu drohen.

Nachdem Bundeskanzler Helmut Schmidt in dieser kritischen Phase dazu aufgefordert hatte, auch so genannte ,,exotische Vorschläge" zu unterbreiten, wurden im Krisenstab neun Modelle diskutiert, die das Magazin ,,Der Spiegel" zehn Jahre danach – 1987 – veröffentlichte. In dem von Generalbundesanwalt Kurt Rebmann favorisierten Modell Nr. 6 heißt es:
,,Der Bundestag ändert unverzüglich Artikel 102 des Grundgesetzes. Stattdessen können nach Grundgesetzänderung solche Personen erschossen werden, die von Terroristen in menschenerpresserischer Geiselnahme befreit werden sollen. Durch höchstrichterlichen Beschluss wird das Todesurteil gefällt. Keine Rechtsmittel möglich."
,,Das wäre niemals zur Realisierung gekommen. Auf welcher Rechtsgrundlage eigentlich? Das wäre ja ein Absturz gewesen der Grundgesetzordnung. Ich habe das nie für eine ernsthafte Option gehalten."
So Zeitzeuge Gerhart Baum, damals Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, der darauf hinweist, dass es letztendlich keine rational haltbare Begründung für die Todesstrafe gibt. Sie verhindere keine Taten, schon aus der einfachen Einsicht heraus, dass ein Täter in der Regel davon ausgehe, nicht erwischt zu werden.

Alle Statistiken und Untersuchungen haben gezeigt: Die Todesstrafe schreckt nicht ab. Deren Befürworter sind aber in der Regel von empirischen Belegen kaum zu überzeugen. Weshalb hinter dem unzerstörbaren Abschreckungsargument häufig auch eine Art Rationalisierung des Rache- und Vergeltungsmotivs zu stecken scheint, wie der ehemalige oberste Richter Thomas Fischer vermutet.
,,Niemand kann sich ja ernsthaft hinstellen und sagen: `Ich will Rache vollziehen´. Das findet in der ersten Aufwallung statt. Keiner von denen würde ja jetzt wahrscheinlich ernsthaft selbst, persönlich gerne Henker sein und das dann alles vollziehen, was er den Kinderschändern und den Frauenmördern und den Rentnerüberfallenden Räubern gerne antun möchte – oder Terroristen."
Dass die deutsche Argumentation selbst in Europa keineswegs zwingend sein muss, beweist das Beispiel Frankreich. Hier verhielt es sich mit der Todesstrafe komplizierter, galt doch die Guillotine zunächst als revolutionäres Gleichheitssymbol und später als Exportschlager einer angeblich humaneren Hinrichtungsmethode: rasch, schmerzlos, effizient.

Als Kind sah der Schriftsteller Claude Lanzmann im Kino einer Hinrichtung zu. Das habe ihn gezeichnet fürs Leben und in tiefste Ängste gestürzt.
,,Die Frage der Guillotine hat mein Leben gänzlich dominiert oder allgemeiner gesagt: die Frage der Todesstrafe. Die Guillotine ist die französische Todesstrafe. Es gibt andere Arten, den Tod zu vollstrecken. Die zentrale Frage, die ich mir gestellt habe, die ich mir stelle: Wie man jemandem den Tod als Strafe auferlegen kann."
Zum letzten Mal wurde die Guillotine am 10. September 1977 genutzt gegen einen tunesischen Prostituiertenmörder. Dann wurde sie unter Francois Mitterrands Justizminister Robert Badinter abgeschafft.
,,Ceci est contraire à l´esprit républicain."
Dass etwas ,,dem republikanischen Geist widerspreche", traf für den Rechtsreformer Robert Badinter nicht nur auf die Todesstrafe zu, sondern letztlich auf alle Unverhältnismäßigkeiten einer Law-and-Order oder Null-Toleranz-Politik.

Außerhalb Europas ist die Lage selbst in entwickelten Rechtsstaaten ohnehin uneindeutig. In den USA wird noch immer kein Kandidat zum Präsidenten gewählt, wenn er sich explizit gegen die Todesstrafe ausspricht. Thomas Fischer:
,,Wenn man sich beispielsweise die Praxis in den USA anschaut – da ist ein letzter Rest von Rache und Vergeltung symbolisch übrig geblieben, indem die Hinterbliebenen einer ermordeten Person an der Vollstreckung hinter einer Glasscheibe teilnehmen dürfen."
Heute ist die Todesstrafe international geächtet. Das Völkerrecht verbiete sie zwar noch nicht an sich, stelle aber hohe strafprozessuale Hürden auf, erläutert Alexander Bojcevic, Todesstrafe-Experte der deutschen Sektion von Amnesty International:
,,Zurzeit haben 106 Staaten weltweit die Todesstrafe vollständig abgeschafft. Weitere acht Staaten haben sie im nicht-militärischen Bereich abgeschafft. 28 Staaten haben sie zwar vorgesehen im Gesetz, führen aber seit mindestens zehn Jahren keine Hinrichtungen mehr durch. Und weitere 56 Staaten vollstrecken."
Doch trotz der positiven Entwicklung bleibt die betrübliche Bilanz, dass die vier bevölkerungsstärksten Staaten China, die USA, Indien und Indonesien noch immer die Todesstrafe verhängen. Was umgekehrt heißt, dass nur ein Drittel der Menschheit in Staaten lebt, die die Todesstrafe nicht praktizieren.
,,Also der Firnis der Zivilisation ist so dünn. Wir glauben immer, das läge alles weit zurück und berechnen das nach Jahreszahlen und sagen, die Todesstrafe ist `49 abgeschafft worden, und von da an haben wir uns immer mehr von diesem Punkt entfernt. Wir sind immer liberaler geworden, humaner in unserer Auffassung von dem, was den Menschen ausmacht. Pustekuchen! So ist es nicht. Wir haben immer wieder Auf- und Abwärtsbewegungen. Also auch die Humanität, wenn man so will, hat ihre Konjunkturen."

