[...] Es ist immer wieder bemerkt worden, dass die Begründung der Psychoanalyse mit Freuds erster Veröffentlichung (Studien über Hysterie) gleichzeitig mit der Erfindung des Kinos stattgefunden hat. Traumdeutung und »Traumfabrik« haben beide 1895 die ersten Schritte gemacht. Der Film hat in seiner Überblendungs- und Rückblendungstechnik, aber auch in den unbegrenzten Möglichkeiten, die irreale Welt des Traumes und der Fantasievorstellungen ins Bild zu bringen, das Freudsche Menschenbild sozusagen nebenbei massenfähig gemacht. Freud selbst konnte mit dem Kino nichts anfangen; die ersten Versuche, die Geheimnisse einer Seele (G. W. Papst, 1926) filmisch umzusetzen, fand er »albern«.
Das Kino seinerseits wusste, was es an Freud hatte: 1925 machte der Hollywood-Produzent Samuel Goldwyn ihm vergeblich den Vorschlag, gegen ein ansehnliches Honorar an der Verfilmung der berühmtesten Liebesgeschichten aller Zeiten mitzuwirken. Von Luis Buñuel über Jean Cocteau (Orphée), Ingmar Bergman (Wilde Erdbeeren), Federico Fellini (8 1/2) bis Alfred Hitchcock (Marnie) kann man die Spur Sigmund Freuds im Kino verfolgen. In Hitchcocks Spellbound , einem Psychoanalyse-Melodram, kommen sogar zwei Wirkungslinien Freuds zusammen: Salvador Dalí hat die Traumkulissen dafür gemalt. Und alles, was mit Seelenkrankheit und dem Mysterium des Unbewussten assoziiert wird, hat mit Hitchcocks Filmtitel Psycho ein vieldeutiges Allzwecklogo erhalten. Enthoben der wissenschaftlichen Beweisführung und der therapeutischen Strategie, ist die kreative Kraft der Psychoanalyse vielleicht nirgendwo so »bei sich selbst« wie im dunklen Höhlenraum des klassischen Kinos, wo Wirklichkeit und Täuschung, Vergangenheit und Gegenwart in der »Projektion« (auch hier ein psychoanalytischer Anklang) bewegter Illusionsbilder verfließen.
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Aus: "Der Hausherr der Seele" Von Christoph Stölzl (ZEIT Geschichte 1/2006)
Quelle:
http://www.zeit.de/wissen/mensch/zg_hausherr