Fest steht allerdings auch, dass selbst Sexualverbrechen wie die von Marc Dutroux in Belgien, der Massenmord von Anders Breivik in Norwegen oder die Serie islamistischer Massaker in Frankreich das Tabu der Todesstrafe in diesen Ländern nicht haben brechen können. Gerhart Baum:
,,Kann mir eine Situation vorstellen, wo der Volkszorn aufgestachelt wird und dann die Forderung nach der Todesstrafe ein gefundenes Fressen für die Rechtspopulisten, die mit diesem Thema dann Wähler zu gewinnen suchen."
So zum Beispiel der AfD-Bundestagsabgeordnete Thomas Seitz, der Ende vergangenen Jahres als erster Mandatsträger seiner Partei gefordert hat, über die Streichung von Artikel 102 des Grundgesetzes nachzudenken. Bemerkenswert, dass sich der frühere Freiburger Staatsanwalt dabei nicht auf eine Mordtat bezieht. Ihm genügt schon der Volkszorn vor Ort über die illegale Rückkehr eines abgewiesenen Geflüchteten aus Kamerun.
,,Das widerspricht der europäischen Menschenrechtskonvention, es widerspricht der klaren Meinungsbildung im europäischen Parlament. Übrigens in der ganzen Diskussion, die wir jetzt führen über Auslieferung, Abschiebung spielt auch eine große Rolle, ob der Staat, in den wir abschieben, die Todesstrafe hat und exekutiert."

Andere sehen die Gefahr, dass das demokratische System an Massenloyalität einbüßen könnte, wenn empörten Stimmungen fortwährend die verfassungsmäßigen Grenzen aufgezeigt werden. Thomas Fischer:
,,Es kann passieren, dass eine solche Diskussion so außer Kontrolle gerät. Dass man sich dem kaum noch entgegen stemmen kann, auf dem Hintergrund oder auf der Folie eines Vorwurfs, dieser Staat schützt die Bürger oder schützt das Recht oder schützt den Frieden nicht mehr hinreichend, weil er nicht genügend harte und genügend vernichtende Strafen verhängt."
Der Rechtsstaat dürfe sich jedoch niemals in die Rolle eines stellvertretenden Rächers begeben. Denn das Recht hat sich in Deutschland unverrückbar aus Artikel 1 des Grundgesetzes entwickelt: ,,Die Menschenwürde ist unantastbar." Dazu die frühere Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff:
,,Die Interpretation, was das eigentlich bedeutet, durch das Bundesverfassungsgericht: Dass niemand zum Objekt, zum bloßen Objekt gemacht werden darf, knüpft ja an eine Kantische Formulierung an, dass der Mensch als Zweck und nie als bloßes Mittel verwendet werden darf. Und das beinhaltet die grundlegende Aussage: Jeder Mensch zählt im Prinzip gleich."
So hat sich die Aufnahme eines Verbots der Todesstrafe in das Grundgesetz bislang als ein schier uneinnehmbares moralisches Bollwerk gegen emotionale Aufwallungen im Volk und gegen populistische Versuchungen von Politikern erwiesen. Thomas Fischer:
,,Das ist in der Tat ein Segen. Und man kann sich nur freuen, dass man in einem Staat lebt, in dem das möglich war und hoffentlich auch möglich bleibt."


Aus: "Als die Todesstrafe abgeschafft wurde" Norbert Seitz (03.04.2019)
Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/70-jahre-grundgesetz-als-die-todesstrafe-abgeschafft-wurde-100.html (https://www.deutschlandfunk.de/70-jahre-grundgesetz-als-die-todesstrafe-abgeschafft-wurde-100.html)

Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 24, 2023, 11:04:58 AM
Quote[...] Die Zahl der Menschen, die zu Opfern moderner Sklaverei werden, ist Schätzungen zufolge in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Das geht aus dem jüngsten Global Slavery Index der Menschenrechtsorganisation Walk Free hervor, der am Mittwoch in London veröffentlicht wurde. Demnach sind weltweit 50 Millionen Menschen in moderner Sklaverei gefangen – das sind zehn Millionen mehr als noch vor fünf Jahren.

https://www.zeit.de/arbeit/2022-09/un-studie-zwangsarbeit-moderne-sklaverei-ilo (https://www.zeit.de/arbeit/2022-09/un-studie-zwangsarbeit-moderne-sklaverei-ilo)

https://www.walkfree.org/global-slavery-index/ (https://www.walkfree.org/global-slavery-index/)

Besonders in der Gefahr, ausgebeutet zu werden, sind dem Bericht zufolge Menschen, die wegen Klimawandel, Konflikten und intensiver Wetterereignisse ihre Heimat verlassen müssen. Auch eine weltweite Einschränkung der Frauenrechte, sowie wirtschaftliche und soziale Auswirkungen der Corona-Pandemie verschärfen demnach die Situation.

Am verbreitetsten ist die moderne Sklaverei dem Bericht zufolge in Nordkorea, Eritrea, Mauretanien, Saudi-Arabien, in der Türkei, in Tadschikistan, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Russland, Afghanistan und Kuwait.

Doch auch in den wichtigsten Industrie- und Schwellenländern der G20 gibt es viele Menschen, die ausgebeutet werden. Allein in Indien wird dem Bericht zufolge von einer Zahl von 11 Millionen ausgegangen; 5 Millionen sind es demnach in China, 1,8 Millionen in Russland, 1,3 Millionen in der Türkei und 1,1 Millionen in den Vereinigten Staaten.

Kritisch sehen die Menschenrechtler aber auch den Import von Gütern, die häufig in Verhältnissen hergestellt werden, die auf Zwang oder Abhängigkeit basieren. Sogenannte Risikoprodukte werden demnach jedes Jahr im Wert von 468 Milliarden US-Dollar (umgerechnet etwa 434 Milliarden Euro) in die G20-Staaten importiert. Dazu gehören unter anderem Elektronik, Bekleidung und Palmöl. Die G20 müssten sich daher über ihre Lieferketten indirekt die Hälfte aller Opfer moderner Sklaverei zurechnen lassen, glauben die Menschenrechtler.

"Die moderne Sklaverei durchdringt jeden Aspekt unserer Gesellschaft. Sie ist in unsere Kleidung eingewoben, beleuchtet unsere Elektronik und würzt unser Essen", sagte die Gründungsdirektorin von Walk Free, Grace Forrest, einer Mitteilung zufolge.

Neben Gesetzen, um moderne Sklaverei in Lieferketten zu unterbinden, fordern die Menschenrechtler von Regierungen, auch die Bekämpfung moderner Sklaverei stärker in den Bereichen humanitärer Hilfe und beim Aufbau einer grünen Wirtschaft einzubeziehen. Bei der Zusammenarbeit mit repressiven Regimen müsse darauf geachtet werden, dass Handel, Geschäfte und Investitionen nicht zu staatlich verordneter Zwangsarbeit beitragen oder davon profitieren. Zudem müssten Kinder, insbesondere Mädchen, besser durch das Ermöglichen von Schulbildung und das Verhindern von Zwangsehen geschützt werden.

Die Organisation Walk Free mit Sitz in Australien greift ihrer Webseite zufolge für ihren Bericht auf die Expertise von Statistikern, Kriminologen, Rechtsanwälten und Entwicklungshilfeexperten zurück.


Aus: "Menschenrechtsbericht: Weltweit 50 Millionen Menschen in moderner Sklaverei gefangen" (24. Mai 2023)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-05/moderne-sklaverei-menschenrechte (https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-05/moderne-sklaverei-menschenrechte)

QuoteKünstlerische Intelligenz

Die Menschenrechtslage ist desaströs. Wir räumen gerade mit Verve sämtliche Errungenschaften der letzten Jahrzehnte ab.
Wenn wir nicht gerade durch Ignoranz unseren Lebensraum zerstören oder einander jagen und abschlachten.

Was haben wir uns prächtig unterhalten mit dystopischer Literatur und Filmen.

Allein, anschauen hat nicht gereicht.

Viele Nutzniesser von Ausgrenzung und Diskriminierung stemmen sich zunehmend gegen deren Ächtung. Und viele Menschen lassen das geschehen oder dulden es. Weil sie vielleicht auch ein bisschen genervt sind wie anstrengend das ist Demokratie, universelle Menschenrechte und Chancengleichheit zu erkämpfen, zu erhalten und zu schützen.

Wir sind eine (macht)korrupte Spezies. Deswegen braucht es Regeln und Steuerung der gesellschaftlichen Ordnung und des Zusammenlebens. Leider ist der Wille das anzuerkennen und zu unterstützen auf dem Rückzug.

Sei es bezüglich Sklaverei, Antiwokeness oder grassierender Korruption. Wir können es einfach nicht (mehr), manche wollen einfach nicht.


QuoterundBein

Es wäre interessant gewesen,nähere Informationen zu erhalten,in welche Länder die so hergestellte Ware gelangt.
G 20 ist da etwas unscharf. Auch die Namen von Herstellern hätte ich gerne erfahren.


QuoteOliver Climatic

Einfach gesagt: der Reichtum der Reichen beruht auf der Armut der Armen. Jedes Mittel ist recht, denn im Einkauf liegt der Gewinn, Regel des "ehrbaren Kaufmannes".


QuoteLagerverwalter 2

So ist es. Wobei ,,die Reichen" immer so schön abstrakt klingt. Wir sind es.


QuoteKünstlerische Intelligenz

Christian Lindner wurde bei der Lektüre Ihres Kommentars eben ins Sauerstoffzelt gebracht.


QuoteT.Draganovic, Antwort auf @Lagerverwalter 2

Jap

Die vielen glücklichen Konsumenten (Konsumterroristen).


QuotePilspfanne, Antwort auf @Lagerverwalter 2

Das kommt auf Ihr Portemonnaie an. Sie wollen aber wohl darauf hinaus, dass wir global gesehen gut darstehen. Aber gemeinhin sollte man verschiedene Vergleichsgruppen bemühen und innerhalb unserer Gesellschaft gibt es eben auch ein starkes Gefälle ...


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Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 26, 2023, 12:10:32 PM
Quote[...] Die brutalen Gewalttaten der Hamas-Kämpfer gegen israelische Frauen, Kinder und Männer bei dem Überfall vom 7. Oktober haben eine neue Dimension. Es sind nicht einfach nur terroristische Attacken auf arglose Opfer – es ist bewusst und willentlich entgrenzte, sadistische Gewalt, zynisch festgehalten auf Videos, die in die Öffentlichkeit gebracht wurden.

Es sind Exzesstaten gegen Wehrlose (auch gegen Wehrhafte verübt wären sie unzulässig und schockierend), deren Täter sich damit außerhalb der Zivilisation gestellt haben. Nicht nur wollten sie ihre Opfer physisch beseitigen, nicht nur wollten sie damit ein – wie auch immer zu bewertendes – politisches Zeichen setzen; sondern sie wollten vor allem Schmerz zufügen, erniedrigen, ihre Opfer entmenschlichen bis zur totalen physischen oder psychischen Zerstörung. Die Opfer sollten, um mit Hannah Arendt zu reden, ,,tausend Tode sterben".
Damit haben die Täter einen Zivilisationsbruch bewirkt. Freilich ist diese ,,autotelische Gewalt", wie sie Jan-Philipp Reemtsma nennt, also Gewalt, die ihren Zweck (griech. télos) in sich selbst trägt, historisch nichts Neues. Die brutale Attacke fand ausgerechnet an einem 7. Oktober statt.

Am 7. Oktober 1571 besiegte Admiral Juan de Austria bei Lepanto (Naupaktos im Golf von Patras) eine osmanische Flotte und ,,rettete das Abendland". Es war die Zeit der osmanischen Expansion, die bewusst mit Angst und Schrecken als Vorboten operierte. Zwei Monate vor Lepanto hatte der venezianische Kommandant von Zypern, Marcantonio Bragadin, vor den Türken kapituliert.
Sein Gegenspieler Kara Mustafa Lala hatte ihm freies Geleit zugesichert – und ließ ihn dann gefangen setzen und grausam foltern. Bragadin wurden Ohren und Nase abgeschnitten, dann wurde er öffentlich bei lebendigem Leibe gehäutet und gevierteilt. Den toten Leib stopfte man aus, den abgeschlagenen Kopf schickte Lala als Trophäe an den Sultan.

Dieser Sadismus (wie er damals noch nicht hieß) war in der Frühen Neuzeit freilich keine türkische Spezialität. Es gab ihn genauso im christlichen Abendland, wo abscheulich grausame Exekutionen wie die des György Dózsa 1514 oder die des Balthasar Gérard 1584 den Tod der Delinquenten bewusst in die Länge zogen und diese dabei durch teuflische Schikanen verhöhnten. Nun hat die Hamas die Welt wieder ins 16. Jahrhundert zurückgeworfen, wenn nicht noch weiter.

Diese Gewalt hat eine Qualität, die der Begriff Terror nicht erfasst. Juristisch gesprochen ist Terror ein normatives, kein deskriptives Tatbestandsmerkmal; es drückt die qualitative und quantitative Besonderheit eines Gewalthandelns (Attentat, Massenmord) aus, nicht den Grad seiner Gewalttätigkeit.

Der Begriff ,,terreur", der während der Französischen Revolution geprägt wurde, meinte zwar in der Tat zügellose, destruktive Gewalt, die sich in Exzesstaten wie dem Lynchmord an der Prinzessin Lamballe 1792 ausdrückte. Die Berichte von der Terreur, die unter Maximilien de Robespierre als Quasi-Diktator zwischen Juli 1793 und Juli 1794 ihren Höhepunkt erreichte, ließen die deutsche Geisteswelt von ihrer anfänglichen Bewunderung für die Revolution Abstand nehmen.
Ein oppressiver, aber sich an Regeln haltender Obrigkeitsstaat, der Gewalt nur wohldosiert und nicht anlasslos einsetzte, war ihnen lieber als eine Geheimdiktatur, die jedermann, der ihr nicht genehm war, nicht nur mit Prozess und Todesstrafe, sondern auch mit überschießender Gewalt bedrohte.

Nach dem Revolutionszeitalter und dem Sturz Napoleons aber kam es dann zur Prägung des heutigen wertenden Terrorismus-Begriffs, vermutlich, so der Historiker Wolfram Siemann, durch Fürst Metternich. Der österreichische Staatskanzler und Chefdenker der Restauration wollte damit Bestrebungen, die auf politische Modernisierung (Konstitutionalismus, Parlamentarismus) gerichtet waren, kriminalisieren und delegitimieren: Wer für politischen Fortschritt agitierte, war schlimmer als ein gewöhnlicher Verbrecher, nämlich ein Verbrecher gegen die natürliche bzw. gottgegebene Ordnung.

Diese gesinnungsmäßige Aufladung des Terror-Begriffs im Vormärz wurde, das zeigt Carola Dietze, nach 1848, zur Zeit des nordatlantischen Nation Building, einer ,,Blütezeit" des politischen Attentats, noch vorangetrieben und ist bis heute leitend. Das führt dazu, dass ein RAF-Mitglied, das ein leerstehendes Kaufhaus in die Luft sprengt, und ein Guerillakämpfer, der einen Polizisten erschießt, um einen politischen Gefangenen zu befreien; dass die Entführer und Mörder Hanns-Martin Schleyers, aber unter Umständen auch die harmlosen Straßenblockierer der ,,Letzten Generation" allesamt als Terroristen gelten. Mit den Hamas-Tätern vom 7. Oktober aber haben alle genannten Beispiele nichts gemein. Deren Taten sind nicht bloß Terror-, es sind Horrortaten.

Dass sie an Juden verübt wurden, hat eine besondere Bewandtnis, denn es beschwört in jedem Juden Erinnerungen an die Shoah herauf, die in ihrem historischen Detail auch heute nicht allgemein bekannt sind, im Gedächtnis vieler jüdischer Familien dagegen präsent sein dürften.
Wenn Augenzeugen wie Professor Moshe Schaffer, Arzt am Barzilai Medical Center in Ashkelon, von den gemarterten, mit Fäkalien beschmierten Körpern der Opfer berichtet, die in sein Klinikum gebracht werden, so erinnert das an die Exzesstaten, wie sie etwa die Historikerin Sara Berger minutiös für den Holocaust beschrieben hat.

Der Ermordung der Juden, sei es an Erschießungsgruben oder in Gaskammern, gingen oft entfesselte sadistische Quälereien voran, deren Grausamkeit sich kaum wiedergeben lässt und die auch im historischen Unterricht gern unterschlagen werden. Das, was Babys und schwangeren Frauen durch die Hamas angetan worden sein soll, wurde so und ähnlich Schwangeren und Säuglingen in Treblinka beim Warten vor der Gaskammer angetan.
Dass die Terroristen öffentlich damit renommieren, ist dabei wohl weniger Teil einer politischen Programmatik, als dass es allen anderen Juden einen Horror einjagen, ihren eigenen Anhängern hingegen signalisieren soll, dass ihre Opfer keine Menschen seien.
Die Taten vom 7. Oktober sind ein Zivilisationsbruch. Sie reißen eine Lücke in die Kontinuität des Prozesses der Verfeinerung und Zähmung, von dem wir glaubten, dass er uns – vor allem die Männer – der Ausübung entgrenzter, autotelischer Gewalt sukzessive entwöhnt habe. Als unverhohlene Kampfansage nicht allein gegen Israel oder die Israelis, sondern gegen jeden Humanismus und jede Humanität, ganz gleich wie sie politisch argumentiere: So wird man diesen 7. Oktober verstehen müssen.


Aus: "Willentlich entgrenzte, sadistische Gewalt : Warum der Begriff ,,Terror" den Angriff der Hamas nicht ausreichend erfasst" Konstantin Sakkas (25.10.2023)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/wissen/der-angriff-der-hamas-am-7-oktober-willentlich-entgrenzte-sadistische-gewalt-10681975.html (https://www.tagesspiegel.de/wissen/der-angriff-der-hamas-am-7-oktober-willentlich-entgrenzte-sadistische-gewalt-10681975.html)

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Quote[...] Sofern die Bombardements eine Zeit lang ausbleiben, füllen sich im Süden des Gazastreifens die Straßen. Die Menschen nutzen den Moment für Erledigungen. Vor Wassertanks bilden sich lange Schlangen, vor Bäckereien ebenfalls. Doch nicht immer lohnt sich das Warten. Denn Brot und viele andere Lebensmittel sind knapp. Auf den Märkten verkaufen Gemüsehändler oftmals - zu hohen Preisen - nur noch schrumpelige Tomaten, Gurken und Auberginen. Vor dem Krieg sei viel Gemüse aus Israel gekommen, erzählen die Anwohner. Doch die Zeiten sind vorbei.

Viele Menschen in dem weitgehend abgeschotteten Küstengebiet sind auf Hilfen angewiesen. So auch Siham Abu Ghalijun. Die Palästinenserin ist mit ihren fünf Kindern in einer als "humanitären Zone" ausgewiesenen Gegend namens Al-Mawasi im Süden des Gazastreifens untergekommen. Die Familie wohnt hier in einem Zeltlager. Anfangs seien Wasser und Essen knapp gewesen, erzählt die 41-Jährige. Inzwischen habe sich die Lebensmittelversorgung aber verbessert. Seit dem brutalen Terrorangriff im Auftrag der im Gazastreifen herrschenden Hamas auf Israel am 7. Oktober, dem Hunderte Menschen zum Opfer fielen, bombardiert Israels Armee reihenweise Ziele in der Küstenenklave. Auch dort werden inzwischen Tausende Todesopfer beklagt, wobei die Angaben unabhängig nicht zu überprüfen sind.

Zunächst ließ Israel zwei Wochen lang auch keine Hilfsgüter in das dicht besiedelte Palästinensergebiet. Erst am Samstag durften erste Lieferungen mit Trinkwasser, Lebensmitteln und Medikamenten über die Grenze. Seitdem kamen Dutzende Lastwagen an. Den Vereinten Nationen zufolge sind für die Versorgung der gut 2,2 Millionen Menschen im Gazastreifen aber eher 100 LKW-Ladungen täglich nötig.

Neben der schwierigen Versorgungslage treiben die Menschen auch andere Sorgen um, allen voran blanke Todesangst. "Wir haben Angst, hier Bombenangriffen ausgesetzt zu sein", sagt Abu Ghalijun in der "humanitären Zone" in Al-Mawasi. Einschläge in der Nähe sorgten im Lager immer wieder für Panik. Die fünffache Mutter nimmt dann jedes Mal ihre Kinder in den Arm, wie sie erzählt.

Vor allem in der Nacht seien die Geräusche der Explosionen beängstigend. Das Leid könnte sich bei einer erwarteten Bodenoffensive Israels noch einmal verschärfen. Blutige Straßenkämpfe, menschliche Schutzschilde, versteckte Sprengsätze - Kriegsführung zwischen dicht gedrängten Häuserblöcken kann die Opferzahlen erfahrungsgemäß schnell in die Höhe treiben. Rund eine Million Menschen haben auf Anweisung der israelischen Armee inzwischen ihre Häuser geräumt und notgedrungen einen Großteil ihres Hab und Guts im Norden des Gazastreifens zurückgelassen. Im Süden, wo nach israelischen Militärangaben trotz der Evakuierungsaufforderung ebenfalls vereinzelt Ziele der Hamas angegriffen werden, harren viele Binnenvertriebene dicht gedrängt in Notunterkünften aus.

Viele Menschen auf engem Raum steigern das Risiko: Die Streitkräfte bemühen sich nach eigenen Angaben zwar stets, bei ihren Luftangriffen Zivilisten zu verschonen - doch nach Schilderungen aus dem Gazastreifen gelingt das längst nicht immer. Israels Militär zufolge schlagen zudem auch immer mal wieder fehlgeleitete Raketen militanter Palästinenser dort ein - statt wie geplant in Israel. Im Gazastreifen mehren sich die Berichte über Menschen, die in den Süden geflüchtet und dann dort bei Bombeneinschlägen oder unter den Trümmern ihrer in Schutt und Asche gelegten Notunterkünfte gestorben seien.

Sumanja Schahin will deshalb selbst nicht fliehen. Die 48-Jährige wohnt zusammen mit etlichen Verwandten in einem Haus im Norden der Küstenenklave. Die etwa 40-köpfige Gruppe lebe derzeit vor allem von Vorräten, in ihrem Zuhause gebe es weder Wasser noch Strom. In ihrer Umgebung gebe es ständig Bombardements, die Lage sei sehr gefährlich. Vor allem nachts habe sie Angst. Aber gehen will Sumanja Schahin trotzdem nicht. "Unser Leben ist hier - und unser Tod auch."

Quelle: ntv.de, Emad Drimly und Cindy Riechau, dpa


Aus: "Todesangst ist ständiger Begleiter im Gazastreifen" (26.10.2023)
Quelle: https://www.n-tv.de/politik/Todesangst-ist-staendiger-Begleiter-im-Gazastreifen-article24490324.html (https://www.n-tv.de/politik/Todesangst-ist-staendiger-Begleiter-im-Gazastreifen-article24490324.html)
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 08, 2024, 08:38:39 PM
"Massenmörder Breivik fordert Milde und eine neue Playstation" (10.03.2016)
Der Massenmörder Anders Breivik hat den Staat Norwegen wegen unmenschlicher Haftbedingungen verklagt. Er fordert nun mildere Umstände. ... Die einen halten es für ekelerregend, die anderen für rechtsstaatlich notwendig. Am kommenden Dienstag beginnt ein voraussichtlich viertägiger Prozess, weil der Utöya-Massenmörder Anders Behring Breivik (37) den Staat Norwegen wegen unmenschlichen Haftbedingungen verklagt hat. ... Breivik sitzt in Isolationshaft und fordert den Umgang mit anderen Insassen. Zudem verlangt er einen unkontrollierten Briefkontakt mit der Außenwelt, bessere Weiterbildungsmöglichkeiten und eine neue Playstation, weil seine zu alt sei.
Vor allem die Isolationshaft sei für jemanden, der voraussichtlich lebenslänglich im Gefängnis sitzt, eine Verletzung der europäischen Menschenrechtskonvention, macht Breivik geltend. ...
https://www.derwesten.de/panorama/massenmoerder-breivik-fordert-milde-und-eine-neue-playstation-id11640487.html (https://www.derwesten.de/panorama/massenmoerder-breivik-fordert-milde-und-eine-neue-playstation-id11640487.html)


"Norwegischer Massenmörder Breivik fordert Ende der Isolationshaft" (8. Jänner 2024)
Laut seinem Anwalt verletzt die lange Isolation seine Menschenrechte. Der Rechtsextremist hatte 2011 bei zwei Anschlägen 77 Menschen getötet. ... Breivik wurde zu der in Norwegen zulässigen Höchststrafe von 21 Jahren verurteilt. Die Strafe kann verlängert werden, solange er als Bedrohung für die Gesellschaft angesehen wird. Er hatte 2011 bei zwei Anschlägen 77 Menschen getötet, die meisten von ihnen Jugendliche, die an einem Sommerlager der Sozialdemokraten auf der Insel Utøya teilgenommen hatten. ...
https://www.derstandard.at/story/3000000202128/norwegischer-massenmoerder-breivik-fordert-ende-der-isolationshaft (https://www.derstandard.at/story/3000000202128/norwegischer-massenmoerder-breivik-fordert-ende-der-isolationshaft)

Bei den Anschlägen in Norwegen am 22. Juli 2011 handelte es sich um zwei zusammenhängende terroristische Anschläge des norwegischen Rechtsextremisten Anders Behring Breivik gegen norwegische Regierungsangestellte in Oslo und gegen Jugendliche in einem Feriencamp auf der norwegischen Insel Utøya, denen 77 Menschen zum Opfer fielen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Anschl%C3%A4ge_in_Norwegen_2011 (https://de.wikipedia.org/wiki/Anschl%C3%A4ge_in_Norwegen_2011)

https://de.wikipedia.org/wiki/Anders_Behring_Breivik (https://de.wikipedia.org/wiki/Anders_Behring_Breivik)

QuoteElijoma77

Ich weiß, man muss Recht und Gesetz von der Person trennen. Nur fällt das bei Breijvik extrem schwer.

Persönlich finde ich, dass er nicht einmal die Möglichkeit für solch eine Bühne bekommen sollte! Geschweige denn solche Luxus-Haftbedingungen.

[Der 44-Jährige sitzt derzeit in einem Teil des Hochsicherheitsgefängnisses Ringerike, rund 70 Kilometer nordwestlich von Oslo. Der ihm zugewiesene Bereich umfasst einen Trainingsraum, eine Küche, einen Fernsehraum und ein Badezimmer, wie Bilder von einem Besuch von NTB im vergangenen Monat zeigen. Er darf drei Wellensittiche als Haustiere halten, die in dem Bereich frei herumfliegen, berichtete die Nachrichtenagentur.]


QuoteTmfkasShrek

Und was ist mit dem Recht auf Leben ... , dass er 77 unschuldigen Menschen verweigert hat?


QuoteGerald Ruschka

Die Menschenrechte gelten uneingeschränkt. Selbst wenn man sich selbst nicht an sie hält, so verliert man sie nicht. Das ist der Schlüssel der Zivilisation.


QuoteGute_Miene

In isolationshaft gehts ihm vielleicht besser als unter Leuten...


Quoteschauaufmich

... Putin tötet seit einem Jahr beinahe täglich mehr unschuldige Zivilisten als damals Brevik und es gibt Länder die Überhäufen ihn dafür noch immer mit Gasmilliarden.
Ganz ehrlich es wird immer schwieriger zu unterscheiden wer jetzt gut und böse ist - wir sind halt alles nur Menschen.
Sogar die katholische Kirche hat sicher hunderttausende Unschuldige seit ihrer Existenz auf dem Gewissen und wird trotzdem noch von Millionen Menschen akzeptiert.


QuotederExistenzialist

Gut und böse.

Vielleicht sollten Sie das Feld der Ethik anderen überlassen, wenn Sie aus jüngsten Geschehnissen derartig fragwürdige Schlussfolgen ziehen.


Quotekh123

In einem Rechtsstaat hat jeder ein Recht auf einen Anwalt. ... es wurde ohnehin schon die anschliessende Sicherheitsverwahrung angekündigt. Das ist dann nicht Strafe, sondern erforderliche Massnahme zum Schutz anderer (genauso wie die derzeitige Isolation eine solche ist).  Ich finde Norwegen findet in dieser Situation einen nachvollziehbar balancierten Zugang, um auch solchen Vorwürfen etwas entgegenhalten zu können.


...
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 13, 2024, 12:11:03 PM
Quote[...] Brasília – Brasiliens Behörden haben im Jahr 2023 insgesamt 3.190 Menschen aus sklavreiähnlichen Verhältnissen befreit. Das ist die höchste Zahl seit 14 Jahren, wie Medien laut Kathpress am Donnerstagabend berichteten. Die meisten Fälle (302) wurden demnach in der Kaffeeindustrie aufgedeckt, gefolgt von der Zuckerrohrindustrie mit 258. Die Entschädigungszahlungen an Betroffene durch überführte Arbeitgeber erreichten im Vorjahr 2,4 Millionen Euro.

Die Zahlungen sind ein Rekordwert. Einen Allzeit-Höchstwert stellen die 3.422 Beschwerden dar, die im vergangenen Jahr bei den Behörden eingegangen sind, um 61 Prozent mehr als 2022. Im Jahr 2011 hat die Regierung eine Telefonhotline eingerichtet, um Beschwerden und anonyme Hinweise entgegenzunehmen.

Die Sklaverei ist in Brasilien offiziell seit 1888 abgeschafft. Allerdings ist die Praxis, Personen für ihre Arbeit nicht zu entlohnen oder sie gar zur Arbeit zu zwingen, immer noch weit verbreitet. Nachdem die katholische Kirche mit ihrer 1975 gegründeten Landpastoral viele Jahre die Regierung unter Druck gesetzt hatte, erkannte diese 1995 gegenüber den Vereinten Nationen an, dass es immer noch Fälle von Sklaverei gebe.

Zudem erließ die Regierung 1995 Gesetze gegen solche Ausbeutung von Arbeitskräften und richtete mobile Einsatztruppen ein, die in ländlichen Gebieten wie auch in urbanen Zentren Kontrollen durchführen. Bisher haben diese Trupps mehr als 60.000 Personen befreit. (APA, 12.1.2024)


Aus: "3.190 Menschen in Brasilien aus sklavereiartigen Umständen befreit" (12. Jänner 2024)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/3000000202847/3190-menschen-in-brasilien-aus-sklavenartigen-umst228nden-befreit (https://www.derstandard.at/story/3000000202847/3190-menschen-in-brasilien-aus-sklavenartigen-umst228nden-befreit)

QuoteTitus Feuerfuchs

Sklaverei ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Angesichts solcher Zustände finde ich es gut, wenn der Druck auf die weiterverarbeitende Industrie hoch gehalten wird (Stichwort: Lieferkettensorgfaltspflicht). Ein sensibles Thema, ich weiß.


QuoteAgitationFree

Natürlich die große Frage, was können wir tun?

Ganz einfach: Listen Sie alle Güter auf, die Sie regelmäßig kaufen: Brot, Kleidung, Schuhe ... es reicht schon fürs erste, wenn Sie nach Position zehn erst mal Pause machen. Gehen Sie ins Internet. Recherchieren Sie. Klar: Viele haben das noch nie gemacht. Wenn man über die Schlagwortsuche nach Produkt X, Hersteller Y, Nachhaltigkeit, Skandal, Fairness recherchiert, finden Sie schnell sehr viel über die Güter auf Ihrer Liste heraus. Recherchieren. Und dann gibt es ja auch noch die positive Seite: Immer mal wieder werden Produkte und Hersteller lobend erwähnt, die einen Fairness- oder Öko-Preis bekommen. Kaufen Sie die. Wenn wir Endkunden nur mächtig genug Rabatz machen und immer stärker faire Produkte kaufen.
Wir selbst sind Globalisierung !


...
Title: [Notizen zur Zivilisation... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 04, 2024, 08:18:58 PM
Quote[...] Ich fuhr nach Saarbrücken und führte ... ein Gespräch mit Philippe Lançon.

Er ist ein Überlebender des Attentats auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo vom 7. Januar 2015. Sein Buch über diese Erfahrung und seine Genesung, das unter dem Titel Der Fetzen (Öffnet in neuem Fenster) erschien, ist eine zentrale Lektüre zum Verständnis unserer Gegenwart.

... Sozialstaat, Wissenschaft und Solidarität sind die besten Waffen der Zivilisation gegen den Terror – das ist die Message seines Buches.

...


Aus: "Der Sieger" Nils Minkmar (03.03.2024)
Quelle: https://steadyhq.com/de/nminkmar/posts/bf3ecc5f-4a2f-4e0d-a371-1b1146352821 (https://steadyhq.com/de/nminkmar/posts/bf3ecc5f-4a2f-4e0d-a371-1b1146352821)

Philippe Lançon (* 1963 in Vanves) ist ein französischer Journalist und Schriftsteller. Er arbeitet hauptsächlich für die Tageszeitung Libération und das Satiremagazin Charlie Hebdo, ebenso für den öffentlich-rechtlichen Radiosender France Inter. Bei dem terroristischen Anschlag auf Charlie Hebdo während einer Redaktionssitzung am 7. Januar 2015 wurde Lançon verwundet. ... In seinem Buch Le lambeau (dt. Der Fetzen) schreibt Lançon über das Attentat und die langwierige operative Behandlung seiner massiven Gesichtsverletzungen im Mund- und Unterkieferbereich. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Philippe_Lan%C3%A7on (https://de.wikipedia.org/wiki/Philippe_Lan%C3%A7on)